Nachts - Stephen King - E-Book

Nachts E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Reisen in eine Welt beklemmender Albträume!
«Der Leser ist Stephen King gnadenlos ausgeliefert.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

Das E-Book Nachts wird angeboten von Heyne Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
ebooks, kurzgeschichte, bibliothek, polizist, zeitraffer, kamera, novelle, fotos, merkwürdiges, seltsames, horror

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Seitenzahl: 747

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Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Lob
KURZ VOR MITTERNACHT
DER BIBLIOTHEKSPOLIZIST
KAPITEL EINS – EINSTAND
1
2
3
4
KAPITEL ZWEI – DIE BIBLIOTHEK (I)
1
2
3
4
5
KAPITEL DREI – SAMS REDE
1
2
3
4
KAPITEL VIER – DIE VERLORENEN BÜCHER
1
2
3
4
KAPITEL FÜNF – ANGLE STREET (I)
1
2
KAPITEL SECHS – DIE BIBLIOTHEK (II)
1
2
3
4
KAPITEL SIEBEN – NÄCHTLICHE SCHRECKEN
1
2
3
4
5
KAPITEL ACHT – ANGLE STREET (II)
1
2
3
4
KAPITEL NEUN – DER BIBLIOTHEKSPOLIZIST (I)
KAPITEL ZEHN – CHRON-O-LOGISCH GESPROCHEN
1
2
3
4
5
6
7
8
KAPITEL ELF – DAVES GESCHICHTE
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
KAPITEL ZWÖLF – IM FLUGZEUG NACH DES MOINES
1
2
3
4
5
6
7
8
KAPITEL DREIZEHN – DER BIBLIOTHEKSPOLIZIST (II)
1
2
KAPITEL VIERZEHN – DIE BIBLIOTHEK (III)
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
KAPITEL FÜNFZEHN – ANGLE STREET (III)
1
2
3
ZEITRAFFER
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
Epilog
Copyright
Das Buch
Der Band »Nachts« vereinigt – neben dem autobiographischen Prolog »Kurz vor Mittemacht« – die beiden umfangreichen Erzählungen »Der Bibliothekspolizist« und »Zeitraffer«. In einer Vorbemerkung zu »Der Bibliothekspolizist« bekennt Stephen King, daß er als Kind schreckliche Angst vor eben diesen (eingebildeten) Polizisten gehabt habe -« diesen anonymen Vollstreckern, die tatsächlich zu einem nach Hause kamen, wenn man seine überfälligen Bücher nicht zurückbrachte. Das war schon schlimm genug...aber was passierte, wenn man die fraglichen Bücher nicht fand, wenn diese seltsamen Gesetzeshüter auftauchten?« Genau um diese bohrenden und zugleich fesselnden Fragen, die scheinbar längst überwundene Kindheitsängste aufrühren, geht es in der vorliegenden Geschichte: Ein Anwalt, der die in einer öffentlichen Bibliothek ausgeliehenen Bücher versehentlich vernichtet hat, beginnt Höllenqualen zu leiden... Als Bindeglied zwischen den beiden längeren Romanen »Stark – The Dark Half« und »In einer kleinen Stadt – Needful Things« entstand »Zeitraffer«, eine Geschichte über Kameras und Fotografieren. Am 15. September war Kevins 15. Geburtstag, und er bekam genau das, was er sich gewünscht hatte: eine Polaroidkamera. Aber einerlei, welches Motiv er wählt, die Kamera zeigt immer nur das Bild eines Hundes. Es hilft Kevin wenig, daß er die Kamera umzutauschen versucht. Der Hund entwickelt sich zu einem peinigenden Alptraum, der alsbald reale Gestalt annimmt und Kevin mit seinem Haß verfolgt.
Der Autor
Stephen King alias Richard Bachman gilt weltweit unbestritten als der Meister der modernen Horrorliteratur. Seine Bücher haben eine Weltauflage von 100 Millionen weit überschritten. Seine Romane wurden von den besten Regisseuren verfilmt.
Stephen King lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Tabitha King, in Bangor/Maine.
In der WüsteSah ich ein Geschöpf, nackt, bestialisch,Welches, am Boden kauernd,Sein Herz in Händen hieltUnd davon aß.
Ich sagte: »Ist es gut, Freund?«»Es ist bitter-bitter«, antwortete er;»Aber ich mag es,Weil es bitter ist,Und weil es mein Herz ist.«
Stephen Crane
I’m gonna kiss you, girl, and hold ya,I’m gonna do all the things I told yaIn the midnight hour.
Wilson Pickett
KURZ VOR MITTERNACHT
Eine Vorbemerkung
Nun, sieh einer an – wir sind alle da. Wir haben es wieder einmal geschafft. Ich hoffe, Sie freuen sich nur halb so sehr darüber, wieder hier zu sein, wie ich. Allein das zu sagen, erinnert mich an eine Geschichte, und da ich Geschichten erzähle, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen (und nicht den Verstand zu verlieren), möchte ich sie weitergeben.
Anfang dieses Jahres – ich schreibe dies Ende Juli 1989 – saß ich vor der Glotze und sah das Spiel der Boston Red Sox gegen die Milwaukee Brewers. Robin Yunt von den Brewers trat aufs Schlagmal, und die Berichterstatter aus Boston fingen an, über die Tatsache zu staunen, daß Yount erst Anfang Dreißig ist. »Manchmal scheint es, als hätte Yount schon Abner Doubleday geholfen, die allerersten Foul-Linien zu ziehen«, sagte Ned Martin, während Yount in die Box trat und sich Roger Clemens stellte.
»Jawoll«, stimmte Joe Castiglione zu. »Ich glaube, er kam gleich nach der Schule zu den Brewers – er spielt seit 1974 für sie.«
Ich richtete mich so schnell auf, daß ich fast eine Dose Pepsi-Cola verschüttete. Moment mal! dachte ich. Einen verdammten Moment mal! 1974 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht! So lange ist das noch nicht her! Was soll der Mist von wegen Abner Doubleday helfen, die ersten Foul-Linien zu ziehen?
Dann fiel mir auf, daß die Wahrnehmung, wie die Zeit verrinnt – ein Thema, das in den nachfolgenden Geschichten immer wieder auftaucht -, eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Es stimmt, die Veröffentlichung von Carrie im Frühjahr 1974 (das Buch wurde tatsächlich zwei Tage vor Beginn der Baseball-Spielzeit veröffentlicht, als ein Teenager namens Robin Yount sein erstes Spiel für die Milwaukee Brewers ausfocht) scheint mir selbst noch nicht lange her zu sein – kaum mehr als ein rascher Blick zurück über die Schulter -, aber es gibt andere Möglichkeiten, die Jahre zu zählen, und manche sprechen dafür, daß fünfzehn Jahre wahrhaftig eine lange Zeit sein können.
1974 war Gerald Ford Präsident, und der Schah hatte im Iran noch das Sagen. John Lennon lebte noch, ebenso Elvis Presley. Donny Osmond sang mit hoher Säuselstimme mit seinen Brüdern und Schwestern. Videorecorder waren bereits erfunden, aber nur in einigen wenigen Geschäften erhältlich. Fachleute sagten voraus, daß Sonys Beta-Maschinen binnen kürzester Zeit das als VHS bekannte Konkurrenzsystem in Grund und Boden stampfen würden. Es war noch unvorstellbar, daß die Leute einmal Filme ausleihen könnten, wie sie früher Romane in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen hatten. Die Benzinpreise waren geklettert: elf Cent pro Liter Normalbenzin, dreizehn für bleifreien Sprit.
Die ersten weißen Haare auf meinem Kopf und in meinem Bart waren noch nicht da. Meine Tochter, die mittlerweile das College besucht, war vier. Mein ältester Sohn, der inzwischen größer ist als ich, Blues-Harp spielt und wallende, schulterlange Sammy-Hagar-Locken trägt, war gerade von Windeln zu normalen Höschen übergewechselt. Und mein jüngster Sohn, der heute als Werfer und erster Schläger für eine Jugendliga-Mannschaft spielt, sollte erst drei Jahre später geboren werden. Die Zeit hat so eine seltsame Plastikeigenschaft, und alles, was geht, kommt wieder. Wenn man in den Bus steigt, denkt man, daß er einen nicht weit bringt – vielleicht quer durch die Stadt, nicht weiter -, und auf einmal ist man schon auf dem nächsten Kontinent. Finden Sie diesen Vergleich ein wenig naiv? Ich auch, aber der Knaller ist: Das spielt gar keine Rolle. Das grundlegende Rätsel der Zeit ist so perfekt, daß selbst triviale Beobachtungen wie die, die ich gerade angestellt habe, eine seltsam schallende Resonanz bekommen.
