Night Stalker - Robert Bryndza - E-Book
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Night Stalker E-Book

Robert Bryndza

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Beschreibung

London wird von einer Hitzewelle lahmgelegt, als Detective Erika Foster in einer drückenden Sommernacht an einen Tatort gerufen wird. Ein angesehener Arzt wurde in seinem eigenen Bett gefesselt und erstickt. Was ihre Kollegen zunächst für ein missglücktes Liebesspiel halten, enttarnt Erika schnell als kaltblütigen Mord. Wenige Tage später wird ein weiteres Opfer gefunden, dann ein drittes. Nur eines haben alle drei gemeinsam: Sie alle waren Männer, sie alle lebten allein. Davon abgesehen, führten sie gänzlich unterschiedliche und völlig unauffällige Leben. Doch irgendetwas muss sie miteinander verbinden – und mit dem Killer.

  • Die Nr.-1-Krimi-Reihe aus England, USA, Kanada, den Niederlanden und Australien
  • Auf der Jagd nach einem unsichtbaren Killer – Detective Erika Fosters zweiter Fall
  • Die Bestseller-Serie aus England: 2 Millionen verkaufte Exemplare [Stand 10/2017]
  • Er schleicht in dein Haus. Er beobachtet dich. Er hat keine Eile. Und du ahnst nichts …

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Seitenzahl: 544

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ROBERTBRYNDZA ist in England geboren und hat in den USA und Kanada gelebt, ehe er mit seinem slowakischen Mann in dessen Heimat zog. Er hat eine Schauspielausbildung absolviert

und ist heute hauptberuflich als Autor tätig. »Night Stalker« ist der zweite Teil

seiner Krimireihe um Detective Erika Foster, die in 22 Ländern erscheint.

Außerdem von Robert Bryndza lieferbar:

Das Mädchen im Eis, Kriminalroman

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Robert Bryndza

Night Stalker

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Charlotte Breuer, Marion Matheis und Norbert Möllemann

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Night Stalker« bei bookouture, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2016 by Robert Bryndza

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by

Penguin Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro nach einem Entwurf von Henry Steadman

Umschlagmotiv: Henry Steadman

Redaktion: Barbara Raschig

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-20620-8V002

www.penguin-verlag.de

Für Ján, Riky und Lola

Die Tagsgeschöpfe schläfrig niederkauern,

Und schwarze Nachtunhold’ auf Beute lauern.

William Shakespeare, Macbeth

1

Es herrschte drückende Schwüle an diesem Sommerabend Ende Juni. Die Gestalt in Schwarz pirschte geschmeidig und fast geräuschlos durch die Dunkelheit über den schmalen unbefestigten Weg, duckte und wendete sich geschickt, um die dicht stehenden Bäume und Büsche am Wegrand nicht zu berühren. Es war, als würde ein Schatten lautlos über die Blätter huschen.

Der Abendhimmel war nur als dünner Streifen zwischen den Baumkronen auszumachen, der Lichtsmog über der Stadt tauchte das Gestrüpp in dunkle Schatten. An einer Lücke zwischen den Sträuchern blieb die zierliche Schattengestalt abrupt stehen: atemlos, mit rasendem Herzen.

Blau-weiße Blitze erleuchteten die Umgebung, als der 19.39-Uhr-Zug nach London Bridge von Dieselantrieb auf Strombetrieb umschaltete und seine Metallarme zur Oberleitung hochreckte. Die Gestalt duckte sich, als leere Waggons mit erleuchteten Abteilen vorbeirumpelten.

Noch zweimal blitzte es an der Oberleitung, dann war der Zug vorbei gefahren, und das Gestrüpp lag wieder in vollkommener Dunkelheit.

Die Gestalt lief weiter, folgte geräuschlos dem Pfad, der jetzt von den Schienen abbog. Der Baumbestand zur Linken war hier aufgelockert und gab den Blick auf Reihenhäuser frei. Die Gärten hinter den Häusern glitten vorüber wie Schnappschüsse: gepflegte schmale Streifen mit Gartenmöbeln, Werkzeugschuppen, Kinderschaukeln – alles reglos in der stillen Nachtluft.

Dann kam das Haus in Sicht. Ein viktorianisches Reihenhaus, links und rechts die gleichen – dreigeschossig aus hellem Ziegelstein –, jedoch mit einem verglasten Anbau nach hinten hinaus. Die Schattengestalt wusste alles über den Eigentümer. Sie war mit seinem Tagesablauf vertraut und kannte den Grundriss des Hauses. Aber vor allem wusste sie, dass der Mann an diesem Abend allein sein würde.

Sie verharrte hinter einem mächtigen Baum am Maschendrahtzaun, der den Garten vom Weg trennte. An einer Stelle war der Stamm um den Zaun herum gewachsen, und die Borke hatte sich am rostigen Pfosten festgebissen, wie ein riesiger lippenloser Mund. Das Herbstlaub war vom vorüberfahrenden Zug aufgewirbelt worden, sodass der Blick vom Haus auf die Schienen verdeckt war. Einige Nächte zuvor war die Gestalt über denselben Weg hierhergekommen, hatte den Zaun sauber aufgetrennt und die losen Enden sorgfältig wieder festgesteckt. Jetzt konnte sie die Lücke leicht aufbiegen und hindurchschlüpfen. Das Gras war trocken und der Boden spröde von der wochenlangen Trockenheit. Sie richtete sich unter dem Baum auf und überquerte den Rasen geschmeidig wie ein schwarzer Pfeil.

An der Rückseite des Hauses befand sich der Kompressor einer Klimaanlage, dessen Motorgeräusch das leise Knirschen der Schritte auf dem schmalen Kiesweg zwischen dem verglasten Anbau und dem Nachbarhaus übertönte. Durch ein niedriges Schiebefenster fiel ein rechteckiger Lichtschein auf das Nachbarhaus. Der Schatten duckte sich unter den breiten Sims, zog sich die Kapuze des Trainingsanzugs über den Kopf und spähte vorsichtig ins Haus.

