Mythor 69: Die Barbaren - Hugh Walker - E-Book

Mythor 69: Die Barbaren E-Book

Hugh Walker

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Beschreibung

Mythor, der Sohn des Kometen, hat in der relativ kurzen Zeit, da er für die Sache der Lichtwelt kämpfte, bereits Großes vollbracht. Nun aber hat der junge Held Gorgan, die nördliche Hälfte der Welt, durch das Tor zum Anderswo verlassen. Anderswo - das ist Vanga, die von den Frauen regierte Südhälfte der Lichtwelt, die lebend zu erreichen den wenigsten Reisenden vergönnt ist. Mythor hat es jedenfalls mit Hilfe von Zahda, der Zaubermutter, geschafft. Er ist unversehrt nach Vanga gelangt, wo er schon von der ersten Stunde seines Hierseins an in gefährliche Geschehnisse verstrickt wird. Während Mythor mit seinen Gefährten inzwischen die Insel Gavanque, wo er im Krieg der Hexen eine Schlüsselrolle spielte, verlassen hat und neuen Abenteuern entgegenzieht, blenden wir um und wenden uns wieder dem Geschehen auf Gorgan zu. Zuerst beschäftigt uns das Schicksal Nottrs, des Lorvaners, der längst Mythors Freund geworden ist und der den Gedanken verfolgt, dem verschwundenen Sohn des Kometen in seinem Kampf zu helfen, indem auch er gegen die Kräfte der Finsternis angeht. An Nottrs Seite kämpfen DIE BARBAREN ...

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Nr. 69

Die Barbaren

von Hugh Walker

Mythor, der Sohn des Kometen, hat in der relativ kurzen Zeit, da er für die Sache der Lichtwelt kämpfte, bereits Großes vollbracht. Nun aber hat der junge Held Gorgan, die nördliche Hälfte der Welt, durch das Tor zum Anderswo verlassen.

Anderswo – das ist Vanga, die von den Frauen regierte Südhälfte der Lichtwelt, die lebend zu erreichen den wenigsten Reisenden vergönnt ist.

Mythor hat es jedenfalls mit Hilfe von Zahda, der Zaubermutter, geschafft. Er ist unversehrt nach Vanga gelangt, wo er schon von der ersten Stunde seines Hierseins an in gefährliche Geschehnisse verstrickt wird.

Während Mythor mit seinen Gefährten inzwischen die Insel Gavanque, wo er im Krieg der Hexen eine Schlüsselrolle spielte, verlassen hat und neuen Abenteuern entgegenzieht, blenden wir um und wenden uns wieder dem Geschehen auf Gorgan zu.

Zuerst beschäftigt uns das Schicksal Nottrs, des Lorvaners, der längst Mythors Freund geworden ist und der den Gedanken verfolgt, dem verschwundenen Sohn des Kometen in seinem Kampf zu helfen, indem auch er gegen die Kräfte der Finsternis angeht.

An Nottrs Seite kämpfen DIE BARBAREN ...

Die Hauptpersonen des Romans

Nottr – Der Lorvaner am Rand der Welt.

Olinga – Nottrs Gefährtin.

Skoppr – Ein Schamane.

Urgat – Ein Stammesführer der Lorvaner.

Oannon

1.

Der Wind heulte über die Vorberge des Voldend-Gebirges, der Berge-am-Rand-der-Welt, wie die Barbaren sie nannten. Der Tag der Wintersonnenwende stand kurz bevor, und es war als ob die Götter des Frosts und der eisigen Stürme sich mit all ihrer Grimmigkeit auf diesen Festtag vorbereiteten. Und hier in den Wildländern, wo der Winter der große Mörder war für einen Großteil des Lebens, war dieser Sturm einer der schlimmsten des Mondes. Schnee trieb so dicht über die Hänge, dass man keine drei Schritt weit zu sehen vermochte. Es war am Mittag so düster wie in der Abenddämmerung.

Es war so düster wie alle Omen, seit sie zu diesem wahnsinnigen Marsch aufgebrochen waren.

Nottr verfluchte die Entscheidung bei allen Göttern, die ihm in den Sinn kamen. Und er verfluchte Skoppr, den Schamanen.

Seine Männer ertrugen es stoischer. Lange Märsche machten sie immer schweigsam. Ihre barbarische Wildheit, über die in zivilisierteren Gegenden nicht ohne Furcht berichtet wurde, erwachte nur im Kampf. Wenn sie sich in die Schlacht stürzten, hatte Gorgan keine wilderen Kämpfer gesehen, als die Lorvanerscharen der Wildländer.

