Niemals satt - Monchi - E-Book
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Niemals satt E-Book

Monchi

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Beschreibung

»Ich wiege 120 Kilo und fühle mich wie ein Schmetterling.« In den turbulenten Jahren, in denen Feine Sahne Fischfilet es bis an die Spitze der deutschen Musikszene geschafft haben, heißt es für Frontmann Monchi immer nur Vollgas. Bis die Band eine Pause einlegt und er zum ersten Mal Ruhe hat, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Waage verrät ihm, dass die Zeit reif ist: Er wiegt 182 Kilo. Solang er sich erinnern kann, ist Monchi immer an die Grenzen und darüber hinaus gegangen. Als Rampensau und streitbares Sprachrohr für Feine Sahne Fischfilet ist sein Motto: »Alles oder nichts!« Das gilt allerdings genauso für die unzähligen Abstürze und Vollräusche in Kneipen und auf Tour. Aber nach dem Sprung von der Bühne hat ihn das Publikum ja noch immer aufgefangen, oder nicht? Als es für ihn schon längst normal ist, zu fressen statt zu essen, zu saufen statt zu trinken, beginnt er Gewissheiten und Gewohnheiten zu hinterfragen. Auf Scheitern folgt Verstehen. Er lernt viel über seine eigenen Widersprüche und Macken, über Identität und den Einfluss, den die Gesellschaft auf die Eigenwahrnehmung haben kann. Monchi beschreibt mit schonungsloser Ehrlichkeit und Selbstkritik, wie er es in nur einem Jahr geschafft hat, 65 Kilo abzunehmen, und wie ihn der Kampf gegen die Maßlosigkeit seitdem täglich beschäftigt; mit vielen kleinen Erfolgen, aber genauso vielen Rückschlägen – denn die Herausforderung hat gerade erst begonnen. Auf diesem steinigen Weg ist ein besonderes Buch entstanden, das voller faszinierender Gedanken und Geschichten steckt. Monchi trägt sein großes Herz auf der Zunge – und so schreibt er auch!

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Seitenzahl: 405

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Monchi

Niemals satt

Über den Hunger aufs Leben und 182 Kilo auf der Waage

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Monchi

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Dezember 2019 

Januar 2020 

Januar 2020 

Ich sehe was, was du nicht siehst

Februar 2019 

April 2019 

April 2019 

Ich sehe was, was du nicht siehst

Februar 2020 

März 2020 

April 2020 

Ich sehe was, was du nicht siehst

Mai 2020 

Mai 2020 

Mai 2020 

Juli 2020 

Ich sehe was, was du nicht siehst

September 2020 

Oktober 2020 

Oktober 2020 

November 2020 

Ich sehe was, was du nicht siehst

November 2020 

November 2020 

Die Antwort meiner Eltern

Dezember 2020 

Dezember 2020 

Dezember 2020 

Ich sehe was, was du nicht siehst

Januar 2021 

Januar 2021 

Januar 2021 

Januar 2021 

Februar 2021 

Februar 2021 

März 2021 

Ich sehe was, was du nicht siehst

März 2021 

April 2021 

April 2021 

April 2021 

April 2021 

Mai 2021 

Ich sehe was, was du nicht siehst

Mai 2021 

Juli 2021 

Juli 2021 

August 2021 

September 2021 

Dezember 2021 

Dezember 2021 

Danksagung

Bildteil

Zitatenachweis

Inhaltsverzeichnis

Dezember 2019 

Plötzlich ist alles still

28. Dezember 2019: Heute spielen wir in Bamberg. Es ist das letzte Konzert unserer »Wir haben immer noch uns!«-Tour. Ich sitze im Backstage-Raum.

Keins der Oberteile, die ich dabeihabe, passt mir mehr so richtig, alle sind zu eng. Nichts, mit dem ich mich auf der Bühne wohlfühlen würde. Umso schöner, dass ich vor ein paar Tagen ein T-Shirt geschenkt bekommen habe, das perfekt sitzt. Es ist zwar ungewaschen und wurde mir gleich von Leuten im Publikum zerrissen, aber ich werde es heute wieder anziehen. Auch wenn ich es die letzten drei Konzerte schon anhatte. Auch wenn es fast steht vor Dreck und gammelig riecht. Um es wieder startklar zu machen, tackert Ole aus unserer Crew das Teil gerade wieder zusammen. Dass alle andere Sachen mir nicht mehr passen, heißt, dass ich wieder zugenommen haben muss.

Ich habe keine Ahnung, wie viel ich wiege. Ich habe mich fast noch nie selbst gewogen. Ich war schon früher immer ein »kräftiges Kind« und vielleicht auch deshalb nie sehr erpicht darauf, mein Gewicht zu kennen. Ich hatte keinen Bock, mich damit auseinanderzusetzen, denn: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Wenn ich mal auf einer Waage stand, dann nicht freiwillig. Eine Geschichte erzählt meine Mutter noch heute:

Einmal, als ich neun oder zehn Jahre alt war, kam ich heulend nach Hause. Unsere Sportlehrerin hatte alle Kinder vor Schulschluss in Reih und Glied aufgestellt und ließ Tina und mich – wir waren die einzigen dicken Kinder in der Klasse – vortreten. Vor allen anderen legte sie uns mit ernster Stimme ans Herz, dass wir dringend weniger Schnitzel essen sollten. Zur nächsten Unterrichtsstunde würde sie eine Waage mitbringen, um uns vor der Klasse zu wiegen. Ohne selbst so ein Lehrer-Studium abgeschlossen zu haben, wage ich zu bezweifeln, dass das die pädagogisch wertvollste Methode war, um uns dazu zu bewegen, etwas mehr auf unsere Ernährung zu achten.

Zwanzig Jahre später, im März 2019, lag ich bei einem Freund in der Badewanne. Ich liebe Badewannen. Zumindest die, in die ich reinpasse. Denn leider gibt es auch viele Spargeltarzan-Badewannen, in denen mein Bauch gar nicht erst nass wird, höchstens mit Duschkopf. Mit umso mehr Freude springe ich in nahezu jede Wanne, der ich ansehe, dass sie meines Antlitzes würdig ist. Freunde und Familie werden dies leidvoll bestätigen können. »Schön, euch zu sehen, ich hüpf mal ’ne Runde in die Badewanne.« Zakk, Tür zu, Wasser an! Die Badewanne ist einer der ganz wenigen Orte, an denen ich meine Ruhe habe. Kein Zank, kein Streit, kein Weltuntergang. Handy draußen lassen, Wasser laufen lassen, lesen, schlafen, naschen, chillen. Einfach geil!

Als ich da so lag, lugte unter dem Waschbecken eine Waage hervor. Keine Ahnung, warum ich den Impuls hatte, mich einfach mal draufzustellen, aber er war da. Und ich gebe zu, ich war gespannt. Rauf da! Wie viel ich wohl wiege?

Und zack, gleich etwas gelernt: Man kann zu fett für ’ne Waage sein. Harte Erkenntnis. Die Anzeige ging nur bis 160 Kilo, und das reichte für mich offenbar nicht aus. Der Zeiger überschlug locker die Null. Ich beschloss, dass der Freund sich ’ne Billigwaage mit defekter Anzeige zugelegt haben musste. Aber heimlich fragte ich mich doch: Gibt es überhaupt Waagen für Menschen wie mich? Ich sah mich schon zur Kfz-Werkstatt eines Kumpels gehen, um mich heimlich auf die Hebebühne zu stellen. Glücklicherweise fand ich dann heraus, dass es doch handelsübliche Waagen gibt, die mich aushalten.