Sie sah einen Mann, Mitte vierzig, groß und gut gebaut, er trug eine braune Hose und ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. In der großen offenen Küche nahm er ein Glas aus einem Schrank und schenkte sich Rotwein ein. Er trank einen kräftigen Schluck und füllte nach. Er entfernte den Karton eines Fertiggerichts auf der Anrichte und schlitzte die Plastikverpackung mit der Korkenzieherspitze auf.

Hasserfüllt beobachtete die Gestalt den Mann, berauscht von dem Wissen, was als Nächstes geschehen würde.

Der Mann programmierte die Mikrowelle und stellte das Fertiggericht hinein. Ein Piepton ertönte, dann begann der digitale Countdown.

Sechs Minuten.

Der Mann trank noch einen Schluck Wein und verließ die Küche. Kurz darauf wurde das Licht im Bad eingeschaltet und das Fenster, das sich direkt oberhalb der Stelle befand, wo die Gestalt kauerte, wurde einen Spaltbreit geöffnet. Das Wasser in der Dusche wurde aufgedreht.

Mit rasendem Puls machte sich die Gestalt an die Arbeit, nahm einen flachen Schraubenzieher aus der Bauchtasche, schob ihn in den Spalt zwischen Sims und Küchenfenster. Mit einem leichten Ruck ließ es sich öffnen und geräuschlos hochschieben, sodass sie hindurchschlüpfen konnte. Geschafft. Exakte Planung. All die Jahre der Angst und der Qualen …

Vier Minuten.

Sie landete auf dem Küchenboden, zog eine Plastikspritze hervor, drückte die klare Flüssigkeit darin in das Glas mit dem Rotwein und ließ den Wein kreisen. Dann stellte sie das Glas wieder auf der Anrichte aus schwarzem Granit ab.

Einen Moment verharrte die Gestalt lauschend und genoss die kühle klimatisierte Luft. Der schwarze Granit schimmerte im Licht der Lampe.

Drei Minuten.

Geräuschlos durchquerte sie die Küche, huschte am hölzernen Treppengeländer vorbei in die Dunkelheit hinter der Wohnzimmertür. Einen Augenblick später kam der Mann barfuß und mit einem Handtuch um die Hüften die Treppe herunter. Mit drei lauten Pieptönen schaltete sich die Mikrowelle ab. Es duftete nach Duschgel. Eine Schublade wurde geöffnet und Besteck herausgenommen, und ein Hocker wurde über den Holzfußboden geschoben. Der Mann setzte sich, um zu essen.

Die Gestalt atmete tief aus, löste sich aus der Dunkelheit und stieg leise die Treppe hoch.

Um zuzusehen.

Um zu warten.

Auf die sehnsüchtig erwartete Vergeltung.

2

Vier Tage später

Die Abendluft lag schwül und stickig über der stillen Straße von South London. Motten schwirrten im Lichtkreis der Straßenlaterne vor den Reihenhäusern. Estelle Munro schlurfte den Bürgersteig entlang, das Gehen wurde durch die Arthritis erschwert. Kurz vor der Laterne trat sie auf die Straße. Die Anstrengung ließ sie aufstöhnen, aber die Angst vor den Motten überwog die Schmerzen in den Knien.

Estelle zwängte sich zwischen zwei geparkten Autos hindurch, um einen großen Bogen um die Laterne zu machen; der Asphalt strahlte noch immer die Wärme des Tages ab. Schon seit zwei Wochen ächzten London und der ganze Südosten Englands unter einer Hitzewelle, die besonders älteren Menschen zu schaffen machte, und Estelle spürte, dass ihr Herz protestierte. Das ferne Heulen einer Krankenwagensirene wirkte wie ein Echo ihrer Gedanken. Erleichtert stellte sie fest, dass die nächsten zwei Laternen defekt waren, und stieg mühevoll wieder auf den Bürgersteig.

Sie hatte Gregory versprochen, während seiner Abwesenheit seine Katze zu versorgen. Sie mochte keine Katzen. Sie hatte es nur angeboten, um sich ein bisschen im Haus umsehen und sich ein Bild davon machen zu können, wie ihr Sohn zurechtkam, seit seine Frau Penny ihn verlassen und den fünfjährigen Peter mitgenommen hatte.

Außer Atem und völlig verschwitzt blieb Estelle an Gregorys Vorgarten stehen. Gregorys Haus war das schickste in der ganzen Straße, fand sie. Sie zog ein großes Taschentuch unter ihrem BH-Träger hervor und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

Im orangefarbenen Licht der Straßenlaterne, das sich im Riffelglas der Haustür brach, fischte Estelle den Schlüssel aus ihrer Handtasche. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr aufgeheizte, abgestandene Luft entgegen; auf dem Boden im Flur lag ein Stapel Post. Widerstrebend trat sie ein. Sie betätigte den Lichtschalter neben der Tür, doch es blieb dunkel.

»Verflixt, nicht schon wieder«, murmelte sie und zog die Tür hinter sich zu. Während sie im Dunkeln die Post einsammelte, dachte sie, dass dies jetzt der dritte Stromausfall seit Gregorys Abwesenheit war. Das erste Mal hatte es an der Aquariumbeleuchtung gelegen, das zweite Mal hatte Penny das Licht im Bad angelassen, und die Glühbirne war durchgebrannt.