Aber diesmal würden die Westländer vergeblich auf ihre Überfälle warten, obwohl tiefster Winter war. Aber statt Beute und Nahrung im Westen zu suchen, froren und hungerten sie in einem Land, das die Götter sicher nicht für den Menschen erschaffen hatten.

Und fünftausend Krieger und Kriegerinnen hockten ein Dutzend Tagemärsche südwestlich in ihren Winterlagern und verzehrten die Vorräte, weil Urgats Horden sich nicht entschließen konnten, das Offensichtliche zu tun: sich Nottrs bisher in der Geschichte der Wildländer einmaliger Streitmacht anzuschließen, und tiefer in den Westen vorzustoßen, als jemals zuvor.

Die Omen waren nicht gut.

Und Urgat wollte die Führerschaft selbst. Sie hatten es längst in einem Zweikampf entschieden, wie es üblich war. Doch die Schamanen erhoben Einspruch. Wer Führer solch einer gewaltigen Streitmacht sein sollte, die nicht nur Siege und Eroberungen, sondern auch das Ende der Lebensweise der Lorvaner bringen mochte, das durfte nicht durch den stärkeren Arm oder gar das Glück entschieden werden.

Nicht nur die lebenden Lorvaner durften dies entscheiden, befragt werden mussten auch die Toten und die Ungeborenen.

Die Fetische von fünf Dutzend Schamanen sprachen für Nottr. Nur Urgats Schamanen hatten Zweifel, wie zu erwarten war. Sie forderten ein Zeichen.

In der Ratlosigkeit, die folgte, hatte Nottrs engster Berater, der Schamane Skoppr, eine Vision, die er nicht zu deuten wusste. Nur dass es keine Tiere waren, die zu ihm sprachen, und keine Geister, nicht die Boten der Götter und nicht die Stimmen des Windes.

»Es ist ein Zeichen«, murmelte er. »Es ist das Zeichen, das ihr haben wollt.«

»So deute es uns!«, verlangten sie.

So aß er erneut vom Alppilz, obwohl die Furcht ihn quälte, denn er war nun einmal dazu da, dass Geister und Dämonen sich seiner bedienten, um sich den Lebenden mitzuteilen. Wieder entfernte er sich von seinem Bewusstsein, während das Gift des Pilzes seine Glieder erschlaffen ließ. Er hörte, wie ein Einhorn zu ihm sprach, doch er achtete nicht darauf, denn die Stimmen, die er voll Furcht suchte, kamen von jenseits der Träume. Wieder verstand er sie nicht, nur dass sie riefen ... riefen ...

Und hätte nicht der Pilz seine Wirkung verloren, wäre er diesen Rufen gefolgt. So aber wachte er zitternd auf aus seiner Entrückung und sagte mit schnarrender Stimme: »Das Zeichen ... es ist in den Bergen-am-Rand-der-Welt.«

Aus diesem einzigen Grund waren Nottr und ein halbes Hundert der besten seines Haufens vor zwanzig Tagen nach Nordosten aufgebrochen, um das Zeichen zu holen, damit das Volk der Lorvaner erkannte, dass es einen Führer hatte, den selbst die Götter guthießen.

Drei Dutzend Männer waren sie und vierzehn Frauen. Die jungen Krieger und Kriegerinnen waren ausnahmslos aus bewährten Viererschaften. Mit den älteren war Nottr seit vielen Monden zusammen geritten.

Skoppr hatte ihn natürlich begleitet. Nottr verzichtete ungern auf seinen Berater, auch wenn er dem Rat des Alten nicht immer folgte. In diesem Fall allerdings hatte der Schamane darauf bestanden mitzukommen.

Eine der Frauen war Nottrs Gefährtin Olinga, die ihn seit langem begleitete und als einstige Schamanendienerin im Stamm der Chereber auch Skoppr unentbehrlich geworden war.

Sie war hochschwanger und mochte jeden Tag gebären, was Nottrs Unruhe und Besorgnis beträchtlich steigerte, dass er wie ein ergrimmter Bär in der windumtosten Jurte auf und ab schritt, bis sie sich von ihrem Felllager halb aufrichtete und nach seiner Hand griff.

»Wir sind in keiner Gefahr, Nottr«, sagte sie sanft. »Der Sturm ist auch unser Freund. Urgats Männer, wenn sie uns gefolgt sind, wie du glaubst, haben uns längst verloren.«

»Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen«, sagte er wild.

»Du weißt, dass du es tun musstest. Chipuras Weissagung war eindeutig. Du hast sie dir gut eingeprägt. Dass es ein Sohn wird, mein Nottr, und dass du bei seiner Geburt zugegen sein musst. Es ist bald soweit. Ein paar Tage, und wir können weiterziehen.«

»Übermorgen«, sagte er düster, »ist der Tag der Wintersonnenwende. Vor einem Jahr genau schlugen sie die Schlacht im Hochmoor von Dhuannin. Auch das ließ mich Chipura sehen und wissen, dass es nicht gut wäre, wenn mein Sohn an diesem Tag das Licht der Welt erblickt.«

Sie lächelte ein wenig hilflos. »Ich werde tun, was ich kann.«

Er grinste plötzlich, und sein zernarbtes Gesicht hellte sich auf. »Ich bin immer noch ein lorvanischer Narr, Chipaw.« Er nannte sie manchmal so, mit dem lorvanischen Namen für das Eichhörnchen. »Man sollte meinen, ich hätte in Mythors Gefolge gelernt, dass zwischen Schamanen und Scharlatan oft nur ein kleiner Schritt liegt, und dass Omen etwas für alte Weiber sind. Ich sollte nicht alles ernst nehmen, was Skoppr mir einzureden versucht.«

Sie nickte. »Du darfst Skoppr nicht unterschätzen. Er würde kaltblütig töten, wenn seine Geister es ihm rieten, auch dich oder mich.«

»Vertraust du seinen Kräften?«

»Ja, Nottr. Er ist ein großer Schamane. Er hat mit Qiraha gelegen, der Geisterkönigin. Alle Schamanen kennen sie, auch Chwum, dessen Dienerin ich war, als du in mein Leben kamst. Nur wenige sind auserwählt, die Kräfte von ihr zu erlernen. Skoppr ist einer der wenigen.« Sie zögerte und fuhr dann fort: »Er hat Angst vor dem, was wir in den Voldend-Bergen finden werden.«

»Sollte ich ebenfalls Angst haben?«, fragte er ernst.

»Ich weiß es nicht, mein Nottr.«

*

Nottr ließ seine Gefährtin unter Kelkas Obhut zurück. Kelka war eine junge Kriegerin, die seit Olingas Schwangerschaft als Flankenschwester mit Nottr geritten war. Zu Nottrs Viererschaft gehörte auch Grana, Kelkas Mutter, eine üppige, verschlossene Frau, die mit Speer und Dolch meisterhaft umzugehen wusste. Der vierte in Nottrs Kampfgruppe war Baragg, ein alter Haudegen, der wie Nottr einen großen Teil seines Rückenfells verloren hatte.

Nottr hatte Glück mit dem Lagerplatz gehabt. In die große Höhle waren sie im letzten Augenblick gestolpert, als der nicht enden wollende Schneesturm losbrach. Seit zehn Tagen hockten sie nun untätig in ihren Zelten.

So gab es viel Murren und Fluchen, und Nottr dachte sich allerlei aus, um sie allesamt zu beschäftigen. Er ließ die Höhle erkunden, in der sich vielleicht Tiere aufhalten mochten, die sie erlegen und damit ihre Vorräte auffüllen konnten, denn diese begannen bereits zu schwinden. Bären mochten sich für den Winterschlaf hier zurückgezogen haben. Aber sie entdeckten nichts.

Am Abend des zehnten Tages legte sich der Sturm, und es klarte auf. Sie kämpften sich mühsam durch die hohe Schneewand des Eingangs und starrten erleichtert auf die mondhelle, tiefverschneite Landschaft.

»So werden wir bei Sonnenaufgang aufbrechen, Nottr?«, fragte Baragg.

Nottr schüttelte den Kopf. »Nein. Wir warten die Geburt meines Sohnes ab. Danach bleibt dies unser Hauptlager. Ich habe beschlossen, mit der Hälfte der Krieger in die Berge hinaufzusteigen und nach dem Zeichen zu suchen. Die anderen werden auf unsere Rückkehr warten und nach Urgats Männern Ausschau halten. Ich traue ihm nicht.«

Baragg nickte düster. »Ich auch nicht, Hordenführer.«

»Das liegt daran, dass ihr in meiner Horde seid. Wärt ihr in seiner, würdet ihr mir wohl auch nicht trauen«, erklärte Nottr grinsend.

Der andere nickte zustimmend. »Schon möglich, Hordenführer. So sind wir Lorvaner nun einmal. Deshalb glaube ich auch nicht, dass dir Urgats Haufen folgen wird, wenn du dieses Zeichen wirklich findest.«

Nottr wiegte bedächtig den Kopf. Er dachte anders. Der Westen lockte. Milch und Honig flossen dort immer noch, trotz der dunklen Gefahr durch die Caer. Aber Nottrs Ziel war nicht die Eroberung und Plünderung der Westländer. Nicht dafür hegte er diesen Traum eines gewaltigen Barbarenheers.

Sondern gegen die Finsternis wollte er ins Feld ziehen!

Aber diesen Traum würden sie besser schlucken, wenn sie erste Siege hinter sich hatten und sich so stark fühlten, dass sie selbst den Teufel nicht mehr fürchteten.

Spät in der Nacht schreckten die Krieger durch ein Wolfsgeheul auf und griffen hastig nach ihren Waffen, als das kehlige Grollen einer Raubkatze folgte. Als sie verschlafen aus den Zelten stürzten, schrillte eine menschliche Stimme.

Sie erstarrten, als sie die sich langsam wiegende Gestalt sahen, die an der letzten Glut des Feuers saß, die Bärenmaske auf dem Haupt, die Fellschlangen um seine Schultern, die kleinen Metallringe bei jeder Bewegung klirrend.

Die Geister sprachen zu Skoppr, und er gab Antwort.

Es gab keinen unter den Lorvanern, der nicht mit Ehrfurcht und Grauen dem gespenstischen Geschehen folgte. Solcherart hatten sie ihren Schamanen bisher noch nicht erlebt. Es war alles in seinem Geist gewesen, wenn er seine Hilfsgeister befragte.

Doch diesmal war es, als ob es unmittelbar um sie herum geschähe, als ob sie nur die Augen richtig zu öffnen brauchten, um zu sehen, wozu nur ein Schamanengeist stark genug war. Eine wachsende Furcht war in ihren abergläubischen Herzen, die ihre starken Körper sich ducken ließ.

Nur Nottr stand ungebeugt und kämpfte grimmig das Unbehagen nieder, das ihn erfüllte. Auch er spürte den Hauch des Unwirklichen. Doch seine Neugier übertraf bei weitem seine Furcht. Er hatte viele Schamanen und Zauberer bei der Arbeit gesehen, und zum ersten Mal, seit er an Mythors Seite geritten war, spürte er, dass einer wirklich Macht besaß, die der der Caer-Priester nahekam. Es erfüllte ihn mit großer Hoffnung, und er sah sich seinen Träumen einen Schritt näher. Mit einem wie Skoppr an seiner Seite, und ein paar anderen, die ihr Handwerk so gut wie er verstanden, und zehn oder fünfzehn Tausendschaften seiner Lorvaner würde er die Caer und die Finsternis aus den Westländern fegen.

Nottr, der Befreier ...! Er grinste. Dieser verdammte Mythor war schuld an seinen Heldenträumen. Er hoffte, dass ihre Wege sich eines Tages wieder kreuzten. Wenn er von diesem Marsch zurückkehrte, mochten vielleicht bereits Boten der Kundschafterschar im Hauptlager eingetroffen sein, die er in den Süden geschickt hatte, um über Mythors Schicksal zu erfahren.

Doch dann war die Wirklichkeit wieder um ihn, die so viel schwerer zu lenken war als seine Träume.

Der Schamane hatte sich über die Glut gebeugt, dass sein hageres Gesicht wie vom Feuer des Erdinnern erfüllt war. Er breitete dabei die Arme aus, und so, als hätte sich eine Tür geschlossen, erstarb das Gefühl der Unwirklichkeit.

Der Schamane richtete sich mit geschlossenen Augen auf und sagte mit abwesender Stimme: »Ich habe die Wölfe befragt, und sie sagen mir, dass viele Zeichen in den Bergen sind. Nicht alle sind aus dieser Zeit.« Er atmete schwer. Sein Gesicht war nun in der Düsternis der fast erloschenen Glut kaum noch zu erkennen, als er fortfuhr: »Und ich habe die Tiger befragt, die diese Berge durchstreifen. Sie sagen, dass nicht alle Zeichen gut sind, und dass manches besser begraben bleibt.« Wieder schwieg er einen Moment, wie um neue Kraft zu schöpfen. »Da ich dies alles nicht zu deuten wusste, fragte ich auch noch ihre Opfer, die der Wölfe und die der Tiger. Und sie sagten mir, dass Tote in diesen Bergen sind, die nach Leben hungern, statt sich mit ihren Gefilden zu bescheiden.«

Nottr schauderte unwillkürlich und er hörte seine Krieger erschrocken flüstern.

»Und was raten deine Geister, Schamane?«, fragte er mit dröhnender Stimme. »Dass wir unseren Marsch abbrechen?«

»Nein«, flüsterte der Schamane. »Denn in dieser Welt sind die Lebenden mächtiger als die Toten. Aber es gibt andere Welten ...«

»In die wir noch früh genug kommen«, erwiderte Nottr grimmig.

»Hütet euch vor den Lockungen der Toten«, flüsterte Skoppr.

»Es gibt Lebende, die nach dem Tod hungern, so wie Tote nach dem Leben«, stellte Nottr fest. »Wovor sollten wir uns hüten? Wir sind das Leben. Wenn der Tod zu uns kommt, dann durch ein Schwert, nicht durch eine Lockung, habe ich recht?« Letzteres sagte er laut und auffordernd.

»Ja ... ja ...« Seine Krieger antworteten zögernder.

»Wir sind Krieger, keine Geisterbeschwörer, Schamane. Diese Lockungen sind für einen wie dich.«

»Ja, für einen wie mich ...« Er ließ die Arme sinken und fiel entkräftet zusammen. Kelka sprang zu ihm und fing ihn, bevor er mit dem Gesicht voran in die glühende Asche stürzen konnte.

Die Männer und Frauen krochen wieder in ihre Zelte zurück und mancher fand keinen Schlaf mehr in dieser Nacht.

Nottr begab sich zu dem Zelt, in dem Olinga lag. Als er sich überzeugt hatte, dass sie ruhig schlief, kehrte er zurück zum Feuer, wo der Schamane noch reglos saß, und setzte sich schweigend zu ihm.

Eine gute Stunde später war Skoppr genug bei Sinnen, dass er aufzustehen versuchte. Aber er schwankte so sehr, dass er sich wieder setzte. Er zog seinen Fellumhang fester um seine Schultern und hielt die Hände über das Feuer.

»Wann wird Olinga soweit sein?«, fragte Nottr.

Aber Skoppr gab keine Antwort.

»Sind wir in Gefahr?«, bohrte Nottr weiter.

»Sind wir das nicht immer?«, erwiderte der Schamane krächzend.

»Welche Zeichen muss ich finden?«

»Du begreifst nicht, Nottr«, sagte der Schamane ernst. »Du musst nicht nach Zeichen Ausschau halten. Es ist vielmehr etwas, das erst zum Zeichen wird, wenn du es hast. Es mag ein Stein sein, oder ein Gedanke, eine Trophäe, oder ein Traum. Wenn du es erst hast, wird keiner mehr an deiner Führerschaft zweifeln.« Seine knöcherne Hand berührte Nottrs Arm beruhigend. »Du wirst es finden. Hüten musst du dich vor den Dingen, die gefunden werden sollen.«

Nottr saß eine Weile stumm und dachte darüber nach.

»Warum kann deinesgleichen nie mit klaren Worten sagen, wie die Dinge liegen?«, brummte er enttäuscht.

»Weil nur die Gegenwart, der Augenblick, wirklich klar ist. Die Vergangenheit ist bereits verschwommen, weil jeder sie mit anderen Augen gesehen hat. Um wie viel unergründlicher muss die Zukunft sein, die noch niemand gesehen hat? Die Geister kennen sie. Einige von uns können die Geister hören, aber selten verstehen.«

Erneut grübelte Nottr eine Weile. »Weshalb sagst du, dass es ein böses Omen ist, wenn mein Sohn am Sonnwendtag geboren wird? Weil es der Tag der Schlacht von Dhuannin ist?«

Der Schamane schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe die Ringe geworfen, und sie sagten es. Warum es so ist, wissen wir immer erst danach, wenn etwas geschehen ist.«

»Ich habe beschlossen, zu warten, bis die Geburt vorbei ist, bevor ich in die Berge hinaufsteige.«

2.