Ein paar Monate später kaufte ich mir eine, packte sie aus und stellte sie in mein Bad. Also rauf auf ’n Dorsch und Butter bei die Fische: 168 Kilo. Das ist schon eine Hausnummer, ja, aber so richtig schockten die drei Ziffern mich nicht. Klar, das ist deutlich zu viel, aber dass ich keine Gazelle bin, war mir schon vorher klar.

 

Zurück nach Bamberg in den Backstage-Raum, zurück in die Gegenwart. Die Tour war ein voller Erfolg. Wir haben in Städten wie Zwickau und Freiburg haltgemacht – wo es vor ein paar Jahren noch Konzerte gab, zu denen 11 oder 23 zahlende Gäste gekommen sind, dürfen wir grad vor zigtausend Leuten in ausverkauften riesigen Hallen spielen. Immer wieder fühlt sich das surreal an.

Aber jetzt ist es wirklich an der Zeit für eine Pause. Wir haben uns entschieden, 2020 kein einziges Konzert zu geben. Egal, was es für Anfragen gibt. Egal, ob irgendwo die Welt untergeht und wir auf irgendeiner Demo spielen sollen, egal, ob ein riesiges Festival mit hammerviel Asche winkt. Nein, diesmal nicht. Diesmal heißt Pause wirklich Pause. Ich brauche sie für mich. Wir brauchen sie als Band. Ich lechze danach, einfach mal vier Wochen am Stück nur in Mecklenburg-Vorpommern zu sein. Aber umso heißer sind wir heute: ein letztes Mal abliefern!

Vor den Konzerten schaue ich mir meist die Locations genauer an, um ein Gefühl für sie zu bekommen. So auch heute. Ich gehe vor die Bühne und ziehe mir den Soundcheck der Rostocker Rapper von Waving the Guns rein, welche heute dem Publikum einheizen werden. Vor vier Jahren standen wir hier und durften als Vorband der Broilers zocken. Ich weiß noch genau, wie krass aufgeregt wir alle waren und wie glücklich wir nach unserer halben Stunde von der Bühne kamen – mit dem Gefühl, abgerissen zu haben, wie man als Vorband nur abreißen kann. Als ich mich mit Artur (unser Booker und ein guter Freund) auf die Plätze an der Seitentribüne setze, muss ich ungläubig in mich hineinschmunzeln. Alter, wir, Feine Sahne Fischfilet, spielen hier heute als Hauptband, und die Halle ist restlos ausverkauft. 7000 Leute, die wegen uns Pennern hierherkommen, Geld für eine Konzertkarte ausgegeben haben und sich auf unsere Musik freuen. Das ist einfach nur absurd und unglaublich schön zugleich. Hoffentlich wird’s ein perverser Abriss. Wenn hier heute Nacht irgendjemand ohne schweißdurchtränktes Shirt nach Hause geht, haben wir was falsch gemacht!

Ich gehe weiter, mache einen Schlenker an unserem Merch-Stand vorbei, schnacke ’ne Runde mit meinem Homie Phil, der seit Jahren unsere Shirts vertickt, und dann schalte ich meinen Radar an. Es gibt immer ein, zwei Lieder, bei denen nur Christoph singt und ich mein Ding machen und herumstromern kann. Kann ich irgendwo plötzlich im Publikum auftauchen, den Leuten ’nen Pfeffi mitbringen, kurz mit ihnen anstoßen und schnell wieder auf der Bühne sein? Kann ich von irgendeiner Erhöhung in die Menge springen, sodass mich die Fans von dort aus zur Bühne tragen?

In der Brose Arena finden auch die Spiele der Brose Baskets statt, was die vielen Umkleidekabinen erklärt, an denen ich vorbeilaufe, bevor ich mich in einem Raum wiederfinde, in dem eine Waage steht, die mich magisch anzuziehen scheint. Niemand ist im Raum. Nur die Waage und ich. Es ist der perfekte Zeitpunkt für eine Bestandsaufnahme.

Offensichtlich ist das Teil auch für Menschen mit Format gedacht, denn diesmal ist nicht bei 160 Schluss. Im Gegenteil. Das Endergebnis von jahrelangem Nachtisch, Nachschlag und Schweinesuff steht vor mir, und ich muss ganz schön schlucken. Vorn steht eine 1, ihr folgt die 8 und garniert wird das Ganze von einer 3. 183 Kilo.

Meist war mir wirklich egal, wie viel ich wiege, aber diese Zahl schockiert mich doch. Denn im Frühling hat die Waage bei meinem Kumpel noch 15 Kilo weniger angezeigt. Das Krasse ist: Ich hab das gar nicht mitbekommen. Stell dir vor, du nimmst innerhalb von acht Monaten 15 Kilo zu und checkst es nicht.

Ich ziehe mich aus. Wie steif würde das jetzt wirken, wenn jemand reinkommt und mich hier nackt auf die Waage steigen sieht … Ohne T-Shirt, Hose, Umhängetasche und Flip-Flops wird direkt ein Kilo weniger angezeigt. Dann ist ja alles schick, so schnell werd ich also schlanker! Noch mal Glück gehabt. Fakt bleibt aber: Ich wiege 182 Kilo. Zweimal so viel wie Kai, unser Bassist. Mehr als dreimal so viel wie meine Freundin. Mehr als meine Mutter und mein Vater zusammen. 82 Kilo müsste ich verlieren, um bis zur 100 zu kommen, nur noch 18 Kilo zunehmen, um die 200er-Marke zu knacken.

Ich schlüpfe in meine Flip-Flops, die ich liebe und selbst im Dezember noch ab und zu trage – einfach weil das Binden von Schnürsenkeln mit meinem stattlichen Bauch jedes Mal zum halben Leistungssport verkommt. Ich verlasse den Raum und schalte sofort wieder auf cool. Die Zahlen jedoch geistern weiter durch meinen Kopf. Spätestens wenn ich auf der Bühne stehe, habe ich das Ganze sowieso wieder vergessen, denke ich mir.

Und genau so ist es. Von der ersten Sekunde an singen die Leute jedes Lied, jeden Text mit, lassen sich auf Händen tragen, liegen sich mit Fremden in den Armen. Es ist unglaublich. Digger, was haben wir mit Bamberg zu tun? Gar nix. Und die drehen hier durch, als ob es kein Morgen gäbe. Die anderen Jungs konzentrieren sich auf ihre Instrumente, aber wenn sich unsere Blicke treffen, muss keiner was sagen. Aber lächeln müssen wir die ganze Zeit. Was für ein geiles Tourfinale!

Ich bin völlig kaputt, mein gerade erst repariertes Shirt ebenfalls, aber scheißegal. Das war Zucker. Apropos Zucker: Ich komme von der Bühne und die 182 Kilo sind ganz weit weg. Ich gönne mir drei eiskalte Flaschen Cola, bevor ich zur Feier des Tages anfange, noch mehr Cola mit ordentlich Rum zu mischen. Das, was an Süßigkeiten da ist, hämmer ich mir rein. Ich habe keinen Hunger, aber schmecken tut’s immer. Ich mache mich auf den Weg zur After-Show-Party, bei der es ordentlich auf die Helme gibt, aber nicht ohne mir vorher noch links und rechts Schlümpfe in die Hosentaschen zu packen. Wenn der kleine Hunger kommt, ist für Abhilfe gesorgt. Zack, noch ’nen Schnaps, noch ein paar Schlümpfe, geil, es ist noch Kuchen übrig!