Estelle kramte das Handy aus ihrer Handtasche und entsperrte es unbeholfen mit ihren arthritischen Fingern. Es warf einen schwachen Lichtschein auf den beigefarbenen Teppichboden und die Wände, und sie zuckte vor Schreck zusammen, als sie sich selbst in dem riesigen Wandspiegel zu ihrer Linken sah. Im Halbdunkel wirkten die Lilien auf ihrer ärmellosen Bluse wie giftige Gewächse. Sie richtete den Lichtschein des Handys auf den Boden und schlurfte zur Wohnzimmertür, wo sie an der Innenwand nach dem Lichtschalter tastete, in der Hoffnung, es sei vielleicht nur die Birne im Flur durchgebrannt. Aber als sie den Schalter betätigte, geschah nichts.

Die Displaybeleuchtung ging aus, und sie stand im Dunkeln. Einzig ihr keuchender Atem erfüllte die Stille. Unruhig versuchte sie, das Handy wieder einzuschalten. Ihre gekrümmten Finger brauchten eine Weile, bis das Display wieder leuchtete und ein schwacher Lichtkreis sich vor ihr ausbreitete.

Die Luft war stickig, die Hitze raubte ihr den Atem und verstopfte ihr die Ohren. Sie kam sich vor wie unter Wasser. Staubpartikel schwebten in der Luft, und lauter Fruchtfliegen tanzten über einer großen, mit hölzernen Dekokugeln gefüllten Porzellanschale auf dem Couchtisch.

»Es ist nur ein Stromausfall!«, fauchte sie, und ihre Stimme hallte scharf von dem eisernen Kamin wider. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie so ängstlich reagierte. Es war ein Kurzschluss, weiter nichts. Um sich zu beweisen, dass es keinen Grund zur Panik gab, würde sie zuerst ein Glas kaltes Wasser trinken und dann den Strom wieder einschalten. Sie drehte sich um in Richtung Küche, den Arm mit dem leuchtenden Handy vor sich ausgestreckt.

Im Halbdunkel wirkte die verglaste Küche riesig und schien sich bis in den Garten zu erstrecken. Estelle fühlte sich schutzlos. Auf den Schienen hinter dem Garten ratterte ein Zug vorbei. Sie trat an den Küchenschrank und nahm ein Glas heraus. Schweißperlen liefen ihr in die Augen, und sie wischte sich das Gesicht mit dem nackten Unterarm ab. Sie ging zur Spüle, füllte das Glas und verzog das Gesicht, als sie das lauwarme Wasser trank.

Wieder schaltete sich die Displaybeleuchtung ab, und ein Krachen im ersten Stock durchbrach die Stille. Estelle ließ das Glas fallen, das in tausend Stücke zersprang. Mit rasendem Herzen lauschte sie in die Dunkelheit. Von oben war ein scharrendes Geräusch zu hören. Sie nahm das Nudelholz aus dem Behälter mit Küchenutensilien auf der Anrichte und ging zur Treppe.

»Wer ist da? Ich habe Pfefferspray und rufe jetzt die Polizei an!«, rief sie in die Dunkelheit hinauf.

Stille. Erdrückende Hitze. Kein Gedanke mehr daran, im Haus ihres Sohns herumzuschnüffeln. Estelle wollte nur noch nach Hause und sich in ihrem gemütlichen, hell erleuchteten Haus die Höhepunkte von Wimbledon im Fernsehen ansehen.

Irgendetwas schoss aus der Dunkelheit im ersten Stock direkt auf sie zu. Erschrocken wich Estelle zurück, beinahe hätte sie ihr Handy fallen lassen. Dann sah sie, dass es nur die Katze war. Das Tier kam näher und rieb sich schnurrend an ihrem Bein.

»Herrgott noch mal, hast du mir einen Schrecken eingejagt!«, sagte sie erleichtert, und langsam beruhigte sich ihr Puls wieder. Von oben stank es widerlich. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Was hast du da oben gemacht? Du hast doch ein Katzenklo und eine Katzenklappe.«

Die Katze schaute sie unschuldig an. Ausnahmsweise war Estelle froh, dass sie da war. »Komm, ich gebe dir was zu fressen.«

Es hatte etwas Beruhigendes, dass die Katze ihr zum Schrank unter der Treppe folgte; sie ließ es zu, dass sie sich an ihrem Bein rieb, während sie die kleine Plastikklappe des Sicherungskastens öffnete. Sie sah sofort, dass der Hebel der Hauptsicherung umgelegt war. Merkwürdig. Sie klappte den Hebel hoch, und das Flurlicht ging an. Mit einem leisen Piepen setzte die Klimaanlage ein.

Estelle ging zurück in die Küche und schaltete das Licht ein. Der ganze Raum und auch sie selbst spiegelten sich in den großen Fenstern. Die Katze sprang auf die Anrichte, von wo aus sie interessiert zuschaute, wie Estelle die Glasscherben zusammenfegte. Anschließend öffnete Estelle eine kleine Packung Katzenfutter, gab den Inhalt auf eine Untertasse und stellte sie auf den steinernen Küchenboden. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Estelle blieb einen Moment lang stehen und genoss den kühlen Luftstrom, während sie der Katze zusah, die mit ihrer winzigen rosafarbenen Zunge an dem gallertartigen Futter leckte.

Der widerliche Gestank war wieder da, denn jetzt, da die Klimaanlage die Luft im Haus verteilte, erreichte er auch die Küche. Die Untertasse schepperte leise, als die Katze den Rest des Futters herausleckte. Dann verschwand das Tier durch die Katzenklappe in der Glaswand.

»Fressen und abhauen. Und ich kann wieder alles wegmachen«, knurrte Estelle. Mit einem Lappen und einer alten Zeitung bewaffnet, stieg sie langsam die Treppe hoch. Ihre Knie schmerzten fürchterlich. Die Hitze und der Gestank wurden mit jeder Stufe schlimmer. Oben angekommen, schlurfte sie den hell erleuchteten Flur entlang. Zuerst schaute sie im Bad nach, dann im Gästezimmer und schließlich unter dem Schreibtisch im kleinen Arbeitszimmer. Nirgendwo fand sie eine Hinterlassenschaft der Katze.

Vor der Tür zum Schlafzimmer war der Gestank überwältigend. Estelle würgte. Nichts stinkt so ekelhaft wie Katzendreck, dachte sie.

Sie betrat das Schlafzimmer und schaltete das Licht ein. Fliegen schwirrten umher. Die dunkelblaue Tagesdecke auf dem Doppelbett war zurückgeschlagen, und ein nackter Mann lag auf dem Rücken, über dem Kopf eine Plastiktüte, die Arme ans Kopfteil gefesselt. Die weit aufgerissenen Augen quollen unter dem durchsichtigen Plastik grotesk aus den Höhlen. Es dauerte einen Moment, bis Estelle begriff, wer da lag.

Es war Gregory.

Ihr Sohn.

Dann tat Estelle etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte.

Sie schrie.

3

DCI Erika Foster hatte sich schon ewig nicht mehr bei einem Abendessen so unwohl gefühlt. Es herrschte peinliches Schweigen, als der Gastgeber Isaac Strong die Spülmaschine öffnete und Teller und Besteck einräumte, begleitet vom leisen Surren des Ventilators in der Ecke, der anstatt etwas zu bewirken nur die warme Luft in der Küche verteilte.

»Danke, die Lasagne war vorzüglich«, sagte sie, als Isaac ihren Teller entgegennahm.

»In der Béchamelsoße war ein Schuss Sauerrahm«, sagte er. »Ist es dir aufgefallen?«

»Nein.«

Während Isaac mit dem Geschirr klapperte, schaute Erika sich in der Küche um. Sie war elegant eingerichtet, im französischen Landhausstil: handgestrichene weiße Schränke, Arbeitsflächen aus hellem Holz und eine große weiße Keramikspüle. Erika fragte sich, ob Isaac als Gerichtsmediziner absichtlich auf Edelstahl verzichtet hatte. Ihr Blick verweilte auf Isaacs Ex, Stephen Linley, der ihr am großen Küchentisch gegenübersaß und sie mit geschürzten Lippen misstrauisch beäugte. Er war jünger als Erika und Isaac; sie schätzte ihn auf fünfunddreißig. Ein muskulöser Adonis mit einem bildhübschen Gesicht, doch sein Blick hatte auch etwas Verschlagenes. Sie zwang sich, ihm ein entwaffnendes Lächeln zu schenken, trank einen Schluck Wein und wollte irgendetwas sagen. Das Schweigen wurde allmählich unangenehm.

Normalerweise gab es das nicht, wenn sie mit Isaac zu Abend aß. Im vergangenen Jahr hatte er sie mehrfach zum Essen in seine gemütliche französische Küche eingeladen. Sie hatten gelacht, Geheimnisse ausgetauscht, und Erika hatte immer mehr das Gefühl gehabt, dass sich eine tiefe Freundschaft anbahnte. Mit Isaac hatte sie sogar über den Tod ihres Mannes Mark vor knapp zwei Jahren sprechen können. Und Isaac hatte ihr von Stephen erzählt, seiner großen Liebe.

Im Gegensatz zu Mark, der auf tragische Weise in Ausübung seiner Pflicht ums Leben gekommen war, hatte Stephen Isaac das Herz gebrochen, als er ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte.

Umso größer war Erikas Überraschung gewesen, Stephen anzutreffen, als sie am frühen Abend erschienen war. In gewisser Weise hatte sie sich hintergangen gefühlt.

Sie lebte jetzt schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren in England, aber an diesem Abend hatte sie sich nach der Slowakei gesehnt. Dort waren die Menschen direkter.

Was geht hier vor? Du hättest mich warnen sollen! Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein idiotischer Ex-Lover hier sein würde? Bist du wahnsinnig, dass du ihn wieder in dein Leben lässt, nach allem, was er dir angetan hat?

Sie hätte schreien können, als sie in die Küche gekommen war und Stephen lässig in Shorts und T-Shirt am Tisch hatte sitzen sehen. Aber sie hatte sich unwohl gefühlt, und die britische Etikette verlangte, dass man sich nichts anmerken ließ und so tat, als wäre alles normal.

»Möchte jemand Kaffee?«, fragte Isaac, klappte die Spülmaschine zu und drehte sich zu ihnen um. Er war groß und gutaussehend mit dichtem dunklen Haar und hoher Stirn. Seine großen braunen Augen wurden von sorgfältig gezupften Brauen umrahmt, die sehr beweglich waren und alle möglichen Gefühle zum Ausdruck bringen konnten. Heute Abend jedoch wirkte Isaac nur verlegen.

Stephen ließ den Weißwein in seinem Glas kreisen und schaute Erika und Isaac abwechselnd an. »Jetzt schon Kaffee? Es ist noch nicht mal acht, und es ist tierisch heiß. Mach doch noch einen Wein auf.«

»Nein, ich hätte lieber einen Kaffee«, sagte Erika.

»Wenn schon Kaffee«, sagte Stephen, »dann benutz wenigstens die Maschine.« Dann fügte er hinzu, als wäre er der Hausherr: »Hat er’s Ihnen schon erzählt? Ich habe ihm eine Nespresso-Maschine gekauft. Hat mich ein Vermögen gekostet. Ich hab sie von dem Vorschuss für mein nächstes Buch bezahlt.«

Erika setzte ein nichtssagendes Lächeln auf und nahm sich eine geröstete Mandel aus einem Schälchen auf dem Tisch. Ihre Kaugeräusche wirkten in der Stille schrecklich laut. Während des Essens hatte Stephen die meiste Zeit geredet und sich lang und breit über den neuen Krimi ausgelassen, den er gerade schrieb. Er hatte ihnen sogar einen Vortrag über forensisches Profiling gehalten, was Erika ziemlich dreist fand in Anbetracht der Tatsache, dass Isaac einer der anerkanntesten Gerichtsmediziner im ganzen Land war und sie als Detective Chief Inspector bei Scotland Yard mehrere echte Mordfälle gelöst hatte.