Eines hat sich im Lauf dieser Jahre nicht geändert – was meines Erachtens der Hauptgrund dafür ist, daß es mir (und Robin Yount wahrscheinlich auch) manchmal so vorkommt, als wäre überhaupt keine Zeit verstrichen. Ich mache immer noch dasselbe: Geschichten schreiben. Und das ist für mich immer noch mehr als nur das, was ich kann; es ist das, was ich liebe. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch – ich liebe meine Frau, und ich liebe meine Kinder, aber es ist immer noch ein Vergnügen, diese speziellen Nebenstraßen zu suchen, sie zu befahren und festzustellen, wer dort lebt, was sie machen, mit wem sie es machen und vielleicht sogar warum sie es machen. Ich finde immer noch Gefallen daran, wie seltsam das alles ist – und an den überwältigenden Augenblicken, wenn das Bild klar wird und Ereignisse sich zu einem Muster zusammenfügen. Und Geschichten haben immer einen langen Schwanz. Das Tier ist schnell, und manchmal bekomme ich es nicht zu fassen, aber wenn ich es zu fassen bekomme, klammere ich mich daran fest... und das Gefühl ist großartig.
Wenn dieses Buch 1990 veröffentlicht wird, bin ich sechzehn Jahre im Geschäft des schönen Scheins. Auf halbem Weg durch diese Jahre, als ich durch einen Prozeß, den ich immer noch nicht völlig verstehe, zum literarischen Schreckgespenst Amerikas geworden war, veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel Frühling, Sommer, Herbst und Tod. Es handelte sich um eine Sammlung von vier bis dahin unveröffentlichten Kurzromanen, von denen drei keine Horror-Stories waren. Der Verleger hat das Buch frohen Herzens akzeptiert, aber ich glaube, auch mit einigen geistigen Vorbehalten. Ich hatte auf jeden Fall welche. Wie sich herausstellte, hatten wir beide keinen Grund zur Sorge. Manchmal veröffentlicht ein Schriftsteller ein Buch, das einfach von Natur aus Glück hat, und ich glaube, mit Frühling, Sommer, Herbst und Tod war es bei mir so.
Eine Geschichte (›Die Leiche‹) wurde verfilmt (Stand By Me), und zwar recht erfolgreich... die erste wirklich erfolgreiche Verfilmung eines meiner Werke seit Carrie (ein Film, der in die Kinos kam, als Abner Doubleday und Siewissen-schon-wer die ersten Foul-Linien gezogen haben). Rob Reiner, der bei Stand By Me Regie geführt hat, ist einer der mutigsten, klügsten Filmemacher, die ich je kennengelernt habe, und ich bin stolz auf meine Zusammenarbeit mit ihm. Er hat vor, Sie zu verfilmen, nach einem wirklich ausgezeichneten Drehbuch von William Goldman; ich bin schon sehr gespannt auf das Ergebnis. Und ich durfte amüsiert feststellen, daß die Firma, die Mr. Reiner nach dem Erfolg von Stand By Me gegründet hat, Castle Rock Productions heißt, ein Name, der meiner Stammleserschaft nicht unbekannt sein dürfte.
Die Kritiker mochten Frühling, Sommer, Herbst und Tod im großen und ganzen auch. Fast jeder hat eine Novelle in Grund und Boden gedonnert, aber da sich jeder eine andere Geschichte zum Bombardieren ausgesucht hat, dachte ich mir, daß ich mich dreist über alle hinwegsetzen könnte, und das habe ich auch getan. Aber ein solches Verhalten ist nicht immer möglich. Als sämtliche Besprechungen von Christine einhellig zum Ergebnis kamen, daß es wirklich ein gräßlicher Roman sei, habe ich mir widerwillig überlegt, daß er vielleicht wirklich nicht so gut geworden ist, wie ich gedacht hatte (was mich freilich nicht daran gehindert hat, die Tantiemenschecks einzulösen). Ich kenne Schriftsteller, die behaupten, daß sie ihre Rezensionen nicht lesen, oder falls doch, daß die Verrisse sie nicht verletzen, und von allen glaube ich zweien das sogar. Ich gehöre zur anderen Kategorie – ich denke besessen über die Möglichkeit schlechter Besprechungen nach und brüte darüber, wenn ich sie lese. Aber sie machen mich nicht lange fertig; ich bringe einfach ein paar Kinder und alte Omas um, und dann stehe ich wieder da wie eine Eins.
Am wichtigsten aber ist, den Lesern hat Frühling, Sommer, Herbst und Tod gefallen. Ich kann mich an keinen einzigen Brief aus der Zeit erinnern, in dem ich gescholten worden wäre, weil ich etwas anderes als Horror geschrieben habe. Die meisten Leser wollten mir sogar sagen, daß eine der Geschichten in irgendeiner Weise ihre Gefühle angesprochen, sie zum Nachdenken gebracht oder Empfindungen in ihnen ausgelöst hat, und solche Briefe sind der wahre Lohn an den Tagen (und das sind eine ganze Menge), wenn das Schreiben schwerfällt und die Inspiration dünn bis nicht vorhanden ist. Gott segne und erhalte mir meine Stammleser; der Mund kann sprechen, aber es gibt keine Geschichte, wenn nicht auch ein interessiertes Ohr zum Zuhören vorhanden ist.
Das war 1982. Das Jahr, in dem die Milwaukee Brewers ihren einzigen Siegerwimpel der American League gewannen – angeführt von (ja, Sie haben es erraten) Robin Yount. Yount schaffte neunundzwanzig Home Runs und wurde zum besten Spieler der American League gewählt.
Es war ein gutes Jahr für uns zwei alte Halunken.
Frühling, Sommer, Herbst und Tod war kein geplantes Buch; es kam einfach zustande. Die vier darin enthaltenen Geschichten entstanden in unregelmäßigen Abständen über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg; es waren Geschichten, die zu lang waren, sie als Kurzgeschichten zu veröffentlichen, aber ein klein wenig zu kurz für eigene Bücher. Wie bei einem Fehlschlag oder einem Kampf um den Zyklus (einen Einser, Zweier, Dreier und Home Run in einem einzigen Spiel) war es kein geplanter Spielzug, sondern mehr eine statistische Absonderlichkeit. Der Erfolg und die Aufnahme des Buches haben mir viel Spaß gemacht, aber ich empfand eine gewisse Traurigkeit, als das Buch schließlich bei Viking Press eingereicht wurde. Ich wußte, es war gut; ich wußte auch, daß ich so ein Buch wahrscheinlich nie mehr in meinem Leben machen würde.
Wenn Sie erwarten, daß ich jetzt sage: Nun, ich habe mich geirrt, dann muß ich Sie enttäuschen. Das Buch, das Sie jetzt in Händen halten, unterscheidet sich grundlegend von dem früheren Buch. Frühling, Sommer, Herbst und Tod bestand aus drei ›Mainstream‹-Novellen und einer Geschichte des Übernatürlichen; die beiden Geschichten in diesem Buch sind Horror-Geschichten. Sie sind etwas länger als die Geschichten in Frühling, Sommer, Herbst und Tod, und sie wurden in den zwei Jahren geschrieben, als ich eigentlich eine Schreibpause machen wollte. Vielleicht sind sie deshalb anders, weil sie von einem Verstand ersonnen wurden, der sich zumindest vorübergehend dunkleren Themen zuwandte.
Zum Beispiel der Zeit und dem verderblichen Effekt, den sie auf das menschliche Herz haben kann. Und der Vergangenheit und den Schatten, die sie auf die Gegenwart wirft – Schatten, in denen manchmal unangenehme Dinge wachsen und sich noch unangenehmere Dinge verstecken... und dick und fett werden.
Aber nicht alle meine Sorgen haben sich verändert, und die meisten meiner Überzeugungen sind nur fester geworden. Ich glaube immer noch an die Unverwüstlichkeit des menschlichen Herzens und den essentiellen Wert der Liebe; ich glaube immer noch, daß Beziehungen zwischen Menschen geknüpft werden können und die Seelen, die in uns wohnen, einander manchmal berühren. Ich glaube immer noch, daß die Kosten dieser Beziehungen schrecklich, unvorstellbar groß sind... und ich glaube auch noch, daß die Belohnung, die wir dafür bekommen, diesen Preis bei weitem übersteigt. Ich glaube, denke ich, immer noch daran, daß das Gute siegt und man einen Platz finden muß, um sein letztes Gefecht zu führen... und daß man diesen Platz mit seinem Leben verteidigen muß. Das sind altmodische Sorgen und Überzeugungen, aber ich wäre ein Lügner, wenn ich nicht zugeben würde, daß sie mich immer noch beschäftigen. Und ich sie.
Ich schätze auch immer noch eine gute Geschichte. Ich höre gerne eine, und ich erzähle gerne eine. Sie wissen vielleicht, oder auch nicht (und vielleicht ist es Ihnen auch egal), daß ich eine Riesenmenge Geld bekommen habe, damit ich dieses Buch (und die beiden nachfolgenden) veröffentliche; aber wenn Sie es wissen und es Sie interessiert, dann sollten Sie auch wissen, daß ich keinen Cent bekommen habe, um die Geschichten in diesem Buch zu schreiben. Wie alles andere, das von alleine passiert, steht auch der Vorgang des Schreibens außerhalb jeglicher Währung. Geld ist wirklich toll, wenn man es hat, aber wenn es um etwas Schöpferisches geht, sollte man besser nicht zu sehr daran denken. Es verdirbt den ganzen Prozeß.
Auch die Art, wie ich meine Geschichten erzähle, hat sich ein wenig verändert, glaube ich (ich hoffe, ich bin besser geworden, aber das ist selbstverständlich etwas, das jeder Leser für sich selbst entscheiden sollte und wird), doch das war eigentlich zu erwarten. Als die Brewers 1982 den Siegerwimpel gewannen, hat Robin Yount Shortstop gespielt. Jetzt ist er im Mittelfeld. Das bedeutet wohl, er ist ein wenig langsamer geworden... aber er fängt fast immer noch alles, was in seine Richtung geworfen wird.
Das genügt mir. Es genügt mir ganz und gar.
Weil viele Leser neugierig zu sein scheinen, woher die Geschichten kommen, oder sich fragen, ob sie in ein größeres Schema passen, an dem der Schriftsteller arbeiten mag, habe ich jeder eine kurze Anmerkung vorangestellt, wie sie entstanden ist. Diese Anmerkungen amüsieren Sie vielleicht, aber Sie müssen sie nicht lesen, wenn Sie nicht wollen; dies ist, Gott sei Dank, keine Schularbeit, und es werden im Anschluß keine Fragen gestellt.
Abschließend möchte ich sagen, wie schön es ist, wieder hier zu sein, zu leben, sich wohl zu fühlen und wieder einmal mit Ihnen zu sprechen... und wie schön es ist zu wissen, daß Sie immer noch da sind, leben, sich wohl fühlen und darauf warten, an einen anderen Ort gebracht zu werden – möglicherweise einen Ort, wo die Wände Augen und die Bäume Ohren haben und etwas wirklich Unangenehmes versucht, vom Dachboden dorthin herunterzukommen, wo die Menschen sind. Dieses Ding interessiert mich immer noch... aber neuerdings glaube ich, die Menschen, die darauf warten, oder auch nicht, interessieren mich mehr.
Bevor ich gehe, sollte ich Ihnen noch verraten, wie das Baseballspiel ausgegangen ist. Die Brewers haben die Red Sox geschlagen. Clemens hat es Robin Yount am Schläger zunächst einmal gegeben... aber dann hat Yount (der Ned Martin zufolge schon Abner Doubleday geholfen hat, die ersten Foul-Linien zu ziehen) dem Grünen Monster im linken Feld einen Hochwurf abgetrotzt und zwei Home Runs geschafft.
Ich glaube, Robin ist mit dem Spielen noch lange nicht am Ende.
Ich auch nicht.
Bangor, MaineJuli 1989
DER BIBLIOTHEKSPOLIZIST
Für das Personal und die Gönner der öffentlichen Bibliothek von Pasadena.
Vorbemerkung zu ›Der Bibliothekspolizist‹
Am Morgen, als diese Geschichte ihren Anfang nahm, saß ich mit meinem Sohn Owen am Frühstückstisch. Meine Frau war schon nach oben gegangen, um zu duschen und sich anzuziehen. Das lebenswichtige Zubehör morgens um sieben war ordnungsgemäß verteilt worden: Rührei und die Zeitung. Willard Scott, der an fünf von sieben Tagen auf unserer Mattscheibe zu Besuch ist, erzählte uns von einer Dame in Nebraska, die gerade hundertvier geworden war, und ich glaube, Owen und ich hatten zusammen ein ganzes Augenpaar offen. Mit anderen Worten, ein typischer Wochentagmorgen chez King.
Owen riß sich gerade so lange von der Sportseite los, um mich zu fragen, ob ich heute ins Einkaufszentrum gehen würde – ich sollte ihm ein Buch für einen Schulaufsatz mitbringen. Ich weiß nicht mehr, was es war – es könnte Johnny Tremain oder April Morning gewesen sein, Howard Fasts Roman über die amerikanische Revolution -, auf jeden Fall eines der Bücher, die man in Buchhandlungen nie bekommt, weil sie entweder gerade vergriffen sind oder erst demnächst wieder neu aufgelegt werden.
Ich schlug vor, Owen sollte es in der Stadtbücherei versuchen, die ziemlich gut ist. Ich war sicher, daß sie es haben würden. Er murmelte eine Antwort. Ich verstand nur ein Wort, aber angesichts meiner Neigung reichte dieses eine Wort aus, mein Interesse zu wecken. Es war »Bibliothekspolizei«.
Ich legte meine Hälfte der Zeitung weg, brachte Willard mit Hilfe der Fernbedienung mitten in seinen ekstatischen Ausführungen über das Georgia Peach Festival zum Schweigen und bat Owen, das eben Gesagte freundlicherweise noch einmal zu wiederholen.
Er zögerte, aber ich war beharrlich. Schließlich sagte er mir, daß er die Bibliothek nicht gerne benütze, weil er sich wegen der Bibliothekspolizei Sorgen machte. Er wußte, es gab keine Bibliothekspolizei, fügte er hastig hinzu, aber es handelte sich um eine dieser Geschichten, die sich im Unterbewußtsein vergruben und irgendwie immer dort lauerten. Er hatte sie – als er sieben oder acht und wesentlich leichtgläubiger war – von seiner Tante Stephanie gehört, und seither machte sie ihm zu schaffen.
Ich freilich war entzückt, denn ich hatte als Kind auch Angst vor der Bibliothekspolizei gehabt – diesen anonymen Vollstreckern, die tatsächlich zu einem nach Hause kamen, wenn man seine überfälligen Bücher nicht zurückbrachte. Das war an sich schon schlimm genug... aber was passierte, wenn man die fraglichen Bücher nicht fand, wenn diese seltsamen Gesetzeshüter aufkreuzten? Was dann? Was würden sie mit einem machen? Was mochten sie als Ersatz für die verlorenen Bücher mitnehmen? Es war lange her, seit ich an die Bibliothekspolizei gedacht hatte (ich kann mich deutlich erinnern, wie ich mich vor sechs oder acht Jahren mit Peter Sträub und seinem Sohn Ben darüber unterhalten habe), doch jetzt fielen mir diese ganzen gräßlichen und doch zugleich irgendwie fesselnden Fragen wieder ein.
Ich dachte die nächsten drei oder vier Tage über die Bibliothekspolizei nach, und dabei fiel mir der Umriß nachfolgender Geschichte ein. So ist das bei mir normalerweise mit Geschichten, aber für gewöhnlich dauert die Zeit des Nachdenkens viel länger als im vorliegenden Fall. Als ich anfing, trug die Geschichte den Arbeitstitel »Die Bibliothekspolizei«, und ich hatte keine klare Vorstellung, was ich daraus machen würde. Ich dachte mir, es würde vielleicht eine komische Geschichte werden, eine Art Vorstadtalptraum, wie sie der verstorbene Max Shulman immer zusammengeschustert hat. Schließlich war die Vorstellung zu komisch, oder etwa nicht? Ich meine, eine Bibliothekspolizei! Wie absurd!
Aber mir wurde eines klar, das ich schon wußte: Kindheitsängste sind tückisch beharrlich. Schreiben ist ein Akt der Selbsthypnose; in diesem Zustand findet oft eine Art völliger emotionaler Erinnerung statt, und Schrecken, die längst tot sein sollten, stehen wieder auf und wandeln.
Während ich an dieser Geschichte arbeitete, ging mir das so. Als ich anfing, wußte ich, daß ich die Bibliothek als Kind geliebt hatte – warum auch nicht? Nur dort konnte ein vergleichsweise armer Junge wie ich alle Bücher bekommen, die er wollte -, aber beim Schreiben ging mir dann die Wahrheit auf: Ich hatte auch Angst davor gehabt. Ich hatte Angst gehabt, mich zwischen den dunklen Reihen zu verirren, ich hatte Angst, ich könnte in einer dunklen Ecke des Lesesaals vergessen und die Nacht über eingeschlossen werden, ich hatte Angst vor der alten Bibliothekarin mit den blauen Haaren und der Hornbrille und dem fast lippenlosen Mund, die einem mit ihren langen, blassen Fingern in den Handrücken kniff und »Pssst!« flüsterte, wenn man vergaß, wo man war, und anfing zu laut zu reden. Ja, und ich hatte auch Angst vor der Bibliothekspolizei gehabt.
Was mir bei einem viel längeren Werk, dem Roman Christine, passiert war, wiederholte sich hier. Nach etwa dreißig Seiten war die Situation plötzlich nicht mehr komisch. Und nach etwa fünfzig Seiten schlug die Geschichte plötzlich mit wehenden Fahnen nach links in die dunklen Orte aus, die ich so oft bereist habe und über die ich immer noch so wenig weiß. Schließlich fand ich den Typen, den ich gesucht hatte, und konnte lange genug den Kopf heben, um ihm in die unbarmherzigen silbernen Augen zu sehen. Ich habe versucht, eine Skizze von ihm für Sie, mein Dauerleser, zurückzubringen, aber sie ist vielleicht nicht sehr gut.
Sehen Sie, meine Hände haben ziemlich gezittert, als ich sie gemacht habe.
KAPITEL EINS
EINSTAND

1

Alles, überlegte sich Sam Peebles später, war die Schuld dieses gottverdammten Akrobaten. Hätte sich der Akrobat nicht ausgerechnet zum ungünstigsten Zeitpunkt betrunken, wäre Sam der ganze Ärger erspart geblieben.
Nicht schlimm genug, dachte er voll möglicherweise gerechtfertigter Verbitterung, daß das Leben ein schmaler Balken über einen endlosen Abgrund ist, ein Balken, auf dem wir mit verbundenen Augen schreiten müssen. Das ist schlimm, aber nicht schlimm genug. Manchmal werden wir auch noch gestoßen.
Aber das war später. Vorher, noch vor dem Bibliothekspolizisten, kam der betrunkene Akrobat.

2

In Junction City war der letzte Freitag eines jeden Monats »Speaker’s Night« in der hiesigen Rotarians’ Hall. Am letzten Freitag im März 1990 sollten die Rotarier Amazing Joe hören und sich von ihm unterhalten lassen, einen Akrobaten von Curry & Trembo’s All-Star Zirkus und Fliegendem Jahrmarkt.
Das Telefon auf Sam Peebles Schreibtisch im Maklerund Versicherungsbüro von Junction City läutete am Donnerstagnachmittag um fünf nach vier. Sam nahm ab. Sam nahm immer ab – entweder Sam persönlich oder Sam auf dem Anrufbeantworter, denn er war Besitzer und einziger Angestellter des Makler- und Versicherungsbüros von Junction City. Er war kein reicher Mann, aber hinreichend glücklich. Er erzählte den Leuten gerne, daß sein erster Mercedes noch in ferner Zukunft lag, aber er hatte einen fast neuen Ford und ein eigenes Haus in der Kelton Avenue. »Zudem sorgt das Geschäft dafür, daß mir Bier und Kegel nicht ausgehen«, fügte er gerne hinzu... obwohl er in Wahrheit seit dem College nicht mehr viel Bier getrunken hatte und nicht sicher war, was Kegel waren. Er dachte, es könnten Brezeln sein.
»Junction City Makler und Vers...«
»Sam, hier spricht Craig. Der Akrobat hat sich das Genick gebrochen.«
»Was?«
»Du hast schon richtig verstanden!« rief Craig Jones in zutiefst aufgebrachtem Tonfall. »Der Akrobat hat sich das Scheißgenick gebrochen!«
»Oh«, sagte Sam. »Herrje.« Er dachte einen Moment darüber nach, dann fragte er vorsichtig: »Ist er tot, Craig?«
»Nein, er ist nicht tot, aber was uns betrifft, könnte er es ebensogut sein. Er ist drüben in Cedar Rapids im Krankenhaus und hat den Hals mit schätzungsweise zwanzig Pfund Gips zugekleistert bekommen. Billy Bright hat mich gerade angerufen. Er sagte, der Mann ist heute sturzbetrunken zur Nachmittagsvorstellung erschienen, hat einen Salto rückwärts versucht und ist außerhalb der Manege gelandet, den Hals auf der Begrenzung. Billy hat gesagt, er konnte es oben auf der Tribüne hören, wo er saß. Er sagte, es hätte sich angehört, als wäre man in eine zugefrorene Pfütze getreten.«
»Autsch!« sagte Sam und zuckte zusammen.
»Überrascht mich nicht. Ich meine – Amazing Joe. Was ist das für ein Name für einen Zirkuskünstler? Im Ernst – Amazing Randix, okay. Amazing Tortellini, auch nicht schlecht. Aber Amazing Joe? Ich finde, das hört sich nach einem Musterbeispiel für einen Gehirnamputierten in Aktion an.«
»Herrgott, das ist schlimm.«
»Eine verdammte Scheiße auf Toast ist das. Wir haben für morgen abend keinen Redner, alter Freund.«
Sam wünschte sich allmählich, er hätte das Büro pünktlich um vier verlassen. Dann hätte es Craig jetzt mit Sam, dem Anrufbeantworter, zu tun, und der leibhaftige Sam hätte etwas mehr Zeit zum Nachdenken gehabt. Er spürte, daß er bald Zeit zum Nachdenken brauchen würde. Und er spürte, daß Craig Jones ihm keine geben würde.
»Ja«, sagte er. »Das stimmt wohl.« Er hoffte, daß er sich philosophisch, aber hilflos anhörte. »Zu dumm.«
»Kann man wohl sagen«, meinte Craig und ließ dann die Katze aus dem Sack. »Aber ich weiß, du wirst mit Freuden einspringen und die Lücke ausfüllen.«
»Ich? Craig, das kann nicht dein Ernst sein! Ich kann nicht mal einen Purzelbaum, geschweige denn einen Salto rück...«
»Ich dachte mir, du könntest darüber sprechen, wie wichtig unabhängige Unternehmen im Kleinstadtleben sind«, drängte Craig Jones unbarmherzig weiter. »Und wenn dir das nicht zusagt, haben wir immer noch Baseball. Und wenn dir das nicht zusagt, kannst du immer noch die Hosen runterlassen und mit deinem Ding-Dong ins Publikum wedeln. Sam, ich bin nicht nur Vorsitzender des Rednerkomitees, das wäre schon schlimm genug. Seit Kenny weggezogen ist und Carl nicht mehr kommt, bin ich das Rednerkomitee. Du mußt mir helfen. Ich brauche einen Redner für morgen abend. Es gibt im ganzen Club vielleicht fünf Leute, denen ich rückhaltlos vertrauen kann, und du bist einer davon.«
»Aber...«
»Außerdem bist du der einzige, der in einer derartigen Situation noch nicht eingesprungen ist, und damit bist du auserkoren, Freundchen.«
»Frank Stephens...«
»... ist für den Typen von der Truckergewerkschaft eingesprungen, als der von der Staatsanwaltschaft wegen Betrugs vorgeladen worden ist und nicht kommen konnte. Sam – du bist an der Reihe. Du kannst mich nicht hängen lassen, Mann. Du bist mir was schuldig.«
»Ich leite eine Versicherungsagentur!« schrie Sam. »Wenn ich keine Versicherungspolicen schreibe, verkaufe ich Farmen. Meistens an Banken! Die meisten Leute finden das langweilig! Und die es nicht langweilig finden, finden es widerlich!«
»Das spielt alles keine Rolle.« Craig machte sich zum tödlichen Biß bereit und stampfte Sams schwache Einwände mit eisenverstärkten Stiefeln in Grund und Boden. »Nach dem Abendessen sind alle betrunken, das weißt du so gut wie ich. Am Samstagmorgen werden sie sich an kein einziges Wort mehr erinnern, das du gesagt hast, aber bis dahin brauche ich jemand, der sich hinstellt und eine halbe Stunde redet, und du bist derjenige!«
Sam erhob noch ein Weilchen Einwände, aber Craig berief sich auf die Befehlsformen, die er unbarmherzig betonte. Mußt. Kannst nicht. Schuldest.
»Na gut«, sagte er schließlich. »Schon gut, schon gut. Genug!«
»Mein Freund!« rief Craig aus. Plötzlich war seine Stimme voll Sonnenschein und Regenbogen. »Vergiß nicht, es sollte nicht länger als dreißig Minuten gehen, plus vielleicht zehn für Fragen. Falls jemand Fragen hat. Und du kannst ja wirklich mit deinem Ding-Dong wedeln, wenn du willst. Ich bezweifle zwar, daß es tatsächlich jemand sehen könnte, aber...«
»Craig«, sagte Sam, »das reicht.«
»Oh! Entschuldige! Ich Klappe halten.« Craig meckerte beschwingt vor Erleichterung vor sich hin.
»Hör mal, warum beenden wir das Gespräch nicht?« Sam griff nach der Rolle Tums, die er in der Schreibtischschublade hatte. Plötzlich dachte er, daß er in den nächsten achtundzwanzig Stunden eine ganze Menge Tums brauchen würde. »Sieht so aus, als müßte ich eine Rede schreiben.«
»Du hast es kapiert«, sagte Craig. »Und vergiß nicht – Abendessen um sechs, Rede um halb acht. Wie sie in Hawaii Fünf-Null immer zu sagen pflegen: Sei da! Aloha!«
»Aloha, Craig«, sagte Sam und legte auf. Er sah das Telefon an. Er spürte, wie langsam heißes Gas durch die Brust in den Hals emporstieg. Er machte den Mund auf und gab ein saures Rülpsen von sich – Produkt eines Magens, der bis vor fünf Minuten hinreichend ruhig gewesen war.
Er aß die beiden ersten Tums von wahrlich vielen, die noch kommen sollten.

3

Anstatt an diesem Abend zum Bowling zu gehen, wie er vorgehabt hatte, schloß sich Sam Peebles daheim mit einem Block gelben Kanzleipapiers, drei gespitzten Bleistiften, einer Packung Zigaretten Marke Kent und einem Sechserpack Jolt in seinem Arbeitszimmer ein. Er zog den Telefonstecker heraus, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete den gelben Block. Nachdem er ihn fünf Minuten lang betrachtet hatte, schrieb er in die oberste Zeile des obersten Blattes:
KLEINSTADT-UNTERNEHMERTUM: DAS HERZ AMERIKAS
Er sagte es laut, und ihm gefiel, wie es sich anhörte. Nun, es gefiel ihm vielleicht nicht unbedingt, aber er konnte damit leben. Er sagte es lauter, und da gefiel es ihm noch besser. Ein wenig besser. Eigentlich war es gar nicht so gut; ein anrüchiger Ausdruck für übelriechende braune Ausscheidungen wäre nicht unangemessen gewesen, aber es war immer noch Klassen besser als »Kommunismus: Bedrohung oder Gefahr?« Zudem hatte Craig recht – die meisten würden Samstagmorgen so verkatert sein, daß sie sich sowieso nicht mehr daran erinnerten, was sie am Freitagabend gehört hatten.
Gelinde ermutigt fing Sam an zu schreiben.
»Als ich 1984 aus der mehr oder weniger blühenden Metropole Ames nach Junction City zog...«

4

»... und darum bin ich heute, wie damals an jenem strahlenden Sommermorgen des Jahres 1984, der festen Überzeugung, daß Kleinunternehmen nicht nur das Herz Amerikas sind, sondern lebenswichtige Bausteine der gesamten westlichen Welt.«
Sam verstummte, drückte eine Zigarette im Aschenbecher seines Büroschreibtischs aus und sah Naomi Higgins hoffnungsvoll an.
»Und? Was meinen Sie?«
Naomi war eine hübsche junge Frau aus Proverbia, einer vier Meilen westlich von Junction City gelegenen Stadt. Sie lebte in einer Ruine von einem Haus am Proverbia-Fluß mit der Ruine von einer Mutter. Die meisten Rotarians kannten Naomi, und von Zeit zu Zeit wurden Wetten abgeschlossen, welche Ruine zuerst zusammenfallen würde, Haus oder Mutter. Sam wußte nicht, ob so eine Wette je angenommen worden war, falls ja, war der Ausgang noch unentschieden.
Naomi hatte ihren Abschluß am Business College von Iowa City gemacht und konnte wahrhaftig vollständige lesbare Sätze aus ihrer Kurzschrift herausklauben. Da sie die einzige Frau mit dieser Fähigkeit in Junction City war, war die Nachfrage im kleinen Kreis von Geschäftsleuten der Stadt entsprechend groß. Zudem hatte sie wahnsinnig tolle Beine, was auch nicht schadete. Sie arbeitete an fünf Wochentagen halbtags für vier Männer und eine Frau – zwei Anwälte, ein Banker, zwei Makler. Nachmittags kehrte sie in ihre Ruine von einem Haus zurück, und wenn sie sich nicht um ihre Ruine von einer Mutter kümmerte, tippte sie die Diktate ab, die sie aufgenommen hatte.
Sam Peebles nahm Naomis Dienstleistungen jeden Freitagmorgen von zehn bis zwölf in Anspruch, aber heute hatte er seine Korrespondenz beiseite gelegt – obwohl sie teilweise dringendst beantwortet werden müßte – und Naomi gefragt, ob sie sich etwas anhören würde.
»Klar, warum nicht«, hatte Naomi geantwortet. Sie sah ein wenig besorgt drein, als befürchtete sie, Sam – mit dem sie ein paarmal ausgegangen war – könnte ihr einen Heiratsantrag machen. Als er ihr erklärte, daß Craig Jones ihn als Ersatzmann für den verletzten Akrobaten verpflichtet hatte und sie sich nur seine Rede anhören sollte, entspannte sie sich und hörte sich das ganze Ding – alle sechsundzwanzig Minuten – mit zunehmendem Interesse an.
»Scheuen Sie sich nicht, ehrlich zu sein«, fügte er hinzu, noch ehe Naomi mehr als auch nur den Mund aufmachen konnte.
»Nicht schlecht«, sagte sie. »Ziemlich interessant.«
»Nein, keine Bange – Sie müssen keine Rücksicht auf meine Gefühle nehmen. Spucken Sie’s aus.«
»Das habe ich. Es ist wirklich gut. Außerdem, bis Sie anfangen zu reden sind sie...«
»Ja, sind sie alle blau, ich weiß.« Diese Aussicht hatte Sam anfangs getröstet, aber jetzt enttäuschte sie ihn ein wenig. Als er sie selbst laut vorgelesen hatte, war er auch der Meinung gewesen, daß die Rede ziemlich gut war.
»Aber da wäre eines«, sagte Naomi nachdenklich.
»Ja?«
»Sie ist irgendwie... Sie wissen schon... trocken.«
»Oh«, sagte Sam. Er seufzte und rieb sich die Augen. Er war bis ein Uhr in der Nacht aufgeblieben und hatte erst geschrieben und dann das Manuskript überarbeitet.
»Aber das läßt sich leicht ausmerzen«, beruhigte sie ihn. »Gehen Sie einfach in die Bücherei und holen Sie so ein paar Bücher.«
Sam verspürte einen plötzlichen stechenden Schmerz im Unterleib und griff nach seiner Rolle Tums. Recherchen für eine dumme Rede im Rotary Club? Bibliotheksrecherchen? Er war noch nie in der Stadtbibliothek von Junction City gewesen und sah keinen Grund, jetzt hinzugehen. Aber Naomi hatte aufmerksam zugehört, Naomi versuchte, ihm zu helfen, und es wäre unhöflich, sich nicht wenigstens anzuhören, was sie zu sagen hatte.
»Was für Bücher?«
»Das wissen Sie doch – Bücher mit Sachen drin, um Ansprachen aufzulockern. Sie sind wie...« Naomi überlegte. »Nun, Sie kennen doch die scharfe Soße, die man im China Light bekommt, wenn man sie will?«
»Ja...«
»So sind die Bücher. Sie enthalten Witze. Und dann ist da das eine Buch, Best Loved poems of the American People. Wahrscheinlich könnten Sie darin etwas für den Schluß finden. Etwas Aufmunterndes.«
»In diesem Buch stehen Gedichte über die Bedeutung von Kleinunternehmertum für das amerikanische Leben?« fragte Sam zweifelnd.
»Wenn Sie Gedichte zitieren, muntert das die Leute auf«, sagte Naomi. »Es interessiert doch niemand, worum es geht, geschweige denn, wofür es ist.«
»Und sie haben Witzbücher speziell für Ansprachen?« Das konnte Sam fast nicht glauben, obwohl es ihn nicht im geringsten überrascht hätte zu hören, daß die Bibliothek Esoterika wie Bücher über die Reparatur von Kleinmotoren und Perückenpflege führte.
»Ja.«
»Woher wissen Sie das?«
»Als Phil Brakeman für das State House kandidiert hat, mußte ich ständig Reden für ihn tippen«, sagte Naomi. »Er hatte so ein Buch. Ich kann mich nur nicht mehr an den Titel erinnern. Mir fällt nur Die besten Klowitze ein, aber das wäre selbstverständlich nicht das richtige.«
»Nein«, stimmte Sam zu und dachte, daß ein paar ausgewählte Kleinodien aus Die besten Klowitze ihn wahrscheinlich zum bejubeltsten Erfolgsredner machen würden. Aber er sah ein, worauf Naomi hinauswollte, und der Gedanke gefiel ihm trotz seines Widerwillens, die hiesige Bibliothek zu besuchen, nachdem er sie jahrelang links liegen gelassen hatte. Ein wenig Würze für die olle Rede. Verschönt Ihre Reste, macht Ihr Hackfleisch zur Köstlichkeit. Und schließlich war eine Bibliothek nur eine Bibliothek. Wenn man nicht wußte, wo man fand, was man suchte, mußte man nur die Bibliothekarin fragen, oder nicht? Fragen zu beantworten, gehörte zu ihren Aufgaben, richtig?
»Sie könnten sie natürlich auch lassen, wie sie ist«, sagte Naomi. »Immerhin werden alle stockbetrunken sein.« Sie sah Sam freundlich, aber gestreng an, dann schaute sie auf die Uhr. »Sie haben noch über eine Stunde Zeit – möchten Sie ein paar Briefe diktieren?«
»Nein, ich glaube nicht. Warum tippen Sie mir statt dessen nicht die Rede ab?« Er hatte bereits beschlossen, die Mittagspause in der Bibliothek zu verbringen.
KAPITEL ZWEI
DIE BIBLIOTHEK (I)

1

In den Jahren, seit er in Junction City wohnte, war Sam Hunderte Male an der Bibliothek vorbeigegangen, aber heute betrachtete er sie zum erstenmal, und er stellte etwas recht Erstaunliches fest: Er haßte das Gebäude schon beim Ansehen.
Die öffentliche Bibliothek von Junction City lag an der Ecke State Street und Miller Avenue, ein eckiger Granitklotz von einem Bauwerk mit so schmalen Fenstern, daß sie wie Schießscharten wirkten. Ein Schieferdach bedeckte alle vier Seiten des Hauses, und wenn man sich ihm von vorne näherte, verliehen die schmalen Fenster und die vom Dach geworfene Schattenlinie dem Gebäude das finstere Gesicht eines Roboters aus Stein. Das war ein verbreiteter Stil der Architektur in Iowa, so verbreitet, daß ihn Sam Peebles, der seit fast zwanzig Jahren Immobilien verkaufte, ihm einen Namen gegeben hatte: Mittelwesten-Scheußlich. Im Frühling, Sommer und Herbst dämpften die Ahornbäume, die eine Art Hain darum bildeten, das bedrohliche Äußere des Bauwerks, aber jetzt, am Ende eines strengen Iowa-Winters, waren die Ahornbäume noch kahl, und die Bibliothek sah wie eine überdimensionale Gruft aus.
Sie gefiel ihm nicht; sie erfüllte ihn mit Unbehagen; er wußte nicht warum. Schließlich war es nur eine Bibliothek, nicht der Kerker der Inquisition. Dennoch stieg ein weiterer saurer Rülpser in seiner Brust empor, während er den Steinplattenweg entlangschritt. Der Rülpser hatte einen merkwürdig süßlichen Beigeschmack, der ihn an etwas erinnerte... möglicherweise etwas, das schon lange zurück lag. Er schob sich ein Tum in den Mund, zerkaute es und traf unvermittelt eine Entscheidung. Seine Rede war so, wie sie war, gut genug. Nicht großartig, aber gut genug. Schließlich ging es hier um den Rotary Club, nicht um die Vereinten Nationen. Er würde ins Büro zurückkehren und einen Teil der Briefe erledigen, die er heute vormittag liegengelassen hatte.
Er wollte sich umdrehen, da dachte er: Das ist dumm. Wirklich dumm. Möchtest du dumm sein? Okay. Aber du hast zugestimmt, die verdammte Rede zu halten; also warum hältst du keine gute?
Er stand auf dem Fußweg zur Bibliothek und runzelte unentschlossen die Stirn. Er machte sich gern über den Rotary Club lustig. Craig auch. Und Frank Stephens. Die meisten jungen Geschäftsleute in Junction City lachten über die Treffen. Aber sie versäumten selten einmal eines, und Sam glaubte, den Grund zu kennen: Es war ein Ort, wo man Beziehungen knüpfen konnte. Ein Ort, wo ein Mann wie er die nicht-mehr-so-jungen Geschäftsleute in Junction City kennenlernen konnte. Typen wie Elmer Baskin, dessen Bank vor zwei Jahren mitgeholfen hatte, ein Einkaufszentrum in Beaverton aufzubauen. Typen wie George Candy – dem man nachsagte, daß er mit einem Telefonanruf drei Millionen Dollar Baugeld locker machen konnte... wenn er sich dazu entschloß.
Es waren Kleinstadtbewohner, High-School-Basketballfans, Männer, die sich bei Jimmy die Haare schneiden ließen, die Boxershorts und Träger-T-Shirts statt Pyjamas im Bett trugen, ihr Bier immer noch aus der Flasche tranken, die sich an einem Abend in Cedar Rapids nicht wohl fühlten, wenn sie nicht in volle Cleveland-Montur gekleidet waren. Darüber hinaus waren sie die Macher von Junction City – und wenn man es recht überlegte, ging Sam nicht genau darum Freitag abends immer hin? Wenn man es genau überlegte, hatte Craig nicht darum so panisch angerufen, nachdem sich der dumme Akrobat den dummen Hals gebrochen hatte? Man wollte von den Machern bemerkt werden... aber nicht, weil man etwas versaut hatte. Sie werden alle betrunken sein, hatte Craig gesagt, und Naomi hatte diese Überzeugung bekräftigt, aber jetzt fiel ihm ein, daß er Eimer Baskin noch nie etwas Stärkeres als Kaffee trinken gesehen hatte. Nicht einmal. Und er war wahrscheinlich nicht der einzige. Manche waren vielleicht betrunken... aber nicht alle. Und diejenigen, die nicht betrunken waren, mochten gut und gerne die sein, auf die es ankam.
Wenn du das ordentlich machst, Sam, könnte es dein Schaden nicht sein. Wäre nicht unmöglich.
Nein. Das nicht. Selbstverständlich unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Und da war noch etwas anderes, abgesehen von den schattenhaften politischen Hintermännern, die einen freitagabendlichen Vortrag im Rotary Club besuchten: Er hatte sich stets damit gerühmt, daß er alles so gut wie möglich machte. Es war nur eine dumme kleine Rede. Na und?
Und es ist nur eine dumme Kleinstadtbibliothek. Wo liegt das Problem? Es wachsen nicht einmal Büsche an den Seiten.
Sam schritt wieder den Gehweg entlang, aber jetzt blieb er stirnrunzelnd stehen. Das war ein merkwürdiger Gedanke, der aus dem Nichts gekommen zu sein schien. Es wuchsen also keine Büsche an den Seitenwänden der Bibliothek, was machte das denn schon aus? Er wußte es nicht... aber er wußte, es hatte eine fast magische Wirkung auf ihn. Sein untypisches Zaudern fiel von ihm ab, und er schritt wieder weiter. Er ging die vier Steinstufen hinauf und verweilte einen Moment. Irgendwie schien das Gebäude verlassen zu sein. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus und dachte: Ich wette, es ist abgeschlossen. Ich wette, sie haben Freitag nachmittags geschlossen. Dieser Gedanke hatte etwas seltsam Beruhigendes.
Aber die altmodische Klinke gab unter dem Druck seines Daumens nach, die schwere Tür schwang lautlos nach innen. Sam betrat ein kleines Foyer mit Marmorboden – ein Schachbrettmuster schwarzer und weißer Quadrate. In der Mitte dieses Vorzimmers stand eine Staffelei; die Botschaft bestand aus einem einzigen Wort in sehr großen Buchstaben.
RUHE!
lautete sie. Nicht
SCHWEIGEN IST GOLD
oder
BITTE STILL SEIN
sondern nur dies eine starrende, böse Wort:
RUHE!
»Auf jeden Fall«, sagte Sam. Er murmelte die Worte nur, aber die Akustik des Saals war ausgezeichnet; sein leises Murmeln wurde zu einem griesgrämigen Grollen verstärkt, bei dem er sich unwillkürlich duckte. Es schien wahrhaftig von der hohen Decke zu ihm zurückgeworfen zu werden. Im Augenblick war ihm zumute, als wäre er wieder in der vierten Klasse und würde von Mrs. Glasters zur Ordnung gerufen werden, weil er sich genau im falschen Augenblick danebenbenommen hatte. Er sah sich unbehaglich um und rechnete fast damit, eine ungehaltene Bibliothekarin würde aus dem Hauptsaal gestürmt kommen, um festzustellen, wer es gewagt hatte, die Stille zu entweihen.
Um Gottes willen, hör auf damit. Du bist vierzig Jahre alt. Die vierte Klasse ist schon lange her, Kumpel.
Nur schien sie noch nicht so lange her zu sein. Hier drinnen nicht. Hier drinnen schien die vierte Klasse zum Greifen nah zu sein.
Er ging links an der Staffelei vorbei über den Marmorboden und verlagerte das Gewicht dabei unbewußt auf die Schuhspitzen, damit die Absätze nicht klackten, dann betrat er den Hauptsaal der Bibliothek von Junction City.
Eine Anzahl Glaskugeln hingen von der Decke (die mindestens sechs Meter höher war als die Decke des Foyers), aber keine war eingeschaltet. Zwei große, schräge Oberlichter spendeten Helligkeit. An einem sonnigen Tag hätten sie ausgereicht, das Zimmer zu erhellen; vielleicht hätten sie es sogar fröhlich und anheimelnd gemacht. Aber dieser Freitag war bewölkt und verhangen, das Licht trüb. Düstere Schattengeflechte füllten die Ecken des Saals.
Sam Peebles empfand ein Gefühl, als würde etwas nicht stimmen. Es war, als wäre er nicht nur durch eine Tür und ein Foyer gegangen, sondern als hätte er eine andere Welt betreten, die keinerlei Ähnlichkeit mit der Kleinstadt in Iowa hatte, die er manchmal mochte, manchmal haßte, größtenteils aber einfach als naturgegeben hinnahm. Hier drinnen schien die Luft dicker als normale Luft zu sein, und sie schien das Licht auch nicht so gut zu leiten wie normale Luft. Die Stille war so dick wie eine Wolldecke. Und so kalt wie Schnee.
Die Bibliothek war verlassen.
Rings um ihn herum verliefen Bücherregale. Als er zu den Oberlichtern mit dem Gitter ihrer Drahtverstärkung aufsah, wurde Sam ein wenig schwindlig und er sah eine flüchtige Illusion: Ihm war, als wäre er verkehrt herum aufgehängt worden, als hinge er – die Füße nach oben – über einer tiefen, von Büchern gesäumten Grube.
Hier und da lehnten Leitern an den Wänden, die auf einer Schiene montiert waren und auf Gummirädern über den Boden rollten. Zwei Holzblöcke unterbrachen das Meer offenen Raums zwischen der Stelle, wo er stand, und dem Ausgabeschalter am anderen Ende des großen, hohen Saals. Bei einem handelte es sich um ein langes Zeitschriftenregal aus Eiche. Zeitschriften hingen in durchsichtigen Schutzhüllen aus Plastik an Holzhaken. Sie glichen den Häuten seltsamer Tiere, die in diesem stillen Raum zum Trocknen aufgehängt worden waren. Ein über dem Regal angebrachtes Schild befahl:
ZEITSCHRIFTEN WIEDER RICHTIG EINORDNEN!
Links vom Zeitschriftenregal befand sich eines mit brandneuen Romanen und Sachbüchern. Ein Schild über diesem Regal verkündete, daß man sie nur maximal sieben Tage ausleihen konnte.
Sam ging den breiten Gang zwischen dem Zeitschriften- und dem Neuheitenregal entlang, und seine Absätze klackten und hallten, obwohl er sich so sehr bemühte, leise zu sein. Er wünschte sich, er wäre seinem ersten Impuls gefolgt, einfach umzukehren und wieder ins Büro zu gehen. Es war unheimlich hier. Obwohl eine kleine, abgeschirmte Mikrofilmkamera auf dem Schreibtisch summte, war niemand – nicht Mann noch Frau – da, der sie bediente. Auf einer kleinen Plakette auf dem Schreibtisch stand
A. LORTZ
- aber es war keine Spur von A. Lortz oder sonst jemand zu sehen.
Ist wahrscheinlich auf dem Klo und blättert die neueste Ausgabe des Library Journal durch.
Sam verspürte den irren Impuls, den Mund aufzumachen und zu schreien: »Klappt alles, A. Lortz?« Er verging rasch wieder. Die öffentliche Bibliothek von Junction City förderte Übermut nicht gerade.
Plötzlich fiel Sam ein kurzer Vers aus seiner Kindheit wieder ein. Laßt Lachen und das Blödeln sein, kommt zum Quäkertreffen rein. Läßt du deine Zähne sehen, mußt du Strafe zahlen gehen.
Läßt man hier drinnen die Zähne sehen, muß man dann seine Strafe bei A. Lortz bezahlen? fragte er sich. Er drehte sich noch einmal um, ließ seine Nervenenden die mißbilligende Eigenheit der Stille spüren und dachte, daß man ein Buch darüber schreiben könnte.
Sam, der längst nicht mehr daran interessiert war, ein Witzbuch oder Best Loved Poems of the American People zu bekommen, sondern sich unwillkürlich von der losgelösten, verträumten Atmosphäre der Bibliothek faszinieren ließ, ging zu einer Tür rechts vom Regal mit den Sieben-Tage-Büchern. Auf einem Schild über der Tür stand, daß es sich hier um die Kinderbibliothek handelte. Hatte er die Kinderbibliothek besucht, als er in St. Louis aufgewachsen war? Er glaubte es, aber diese Erinnerungen waren fern, verschwommen und schwer zu fassen. Dennoch hatte er ein seltsam gequältes Gefühl, als er sich der Tür der Kinderbibliothek näherte. Es war fast, als würde er heimkehren.
Die Tür war geschlossen. Ein Bild von Rotkäppchen war darauf zu sehen, die den Wolf in Großmutters Bett ansah. Der Wolf trug Großmutters Nachthemd und Nachthaube. Er fauchte. Geifer tropfte zwischen seinen entblößten Zähnen hervor. Ein Ausdruck fast erlesenen Schreckens verzerrte Rotkäppchens Gesicht, und das Plakat schien nicht nur zu verkünden, sondern festzuschreiben, daß das glückliche Ende dieser Geschichte – wie aller Märchen – eine bequeme Lüge war. Eltern glaubten diesen Schmu vielleicht, sagte das gräßlich erschrockene Gesicht von Rotkäppchen, aber die Kleinen wußten es besser, oder nicht?
Hübsch, dachte Sam. Mit so einem Plakat an der Tür kommen bestimmt viele Kinder in die Kinderbibliothek. Ich wette, das gefällt den Kleinen ganz besonders.
Er machte die Tür auf und streckte den Kopf hinein.
Das Gefühl des Unbehagens fiel von ihm ab; er war auf der Stelle verzaubert. Das Plakat an der Tür war selbstverständlich vollkommen falsch, aber was hinter der Tür lag, schien ganz richtig zu sein. Selbstverständlich hatte er als Kind die Bibliothek benützt; ein Blick in diese maßstabsgetreue Welt reichte aus, die Erinnerungen wieder aufzufrischen. Sein Vater war jung gestorben. Sam war ein Einzelkind gewesen und von einer arbeitenden Mutter großgezogen worden, die er selten sah, höchstens an Sonn- und Feiertagen. Wenn er das Geld für einen Kinobesuch nach der Schule nicht aufbringen konnte – und das war oft -, mußte die Bibliothek genügen, und der Raum, den er jetzt vor sich sah, brachte ihm diese Tage inmitten einer plötzlichen Woge der Nostalgie zurück, die süß und schmerzvoll und auf eine seltsame Weise furchterregend war.
Es war eine kleine Welt gewesen, und dies war eine kleine Welt; es war eine hell erleuchtete Welt gewesen, selbst an den grimmigsten, regnerischsten Tagen, und das war auch diese hier. In diesem Raum gab es keine hängenden Glaskugeln; hier hingen Neonröhren hinter Ornamentglasscheiben an der schwebenden Decke, die alle Schatten vertrieben, und alle waren eingeschaltet. Die Tischplatten waren nur sechzig Zentimeter vom Boden entfernt; die Stühle waren noch niedriger. In dieser Welt wären Erwachsene Eindringlinge, nervöse Fremde. Sie würden die Tische auf den Knien balancieren, wenn sie versuchen würden, dort Platz zu nehmen, und wahrscheinlich würden sie sich die Schädel einschlagen, wenn sie versuchten, aus dem Trinkbrunnen an der hinteren Wand zu trinken.
Hier erstreckten sich die Regale nicht tückisch in die Höhe, so daß einem schwindlig wurde, wenn man zu lange darauf hinaufsah; die Decke war so tief, daß es gemütlich wirkte, aber nicht so tief, daß man sich als Kind niedergedrückt fühlen mußte. Hier standen nicht reihenweise düstere Einbände, sondern Bücher, die förmlich in grellen Primärfarben schrien: Hellblau, Rot, Gelb. In dieser Welt war Dr. Seuss König, Judy Blume Königin, und sämtliche Prinzen und Prinzessinnen besuchten die Sweet Valley High-School. Hier verspürte Sam das alte Gefühl wohltuender Heimeligkeit nach der Schule; es war ein Ort, wo die Bücher förmlich danach bettelten, berührt, genommen, betrachtet, erforscht zu werden. Und doch hatten diese Empfindungen alle einen eigenen dunklen Beigeschmack.
Aber seine deutlichste Empfindung war ein fast sehnsüchtiges Vergnügen. An einer Wand hing eine Fotografie eines Welpen mit großen, nachdenklichen Augen. Unter dem ängstlich-hoffnungsvollen Gesicht des Welpen stand eine der großen Wahrheiten dieser Welt geschrieben: ES IST SCHWER, GUT ZU SEIN. An der anderen Wand hing ein Gemälde, das Stockenten auf dem Weg, zum überwucherten Ufer zeigte. MACHT PLATZ FÜR ENTEN! trompetete das Plakat.
Sam sah nach links, und das milde Lächeln auf seinen Lippen zuckte und verschwand. Da hing ein Plakat mit einem großen schwarzen Auto, das von einem, wie er vermutete, Schulhaus wegraste. Ein kleiner Junge sah zum Beifahrerfenster heraus. Er hatte die Hände an die Scheibe gedrückt und den Mund zu einem Schrei aufgerissen. Im Hintergrund kauerte ein Mann – nur ein vager, geheimnisvoller Schemen – über dem Lenkrad und gab Gas, was das Zeug hielt. Die Worte unter dem Bild lauteten:
FAHRE NIEMALS MIT FREMDEN!
Sam wurde klar, daß das Rotkäppchen-Plakat auf der Tür der Kinderbibliothek und dieses hier dieselben primitiven Angstgefühle ansprachen, aber das hier fand er wesentlich beunruhigender. Natürlich sollten Kinder nicht mit Fremden mitfahren, und selbstverständlich mußte man ihnen das beibringen; aber war dies die richtige Methode, es ihnen klarzumachen?
Wie viele Kinder, fragte er sich, hatten dank dieser kleinen Warnung des öffentlichen Dienstes eine Woche lang Alpträume?
Ein weiteres Plakat, das auf die Front der Ausgabetheke geklebt war, verschaffte Sam eine Gänsehaut wie der kälteste Januar auf dem Rücken. Es zeigte einen kläglichen Jungen und ein Mädchen, beide sicher nicht älter als acht, die vor einem Mann mit Trenchcoat und grauem Hut zurückschreckten. Der Mann schien mindestens drei Meter groß zu sein; sein Schatten fiel auf die emporgewandten Gesichter der Kinder. Die Krempe des Schlapphuts aus den vierziger Jahren warf ihrerseits einen Schatten, und aus diesen dunklen Tiefen glommen die Augen des Mannes im Trenchcoat unbarmherzig. Sie sahen wie Eissplitter aus, während sie die Kinder studierten und mit dem grimmigen Blick der AUTORITÄT maßen. Er hielt eine Kennkarte mit einem daran festgesteckten Stern hoch – einem seltsamen Stern mit mindestens neun Zacken. Vielleicht sogar einem ganzen Dutzend. Der Text darunter lautete:
VERMEIDET DIE BIBLIOTHEKSPOLIZEI! BRAVE JUNGS UND MÄDCHEN BRINGEN IHRE BÜCHER PÜNKTLICH ZURÜCK!
Und wieder war der Geschmack in seinem Mund. Dieser süße, unangenehme Geschmack. Und ein befremdlicher, beängstigender Gedanke kam ihm: Ich habe diesen Mann schon einmal gesehen. Aber das war selbstverständlich lächerlich. Oder nicht?
Sam überlegte sich, wie ihn so ein Plakat als Kind eingeschüchtert haben würde – wieviel schlichte, ungetrübte Freude es dem sicheren Hafen der Bibliothek genommen hätte -, und spürte Mißbilligung in seiner Brust emporsteigen. Er trat einen Schritt näher an das Plakat, um sich den seltsamen Stern eingehender zu betrachten, und nahm gleichzeitig die Rolle Tums aus der Tasche.
Er steckte gerade eines in den Mund, als eine Stimme hinter ihm sagte: »Oh, hallo!«
Er schreckte hoch, drehte sich um und war zum Kampf mit dem Bibliotheksdrachen bereit, nachdem sich dieser endlich gezeigt hatte.

2

Aber es kam kein Drache. Nur eine dickliche, weißhaarige Frau um die Fünfundvierzig, die ein Wägelchen mit Büchern auf lautlosen Gummirollen schob. Das weiße Haar rahmte das offene, glatte Gesicht mit hübschen Dauerwellen ein.
»Ich nehme an, Sie haben nach mir gesucht«, sagte sie. »Hat Mr. Peckham Sie hier reingeschickt?«
»Ich habe überhaupt niemand gesehen.«
»Nicht? Dann ist er schon nach Hause gegangen«, sagte sie. »Das überrascht mich nicht, schließlich ist es Freitag. Mr. Peckham kommt jeden Morgen um elf, um abzustauben und die Zeitung zu lesen. Er ist Hausmeister – selbstverständlich nur halbtags. Manchmal bleibt er bis eins – montags meist bis halb zwei, weil der Staub und die Zeitung da am dicksten sind -, aber Sie wissen ja, wie dünn die Freitagszeitung ist.«
Sam lächelte. »Ich nehme an, Sie sind die Bibliothekarin?«
»Das bin ich«, sagte Ms. Lortz und lächelte ihn an. Aber Sam fand, daß ihre Augen nicht lächelten; ihre Augen schienen ihn argwöhnisch, fast kalt zu betrachten. »Und Sie sind...?«
»Sam Peebles.«
»Ach ja! Makler und Versicherungsvertreter! Das ist Ihr Metier.«
»Schuldig im Sinne der Anklage.«
»Tut mir leid, daß sich niemand im Hauptteil der Bibliothek aufhält – Sie müssen gedacht haben, wir hätten geschlossen und jemand hätte aus Versehen die Tür offengelassen.«
»Tatsächlich«, sagte er, »ist mir der Gedanke gekommen.«
»Von zwei bis sieben haben wir zu dritt Dienst«, sagte Ms. Lortz. »Wissen Sie, ab zwei ist der Unterricht an den Schulen zu Ende – Grundschule um zwei, Mittelschule um halb drei, High-School um Viertel vor drei. Die Kinder sind unsere treuesten Kunden – und was mich betrifft die liebsten. Ich mag die Kleinen. Ich hatte eine Assistentin ganztags, aber letztes Jahr hat der Stadtrat unser Budget um achthundert Dollar gekürzt und...« Ms. Lortz legte die Hände zusammen und stellte einen Vogel dar, der fortflog. Es war eine amüsante, bezaubernde Geste.
Warum, fragte sich Sam, bin ich dann nicht amüsiert oder bezaubert?
Die Plakate, vermutete er. Er versuchte immer noch, Rotkäppchen, das schreiende Kind im Auto und den grimmig blickenden Bibliothekspolizisten mit dieser lächelnden Kleinstadtbibliothekarin in Einklang zu bringen.
Sie streckte die linke Hand – eine kleine Hand, rund und plump wie alles an ihr – in perfektem, ungezwungenem Selbstvertrauen aus. Er betrachtete den dritten Finger und sah, daß sie keinen Ring trug. Die Tatsache, daß sie eine alte Jungfer war, kam ihm völlig typisch, völlig kleinstädtisch vor. Im Grunde genommen fast eine Karikatur. Sam schüttelte die Hand.

ENDE DER LESEPROBE

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Titel der Originalausgabe THE LIBRARY POLICEMAN und THE SUN DOG aus: FOUR PAST MIDNIGHT
7. Auflage
Taschenbuchausgabe 10/99
Copyright © 1990 by Stephen King
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