Bis zur Abfahrt hänge ich bei der Party mit meinen Dudes rum und laber Müll. Dann macht Artur Alarm: Der Nightliner wartet. Also Verabschiedung hier, ein, zwei herzliche Beleidigungen da, und ab geht’s in den Bus. Ein paar Fans der »Saarland Asozial«-Fraktion, die uns zu vielen Konzerten hinterherfährt, haben auf uns gewartet und verlegen Silvester vor, indem sie bei unserer Abfahrt mehrere Bengalos anreißen und wir plötzlich durch einen dichten roten Nebel fahren. Was für ein Wahnsinn! Kurz bleibe ich noch mit den anderen aus der Band und der Crew unten sitzen, um den Abend bei ein, zwei Kaltgetränken ausklingen zu lassen. Aber schon bald treibt es mich zu meiner Koje.

Die Vorhänge sind zugezogen und ich versuche, zur Ruhe zu kommen. Mein Körper schreit nach Schlaf. Aber das heißt nicht, dass auch mein Kopf aus ist. Der wird gefühlt immer wacher, während die 182 Kilo wieder immer präsenter werden. Ich hole mein Handy raus, gebe bei Google »Wer wiegt 180 Kilo« ein und kriege nur deprimierte Gesichter angezeigt. Irgendein Algorithmus sorgt dafür, dass mir verschiedenste BMI-Rechner vorgeschlagen werden. »Der Body-Mass-Index ist eine Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts eines Menschen in Relation zu seiner Körpergröße«, sagt mir Wikipedia. Ach scheiß drauf, denke ich, jetzt will ich’s wissen. Ich klicke auf eine der Seiten und gebe meine Daten ein.

Ich bin 192 Zentimeter groß, 31 Jahre alt und wiege 182 Kilo. Das Ergebnis: Ich habe einen BMI von 49,4. Ich bin zwar kein Experte, aber mir ist klar, dass diese Zahlenkombination nichts Gutes aussagt. In meinem Alter gilt man wohl bereits mit einem BMI von über 25 als übergewichtig. Zwar weiß ich auch, dass schon von Übergewicht gesprochen wird, wenn man ein paar kleine Speckrollen hat, aber bei einem BMI von fast 50 muss ich mir nichts mehr vormachen. Nicht dass ich mich für einen Leichtathleten gehalten hätte, aber zum allerersten Mal bin ich wirklich schockiert.

Das muss ich erst mal ein bisschen sacken lassen. Wird sich dadurch irgendwas bei mir verändern? Oder bin ich wie der Kapitän, der weiter Kurs hält, obwohl er direkt auf einen Eisberg zusteuert? Bis jetzt ist nichts passiert, also wird auch in Zukunft nichts passieren, oder was? Puh. Ich will nicht gegen einen Eisberg donnern und sehenden Auges untergehen. Ich hab Bock auf Leben!

Aber wie bin ich hierhergekommen? Und wie komm ich hier wieder raus?

Im Bus kann ich wie immer nur hoffen, dass die Koje nicht durchbricht, wenn ich mich umdrehe. Ich schmiere mir noch etwas Wund- und Heilsalbe zwischen meine Schenkel, die von der vielen Bewegung und vom Schwitzen auf der Bühne schon wieder ganz wund sind. Diesmal blutet es zum Glück nicht so stark. Dann knipse ich das Licht aus. Wenn’s gut läuft, pegelt sich mein Adrenalinspiegel langsam ein und ich mache gleich die Augen zu. Gute Nacht, liebe Crew, gute Nacht, liebe Bandkollegen, besauft euch noch ordentlich! Das war ein krasses Abschlusskonzert, das war eine tolle Tour, das waren verrückte Jahre. Aber ab morgen ist endlich Pause. Ich habe sie so herbeigesehnt. Das erste Mal in meinem Leben werde ich von der Autobahn abfahren und anhalten, aussteigen und mir Ruhe gönnen.

Inhaltsverzeichnis

Januar 2020 

Endlich Ruhe

Rettest die ganze Welt

Vergisst dabei einfach dich selbst

Kein Abschalten möglich, fast wie eine Sucht

Ständig bist du auf der Flucht

Find’s schön, dass du bewegst

So viel kämpfst, so viel erlebst

Doch hat es keinen Wert, dass du so viel machst

Wenn du am Ende nicht mehr lachst

Nimm dir endlich Zeit

Nimm dich endlich selber ernst

Wirst hier gar nichts mehr verändern, wenn du das Genießen verlernst

Nimm dir endlich Zeit

Nimm dich endlich selber ernst

Wirst hier gar nichts mehr verändern, wenn du das Genießen verlernst

(»Ruhe« – Feine Sahne Fischfilet)

Diesen Text habe ich vor zig Jahren für meine Freundin Hanna geschrieben. Nach ewigem Hin und Her und gleich mehreren Trennungen schafften wir es irgendwann endlich, wirklich getrennte Wege zu gehen. Bevor das Lied auf dem Album »Bleiben oder gehen« erschien, schenkte ich ihr einen USB-Stick mit einer frühen Aufnahme des Songs. Erst jetzt, Jahre später, checke ich, dass ich diese Zeilen auch in einen Spiegel hätte singen können. Auf mich und meinen Lebensstil passen sie mindestens genauso gut. Und gerade jetzt frage ich mich: Warum komme ich nie zur Ruhe? Warum bin ich so fett geworden? Und gibt es da einen Zusammenhang?

Feine Sahne Fischfilet gibt es nun seit über 15 Jahren, und seitdem sind wir unterwegs. Die letzten sieben, acht Jahre waren ein einziger Rausch: Ständig war alles in Bewegung, zwischen kleinen autonomen Jugendzentren und der Hauptbühne bei Rock am Ring, zwischen Artikeln im Feuilleton, in denen wir als »wichtigste Band unserer Zeit« oder als »Vorpommerns gefährlichste Band« bezeichnet wurden, und der dreimaligen Nennung im Verfassungsschutzbericht, zwischen Auszeichnungen und Bombendrohungen.

Und bevor es mit der Band richtig losging, war mein Leben auch nicht von Langeweile geprägt. Meine Mutter sagt immer, dass es ihr ab Tag 1 so vorgekommen sei, als wäre ich an eine Steckdose angeschlossen. Ab meinem 14. Lebensjahr hatte mich das Fußball-Virus im Griff und es gab nur noch eins: Hansa Rostock. Es waren die prägendsten Jahre meines Lebens, ich haute komplett auf die Kacke. Mit 18 hatte ich bundesweites Stadionverbot und eine Bewährungsstrafe, mit 19 kamen 30000 Euro Schulden dazu. Später haben Faschos in ganz Mecklenburg-Vorpommern Aufkleber verteilt, auf denen mein Kopf abgebildet war. Mal ballerten die Faschos meine komplette Karre mit Buttersäure voll, mal machte der Verfassungsschutz sich an ihr zu schaffen und brachte einen Peilsender an. Drei Jahre lang wurde ich observiert. Und auch fern von Fußball und Band habe ich Dinge erlebt, die ich noch immer kaum fassen kann: etwa als ich mit meinem Freund Dariush eine Woche auf See war und die Flüchtlingslager-Hölle von Moria mit eigenen Augen gesehen habe. Oder als wir im Rahmen von Wiederaufbaumaßnahmen Hilfslieferungen an die türkisch-syrische Grenze gebracht haben und rein zufällig mitten in ein IS-Attentat geraten sind – ich stand zwischen 31 Leichen und musste fürchten, dass gleich noch eine zweite Bombe hochgeht.

So viele Leute liebäugeln in meinem Alter schon mit der Midlife-Crisis und meinen, in ihrem Leben etwas verpasst zu haben. Ich weiß, wie düsig sich das anhört, aber ich habe das Gefühl, ich könnte jetzt tot umfallen und hätte schon genug für zwei Leben gelebt.

Allein im Jahr 2018 war ich über 200 Tage unterwegs. Gerade war der Dokumentarfilm »Wildes Herz« erschienen, den Charly Hübner über Feine Sahne Fischfilet und mich gedreht hat. Neben unzähligen Konzerten gab es für mich noch fast 100 Filmdiskussionen obendrauf, bei denen ich mit den verschiedensten Menschen über die Band und noch viel mehr über mein Leben sprach. Den offensichtlichsten Zusammenhang zwischen einem Leben auf Achse und Übergewicht werden Trucker, Montagearbeiter und Außendienstler bestätigen können: Wer so viel unterwegs ist, isst viel an Raststätten. Wer viel an Raststätten isst, frisst auch viel Scheiße. Und wer viel Scheiße frisst, wird kein Model für Unterwäsche.

Immer wenn ich dachte, dass ich mal etwas Ruhe haben würde, kamen unerwartete Situationen dazwischen. Dann ging irgendwo die Welt unter oder jemand brauchte unseren Support. Und obwohl ich lange ein anderes Bild von mir hatte, muss ich gestehen: Manchmal bin ich sehr schlecht im Neinsagen. Dann habe ich auch oft das Gefühl, dass viele Leute sich einfach wegducken. Monchi macht das schon … Aber, und das gehört auch zur Wahrheit: Irgendwie habe ich den Stress auch immer gesucht, nach dem Motto: Wenn ich es nicht mache, macht es keiner. Wer nicht durchzieht, meint es nicht ernst. Ich verstehe erst jetzt so langsam, dass das für die Menschen um mich herum oft extrem anstrengend sein muss. Vor allem, wenn ich auch noch genervt bin, wenn nicht alle anderen genauso Feuer und Flamme sind wie ich.

 

Im Oktober 2018 stand endlich mein erster wirklicher Urlaub seit langer Zeit an. Mit Freunden aus Rostock sollte es ein zweites Mal nach Nepal gehen, nachdem wir vor Jahren schon dort waren, aber noch lange nicht alles gesehen hatten. Die Flüge waren bezahlt, die Tasche gepackt, der Reisepass erneuert. Ich sollte am Montag aus Köln fliegen, denn freitags und samstags durften wir mit Feine Sahne Fischfilet noch als Support vor den Toten Hosen spielen – Tourfinale mit jeweils 45000 Leuten im Stadion, und wir werden eingeladen. Was für ein Geschenk!

Im Laufe der Woche dachte ich noch gar nicht an die Konzerte, weil etwas anderes mich beschäftigte: Ich merkte, dass ich nicht verreisen wollte. Wenn ich an die Wochen in Nepal dachte, blockierte alles in mir. Eins weiß ich über mich: Wenn ich etwas tue, auf das ich kein Bock habe, dann wird es unendlich scheiße. Ich kann keine gute Zeit in Kathmandu haben, wenn ich eigentlich in Mecklenburg-Vorpommern sein will. Also sagte ich die Reise ab. Es war ein unglaublich tolles Gefühl. Endlich mal länger als ein paar Tage zu Hause bleiben. Meine Freundin Lena und ihre Kids sehen, mit Freunden hängen, meine Familie besuchen. Einfach tu Hus sein.

Dass die folgenden Wochen dann die mit Abstand stressigsten des Jahres werden sollten, wusste ich noch nicht. Denn zu Hause war plötzlich der allerschlechteste Ort für Ruhe.

Wir sollten bald im Rahmen einer Bauhaus-Konzertreihe des ZDF im Bauhaus Dessau spielen. Das Konzert war nach wenigen Sekunden ausverkauft. Eine Melange aus Faschos und AfD empörte sich jedoch über unsere Einladung, woraufhin die Stiftung Bauhaus unser Konzert einfach absagte. Es eskalierte komplett. National und international berichtete die Presse. Es gab Flashmobs von Studierenden und offene Briefe, die von irgendwelchen Professoren aus den USA oder Filmemachern aus Tel Aviv unterschrieben wurden, während ich doch eigentlich nur endlich mal wieder an der Ostsee spazieren wollte.

Die Medien drehten immer mehr ab, und plötzlich lauerten mir zu Hause zwei Journalisten auf, um mich über Dessau auszufragen. Ich war völlig perplex und kann es gut nachvollziehen, wenn einem in so einer Situation die Sicherungen rausfliegen. Die beiden checkten glücklicherweise schnell, dass mein »Verpisst euch, ihr Wichser!« ernst gemeint war, und machten sich vom Acker. Auf dem Affentempel in Kathmandu wäre es definitiv entspannter gewesen.

Natürlich ließen wir uns nicht lumpen, organisierten mit unserem Booker Artur ein Alternativkonzert und spielten schließlich unter dem Motto »Brauhaus statt Bauhaus« trotzdem in Dessau, und zwar in der Alten Brauerei vor viermal so vielen Leuten, wie ins Bauhaus gepasst hätten.

 

Dieses Erlebnis ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die letzten Jahre oft angefühlt haben. Vieles war genial und einzigartig, aber einiges war auch einfach zu krass. Ständig auf Abruf abliefern zu müssen macht krank. Mein Kopf scheint niemals auszugehen, auch nicht, wenn ich schlafe.

Ganz bestimmt werde ich nicht über mein hartes Leben klagen, denn mir ist absolut bewusst, dass da draußen so viele Menschen sind, die deutlich mehr reißen und am Ende des Monats deutlich weniger Kohle auf dem Konto haben als ich. Ob nun Pflegerinnen, Paketboten, Essenslieferanten oder alleinerziehende Muttis, die noch mit den Kindern Hausaufgaben machen dürfen, wenn sie nach der Racke nach Hause kommen. Aber trotzdem: Die Schlagzahl solcher Stressmomente war in den letzten Jahren manchmal enorm hoch.

Und erst jetzt wird mir klar, dass solche Situationen bei mir immer mit unkontrollierten Fressorgien einhergehen. Wie oft ich dann zu McDonald’s gefahren bin, wie viele Süßigkeiten ich in mich reingestopft habe, ist wirklich hart. Während der Dessau-Geschichte bin ich einmal zu Hause geblieben, um ein Statement für die Band zu schreiben. An diesem Tag habe ich mir sage und schreibe drei Pizzen bestellt. Mittags eine, abends zwei. Damals dachte ich gar nicht darüber nach, aber nebenbei kloppte ich mir die ganze Zeit auch noch Cola rein. Ist das meine Art der Stressbewältigung? Ist es Selbstzerstörung? Keine Ahnung. Aber Hunger ist es definitiv nicht!

Ich kann es nicht ganz genau beziffern, aber in den letzten fünf, sechs Jahren dürfte ich um die 60 Kilo zugenommen haben. Von den anderen fünf Bandmitgliedern hat sich keiner ein paar Kleidergrößen mehr angefressen, obwohl ich absolut nicht der einzige Lebemann von uns bin. Die Jungs haben es ganz offensichtlich hinbekommen, auf sich und ihre Körper zu achten. Warum ich nicht? 182 Kilo … Wie konnte es so weit kommen? Es wäre natürlich leicht, alles auf Veranlagung und schwere Knochen zu schieben, aber ich könnte mir vorstellen, dass ich vielleicht auch selbst ein kleines bisschen dazu beigetragen habe … Doch wer viel unterwegs ist, kann anscheinend auch viel verdrängen.

Umso wichtiger, dass wir diesmal mit der Live-Pause Ernst machen. Wir alle brauchen mal ein bisschen Abstand voneinander, und ich brauche die Zeit ganz offensichtlich auch, um endlich mal in mich zu gehen, mir Dinge bewusst zu machen und Schlüsse daraus zu ziehen. Und um den Arsch hochzukriegen und herauszufinden, ob ich das Ruder wieder herumreißen kann! Denn eins ist klar: Wenn ich es in dieser Pause nicht schaffe, ein paar Kilo abzunehmen, dann schaffe ich es nie.

Inhaltsverzeichnis

Januar 2020 

Mein Traum

Ich habe mich nie in erster Linie als Dicker gesehen. Ich bin Monchi. Das, was ich auf den Rippen habe, ist nicht das, was mich ausmacht. Lange Zeit hat mich das Übergewicht auch nicht eingeschränkt in dem, was ich machen wollte, oder zumindest habe ich mir das eingeredet. Ich hatte immer Freunde und Feinde, habe Beziehungen geführt, war nie ein Sesselfurzer und habe unsere vielen zweistündigen Konzerte durchgehalten, bei denen ich immer ordentlich Kilometer mache und mich meist wohlfühle.

Aber: 182 Kilo sind einfach zu viel. Nicht wegen des Aussehens, nicht wegen irgendwelcher dummen Kommentare, sondern wegen meiner Gesundheit. Um das zu checken, brauch ich weder ein Studium noch ein großes Erweckungserlebnis. Vielleicht gibt es Leute, die wirklich so was haben und von da an alles verändern. Bei mir kam die Erkenntnis nicht von heute auf morgen. Nicht, als auf der Waage 182 Kilo standen, nicht, als mir irgendeine Hose nicht mehr passte. Es ist eher die Summe aus vielen kleinen und großen Erfahrungen, die mich immer mal wieder zum Nachdenken gebracht haben und die das Fass nun zum Überlaufen gebracht haben. Eine davon bewegte mich kurz vor unserem letzten Tourstart sehr.

Im November 2019 stand ich eines Morgens bei meinem Freund Manner am Krankenbett, denn am Abend zuvor hatte er einen Herzinfarkt erlitten. Ich kam ins Zimmer, und weil er ein Rostocker Lebemann ist, wie er im Bilderbuch steht, sagte er: »Ich brauch mich nicht beschweren, ich hab intensiv gelebt.« Ich fand’s geil von ihm, nicht groß rumzuheulen. Aber gleichzeitig war es für mich ein ziemlicher Schuss vor den Bug. Ich kenne ihn, seit ich 15 bin. Er ist ungefähr 20 Jahre älter als ich, bereiste schon zu DDR-Zeiten als Schiffskoch die Weltmeere und ist über zwei Meter groß. Jahrelang konnte sogar ich mich noch hinter ihm verstecken. Deshalb konnte ich mir immer sagen, dass es in meinem Umfeld noch einen dickeren Menschen als mich gibt, der trotzdem all das macht, worauf er Bock hat, ohne große Einschränkungen. Also alles halb so wild! Doch nun stand ich an seinem Bett und er hatte seinen ersten Bypass bekommen. Glücklicherweise geht es ihm heute den Umständen entsprechend schon wieder ganz gut. Meine Annahme, dass er dicker war als ich, entsprach übrigens schon lange nicht mehr den Tatsachen. Zum Zeitpunkt seines Herzinfarktes hatte er zwar sieben Kilo mehr auf dem Tacho als ich, aber er ist eben auch zehn Zentimeter größer. Sein BMI war damit also besser als meiner. Ich bin der Fetteste, den ich kenne. Niemand mehr da, hinter dem ich mich verstecken kann.

Auch wenn ich mir lange einreden konnte, dass das Fettsein mich nicht einschränkt: Ich merke jetzt eindeutig, dass ich gesundheitlich abbaue. Irgendwelche Schlaumeier meinen vielleicht, dass mir das auch schon bei 160 oder 140 Kilo hätte auffallen können. Ist es aber nicht. Ich fühlte mich immer noch halbwegs fit und glaubte, dass ich alles kann, was ein schlankerer Mensch auch kann. Vielleicht ein bisschen langsamer oder behäbiger, aber es klappt schon. Das konnte ich mir jedoch nur einreden, weil das Vermeiden bei mir zur absoluten Paradedisziplin wurde. Wandern? Find ich dumm! Kommst du mit Volleyball spielen? Mag ich nicht. Klamotten shoppen? Hasse ich. Dass ich vor allem die Anstrengung und das Scheitern gefürchtet habe, konnte ich mir noch nicht eingestehen. In den letzten zwei, drei Jahren gab es jedoch immer wieder Momente, in denen ich nicht mehr verdrängen konnte, dass das Fettsein mich daran hinderte, Dinge zu tun, die ich wirklich gern getan hätte. Zwei Beispiele.

 

1) Die erste Reise nach Nepal mit ein paar Freunden aus Rostock:

Wir waren gerade in Pokhara, der zweitgrößten Stadt des Landes, von der aus wir die Aussicht auf den Himalaja und die Achttausender Dhaulagiri, Annapurna und Manaslu bestaunen konnten. Was mich persönlich aber noch mehr faszinierte, waren all die Paraglider, die durch die Lüfte schwebten. Was muss das für ein geiles Gefühl sein, umringt von riesigen Bergen, mit Blick auf einen wunderschönen See … Ich hatte richtig Bock drauf und freute mich umso mehr, als sich einige der anderen auch dafür begeistern ließen. Also auf ins Reisebüro! Erst als wir dort einige Fragen nach unserer Gesundheit beantworten sollten, die der Verkäufer aber nur der Form halber zu stellen schien, kam bei mir die Frage auf: Pass ich überhaupt in so einen Anzug? Oder bin ich zu fett dafür? In meinem Kopf fing es an zu rattern: Spreche ich das jetzt selbst an oder lasse ich es? Wenn der Typ Bedenken hätte, dass ich zu schwer sein könnte, würde er es doch von selbst ansprechen, oder? Andererseits dachte er sich vielleicht auch: »Soll der Moppi erst mal das Geld rüberwachsen lassen und auf den Berg fahren. Runter kommt der so oder so!« Er sagte jedenfalls nichts.

Als die anderen schon zahlten, ergriff ich glücklicherweise doch noch das Wort, denn bei der Wahl zwischen »paragliden und abstürzen« oder »unten bleiben und leben« würde ich mich trotz toller Aussicht immer für das Leben entscheiden. Sein Englisch war genauso bescheiden wie meins, also versuchten wir es mit Mimik und Gestik. Schließlich zog ich mein Shirt hoch und präsentierte ihm meinen Bauch. So war die Frage trotz Sprachbarriere klar. Er winkte lässig ab und gab mir zu verstehen, dass das schon klargehen würde, doch nach einem Moment meldete sich offenbar das Gewissen bei ihm. Er griff zum Telefon und sprach mit einem der Fluglehrer. Er fragte, wie viel ich wog. Das war kein Moment, in dem ich die Zahl schönen sollte, aber andererseits wusste ich es gar nicht genau. Da ich ein 4XL-Shirt trug, spekulierte ich auf 150 Kilo. Er lachte, zeigte mir anerkennend den Daumen nach oben und sagte: »Biiiig Man!« Es schien ihm zu imponieren. Aber je länger er telefonierte, umso klarer wurde es, dass sich die Sache wohl doch eher schwierig darstellte. Und schließlich kam die Ansage: Es geht nicht! Ich bin zu fett fürs Paragliden.

Am nächsten Tag blieb ich im Tal, während die anderen sich schon frühmorgens auf den Weg machten. Ich lächelte es weg und brachte irgendwelche Sprüche à la »Wenigstens Geld gespart«, aber innerlich war ich einfach nur deprimiert. Obwohl ich eigentlich nicht der große Kiffer bin, ließ ich mir von meinen Begleitern erst mal einen dicken Dübel bauen. Einmal verdrängen bitte. Ich setzte mich an den riesigen Phewa-See, schaute nach oben, und jeder Paraglider, den ich sah, zog mich weiter runter.

 

2) Flip-Out Rostock mit den Kids meiner Freundin:

Ich holte die beiden von der Schule ab, wir fuhren mit der Straßenbahn zum Flip-Out – eine riesige Trampolinhalle für Jung und Alt. Ich hatte schon eine leise Vorahnung und deshalb ein »Erlebnis Fußball«-Heft zum Lesen dabei. In der Halle angekommen, sprang mir schon nach ein paar Sekunden der Satz ins Auge: »Die Gewichtsbeschränkung für unsere Trampoline liegt bei 115 kg.« Was für ein Tiefpunkt. Im ersten Moment fühlte ich keine Scham, ich war einfach nur traurig. Mehr schlecht als recht fand ich eine Ausrede und versuchte den beiden Lütten aufzutischen, dass ich doch keinen Bock hätte und lieber lesen wolle. Früher hab ich immer gedacht, Kinder checken nichts. Aber die checken alles. Ich glaube, sie wussten sofort Bescheid. Aber das Wichtigste war: Die beiden hatten riesigen Spaß. Ich find’s toll von Lena, dass sie es hinbekommen hat, dass die Kids so mutig und angstfrei sind. Die beiden stürzten sich in jeden Parcours. Selbst die älteren Kinder staunten, was sie für Stunts ablieferten. Ich hätte einiges gegeben, um mit ihnen rumzuhüpfen.

Alibimäßig kaufte ich den Kids Brezeln und Nachos für die Pause. Schließlich diente beides als Gemütsmedizin für mich selbst. Ich aß ihnen alles weg. Ich hoffte so sehr, dass sie es nicht mitbekommen würden. Ich sagte ihnen, dass ich schnell auf Toilette gehen würde, nur um den gleichen Stuff noch mal zu kaufen. Ich fühlte mich einfach nur schäbig: ein Loser, der zu fett ist fürs Trampolin und den Kids auch noch das Essen wegfrisst. Erbärmlichkeitslevel 1000!

Als i-Tüpfelchen erkannte mich dann auch noch eine Mitarbeiterin. Sie freute sich sehr und offenbarte mir, dass sie für die Öffentlichkeitsarbeit der Halle zuständig sei. Was für ein Glück … Sie fragte, ob sie ein Foto machen dürfe. In solchen Momenten hasse ich die Band. Ich saß da nicht als Frontmann einer Band, sondern als kompletter Lappen. Ich wollte kein Foto machen. Ich wollte nicht lächeln, aber ich lächelte. Logischerweise wollte sie aber kein Foto davon, wie ich traurig Nachos esse, sondern wie ich fröhlich rumjumpe. Wenn man sich die Instagram-Seite des Ladens anschaut, sieht man: Das haben bisher alle so gemacht, von Marteria bis zum Rostocker Oberbürgermeister. Aber ich musste ihr nun erklären, dass ich laut ihrer Regularien zu fett zum Hüpfen bin. Um noch irgendwie cool zu tun, sagte ich: »Ich will ja eure Halle nicht lahmlegen.« Was für ein erbärmlicher Versuch, meine Unsicherheit zu überspielen. Sie reagierte total cool und wir machten draußen ein Foto vorm Logo der Halle.

Ich bin wahrscheinlich der Erste und Einzige, der auf der Instagram-Seite einer Trampolinhalle auftaucht, obwohl er zu fett für Trampoline ist. Wieder mal was geschafft, Monchi! Wer mich auch nur ein bisschen kennt, sieht auf dem Bild, dass ich einfach nur angepisst war. Nicht vom Foto, sondern von der Gesamtsituation. Von mir selbst. Als die Mädels auf der Rückfahrt sagten, dass sie unbedingt wiederkommen wollten und ich dann aber bitte auch mitmachen solle, bekam ich feuchte Augen. Zum Glück saßen sie hinten in ihren Kindersitzen und bekamen nichts davon mit.

 

Ich kann mir hundertmal sagen, dass ich alles machen kann, was ich will. Aber das ist pure Augenwischerei. Ich muss endlich was tun. Und zwar nicht nur, weil alles andere Selbstmord auf Raten wäre, sondern auch, um mir nicht mehr selbst im Weg zu stehen. Um frei zu sein, alles zu tun, was ich will. Aber was genau ist mein Ziel? Wie viel will ich abnehmen? Darüber habe ich viel nachgedacht, und schließlich habe ich festgestellt: Mein Ziel ist keine Zahl, kein Idealgewicht, kein Sixpack, kein traumhafter BMI. Aber: Ich will einmal in meinem Leben paragliden. Einfach für mich. Ich muss nicht mal zwischen den Achttausendern in Nepal über den riesigen See fliegen. Ich kann auch irgendwo über Mecklenburg-Vorpommern schweben. Das wäre für mich genauso schön. Und wenn’s gut läuft, gibt’s gleich noch einen Bungeesprung hinterher.

Und: Ich will noch mal mit den Kids zum Flip-Out, mit ihnen dann aber richtig durchdrehen, bis nix mehr geht und ich völlig verschwitzt aus der Halle torkele. Das wär’s! Und da die Marke fürs Paragliden bei 120 und fürs Trampolinspringen bei 115 Kilo liegt, ist die Zielstellung eigentlich ziemlich klar. Danach kann ich auch wieder ein, zwei Kilo zunehmen, das ist mir Latte. Bis dahin ist es ein sehr weiter Weg. Aber ich denke, jeder Psychologe wäre schon mal stolz auf mich, weil ich von alleine »Ich will das« sage. Und eins ist Fakt: Ich will das!

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Ich sehe was, was du nicht siehst

Stühle und Matratzen

»Wenn Waagen, Stühle und Matratzen einfach unter dir zerplatzen, dann mach dich nicht verrückt: Du bist nicht zu dick, nein, die andern sind zu dünn« – das Soloprojekt von Farin Urlaub fand ich nie so richtig geil, aber die Zeilen von »Wunderbar« gehen mir bis heute nicht aus dem Kopf. Ich weiß es noch ganz genau: Als ich das Lied zum ersten Mal hörte, war ich vielleicht 18 Jahre alt und freute mich, dass er Menschen beschreibt, die offensichtlich noch viel fetter waren als ich. Bei mir war bisher weder ein Stuhl noch eine Matratze zerplatzt. Das fühlte sich gut an.

Kein Jahrzehnt später gehe ich in kein Café oder Restaurant mehr, ohne sofort die Sitzgelegenheiten abzuchecken: Gibt es keine Bänke, sondern nur Stühle? Wie dicht stehen sie nebeneinander? Pass ich da rein, halten sie mich aus? Das Schlimmste: Stühle mit Armlehnen. Kann mir irgendjemand erklären, wofür die Dinger da sind?

Unzählige Male stand ich schon vor irgendwelchen Läden und bin nicht reingegangen, weil ich ahnte, dass es mit den Sitzgelegenheiten schwierig werden könnte. Ich schüttelte mir dann irgendwelche anderen Gründe aus dem Ärmel: »Ich hab doch null Bock auf griechisches Essen, lass mal woanders hingehen.« Ich hatte nie das Gefühl, dass jemand die Lunte gerochen hätte. Sollen sie lieber denken, dass ich einen Schuss habe, als die Wahrheit zu wissen. Seit mir das erste Mal in einem Restaurant der Stuhl weggebrochen ist und die Bedienung einen XXL-Stuhl aus dem Lager holen musste, versuche ich, solche Momente zu vermeiden. Wenn es in einem Restaurant Sitzbänke gibt, gebe ich Hackengas. Erleichterung durchströmt meinen Körper. Die Chance ergreife ich gern.

 

Es gibt so viele Dinge, die ich als Dicker im Alltag zu beachten habe, bei denen normalgewichtige Menschen sich keine Platte machen müssen. Dinge, die ihnen gar nicht bewusst sind, die für mich aber jedes Mal mit Stress und Anspannung verbunden sind. Ich sehe was, was du nicht siehst. Zum Beispiel: zerbrochene Klobrillen.

Hat jemand von euch schon mal eine Klobrille zerstört? Allein in den letzten beiden Jahren sind sechs davon unter meinem Arsch zerbrochen. Wenn es auf öffentlichen Klos passiert, verdünnisiere ich mich so schnell wie möglich. Kann jeder gewesen sein. Wenn so was aber in meiner WG passiert, in der ich mit Abstand der Voluminöseste bin, ist es klar, auf wen der Verdacht fällt. Ich habe zwei linke Hände, aber ratzfatz Klobrillen abzumontieren und anzuschrauben habe ich in den letzten Jahren gelernt. Eine Zeit lang hatte ich zwei Stück unter meinem Bett liegen. Als Präventivmaßnahme hatte ich im Baumarkt schon mal vorgesorgt.

Noch schlimmer als Klos, die mich nicht aushalten, sind Kloschüsseln, auf die mein Arsch nicht mehr passt. Nicht nur einmal musste ich befürchten, den Treffer nicht versenken zu können. Und je dicker ich bin, desto mehr wird es zur Herausforderung, mir ordentlich die Backen abzuwischen. Lange ging es noch irgendwie. Aber dann war Schluss. Ich kam einfach nicht mehr dran. Manchmal stecke ich mir einfach den Duschkopf zwischen die Backen, um sicherzugehen, dass alles sauber ist.

Ich liebe es, in verschiedenste Gewässer zu springen. Das ganze Jahr über, auch im Winter. Auf Tour verschafft mir das immer das Gefühl, nicht nur den Backstage-Raum der Konzert-Location gesehen zu haben, sondern auch etwas von der Gegend. Also habe ich angefangen, das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden …

Auf Tour ging ich nur noch in absoluten Ausnahmefällen aufs Klo. Immer öfter wartete ich einfach auf das nächste Gewässer, in das ich springen würde. Wenn es so weit war und keine Leute in der Nähe waren, seilte ich ab. Unter Wasser. Ich schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Einerseits kam ich nicht in die Verlegenheit, eine fremde Klobrille zu zerstören, andererseits war mein Hintern sofort wieder sauber, ohne dass ich mich verrenken musste. Und wenn der nächste Sprung in den See zu lange hin war, konnte ich auf meine prallen Backen setzen. Liebevoll taufte ich dieses Szenario »Vorscheißen«: Die Mine bricht ab und im besten Fall bleibt erst mal alles zwischen den Backen hängen. Halleluja! Gibt es auch andere Menschen, die das machen, oder bin ich der einzige Vorscheißer auf diesem Planeten?

So was sollte man wohl eigentlich nicht einfach so erzählen. Aber jetzt ist es raus. Das natürlichste Bedürfnis der Welt ist für viele sehr schambehaftet. Für mich eigentlich auch. Aber solche Einschränkungen gehören einfach zum Dicksein dazu: Irgendwann kann selbst der Gang auf die Toilette zum Problem werden. Bitter, aber wahr.

 

Ich sehe was, was du nicht siehst: kaputte Lattenroste. Mein Kopf fängt ohne Ende an zu rattern, wenn es darum geht, in fremden Betten zu schlafen. Selbst bei meinem eigenen Bett sind jahrelang immer die Latten aus dem Rost geknallt, wenn ich mich draufgesetzt habe. Das änderte sich erst, als ich in ein spezielles XXL-Lattenrost investierte. Entsprechend behutsam teste ich die Betten in Hotels aus. Wobei ich damit leben kann, ein Hotelbett zu zerstören. Viel schlimmer sind Situationen, in denen ich in den privaten Betten anderer Menschen lande.

Als ich mit Lena zusammenkam, hatte ich permanent Angst, mich in ihrem Bett umzudrehen. Obwohl ich Seitenschläfer bin, blieb ich die ganze Nacht stocksteif auf dem Rücken liegen. Vor allem in der Anfangsphase will man ja nicht gleich komplett abliefern und das Bett der Angebeteten zerstören. Aber irgendwann kam die Stunde der Wahrheit, ich drehte mich um – und natürlich knackte es laut. Hatte sie es mitbekommen? Fuck, Alter. Ist da grad was durchgebrochen? Nicht schon wieder! Sie hat zum Glück einen guten Schlaf. Ich lag weiter da, ohne mich zu bewegen. Irgendwann wurde sie wach und ging aufs Klo. Jetzt oder nie! Ganz vorsichtig rollte ich mich von der Matratze herunter und hob die Matratze hoch: Puh, nur eine Latte rausgesprungen, nichts kaputt. Als sie zurückkam, lag ich schon wieder im Bett. Noch mal gut gegangen … bis es das nächste Mal kracht!

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Februar 2019 

Abgekackt

In der Nacht nach dem Konzert in der Brose Arena habe ich nicht zum ersten Mal beschlossen, dass ich etwas ändern muss. Aber wie das so ist, vergisst man manche Dinge lieber wieder, weil es bequemer ist und man sich mit den harten Fakten nicht auseinandersetzen will oder kann. Mein erster Versuch ist noch gar nicht lange her. An den Auslöser erinnere ich mich noch genau. Es war ein Sonntagmorgen im Februar 2019.

Es war nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich hart gebechert hatte. Ich hatte schon einige fiese Kater hinter mir. Aber diesmal war es schlimmer. Am Vorabend hatte es zu viel Schnaps an der Theke gegeben. Viel zu viel. Das Problem: Ich hatte meinen Eltern versprochen, zum Kaffeetrinken vorbeizukommen. Schon auf der Hinfahrt bemerkte ich den kalten Schweiß, den ich gekonnt ignorierte. Als ich schließlich vor der Kirschtorte saß, die mir meine Mutter besorgt hatte, wurde mir plötzlich schwindlig. Ich stand auf und merkte, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Auf dem Weg zur Couch musste mein Vater mich stützen. Das hatte es noch nie gegeben. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Fühlt sich so ein Schlaganfall an, von dem immer alle sprechen? Oder hatte ich hier grad einen Herzinfarkt? Mit meinem Lebensstil und dem starken Übergewicht hätte ich mich eigentlich nicht beschweren können. Auch ich hab intensiv gelebt … Aber fuck, Mann, ich war trotz allem erst 31 Jahre alt und hatte keinen Bock auf ’nen Bypass oder so ’ne Scheiße. Manner hat doch auch bis über 50 durchgehalten. Warum ich? Warum jetzt?

Ich bin nicht so der Typ, der wegen jeder Kleinigkeit zum Doktor rennt. Wenn es mir nicht gut geht, regelt das meist das Bett oder die Badewanne. Das war bisher immer die beste Medizin gewesen, würde diesmal aber ganz offensichtlich nicht ausreichen. Meine Eltern fragten, ob sie den Arzt rufen sollten. Dass ich sofort Ja sagte, beweist, was für einen Schiss ich hatte. Nach ein paar Minuten trafen die Rettungssanitäter ein und checkten mich vor Ort durch. Nach kurzer Zeit gaben sie Entwarnung. Höchstwahrscheinlich kein Herzinfarkt, auch kein Schlaganfall. Als ich ihnen sagte, dass ich getrunken hatte, schien der Befund klar zu sein. Zur Sicherheit wollten sie mich trotzdem mit ins Krankenhaus nehmen, um einen Komplettcheck machen zu können. Sie bestanden darauf, mich auf einer Trage in den Krankentransporter zu bugsieren. Obwohl ich geschwächt war, wäre ich lieber selber gegangen. Ich fragte mich, ob sie überhaupt eine Trage hatten, die so einen dicken Menschen wie mich aushielt. Als Rettungssanitäter würde ich so hart kotzen, wenn ich mir ’nen Bruch heben müsste, nur weil irgend so ein Moppi nicht auf seinen Suff klarkommt.

Als ich auf der Trage rumlag, erklärte mir einer der Sanitäter, dass er Fan von Feine Sahne sei. Entwarnung also, denn natürlich wäre es deutlich unangenehmer gewesen, von jemandem auf einer Trage festgeschnallt zu werden, der mir offenbart, dass er mich hasst, und sein Landser-Shirt aufblitzen lässt. Aber als er mich dann nach einem Selfie fragte, war ich einfach nur überfordert. Wie kommt es, dass ich immer wieder in solche Situationen gerate? Ich hatte eigentlich null Bock, aber zu jemandem, der meine Gesundheit in den Händen hält, wollte ich lieber nicht Nein sagen. Zudem war er auch einfach sympathisch. Also kurz den kalten Schweiß wegwischen, lächeln, Foto! Und schon ging bei mir der Film los: Was, wenn er sich verstellt hat und das Bild gleich in allen Telegram-Gruppen der hiesigen Naziszene viral geht? Oder noch erbärmlicher: wenn das Foto an irgendeine Klatschzeitung verkauft wird? Wie sich später herausstellen sollte, war die Angst unbegründet. Warum muss ich immer in Worst-Case-Szenarien denken? Mein Kopf ist gefickt.

Im Krankenhaus angekommen, checkten die Ärzte mich durch, legten mir eine kleine Infusion und kamen zum Schluss, dass mein Kreislauf abgekackt war. Sinngemäß war die Ansage: »Ruhen Sie sich aus, trinken Sie Wasser, Sie haben einfach zu viel gesoffen.« Und nachdem ich bei meinen Eltern ausgeschlafen hatte, ging es mir am nächsten Tag tatsächlich schon deutlich besser. Aber irgendwie war ich mir unsicher, ob nicht doch was im Argen lag.

 

Herr Wagner ist der Vater eines engen Freundes. Er ist Arzt, passenderweise spezialisiert auf Adipositas-Patienten, und hat in den letzten Jahren immer mal wieder angeboten, mich durchzuchecken. Bisher hatte ich immer abgelehnt, aber jetzt machte ich mir ernsthaft Sorgen. Ich mag ihn sehr, und mir war klar: Wenn ich mich von irgendwem durchchecken lasse, dann von ihm. Ich kontaktierte ihn privat, und schon kurz darauf durfte ich zu ihm in die Praxis kommen. Die Untersuchung dauerte eine gute Stunde. Seine Assistentin nahm mir Blut ab, sie ließen mich ein paar Sportübungen machen, überprüften meine Beweglichkeit und stellten viele Fragen.

Wenige Wochen später kam ich zur Nachbesprechung. Stunde der Wahrheit. Und ich konnte etwas aufatmen. Herr Wagner sagte, es sei noch keine komplette Vollkatastrophe, aber wenn ich so weitermachte, würde ich mit Vollkaracho auf diese zurasen: Gelenkschmerzen? Nur eine Frage der Zeit. Knie im Arsch? Dauert nicht mehr lange. Diabetes? Wenn es so weitergehe, sei die Frage nicht, ob, sondern wann ich anfangen müsse, mir Insulin zu spritzen. Keine Überraschung, aber hart zu hören: Der Fettanteil meines Körpers sei überproportional hoch. Wie viel zu hoch? Keine Ahnung. Das Messgerät vom Arzt konnte dies bei so einem starken Übergewicht wie meinem nicht mehr berechnen. Er bescheinigte mir eine behandlungsbedürftige Adipositas. Ich wusste nicht mal, dass es verschiedene Stufen der Fettleibigkeit gibt. Ich war in der Champions League angekommen: Adipositas-Grad 3! Ziemlich hart.

Und es kam noch härter. Er sagte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis ich es mit Luftnot zu tun bekäme. Das könne früher oder später schließlich zur Beendigung der Sängerkarriere führen. Klar, wie soll man es durchhalten, zwei Stunden auf der Bühne rumzurennen, wenn man keine Luft bekommt? Mit Rumrennen wär eh nicht mehr viel, da mich schmerzhafte Bewegungseinschränkungen durch Gelenkverschleiß dazu verdammen würden, auf einem Fleck stehen zu bleiben. Schöne Scheiße.

Mir war absolut bewusst, dass ich kein Athlet bin. Aber wenn die Fakten mal auf dem Tisch liegen und mich jemand, der richtig Ahnung hat, so damit konfrontiert, ist das für mich doch noch mal was anderes als der Ärger, wenn ein T-Shirt nicht mehr passt. Bei Herrn Wagner hatte ich sofort das Gefühl, dass er sich ernsthaft Sorgen um mich macht. Er sieht mich nicht als Monchi, nicht als Zecke, nicht als Musiker. Er sieht mich als Jan. Er ist kein Moralapostel und kein Schwätzer, sondern jemand, der es einfach gut mit mir meint.

Er gab mir verschiedenste Tipps und bot mir an, mich jederzeit bei ihm zu melden. Und dann fragte er mich, ob ich mir vorstellen könne, zu einer Ernährungsberaterin zu gehen. Puh, Ernährungsberatung? Mein erster Gedanke war, dass ich niemanden brauche, der mir sagt, dass ich mir nicht nur Pizza und Döner gönnen soll. Das wusste ich schon. Aber andererseits: So einiges wusste ich ja vielleicht doch nicht. Vielleicht würde ich Denkanstöße bekommen, die mir etwas bringen. Und wenn Herr Wagner meint, die Ernährungsberatung könnte mir dabei helfen, abzunehmen, dann sollte ich es probieren. Was hatte ich schon zu verlieren? Außer meinen Kilos …

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April 2019 

Das Tor zur Hölle

So schwer es manchmal auch sein mag, den Arsch hochzukriegen, schien mir das mit dem Sport noch immer die kleinere Herausforderung zu sein als die Umstellung meiner Ernährung. Und auf den Termin bei der Ernährungsberatung musste ich eh noch ein paar Wochen warten. Aber wie sollte ich anfangen, Sport zu treiben? Ich hatte elf Jahre lang rein gar nichts gemacht, mal von den paar Bahnen abgesehen, die ich ein, zwei Mal im Monat in der Schwimmhalle zog. Das ging noch gerade so, denn beim Schwimmen fühle ich mich weniger fett. Bisschen Tischtennis zocken war zwischendurch auch drin. Ich habe eine große Armspannweite, deshalb kann ich einfach stehen bleiben und verliere trotzdem nicht jedes Mal. Die döllsten Sporteinheiten, die es für mich gab, waren unsere Konzerte. Mehr gab’s nicht. Dabei hatte ich auf Tour so oft verkatert in irgendeinem Bett gelegen und gedacht: »Morgen früh lege ich los.« Los ging es dann aber immer nur zum Frühstücksbuffet.