Isaac setzte die Kaffeemaschine in Gang und schaltete das Radio ein. »Like a Prayer« von Madonna durchschnitt die Stille.

»Mach mal lauter! Ich stehe auf Madge«, sagte Stephen.

»Nein, das ist mir jetzt zu schrill«, sagte Isaac und drehte den Senderknopf, bis die schwermütige Melodie einer Geige Madonnas Stimme ablöste.

»Angeblich ist er ja schwul«, bemerkte Stephen und verdrehte die Augen.

»Ich brauche jetzt einfach was Sanfteres, Stevie«, erwiderte Isaac.

»Herrgott noch mal. Wir sind doch noch keine achtzig! Lass uns ein bisschen Spaß haben. Was ist mit Ihnen, Erika? Was macht Ihnen Spaß?«

In Erikas Augen war Stephen voller Widersprüche. Er war korrekt gekleidet wie ein Absolvent einer amerikanischen Elite-Uni, aber sein ganzes Gehabe wirkte irgendwie tuntig. Jetzt schlug er die Beine übereinander und schürzte die Lippen, während er auf ihre Antwort wartete.

»Ich glaube, ich gehe nach draußen eine rauchen«, sagte sie und nahm ihre Handtasche.

»Die Tür oben ist nicht abgeschlossen«, sagte Isaac mit bedauerndem Blick. Sie rang sich ein Lächeln ab und verließ die Küche.

Isaac wohnte in einem Reihenhaus in Blackheath in der Nähe von Greenwich. Das kleine Gästezimmer im ersten Stock verfügte über einen kleinen Balkon. Erika öffnete die Glastür, trat hinaus und zündete sich eine Zigarette an. Sie blies den Rauch in die Dunkelheit und spürte die Intensität der abendlichen Hitze. Es war eine klare Sommernacht, doch wegen des Lichtsmogs über der Stadt, die sich vor ihr ausbreitete, waren die Sterne nur schwach zu erkennen. Sie folgte dem Laserstrahl des Greenwich Observatory und legte den Kopf in den Nacken, um zu sehen, wo er im Himmel verschwand. Während sie rauchte, lauschte sie auf das Zirpen der Grillen im Garten hinter dem Haus, das sich mit den Verkehrsgeräuschen auf der dahinterliegenden stark befahrenen Straße mischte.

Tat sie Isaac Unrecht mit ihrem Unmut darüber, dass er Stephen wieder einen Platz in seinem Leben einräumte? War sie vielleicht einfach nur eifersüchtig darauf, dass ihr einziger Freund kein Single mehr war? Nein – sie wollte nur das Beste für Isaac, und Stephen Linley war eine Giftschleuder. Womöglich, dachte sie traurig, war in Isaacs Leben kein Platz für sie und Stephen.

Sie dachte an die kleine, spärlich möblierte Wohnung, die sie nicht als ihr Zuhause empfand, und an die einsamen Nächte, in denen sie im Bett lag und in die Dunkelheit starrte. Erika und Mark waren viel mehr gewesen als nur Mann und Frau. Sie waren Kollegen gewesen, hatten beide mit Anfang zwanzig bei der Greater Manchester Police angefangen. Erika war der aufsteigende Stern in ihrer Einheit gewesen und schon sehr bald Detective Chief Inspector und damit Marks Vorgesetzte geworden. Mark hatte sie dafür noch mehr geliebt.

Aber vor ungefähr zwei Jahren hatte Erika eine Drogenrazzia geleitet, die in einer Katastrophe geendet und Mark und vier ihrer Kollegen das Leben gekostet hatte. Die Trauer und die Schuldgefühle waren fast unerträglich gewesen, und sie hatte große Mühe gehabt, sich ohne ihren Mann im Leben zurechtzufinden. Der Neubeginn in London war hart gewesen, aber ihre Arbeit in der Abteilung für Mord und Gewaltverbrechen bei Scotland Yard war das Einzige, wofür sie Energie hatte aufbringen können. Im Gegensatz zu früher jedoch, als sie der aufsteigende Stern am Himmel der Polizei in Manchester gewesen war, war ihr Ruf jetzt beschädigt, und ihre Karriere hatte einen Stillstand erreicht. Sie war geradeheraus, hoch motiviert und eine hervorragende Polizistin, die keine Dummköpfe um sich herum duldete – aber sie hatte keine Zeit, sich um die Gepflogenheiten im Polizeiapparat zu kümmern, und so war sie wiederholt mit ihren Vorgesetzten aneinandergeraten und hatte sich einflussreiche Feinde gemacht.

Erika zündete sich eine zweite Zigarette an und überlegte gerade, unter welchem Vorwand sie möglichst schnell verschwinden könnte, als die Glastür hinter ihr geöffnet wurde. Isaac trat auf den Balkon.

»Ich könnte jetzt auch eine gebrauchen«, sagte er, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich neben ihr ans Balkongitter. Lächelnd hielt sie ihm das Päckchen hin. Mit seinen langen, schlanken Fingern nahm er eine Zigarette heraus und beugte sich hinunter, um sich Feuer geben zu lassen.

»Tut mir leid, ich hab’s echt vermasselt heute«, sagte er, richtete sich auf und atmete den Rauch aus.

»Es ist dein Leben«, erwiderte Erika. »Aber du hättest mich warnen können.«

»Es ist alles so schnell gegangen. Heute Morgen stand er plötzlich vor der Tür, und wir haben den ganzen Tag geredet und … na ja, du weißt schon. Es war zu spät, um abzusagen, aber natürlich wollte ich das auch nicht.«

Erika bemerkte seinen ängstlichen Blick. »Isaac, du bist mir keine Erklärung schuldig. Aber an deiner Stelle würde ich es einfach Geilheit nennen. Du bist zum Opfer deiner Triebe geworden. Das ist leichter zu verzeihen.«

»Ich weiß, dass er ein komplizierter Typ ist, aber wenn wir allein sind, ist er anders. Er ist verletzlich. Was meinst du, wenn ich es diesmal richtig angehe, wenn ich ihm Grenzen setze, könnte es funktionieren?«

»Kann sein … Zumindest kann er dich nicht noch mal um die Ecke bringen«, sagte Erika ironisch. Stephen hatte Isaac in einem seiner Romane für die Figur eines Gerichtsmediziners zum Vorbild genommen, den er dann bei einem Überfall auf Schwule wieder aus dem Verkehr gezogen hatte.

»Ich meine es ernst, Erika. Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte Isaac, dem die Angst ins Gesicht geschrieben stand.

Erika seufzte und nahm seine Hand in beide Hände. »Du wirst nicht hören wollen, was ich denke. Ich möchte, dass wir Freunde bleiben.«

»Deine Meinung bedeutet mir viel, Erika. Bitte sag mir, was ich tun soll …«

Mit einem Quietschen öffnete sich die Balkontür. Stephen kam barfuß aus dem Zimmer, in der Hand ein volles Glas Whisky mit Eiswürfeln. »Ihm sagen, was er tun soll? Darf man fragen, worum es geht?«, fragte er spitz.

Das peinliche Schweigen wurde durchbrochen von Erikas Handy, das in ihrer Handtasche piepte, um anzuzeigen, dass eine Nachricht eingegangen war. Sie nahm es heraus und las stirnrunzelnd den Text.

»Alles in Ordnung?«, fragte Isaac.

»Eine weiße männliche Leiche in der Laurel Road am Honor Oak Park. Verdacht auf Gewaltverbrechen«, sagte Erika. »Mist, ich hab mein Auto nicht da, bin mit dem Taxi gekommen.«

»Du wirst sowieso einen forensischen Pathologen brauchen. Soll ich dich mitnehmen?«, fragte Isaac.

»Ich dachte, du wärst heute Abend nicht im Dienst?«, sagte Stephen empört.

»Ich bin immer im Dienst, Stevie«, entgegnete Isaac, der den Eindruck machte, als könnte er es nicht erwarten wegzukommen.

»Okay, fahren wir«, sagte Erika und konnte es sich nicht verkneifen, in Stephens Richtung hinzuzufügen: »Der Kaffee aus Ihrer tollen Maschine muss leider warten.«

4

Eine halbe Stunde später trafen Erika und Isaac in der Laurel Road ein, und das eigenartige Abendessen war schnell vergessen. Die Polizei hatte mit farbigem Band die Straße in beide Richtungen abgesperrt, außerdem standen ein Polizeitransporter, vier Streifenwagen und ein Krankenwagen vor dem Haus. Blaulicht zuckte in der Straße. In mehreren Fenstern und Eingangstüren standen Nachbarn und gafften.

Detective Inspector Moss, eine von Erikas Lieblingskolleginnen, kam ihnen entgegen, als sie ein Stück vor der Absperrung einparkten. Die kleine, stämmige Frau schwitzte gewaltig in der Hitze, obwohl sie nur einen knielangen Rock und eine dünne Bluse trug. Sie hatte ihr rotes Haar im Nacken zusammengebunden, sodass ihre Sommersprossen deutlich zur Geltung kamen, die sich unter ihrem linken Auge zu einem Gebilde häuften, das aussah wie ein Träne. In Wirklichkeit war Inspector Moss eine Frohnatur, die Erika und Isaac mit einem schiefen Grinsen begrüßte, als sie aus dem Wagen stiegen.

»’n Abend, Chefin. Dr. Strong.«

»’n Abend, Moss«, sagte Isaac.

»’n Abend. Was sind das alles für Leute?«, fragte Erika, als sie sich der Absperrung näherten, wo eine Gruppe müde wirkender Männer und Frauen stand und die Szenerie betrachtete.

»Pendler aus dem Stadtzentrum. Die sind auf dem Weg nach Hause und müssen feststellen, dass ihre Straße Schauplatz eines Verbrechens ist.«

»Aber ich wohne direkt da vorne«, sagte gerade ein Mann und zeigte mit seiner Aktentasche auf ein Haus zwei Türen weiter. Sein Gesicht war gerötet und verschwitzt, das schüttere Haar klebte an seinem Kopf. Als Moss, Erika und Isaac ans Absperrband traten, schaute er sie hoffnungsvoll an.

»Ich bin DCI Foster, ich leite die Ermittlung, und das ist Dr. Strong, unser Gerichtsmediziner«, sagte Erika dem uniformierten Polizisten hinter dem Band und zeigte ihren Dienstausweis. »Setzen Sie sich mit der Stadtverwaltung in Verbindung, die sollen für diese Leute Schlafplätze für heute Nacht zur Verfügung stellen.«

»Wird gemacht, Ma’am«, antwortete der Polizist und trug ihre Namen auf seinem Klemmbrett ein. Sie duckten sich unter dem Absperrband hindurch, bevor die Pendler sich darüber aufregen konnten, dass sie die Nacht auf Feldbetten in einer Turnhalle verbringen sollten.

Die Haustür in der Laurel Road Nr. 14 stand weit offen, und im von Scheinwerfern erleuchteten Flur erledigten Spurensicherer in blauen Overalls und mit Gesichtsmasken ihre Arbeit. Erika, Isaac und Moss bekamen ebenfalls Overalls ausgehändigt, die sie sich auf einem Fleckchen Kies im winzigen Vorgarten überzogen.

»Der Tote ist oben, im Schlafzimmer nach vorn raus«, sagte Moss. »Die Mutter des Opfers war hier, um die Katze zu füttern. Sie dachte, ihr Sohn wäre im Urlaub in Südfrankreich, aber wie man sieht, hat er es nicht mal bis zum Flughafen geschafft.«

»Wo ist die Mutter jetzt?«, fragte Erika.

»Sie hatte einen Schwächeanfall. Der Schock und die Hitze … Ein Kollege ist mit ihr in die Uniklinik in Lewisham gefahren. Sobald sie sich erholt hat, brauchen wir ihre Aussage«, sagte Moss, während sie den Reißverschluss ihres Overalls zuzog.

»Lasst mir ein paar Minuten Zeit, mir den Tatort anzusehen«, sagte Isaac und zog sich die Kapuze des Overalls über den Kopf. Erika nickte, und er ging ins Haus.

Die sommerliche Hitze, die vielen Leute im Haus und die Scheinwerfer sorgten dafür, dass im Schlafzimmer im ersten Stock eine Temperatur von mehr als vierzig Grad Celsius herrschte. Isaac, seine drei Assistenten und der Tatortfotograf arbeiteten zügig in respektvollem Schweigen.

Das Opfer, ein hochgewachsener Mann mit athletischem Körperbau, lag nackt rücklings auf dem Doppelbett. Seine ausgestreckten Arme waren mit dünner Schnur, die ihm in die Handgelenke schnitt, ans Kopfteil des Betts gefesselt. Seine Beine waren gespreizt. Über den Kopf war eine durchsichtige Plastiktüte gestülpt, unter der die verzerrten Gesichtszüge zu sehen waren.

Erika hatte schon immer Probleme mit nackten Leichen gehabt. Der Tod war schon unwürdig genug, auch ohne dass die Leiche derart zur Schau gestellt wurde. Am liebsten hätte sie den Unterkörper des Mannes mit einem Laken zugedeckt.

»Das Opfer ist Dr. Gregory Munro, sechsundvierzig Jahre alt«, erklärte Moss, als sie um das Bett herumstanden. Die Augen des Mannes waren braun und weit geöffnet und erstaunlich klar unter dem Plastik zu erkennen, die Zunge war im Begriff, anzuschwellen und sich aus dem Mund zu schieben.

»Was für ein Doktor?«, wollte Erika wissen.

»Praktischer Arzt des Viertels. Ihm gehört die Hilltop Praxis in der Crofton Park Road«, antwortete Moss. Erika schaute zu Isaac hinüber, der auf der anderen Seite die Leiche untersuchte.

»Kannst du mir schon was über die Todesursache sagen?«, fragte Erika. »Ich vermute, er ist erstickt worden, aber …«

Isaac ließ den Kopf des Opfers sinken, sodass das Kinn auf der nackten Brust ruhte. »Sieht ganz nach Tod durch Ersticken aus, aber ich muss noch feststellen, ob ihm die Plastiktüte nicht post mortem übergestülpt wurde.«

»Ein Sexspiel, das schiefgelaufen ist? Selbststrangulation?«, fragte Moss.

»Durchaus möglich. Aber wir können Fremdeinwirkung nicht ausschließen.«

»Kannst du denn schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Erika hoffnungsvoll. Sie schwitzte fürchterlich in ihrem Overall.

»Immer mit der Ruhe«, entgegnete Isaac. »Dazu kann ich mich erst nach der Obduktion äußern. Extreme Hitze oder Kälte verlangsamen den Verwesungsprozess: Durch die Hitze in diesem Zimmer wird die Leiche ausgetrocknet. Hier seht ihr, dass sich das Fleisch bereits verfärbt.« Er zeigte auf die Bauchgegend, wo die Haut grünlich war. »Das könnte bedeuten, dass er schon einige Tage hier liegt, aber wie gesagt, ich muss ihn erst auf dem Tisch haben.«

Erika schaute sich im Zimmer um. Ein großer Schrank aus dunklem Massivholz bedeckte die Wand neben der Tür, und in der Nische des Erkerfensters stand eine dazu passende Kommode mit Spiegel. Links neben dem Fenster befand sich ein hoher Schubladenschrank. Alle Oberflächen waren leer, keine Bücher oder Schmuckstücke oder irgendetwas sonst, was man in einem Schlafzimmer erwarten würde. Es war alles sehr aufgeräumt. Beinahe zu aufgeräumt.

»War er verheiratet?«, fragte Erika.

»Ja. Aber die Frau ist aus dem Spiel. Die beiden sind seit einigen Monaten getrennt«, sagte Moss.

»Ist ziemlich ordentlich hier für einen frischgebackenen Single«, meinte Erika. »Es sei denn, der Täter hat alles sauber gemacht«, fügte sie hinzu.

»Wie bitte? Hat ’ne Runde mit dem Staubsauger gedreht, bevor er verduftet ist?«, sagte Moss. »Er kann gern mal zu mir kommen. Meine Bude hätte es dringend nötig.«

Erika bemerkte, dass sich einige der Spurensicherer, die mit der Leiche beschäftigt waren, trotz der Hitze ein Grinsen nicht verkneifen konnten.

»Moss, das ist jetzt nicht der richtige Moment.«

»’tschuldigung, Chefin.«

»Ich schätze, dass die Arme post mortem gefesselt worden sind«, sagte Isaac und zeigte vorsichtig mit einem latexbehandschuhten Finger auf die Handgelenke. Die Haut unter den Achseln wies weiße Dehnungsstreifen auf, während die Stellen darunter wächsern aussahen. »An den Handgelenken gibt es kaum Hautabrieb.«

»Er hat also im Bett gelegen, als er angegriffen wurde?«, fragte Erika.

»Möglich«, erwiderte Isaac.

»Es liegen überhaupt keine Kleidungsstücke herum. Vielleicht hat er sich ja zum Schlafengehen ausgezogen und die Kleider weggeräumt«, sagte Moss.

»Also könnte sich jemand unter dem Bett oder im Schrank versteckt haben oder durchs Fenster reingekommen sein?«, fragte Erika, während sie den Schweiß wegblinzelte, der ihr in die Augen lief.

»Das herauszufinden ist deine Aufgabe«, antwortete Isaac.

»Stimmt. Hab ich ein Glück«, gab Erika zurück.

Erika und Moss gingen hinunter in den offenen Wohnbereich, wo mehrere Kriminaltechniker dabei waren, Spuren zu sichern. Einer von ihnen kam auf Erika zu. Sie war dem Mann noch nie begegnet. Er war Anfang dreißig, hatte ein hübsches Gesicht und eine hohe Stirn. Sein blondes Haar war verschwitzt. Als er vor Erika stand, musste er den Blick heben, überrascht, wie groß sie war, über einsachtzig.

»DCI Foster? Ich bin Nils Åkerman, Spurensicherung«, stellte er sich vor. Er sprach perfekt Englisch mit einem leichten schwedischen Akzent.

»Sind Sie neu?«, fragte Moss.

»In London schon, aber nicht bei Mord und Totschlag.« Wie viele Leute, die täglich mit Tod und Schrecken zu tun hatten, wirkte er ziemlich abgeklärt mit einer Spur schwarzen Humors.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Erika. Die Latexhandschuhe knisterten, als sie sich die Hand gaben.

»Was wissen Sie bereits?«, fragte er.

»Fangen Sie ganz vorn an«, sagte Erika.

»Okay. Die Mutter kommt gegen halb acht her, um die Katze zu füttern. Sie hat einen Hausschlüssel. Der Strom war abgeschaltet, und das anscheinend schon seit einigen Tagen. Die Lebensmittel in Kühl- und Eisschrank waren verdorben.«

Erika schaute zu der gewaltigen Kühl-Gefrierkombination aus Edelstahl hinüber, an deren Türen bunte Kinderbilder mit Magneten befestigt waren.

»Internet und Telefon waren ebenfalls abgeschaltet«, fügte Nils hinzu.

»Weil die Rechnungen nicht bezahlt waren?«, fragte Erika.

»Nein, die Kabel waren durchtrennt«, erwiderte er, trat an die Küchenanrichte und hielt einen Beweismittelbeutel mit zwei Stücken Kabel hoch. An einem hing ein kleines Modem. Er hielt einen zweiten Beutel hoch. »Das ist das Handy des Opfers. SIM-Karte und Akku fehlen.«

»Wo haben Sie das gefunden?«

»Auf dem Nachttisch. Es steckte im Ladegerät.«

»Gibt es noch ein anderes Telefon im Haus?«

»Nur das Festnetzgerät hier unten.«

»Also hat der Täter die SIM-Karte und den Akku aus dem Handy entfernt, das zum Aufladen auf dem Nachttisch lag?«, sagte Moss.

Nils nickte. »Könnte sein.«

»Moment, Moment«, schaltete Erika sich ein. »Befand sich sonst noch irgendetwas auf dem Nachttisch? Das Schlafzimmer wirkt ziemlich kahl.«

»Außer dem Handy nichts«, erwiderte Nils. »Aber das hier haben wir in der Nachttischschublade gefunden.« Er hielt einen weiteren Beweismittelbeutel hoch, in dem sich einige Schwulenpornohefte befanden: je eine Ausgabe von Black Inches, von Ebony und von Latino Males.

»War er schwul?«, fragte Erika.

»Und verheiratet«, fügte Moss hinzu.

»Wie alt war er noch mal?«

»Sechsundvierzig«, sagte Moss. »Er lebte von seiner Frau getrennt. Aber diese Pornohefte sind schon alt. Hier, sehen Sie, die sind von 2001. Warum sollte er sie hier aufbewahren?«

»Das heißt, er hat sie versteckt, und dass er schwul war, hat er geheim gehalten?«, fragte Erika.

»Vielleicht hatte er die Hefte schon seit Jahren. Vielleicht hat er sie vom Speicher geholt, als seine Ehe in die Brüche gegangen ist«, sagte Nils.

»Das sind für meinen Geschmack zu viele Vielleichts«, entgegnete Erika.

»Wir haben außerdem die Verpackung einer Einzelportion Lasagne für die Mikrowelle auf der Kücheninsel gefunden. Die Lasagne lag auf einem Teller, daneben standen ein Weinglas und eine halb volle Flasche Rotwein. Wir schicken die Sachen ins Labor«, fuhr Nils fort. »Sie sollten sich auch das hier ansehen.«

Er ging ihnen voraus durch die riesige Küche, vorbei an einem großen, durchgesessenen Sofa, auf dem jede Menge Filzstiftflecken und ein großer Teefleck zu sehen waren. Eine überquellende Spielzeugkiste stand zwischen dem Sofa und einer Glaswand, von der aus man einen Blick in den Garten hatte. Sie traten durch eine offene Glastür auf eine hölzerne Veranda. Erika genoss die etwas kühlere Luft. Scheinwerfer erleuchteten den Garten, an dessen hinterem Ende einige große Bäume standen. Mehrere Leute in Overalls krochen auf dem Rasen herum und suchten nach Spuren.

Erika, Moss und Isaac gingen über einen schmalen Kiesweg am Glasanbau vorbei und gelangten zu einem Schiebefenster auf der Höhe der Küchenspüle. Aus einem Abwasserrohr darunter entwich übler Gestank wie nach Erbrochenem.

»Wir haben das Fenster, die Fallrohre und die Fenster am Haus nebenan auf Fingerabdrücke untersucht«, sagte Nils. »Nichts. Aber wir haben das hier gefunden.« