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Als Tanja ein Medikament verschrieben bekommt, das ihr endlich Ruhe schenken soll, ahnt sie nicht, dass es mehr öffnet als nur den Schlaf. Nacht für Nacht wird sie in Träume gezogen, die so real erscheinen, dass sie beginnt, an den Grenzen zwischen Wirklichkeit und Illusion zu zweifeln. Was will ihr Unterbewusstsein ihr zeigen? Und warum fühlt es sich an, als ob hinter den Bildern ein verborgener Sinn liegt? Zwischen Dunkelheit und Erwachen begibt sich Tanja auf eine Reise durch die verborgensten Räume ihrer Seele: voller Geheimnisse, schmerzhafter Wahrheiten und unerwarteter Hoffnung. Ein zutiefst persönlicher Roman, der tief hinabführt in die Welt der Träume, über das Verlieren und Wiederfinden, über die Macht der Erinnerung und die Stärke, jeden Tag neu zu beginnen.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2025
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„Ein Traum ist die verborgene Tür zum Unterbewusstsein“
-Carl Gustav Jung
Vorwort
Schlaflos
Der Bus
Der Wald
Der Smoothie
Alleine
Die Therapie
Die Anstalt
Dein letzter Tag
Der dramatische Heimweg
Das Heim
Die Gurte
Der schwarze Schmuck
Starr
Erinnerungen sind keine kalten Fakten, sie sind keine Zeilen in einem Protokoll und keine Zahlen in einer Tabelle. Sie atmen. Sie tragen Farben, Gerüche, Stimmungen. Sie tauchen auf, wenn wir sie nicht erwarten, wie ein vertrauter Klang, der uns plötzlich in eine längst vergangene Nacht zurückversetzt. Die nächsten Seiten sind ein kleines Mosaik, bestehend aus Erinnerungen und Gefühlen, aber sie sind kein Versuch, die Vergangenheit auf Zahlen, Daten und Fakten zu reduzieren. Was hier steht, sind Erinnerungen, brüchig, unvollständig, manchmal schmerzhaft, manchmal abgeändert. Aber sie gehören mir, und sie haben mich geprägt. Zugegeben, Erinnerungen sind eigenwillig: sie tauchen auf, wenn man sie nicht erwartet, und verschwinden, wenn man sie festhalten möchte. Manche sind schön, andere schwer zu ertragen. Doch alle erzählen etwas über die Wege, die wir gehen, und über das, was uns ausmacht. Nicht jedes Detail wird in der akkuraten Reihenfolge erscheinen, wie man es in einem Aktenordner findet, und nicht jede Szene lässt sich mit Stempeln und Datum belegen. Doch vielleicht offenbaren sie gerade dadurch, was kein Protokoll je festzuhalten vermag: das Zittern, die Hitze, die Wucht der Augenblicke, die wir erleben.
Vielleicht wirkt manches überhöht, vielleicht fehlt an einer anderen Stelle ein Stück, aber so funktioniert Erinnerung. Sie ist mehr als ein nüchternes „So war es“. Sie ist „So habe ich es gesehen. So habe ich es gespürt.“ Und genau das erwartet dich hier: keine sterile Chronologie, sondern eine Reise in die lebendige, manchmal unberechenbare Landschaft der Erinnerung.
Stell dir vor, du hast einen Schlüssel und jede Erinnerung öffnet eine Tür. Wer ihn dreht, betritt Räume, die längst verschlossen schienen – und vielleicht nie wieder so verlassen werden können, wie man sie betreten hat.
Mein Name ist Tanja, und dies ist mein Buch. Ich bin Ende zwanzig, doch manchmal kommt es mir vor, als hätte ich schon ein Leben von achtzig Jahren hinter mir. Die Erfahrungen, die Brüche, die Umwege – sie alle haben mich geprägt, geformt, manchmal verletzt, manchmal gestärkt. Diese Geschichte wuchs nicht an einem einzigen Tag, nicht in einem Moment, den man festnageln könnte. Sie wuchs mit jeder Nacht, mit jedem Augenblick, in dem die Gedanken aus der Spur sprangen und der Verstand in einen seltsamen Leerlauf fiel. Es waren diese Stunden, in denen sich Türen öffneten – unsichtbare Tore zu Universen, die gleichzeitig fremd und vertraut wirkten.
Jede Nacht brachte ein neues Mosaikstück, ein weiteres Echo, ein Bild, das so intensiv war, dass ich es nicht mehr loswerden konnte. Manche dieser Universen wirkten wie Spiegel meiner eigenen Sehnsucht, andere wie Schatten, die mich herausforderten. Doch alle zusammen webten sie ein Netz, das mich festhielt, bis ich verstand: Dies ist keine Sammlung flüchtiger Träume. Dies ist eine Geschichte, die erzählt werden will.
Vielleicht wirst du beim Lesen das Gefühl haben, dass sie dich an Orte führt, die du längst kennst, obwohl du sie noch nie betreten hast. Vielleicht wirst du spüren, dass manche Worte mehr andeuten, als sie preisgeben. Und vielleicht wirst du, wenn du die letzte Seite umblätterst, verstehen, warum ich keine Wahl hatte, außer es niederzuschreiben. Denn manche Geschichten wollen nicht vergessen werden. Sie suchen sich einen Weg ins Licht, egal wie lange sie im Dunkeln geschlummert haben.
Das im Buch erwähnte Medikament „Loriladeril“ ist ein Name, der allein meiner Vorstellung entsprungen ist. Er gehört zu keinem realen Präparat, keinem registrierten Wirkstoff, keiner bekannten Therapie. Jegliche Ähnlichkeiten sind rein zufällig. Seine einzige Wirkung entfaltet er in dieser Geschichte, und zwar als Träger von Bedeutung nicht Chemie.
Der Inhalt dieses Buches greift Themen auf, die von Angst und inneren Konflikten handeln. Er soll nicht als medizinischer, psychologischer oder therapeutischer Rat verstanden werden. Vielmehr lädt er ein, sich auf eine symbolhafte Reise einzulassen, eine Reise in die Bereiche, in denen sich Realität und Traum berühren.
Es ist nicht der Traum selbst, der betäubt. Es ist das, was danach bleibt.
Der Traum ist nur der Einbrecher, der nachts kommt, Türen aufreißt, Schubladen umkippt und dann geht. Was übrig bleibt, ist das Chaos im Kopf, dieses Gefühl, dass etwas Fremdes in mir war, mich berührt hat, während ich wehrlos war.
Das Gefühl nach dem Aufwachen hat einen eigenen Geschmack. Es ist nicht wie die Angst am Tag, die man in Argumente zerlegen kann. Dieses hier ist körperlich. Es sitzt im Magen wie ein Tier, das mich von innen anstarrt. Es drückt mir von hinten die Rippen auseinander. Ich bin wach, aber noch nicht frei.
Hinter diesen Gefühlen steckt etwas Alltägliches: der Verdacht, dass das, was im Traum passiert, nicht nur Traum ist. Dass es eine Pforte gibt. Ein Leck, eine undichte Stelle zwischen dem, was ich am Tag verdränge, und dem, was mein Kopf nachts tut, wenn ich ihn nicht überwache.
Manchmal denke ich, diese Gefühle sind wie Kinder, die in einem dunklen Raum spielen. Sie stoßen an Möbel, tasten Wände ab, stoßen etwas um. Siewollen nicht böse sein, aber sie machen Lärm. Und ich bin der Erwachsene, der draußen steht, das Schreien hört und nicht reingehen will, weil er weiß, dass er selbst das Licht ausgemacht hat.
Der Zustand nach dem Traum ist auch der Beweis, dass ich mich nicht in der Hand habe. Ich kann mich tagsüber stark fühlen, kontrolliert, überlegen, und dann kommt die Nacht, und plötzlich renne ich mit steifen Armen durch eine Stadt. Plötzlich stehe ich vor einer Frage, die ich nicht beantworten kann: Warum fühlt sich dieser Unsinn so real an? Oder ist es vielleicht gar kein Unsinn?
Manchmal, wenn ich ganz ehrlich bin, glaube ich, dass die Angst nach dem Traum nur eine Tarnung ist. Dass darunter nicht die Furcht vor dem Traum steckt, sondern die Furcht vor der Wahrheit, dass ich wach und bewusst dieselben Gefühle habe wie dort drinnen. Ohnmacht. Verlust. Wut, die zu groß ist, um sie in den Händen zu halten.
Und dann wird mir klar: Der Traum hat mir nichts Neues gegeben. Er hat nur alles von unten an die Oberfläche gedrückt.
Das Rohe an diesem Gefühl ist, dass sie keine Geschichte braucht. Sie taucht auf, auch ohne Bilder. Sie braucht nur die Erinnerung daran, wie es war, sich im Traum nicht bewegen zu können. Das ist alles. Und wenn man wach ist, weiß man, dass es da draußen – oder hier drinnen – noch hundert Dinge gibt, die einem dieselbe Starre verpassen könnten.
Ich könnte sagen, das sind nur unterdrückte Gefühle, unaufgelöste Konflikte, dies und das. Aber das fühlt sich an wie eine Ausrede. Die Wahrheit ist: Die Angst ist ein Bote. Sie sagt mir, dass ich nicht so sicher bin, wie ich denke. Dass jede Nacht eine Chance ist, dass mein Inneres mir in den Rücken fällt.
Und wenn ich dann im Dunkeln liege, mit offenen Augen, weiß ich: Ich werde wieder träumen. Und ich werde wieder aufwachen. Und ich werde wieder glauben, dass es diesmal keine Bedeutung hatte – bis es mir am nächsten Morgen den Atem nimmt.
Es war einer dieser Julitage, an denen die Sonne sich wie ein Dorn in einen Finger bohrt. Die Hitze hing in meinem Jugendzimmer wie eine klebrige Decke, schwer und feucht, und selbst das übriggebliebene Cola schmeckt, als wäre sie den ganzen Nachmittag in einer Blechtonne in der Sonne gestanden. Die Hitze war nicht einfach warm, sie lag auf allem wie ein schweres Gewicht. Jeder Atemzug fühlte sich dickflüssig an, als müsste man durch Watte atmen. Die Möbel schienen sie zu speichern, das Bett, der Schrank, selbst die Wände gaben sie zurück. Nichts kühlte ab, alles stand still, als hätte der Tag beschlossen, sich nicht weiterzubewegen. Ich saß auf meinem Bett. Der alte Ventilator, den ich mir 2006 im Sommerschlussverkauf gekauft hatte, brummte gleichmäßig vor sich hin. Er war nicht schön, schon lange nicht mehr, aber er tat seine Arbeit, ein heldenhafter Wächter gegen die stickige Hitze, die seit Wochen wie ein schwerer Dunst über Österreich lag. Trotz seines monotonen Surrens klebte mir der Schweiß im Nacken, und jedes Aufstehen fühlte sich an, als würde ich durch unsichtbaren Teer waten.
Draußen klapperten die Nachtzüge. Kein gleichmäßiges, beruhigendes Rattern, sondern dieses schrille, endlose Kreischen der Schienen, das wie ein Messer durch die dünnen Wände drang und sich in meinem Kopf festsetzte. Die Nacht selbst war schwer, ohne Wind, ohne Bewegung, nur gefüllt mit Geräuschen, die zu laut für diese Stunde waren. Ein Hund bellte irgendwo, dann Stille, die sich anfühlte wie ein Zwischenraum, bevor der nächste Zug vorbeischoss.
Der Himmel hing dunkelgrau über den Häusern, ohne Sterne, nur von einem fahlen, orangeroten Schimmer durchzogen, den die Stadt in ihn hineinpresste. Im Zimmer klebte die Wärme noch immer, und mit ihr dieses Gefühl, dass die Nacht keinen Schutz bot. Kein Mantel, keine Ruhe – nur eine Fortsetzung des Tages, härter, kantiger, von außen gegen die Mauern gedrückt.
Ich versuchte, es auszublenden. Ich zog die Beine an, ließ mich tiefer ins Bett sinken und griff zum Handy – meiner kleinen Flucht aus der Enge des Zimmers. Mein Daumen scrollte hektisch durch Instagram, als würde ich etwas Bestimmtes suchen, ohne zu wissen, was. Die vertrauten Gesichter von Influencern, Freunden, alten Bekannten glitten an mir vorbei. Einige hatten ihr Leben perfekt inszeniert – sonnige Strände, Iced Matcha Latte mit kunstvollen Milchschaumherzen, frisch gestylte Selfies. Andere posteten flüchtige, fast belanglose Dinge, die dennoch eine merkwürdige Wärme ausstrahlten. Und dann waren da die unzähligen Gesichter von Menschen, die ich noch nie im echten Leben gesehen hatte und vielleicht nie sehen würde, doch irgendwie waren sie mir nicht fremd, sondern vertrauter, als manchen Menschen, denen ich täglich begegnete. Mit jeder neuen Story, jedem neuen Bild spürte ich, wie sich ein seltsames Gefühl in mir ausbreitete. Als würde ich durch Fenster in fremde Welten spähen und gleichzeitig selbst von tausenden unsichtbaren Augen beobachtet werden.
Meine Welt war trist. Kein Filter, kein sonnendurchfluteter Balkon mit Latte Macchiato, kein perfekt inszeniertes Selfie im Abendlicht. Nichts, das „Instagram-reif“ gewesen wäre. Mein Zimmer war stickig, der Ventilator alt und klappernd, die Bettwäsche vom Schweiß der letzten Nächte durchzogen. An den Wänden klebten Spuren vergangener Sommer, winzige Risse, Staub in den Ecken, den ich längst nicht mehr wahrnahm. Während andere ihr Leben in kleinen, glänzenden Quadraten darstellten, saß ich hier, mit leerem Blick und einem Handy in der Hand, das mir nur vorgaukelte, dazuzugehören.
Die Züge und das Hundebellen draußen erinnerten mich daran, dass auch jetzt, irgendwo jenseits meiner vier Wände, das Leben weiterging, laut, chaotisch, voller Energie. Aber meine kleine Welt war still, farblos und schwer. Ein Ort, der sich nicht für Geschichten eignete. Ein Ort, an dem nichts passierte. Zumindest dachte ich es, bis jetzt.
Schlafen konnte ich nicht. Nicht richtig. Die Nächte waren ein endloses Herumwälzen, ein ewiges Ringen mit Kissen und Decke, die sich mal zu schwer, mal zu leicht anfühlten. Ich zählte Schäfchen, nicht dutzende, nicht hunderte – sondern Millionen, bis die Herde in meinem Kopf zu einem chaotischen Strom verschwamm, der mich eher wacher machte, als dass er mich einschläferte.
Die Minuten in diesen Nächten zogen sich in die Länge, wie ein endlos kauender Pfefferminzkaugummi, klebrig und zäh, gedehnt bis ins Unermessliche. Was mich wachhielt, waren Gedanken, die nicht stillzustehen wussten. Sie sprangen vom Hundertsten ins Tausendste, von Belanglosigkeiten hin zu Abgründen. Ein kleiner Impuls reichte, ein Geräusch, ein Satz aus einer Erinnerung, und schon spannte mein Kopf Fäden, bis daraus ein ganzes Netz wurde, in dem ich mich selbst verfing. Es war, als würde mein Körper nicht mehr wissen, wie Schlaf funktioniert.
Früher konnte ich mich einfach ins Bett legen, und irgendwann fielen meine Augen zu, und ich glitt in einen tiefen erholsamen Schlaf. Jetzt lag ich im Dunkeln, die Augen offen, und fühlte, wie mein Herz im Takt des stetig wachsenden Mondes schlug.
Meine Familie wollte mich immer belehren: „Mach halt Sport“, sagten sie, „trink weniger Energy Drinks“, oder: „Leg dich später hin.“ Sie hatten Recht. Aber was nützt die Wahrheit, wenn man sie erst begreift, wenn es längst zu spät ist? Anfangs dachte ich mir, dass diese Nächte vielleicht kleine Ausrutscher waren, eine vorübergehende Phase.
Aber die Wahrheit war: Ich wusste, dass etwas in mir schon lange auf Fehlermeldung lief – nicht kaputt wie ein Unfallauto; aber wie ein Motor, der repariert gehört. Der Sommer machte alles schlimmer. Die Nächte waren zu warm, zu schwül. Selbst um zwei Uhr morgens hing noch ein Rest der Hitze in der Luft, als wäre die Sonne zwar verschwunden, aber ihre Präsenz spüre man noch klar.
Ich schwitzte. Mein Kopf klebte am Kissen. Die Gelsen machten komische Geräusche, ein hohes Pfeifen, das sich in mein Innenohr brannte. Ich konnte nicht sagen, ob die Geräusche wirklich so laut waren, oder ob bereits das kleinste Rauschen zu viel war für meinen müden Geist. Am sechsten Abend in Folge, an dem ich keinen Schlaf fand, beschloss ich, mir Hilfe zu holen. Der Gedanke war nicht spontan, er hatte sich über Tage in mir angestaut wie ein Druck, den ich nicht länger ignorieren konnte. Meine Hände zitterten leicht, als ich nach meinem Handy griff. Das Display blendete mich. 3:32 Uhr. Eine Stunde, in der die Welt stillzustehen scheint, zu spät, um noch Nacht zu nennen, und zu früh, um schon Morgen zu sein. Ich starrte auf die Zahlen, als hätten sie eine verborgene Botschaft, als wären sie ein Zeichen dafür, dass es an der Zeit war. Ich öffnete WhatsApp, mein Daumen glitt fast automatisch über den Bildschirm. Die Nummer meiner Psychiaterin erschien, nüchtern, unscheinbar, und doch wirkte sie in diesem Moment wie eine Rettungsleine. Ich atmete tief ein, spürte, wie meine Brust sich hob und senkte, schneller, als ich es wollte. Dann begann ich zu tippen.
Erst zögerlich, einzelne Wörter, die ich sofort wieder löschte. Mein Kopf tobte, meine Gedanken überschlugen sich, und das leuchtende Textfeld vor mir wurde zum Schlachtfeld meiner Unsicherheit. Würde sie überhaupt antworten? War es zu spät? Wirkte ich schwach, hilflos, lächerlich? Doch während ich da saß, das Handy fest in der Hand, schien die Dunkelheit um mich herum dichter zu werden. Ich spürte, dass ich etwas schreiben musste, egal was. Denn Schweigen fühlte sich in dieser Nacht wie ein Abgrund an, in den ich langsam, aber sicher hinabgezogen wurde.
Schließlich schrieb ich, fast wie im Affekt:
„Liebe Frau Doktor, ich bräuchte einen Termin. Zeitnahe, bitte. Ich kann nicht schlafen.“ Einen Moment lang starrte ich auf die Worte, unfähig, sie zu löschen. Mein Daumen schwebte über dem Papierkorb-Icon, doch dann geschah es: Ich drückte auf „Senden“.
Das kleine graue Häkchen erschien sofort. Einmal. Zweimal. Nachricht zugestellt. Ich atmete flach, als hätte ich gerade eine Grenze überschritten, die ich mir selbst jahrelang nicht zu übertreten getraut hatte. Ich legte das Handy neben mich, doch mein Blick blieb daran kleben. Jede Sekunde, in der der Bildschirm dunkel blieb, dehnte sich ins Unendliche. Vielleicht würde sie erst am Morgen antworten. Vielleicht gar nicht. Ein Hauch von Reue stieg in mir auf – hatte ich zu viel gesagt? Zu ehrlich? Zu schwach? Ich blickte noch ein paar Sekunden auf die Nachricht, als wollte ich prüfen, ob sie wirklich da stand und nicht nur eine Projektion meiner übermüdeten Gedanken war. Dann beschloss ich, aus dem Bett zu kriechen. Schlaf war ohnehin eine Illusion geworden.
Der Holzboden knackte unter meinen Schritten, so laut, dass es mir vorkam, als würde das ganze Haus zuhören. Als ich mein Zimmer verließ, umfing mich sofort eine plötzliche Kühle, die mich frösteln ließ. Der Flur war in ein fahles, graues Halbdunkel getaucht, das die Ecken tiefer und fremder wirken ließ.
In der Küche goss ich mir ein Glas Wasser ein. Der Klang des plätschernden Leitungsstrahls war so klar und übertrieben laut in der nächtlichen Stille, dass er beinahe fremd klang. Ich trank hastig, das Glas zitterte leicht in meiner Hand, dann ging ich hinaus auf die Terrasse.
Die Luft war schwer, und doch brachte sie eine seltsame Frische mit sich, als hätte die Nacht selbst beschlossen, mich wachzuhalten. Vor mir lag die Dunkelheit, nicht friedlich, nicht beruhigend, sondern durchzogen von einer Unruhe, die ich nicht benennen konnte. Die Bäume standen still, ihre Schatten wirkten wie unbewegte Wächter. Die Straße war leer, eine endlose schwarze Bahn, die ins Nichts führte. Von der Ferne her schnitt das Rattern eines Schnellzugs durch die Nacht, ein Hund bellte. Sie waren die einzigen Zeichen dafür, dass irgendwo da draußen noch Leben pulsierte.
Doch hier, in meinem kleinen Fleck der Welt, schien alles wie eingefroren – als hielte die Nacht selbst den Atem an. Ich dachte daran, wie alles angefangen hatte – vor fast einem Jahrzehnt, als meine Psyche zum ersten Mal anfing, ihre eigenen Wege zu gehen. Damals war es noch ein Flüstern, ein kaum wahrnehmbares Zittern unter der Oberfläche. Ein paar schlaflose Nächte, diffuse Ängste, die ich nicht benennen konnte. Für eine Weile schien es zu funktionieren, oder ich redete es mir zumindest ein. Vielleicht lag der Anfang sogar noch weiter zurück. In Nächten, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte, weil sie zu unscheinbar waren oder weil ich sie längst verdrängt hatte. Vielleicht trug ich diese Schatten schon viel länger in mir, als mir lieb war. Manche Dinge graben sich leise in einen ein, ohne dass man merkt, dass sie längst Wurzeln geschlagen haben. Man lacht. Man funktioniert. Man sagt: „Alles gut.“ Doch manchmal sagt genau dieser Satz das Gegenteil. Ich brach nicht laut. Sondern still, denn in einer Welt, in der Stärke mit Schweigen verwechselt wird, geht viel zu viel verloren, bevor jemand fragt, wie es einem wirklich geht. Und um ehrlich zu sein, das ist ein Vollzeitjob ohne Gehalt. Du kämpfst dich durch den Tag. Das kostet Kraft. Und dann fragt die Gesellschaft dich, warum du nichts beruflich machst – als ob Überleben kein Beruf wäre.
Und jetzt? Jetzt war jede Nacht besonders. Besonders schlimm. Keine blieb bedeutungslos, keine war neutral. Jede Nacht wurde zu einer Prüfung, einem endlosen Ringen mit Gedanken, die nicht verstummten. Es gab keine Gleichgültigkeit mehr, nur Extreme. Entweder Dunkelheit, die mich auffraß, oder Erinnerungen, die mich zerschnitten.
Die Terrasse unter meinen Füßen fühlte sich hart an, härter als sonst. Ich starrte hinaus in die schwärzliche Leere und spürte, wie mich das Gewicht dieser Jahre übermannte. Zehn Jahre, dachte ich. Zehn Jahre Kampf gegen etwas, das Anfangs keinen Namen tragen wollte. Meine Schwester Lisa sagte: „Du bist halt nervös.“ Meine Mutter nannte es Unruhe. Ich selbst nannte es gar nicht. Und vielleicht war genau das der Fehler: dass ich diesem Schatten keinen Namen geben wollte.
Und plötzlich wurde mir klar: Es waren nicht nur Nächte. Es war ein Jahrzehnt, das mich wachgehalten hatte.
Die Küchenuhr zeigte 4:12 Uhr. Ich ließ mich vor dem Fernseher nieder und schaltete ihn ein: Wetterpanorama. Die Abfolge der Kamerabilder kannte ich längst auswendig – jeden Morgen derselbe Ablauf. Und doch blieb ich sitzen, sah zu, als könnte in einem dieser vertrauten Bilder ein neues Detail auftauchen – etwas, das bisher verborgen geblieben war. Ein leiser Wind bewegte die Gardinen, brachte aber keine wirkliche Kühle. Ich trat wieder hinaus auf die Terrasse und zündete mir eine Zigarette an. Schon beim ersten Zug brannte der Rauch in meiner Kehle, scharf, kratzend, fast schmerzhaft. Genau das war der Kick, den ich brauchte. Meine Lungen füllten sich, als würden sie kurzzeitig aufatmen, obwohl ich wusste, dass sie in Wahrheit nur noch schwerer wurden. Der erste Zug am Morgen war kein Genuss, er war ein Faustschlag – und vielleicht war es genau das, was ich wollte.
Ein Schlag, der mich spüren ließ, dass ich noch wach war, dass ich noch hier war.
Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nicht mehr morgens zu rauchen. Ich hatte es mir eingeredet, wie ein kleines, strenges Mantra. Aber vielleicht war genau dieses Verbot der Grund, warum ich es tat. Vielleicht schmeckte das Verbotene einfach stärker. Der Rauch hing in der Luft wie eine Erinnerung, schwer, klebrig, träge, und brachte mich zurück in andere Sommer.
Ich dachte an Bulgarien, an diesen Sommer nach der Matura. Nächte, die niemals enden wollten. Nächte, in denen ich Fremde küsste, als hätte man unendliche Leben, um Fehler zu machen. Nächte, in denen wir Pizza um fünf Uhr morgens aßen, betrunken, lachend, und einfach irgendwann einschliefen – mitten im Gespräch, mitten im Chaos. Schlaf war damals keine Frage, kein Problem, keine Schlacht. Er kam von selbst. Sanft, unaufdringlich. Schlaf passierte, wie Atmen. Jetzt war es anders. Schlaf war eine Fremdsprache geworden. Ich kannte noch die Vokabeln, ich erinnerte mich an den Klang, aber ich brachte keinen Satz mehr heraus. Jeder Versuch klang holprig, unverständlich, und mein Körper reagierte, als hätte er vergessen, was „einschlafen“ überhaupt bedeutet.
Die Zigarette brannte langsam herunter, glühte im Zwielicht der ersten Morgenstunde. Irgendwann bemerkte ich, dass es heller wurde. Der Himmel färbte sich grau, dann blassblau, die Nacht zog sich zurück. Die Welt erwachte, und ich fühlte mich, als wäre ich die ganze Zeit nur Zuschauer gewesen, nicht Teil davon.
In diesem Moment vibrierte mein Handy. Eine Mitteilung ploppte auf, das helle Display zerschnitt die Morgendämmerung. Ich blinzelte, mein Herzschlag beschleunigte sich. Es war eine Nachricht von meiner Psychiaterin.
„Kommen Sie heute um 12 Uhr zu mir in die Praxis. Es ist jemand ausgefallen“, stand da. Endlich Hilfe.
Kurz vor 11 Uhr fuhr ich los. Der Motor meines Fiats brummte tief, ein gleichmäßiges Grollen, das sich durch das Lenkrad in meine Hände vibrierte. Es klang nicht einfach nach Mechanik – eher, als hätte die Maschine ihre eigenen Geheimnisse, die sie mir nicht erzählen wollte. Ein Klang, wie ein Herzschlag aus Metall, alt und verlässlich, aber mit einer unterschwelligen Melodie, die etwas Dunkles in sich trug.
Die Straßen lagen beinahe leer da, nur vereinzelt huschten Autos an mir vorbei, wie Schatten, die in Eile waren. Die Sonne stand hoch, doch die Welt wirkte gedämpft, fast so, als hätte sie ein grauer Filter überzogen. Keine Ahnung, ob es nur mir so vorkam. Man kann sich viel einbilden, wenn man nicht schläft. Mein Blick wanderte in den Rückspiegel. Leere. Doch für einen Augenblick schwor ich, dort eine Bewegung gesehen zu haben, einen Schimmer, ein flüchtiges Blitzen. Ich riss die Augen auf, das Grollen des Motors füllte den Raum zwischen meinen Gedanken. Die Müdigkeit war da, schwer und allgegenwärtig. Sie kroch mir in die Knochen, legte sich wie ein Schleier über meine Augen. Das gleichmäßige Brummen des Motors wirkte hypnotisch, fast wie eine Melodie, die mich in einen ungewollten Schlaf wiegen wollte.
Meine Lider wurden schwer. Immer wieder musste ich sie mit Gewalt hochreißen, als klebten sie zusammen. Der Asphalt vor mir verschwamm, die weißen Markierungen dehnten sich wie endlose Striche, die ineinanderflossen. Einmal erwischte ich mich dabei, wie ich blinzelte, nur ein kurzer Augenblick, und als ich wieder aufblickte, war ich schon ein Stück näher an der Mittellinie. Ein Schreck jagte mir Adrenalin durch den Körper. Ich packte das Lenkrad fester, als könnte ich mich damit wachhalten. Doch der Schlaf spielte mit mir, grausam und verführerisch zugleich. Jeder Kilometer fühlte sich an, als würde ich auf einem schmalen Grat fahren: links die Realität, rechts der Abgrund des Einschlafens. Das Summen der Reifen, das monotone Grollen – alles lullte mich ein. Ich riss das Fenster herunter. Kühle Luft strömte ins Innere, biss mir ins Gesicht. Für einen Moment fühlte ich mich wacher, spürte, wie meine Haut prickelte. Doch schon nach wenigen Minuten schlich die Müdigkeit zurück, lauernd, geduldig, als wüsste sie, dass ich irgendwann nachgeben musste. Ich drehte das Radio auf, so laut, dass ich beinahe benommen war. Die Stimmen überschlugen sich, Musik und Nachrichten vermischten sich zu einem einzigen Strom, der keinen Raum für Müdigkeit ließ. Ich dachte an die letzte Nacht, an die Nächte davor. Sechs, sieben, acht Nächte ohne Schlaf. Jede einzelne hatte mich Stück für Stück näher an diesen Punkt gebracht. Jetzt war es, als würde mein Körper einfach aufgeben wollen, egal, ob ich hinterm Steuer saß oder nicht. Ein Horn dröhnte plötzlich von hinten, ich zuckte zusammen. Ein Auto zog knapp an mir vorbei, der Fahrer schimpfte, ich sah nur kurz seine geballte Faust. Mein Herz raste, Schweiß trat mir auf die Stirn. Für ein paar Sekunden war ich hellwach, doch ich wusste: die Müdigkeit würde wiederkommen. Ich fuhr eine Seitenstraße entlang. Schaufenster spiegelten mein Gesicht, aber nicht so, wie es gerade war – jedes Spiegelbild schien mich leicht zu verändern. Die Schultern schmaler, die Augen dunkler, der Mund zu einer Linie gepresst. Vor dem Bahnhof drängten sich Menschen. Manche bewegten sich hastig, andere trugen diese gespielte Eile, als wollten sie nur nicht stillstehen, weil dann jemand merken könnte, dass sie gar kein Ziel hatten. Aus der Bahnhofshalle wehte ein Geruch nach Metall, altem Kaffee, den ich trotz geschlossener Fenster roch. Ich hielt den Atem kurz an, ohne es zu merken. Ein Mann mit einem übergroßen Koffer stand vor der Halle. Er bewegte sich nicht. Ich konnte nicht sagen, ob er auf jemanden wartete oder ob er schon zu lange dort stand, um noch wegzugehen. Ich bog in die Hauptplatzstraße ein. Das Kopfsteinpflaster klang unter den Reifen wie ein gedämpfter Herzschlag. Die Fenster der Geschäfte warfen lange Schatten über die Straße, sie waren südseitig gerichtet, als wollten sie sehen, wer sich da zwischen ihnen hindurch schlich.
Das alte Kino stand links, seine Neonbuchstaben flackerten wie ein Morsecode. Rechts ein Café, in dem Lisa und ich einmal saßen, ohne zu sprechen, nur der Dampf aus unseren Tassen stieg auf, wie etwas, das uns beobachtete. Ich fuhr aus der Stadt raus, denn die Praxis meiner Ärztin lag in einer Nachbarstadt. Eine Brücke lag vor mir, das Wasser darunter war blau mit vereinzelten silbernen Blitzen, wie Augen, die im Dunkeln kurz geöffnet werden. Als ich die Hand aus dem Fenster legte, war das Geländer kälter, als es hätte sein dürfen. Jeder Ort schien mir eine Frage zu stellen: Bleibst du oder fährst du weiter?
Ich fuhr weiter.
Als ich die Stadtgrenze erreichte, drehte ich den Kopf, um ein letztes Mal zurückzusehen. Die Stadt lag da wie ein schlafender Hund, friedlich, aber unter den geschlossenen Lidern bewegte sich etwas. Die Landstraße nahm mich auf wie ein schmaler Fluss, und die Felder links und rechts lagen goldig und still. In der Ferne standen Windräder, unbewegt, als hätten sie beschlossen, dass heute nichts drehen wird. Ich drehte das Radio lauter, nur um zu merken, dass der Sender längst verrauscht war. Kein Rauschen wie im Film, sondern dieses tiefe, fast körperliche Knacken, das in den Ohren hängen bleibt. Ich schaltete aus.
Hinter einer Kurve kam eine kleine Brücke, Beton mit rostigen Geländern. Unter ihr kein Wasser, nur ein trockener Graben, der aussah, als hätte er schon lange darauf gewartet, wieder gefüllt zu werden. Ich fuhr langsam, als müsste ich abwägen, ob ich wirklich drüber will. Die nächste Kreuzung kam. Links ins nächste Dorf. Rechts ein Schild, halb im Gestrüpp, der Name kaum lesbar.
Ich fuhr geradeaus.
In der Ferne tauchte ein Bauernhof auf. Moos auf dem Dach, das im diffusen Licht dunkelgrün schimmerte. Vor der Tür stand eine Frau in einer ausgefransten Schürze, den Korb voller Äpfel in der Hand. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich wusste, dass sie den Kopf leicht neigte, so wie man es tut, wenn man jemanden erkennt – oder sich sicher ist, dass man ihn erkennen sollte. Ich bremste nicht. Dann endlich erreichte ich mein Ziel. Ich lenkte das Auto auf den kleinen Parkplatz vor dem Ärztehaus, der fast leer war. Der Motor verstummte, ein letzter Ruck, dann herrschte Stille. Nur mein Herz schlug noch schnell, unruhig, als wollte es den Platz des Motors einnehmen. Ich blieb einen Moment lang sitzen, die Hände noch immer am Lenkrad. Meine Finger waren verkrampft, als müsste ich die Fahrt noch festhalten. Die Müdigkeit fiel nicht von mir ab, sie blieb kleben, aber jetzt mischte sich etwas anderes dazu: Nervosität. Ein flaues Ziehen im Magen, ein unbestimmtes Frösteln. Langsam öffnete ich die Autotür. Ein Schwall schwüler Luft schlug mir entgegen, mit dem Geruch von feuchtem Asphalt und abgestandenem Rauch von irgendwoher. Meine Schritte hallten dumpf über den Beton, als ich zum Eingang ging. Die Fassade des Hauses wirkte noch grauer als sonst, beinahe abweisend. Nur das Schild neben der Tür, mit den Namen der Ärzte, gab dem Ort eine nüchterne Sachlichkeit. Im Erdgeschoss blieb ich stehen. Die Praxis lag im ersten Stock, das wusste ich, doch meine Beine weigerten sich, sofort die Treppen zu nehmen. Ich lehnte mich an die kühle Wandfliese, atmete tief durch und versuchte, den Schwindel zu vertreiben, der mit der Müdigkeit kam.
Der Flur roch nach Putzmittel, gemischt mit einem Hauch Lufterfrischer, der mich an eine bunte Wiese erinnerte, so eine, wie man sie aus der Waschmittelwerbung kannte. Von irgendwoher klapperte eine Tür, vielleicht eine andere Praxis, vielleicht nur ein Lagerraum. Ich hörte das Summen der Lampen über mir, gleichmäßig, aber aufdringlich, als wollte es meine Nerven reizen.
Dann plötzlich eine Stimme, von oben, durch das Treppenhaus hallend:
„Kommen Sie ruhig herauf!“
Es war die Stimme meiner Psychiaterin, warm, aber durch den Hall fremd verzerrt. Ich blickte nach oben und sah für einen Moment nur das Geländer, den Treppenschacht, eine verschwommene Bewegung. Ich schluckte trocken. Der Klang ihrer Stimme hatte mich überrascht, fast erschreckt, und zugleich war er wie ein Befehl, der keinen Aufschub zuließ. Langsam setzte ich den Fuß auf die erste Stufe, das Holz knarrte. Meine Hand glitt über das kalte Metall des Geländers. Mit jedem Schritt nach oben schien die Müdigkeit schwerer zu werden, als würde sie an meinen Schultern zerren. Doch die Stimme von eben hing noch in der Luft, wie ein Versprechen.
„Ich kann nicht schlafen“, murmelte ich. Meine Stimme zerschnitt die Stille in dem Behandlungsraum meiner Psychiaterin. Modern und zeitgenössisch eingerichtet, wirkte die Praxis fast wie eine kleine Oase. Klare Linien, helle Wände, Kunst an den richtigen Stellen – nichts Überladenes, nichts, das ablenkte. Es war ein Raum, der dazu einlud, Schichten abzulegen. Ein Raum, der still und gleichzeitig fordernd war, als wolle er einem sagen: Hier gibt es kein Versteck. Hier kannst du sprechen. Oder musst es sogar. Sie war die Ruhe in Person, stets kontrolliert, mit einer Gelassenheit, die ansteckend wirkte. Als sie sich zu mir umdrehte, schenkte sie mir dieses routinierte Lächeln, das man so oft in Arztpraxen sieht, freundlich, professionell, beruhigend. Doch dann, kaum dass ihre Augen länger auf mir ruhten, veränderte sich etwas. Das Lächeln zitterte, schwankte, und schließlich brach es. In diesem Augenblick wusste sie es. Noch bevor ich ein Wort gesagt hatte, ahnte sie, dass mein Zustand tiefer reichte, als ich es jemals in Sprache fassen könnte. Da lag etwas in meinem Gesicht, meiner Haltung, meiner ganzen Art, den Raum zu betreten – etwas, das sie nicht ignorieren konnte.
Ein Moment der Stille entstand, schwer und dicht, als würde die Luft im Raum mit uns beiden atmen.
Dann setzte sie sich, schlug ihren Laptop auf, aber ihre Augen blieben an mir haften. Nicht routiniert. Nicht distanziert. Sondern wach, angespannt, fast alarmiert.
„Wissen Sie, ich bekomme keinen Schlaf mehr“, hörte ich mich sagen, während meine Stimme wie von selbst in den Raum kroch. „Nur ein wilder Strom aus Gedanken, der mich wach hält.“ Meine Finger verkrampften sich um den Autoschlüssel in meinem Schoß, so fest, dass sich das kalte Metall in die Haut grub. Es fühlte sich an, als hinge mein Leben an diesem Schlüssel, als wäre er das einzige Gewicht, das mich noch im Hier verankerte.
Draußen kochte die Julihitze, unsichtbar und unbarmherzig. Durch das geöffnete Fenster drang das Summen von Insekten herein, draußen klebte die Luft am Asphalt, während drinnen mein Make-up längst aufgegeben hatte. Es schmolz zu einem öligen Film auf meiner Haut, als würde auch mein Gesicht zerfließen, unklar und unfassbar.
Sie schwieg.
Dieses Schweigen war kein beiläufiges, sondern ein genau dosiertes, ein Schweigen, das den Raum füllte, bis ich mir darin verloren vorkam. Ich hob den Blick, fast trotzig, und musterte sie. Ihr rotorangenes Kleid leuchtete, als wäre es nicht aus Stoff, sondern aus einer Flamme gewoben. Es schmiegte sich an ihre Haut, die golden schimmerte, als sei sie frisch von einem Nachmittag am Meer zurückgekehrt, irgendwo in Porto, dort wo man hingeht, wenn man eine Pause vom Leben braucht. Ihre Füße, in schmalen Sandaletten, wirkten so selbstverständlich in diesem Raum, so unbeschwert. Der rote Lack auf den Zehennägeln funkelte, als reflektiere er ein unsichtbares Licht. Sie wirkte unverschämt lebendig, vital, pulsierend. Und ich - ich war ein Schatten. Ein Körper, der sich in einen Stuhl gesetzt hatte, doch schon dabei war, in sich zusammenzufallen. „Wissen Sie“, begann sie schließlich, und ihre Stimme brach das Schweigen wie ein Skalpell. Nicht hart, aber präzise, mit diesem Tonfall, der keine Zweifel kannte. „Es gibt ein paar Präparate am Markt, die Ihre Schlaflosigkeit zuverlässig lindern.“ Während sie sprach, musterte sie mich mit einem Blick, der zugleich sachlich und durchdringend war. Worte wie „Präparate“, „lindern“, „zuverlässig“ glitten durch den Raum – nüchtern, klinisch, tröstend. Doch in meinem Kopf hallten sie anders nach, wie Zauberworte, wie Versprechen auf eine Welt, die ich längst verloren hatte: eine Welt, in der Schlaf einfach geschah, so beiläufig wie ein Atemzug. Ich schluckte trocken. „Ich nehme alles“, platzte es aus mir heraus. „Hauptsache, ich schlafe.“ Sie nickte knapp, dann sagte sie: „Ich verschreibe Ihnen Loriladeril. Ein Medikament, das den Schlaf anstößt. Die Wirkung ist verlässlich, viele meiner Patienten können damit endlich wieder durchschlafen.“
Ich blinzelte.
Die ganze Palette an Präparaten, die es am Markt gibt, hatte ich schon durchprobiert – ohne Erfolg. Doch Loriladeril… das war neu.
„Ich schreibe Ihnen ein Rezept“, fuhr sie fort. „Sie können es gleich in der Apotheke holen.“
„Klasse!“ Das Wort schoss aus mir heraus wie eine Rakete, ungebremst, unüberlegt, fast euphorisch.
Wir kannten uns seit Jahren, meine Psychiaterin und ich. Unzählige Gespräche hatten wir geführt, über das Auf und Ab meiner Gedanken, über Krisen, die kamen und gingen. Sie hatte mich oft aufgefangen, wenn ich glaubte, dass da nichts mehr war, woran ich mich halten konnte. Und trotzdem überraschte es mich gerade in diesem Moment, wie leicht es mir fiel, ihr bedingungslos zu vertrauen. Vielleicht lag es an der Ruhe in ihrer Stimme, an dieser Mischung aus Professionalität und leiser Wärme, die sie eigentlich fast immer zeigte und die auch heute wieder einmal ganz klar durchschimmerte. Vielleicht auch daran, dass ich in meiner Erschöpfung jede Hand ergriffen hätte, die sich mir entgegenstreckte. Aber da war noch mehr: ein Gefühl, als hätte ich mit meiner Müdigkeit und Verzweiflung eine unsichtbare Grenze überschritten, und auf der anderen Seite wartete nur sie.
Es war seltsam, dieses Vertrauen. Nicht naiv, nicht blind, sondern beinahe körperlich. So, als hätte mein erschöpfter Körper längst entschieden, dass sie die Einzige war, die noch einen Schlüssel zu dieser Tür in mir hatte. Und ich ließ es geschehen, ohne Widerstand, fast erleichtert.
Die Sonne lag wie eine dicke Schicht aus Watte auf der Stadt. Das Rezept klebte an meiner Handfläche, der Schweiß färbte es gräulich.
Ich machte mich auf den Weg zu meinem Auto, das Rezept hatte ich bereits sorgfältig in meiner Tasche verstaut. Jeder Schritt fühlte sich leichter an, fast so, als hätte ich schon die Hälfte des Weges hinter mir, noch bevor ich ihn gegangen war. In mir breitete sich etwas aus, das ich lange nicht mehr gespürt hatte: die Aussicht auf Schlaf. Kein nervöses Hoffen, kein quälendes Warten, sondern ein leises Versprechen, das irgendwo in diesem Moment auf mich wartete. Als ich die Fahrertür öffnete, war die Sonne schon hochgestiegen. Die Hitze schlug mir entgegen, aber sie konnte mir nichts mehr anhaben. Zum ersten Mal seit Tagen hatte ich das Gefühl, dass die Nacht mir vielleicht wieder gehören könnte.
Die Apotheke lag nur ein paar Straßen entfernt, und der kurze Weg dorthin fühlte sich an wie eine letzte kleine Prüfung. Drinnen empfing mich der typische Geruch: eine Mischung aus Desinfektionsmitteln, getrockneten Kräutern und etwas, das vage nach Johanniskraut roch.
Hinter dem Tresen stand eine Frau, die aussah, als würde sie nie schwitzen. Ihre Frisur hielt selbst in der Julihitze, als schütze sie ein unsichtbarer Kokon gegen Wind, Wetter und jede Regung. Ihre Augen blickten über den Rand der Brille hinweg prüfend auf mich.
„Loriladeril?“, fragte sie schließlich. Ihre Stimme war sachlich, ohne Tonfall, und doch klang die Frage für mich wie ein unausgesprochenes Geheimnis. Ich nickte, fast verschwörerisch, als würde ich ihr in diesem Moment mehr anvertrauen, als nur den Namen eines Medikaments. Sie verschwand nach hinten, in diesen kleinen, labyrinthartigen Raum voller Regale, die bis zur Decke reichten. Ich stellte mir vor, wie sie dort zwischen tausend Fläschchen und Schachteln suchte, jede mit ihrem eigenen Versprechen: Heilung, Linderung, Rettung. Als sie zurückkam, hielt sie eine kleine weiße Packung in der Hand. „Bitte sehr.“ In diesem Augenblick musste ich laut auflachen. Auf der Vorderseite war eine Birke abgebildet: schlank, leuchtend, mit Blättern, die aussahen, als hätte jemand sie direkt von einem Magazin über Gärten und Waldbäume ausgeschnitten und auf die Schachtel geklebt.
Es wirkte so absurd schön, fast kitschig, dass ich nicht anders konnte, als es als ein Zeichen zu deuten. Ein klares Versprechen, dass ich den Schlaf wiederfinden würde, so selbstverständlich und schlicht, wie eine Birke im Sommerlaub dasteht.
Zuhause legte ich die Schachtel auf den Tisch, so sorgfältig, als wäre sie ein zerbrechlicher Schatz. Ich starrte sie an, als könnte ich mit bloßem Willen ihre Wirkung heraufbeschwören, als würde die bloße Nähe schon reichen, um den Schlaf heranzulocken. Die Birke auf der Verpackung wirkte im schwachen Licht des Hauses fast wie ein Bild aus einer anderen Welt: hell, klar, unberührt.
Am Abend kam Mama von der Arbeit heim. Sie stellte ihre Tasche neben der Tür ab, wie immer ordentlich aufrecht, als müsste selbst sie sich nach einem langen Tag noch zusammenreißen. Ihre Bluse roch nach warmer Luft und ein wenig nach Parfum, das längst hätte verflogen sein sollen.
„Alles gut bei dir?“ fragte sie beiläufig, während sie in die Küche ging, um Wasser aufzusetzen.
„Ja“, antwortete ich, fast automatisch. Mein Blick glitt kurz zur Schachtel mit der Birke, die auf dem Tisch lag, doch ich schob sie unauffällig ein Stück zur Seite, als wäre sie nur irgendein Prospekt, das man vergessen hatte wegzuräumen.
Sie bemerkte es nicht, oder tat zumindest so. „Ich hab unterwegs noch Brot geholt. Wir können gleich essen.“
„Okay.“
Wir sprachen über die Arbeit, über Kleinigkeiten im Haus, über das Wetter, das so heiß war. Es war ein Gespräch wie viele, sachlich, geordnet, ohne große Emotionen. Nichts von dem, was mir eigentlich auf der Zunge lag, kam heraus.
Die Schachtel blieb ungenannt, ein stiller Fremdkörper auf dem Tisch, den nur ich sah, den nur ich spürte.
Kurz vor dem Schlafengehen zündete ich mir noch eine Zigarette an. Der Rauch füllte meine Lungen, bitter und vertraut, während der Geschmack meinen Mund in ein Erlebnis aus Nikotin und Pfefferminz tauchte. Es war ein seltsames Ritual, das ich mir in den letzten Monaten angewöhnt hatte: kurz vor dem Zubettgehen eine letzte Zigarette, als bräuchte ich dieses Kratzen im Hals, um mich für die Nacht zu wappnen.
Die Minuten verflogen, bis die Zeiger schließlich auf 21 Uhr sprangen. Eine gewöhnliche Zeit, ein gewöhnlicher Abend, und doch fühlte er sich außergewöhnlich an. Zum ersten Mal seit Wochen lag etwas wie Vorfreude in der Luft, leise, zitternd, fast kindlich. Vorfreude auf eine erholsame Nacht. Auf Schlaf.
Ich schluckte das Medikament. Diese kleine Tablette, unscheinbar, und doch voller Versprechen, oder Drohungen, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtete. Sie glitt die Kehle hinunter, löste sich in mir auf, als wolle sie unbemerkt in jeden Winkel meines Körpers sickern.
Dann legte ich mich in mein Bett, mein Jugendbett aus den frühen 2000ern. Schmal, knarrend, umgeben von den Schatten alter Poster und dem Staub vergangener Jahre. Die Matratze war durchgelegen, doch sie kannte mich besser als jeder Arzt. Sie trug meine Nächte, in denen ich wachgelegen und gezählt hatte. Jede Kerbe im Holz, jedes Knarzen erinnerte mich daran, dass ich schon einmal dort gelegen hatte: verletzlich, suchend, voller Fragen, die niemand beantworten konnte. Von draußen drang ein Geräusch herein. Das sonnige Wetter des Tages hatte sich verwandelt, fast heimlich. Ein leichter Sommerregen fiel, trommelte gegen die Fensterbank, verwandelte den beinahe endenden Tag in eine Odyssee aus grauen Wolken, nass-feuchter Luft und einer Atmosphäre, die nach Veränderung roch. Ich atmete tief ein. Es war ein schöner Moment. Und ich fragte mich, ob sich auch ein Menschenleben so plötzlich wenden konnte, aus heiterem Himmel, mit einem einzigen Tropfen, einem einzigen Augenblick.
Bevor ich das Licht abdrehte, griff ich noch einmal zum Handy. Ein paar letzte Bewegungen, Daumen über Glas, vertraute Gesichter auf Instagram. Doch dann kam sie: eine Müdigkeit, so schwer, so bleiend, dass sie mich fast überrollte. Langsam, stetig, unwiderstehlich. Meine Augen wurden schwerer und schwerer, bis sie nachgaben.
Und plötzlich verstand ich: Jetzt war ich nicht mehr im Wachzustand.
Ich schwebte. Erst war es ein kaum spürendes Gleiten, dann wurde es zu einer Bewegung, die mich sanft trug, ohne dass ich wusste wohin. Farben begannen zu fließen, ineinander überzugehen, wie Wasserfarben auf nassem Papier. Aus dem Rauschen des Sommerregens formte sich eine vertraute Stadt. Der Regen hatte nur eine dünne Spur auf den Straßen zurückgelassen, aber die Luft war noch voll von ihm. Sie schmeckte feucht, als könnte man sie trinken. Über uns summte eine Straßenlaterne, die im Wind leicht schwankte, ihr Licht streute unruhig über den Asphalt. Unser kleines Städtchen, das am Rande eines großen Bezirks lag, war in einen gräulichen Schleier eingetaucht.
Meine Schwester Lisa stand einen Schritt vor mir, den Kopf leicht gesenkt, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Ihr Haar hing in blonden Strähnen, klebrig vom unsichtbaren Dunst, an der Wange festgeklebt, und doch schien sie es nicht zu kümmern. Sie wirkte, als sei dieses Warten hier nicht zufällig, sondern sorgfältig geplant. Als würde sie genau wissen, dass etwas kommen musste. Von weitem roch ich ihr Parfüm – schwer, orientalisch, wie eine Mischung aus Jasmin, Oud und verbrannter Vanille. Ein Duft, der nicht in diese Stadt passte, sondern in eine ferne arabische Stadt, in eine Gasse voller Rauch und Gewürze.
Meine Mutter stand leicht seitlich versetzt, die Handtasche fest an ihre Seite gedrückt, als wäre sie ein Schutzschild. Sie sah nicht zu mir und nicht zu Lisa. Ihr Blick war unbeweglich auf den Straßenrand geheftet, dorthin, wo die Dunkelheit am dichtesten war. Sie wirkte, als erwarte sie etwas, das nicht unbedingt sichtbar sein musste, sondern einfach geschehen würde – unausweichlich.
Dann kam der Bus. Zuerst nur zwei matte Lichter in der Ferne, ein Schimmer wie Irrlichter, die durch die Schwärze brachen. Dann der Körper, massig, schwarz, lautlos größer werdend, als würde er nicht fahren, sondern heranschweben. Die Reifen berührten schließlich den Asphalt, und ein gleichmäßiges Rauschen erfüllte die Luft. Kein Quietschen, kein hässliches Bremsen, nur ein dumpfes, kontrolliertes Anhalten, als wüsste das Fahrzeug genau, dass es erwartet wurde.
Mit einem scharfen Zischen öffneten sich die Türen. Ein Schwall abgestandener Luft strömte heraus, warm und schwer, durchsetzt von einem Geruch, den ich nicht sofort einordnen konnte. Gummi, Metall, vielleicht altes Leder. Aber darunter lag noch etwas anderes, etwas Süßliches, das an den Ritzen klebte – der Hauch von zuckerigem Kaugummi, der seit Jahren in den Böden festgetreten war, oder ein Rest von billigem Parfüm, das die Sitze noch nicht losgelassen hatten.
Lisa bewegte sich sofort. Ohne einen Blick zurück, ohne Zögern setzte sie den Fuß auf die erste Stufe.
„Allemann einsteigen!“, rief sie. Es war ein schneller, entschlossener Schritt, als hätte sie diesen Bus schon seit Wochen erwartet. Ich folgte ihr, fast automatisch, als würde mich ein unsichtbarer Faden hinterher ziehen. Meine Mutter kam zuletzt, dicht an mich gedrängt, die Handtasche noch immer wie ein Panzer an der Seite.
Die Stufen unter meinen Füßen fühlten sich merkwürdig weich an, abgeschabt, eingelaufen von tausenden Schuhen. Der Boden gab kaum spürbar nach, als hätte er all die Geschichten und Lasten gespeichert, die hier schon hinauf und hinunter gestiegen waren. Jeder Schritt hinterließ ein Echo, das sofort wieder verschluckt wurde.
Innen war es halbdunkel. Die Deckenleuchten flackerten schwach, als hätten sie Mühe, sich gegen die Nacht draußen zu behaupten. Es roch intensiver nach Metall und Staub, und meine Finger, als ich mich am Geländer festhielt, blieben leicht klebrig von einem Film, den ich lieber nicht näher betrachtete.
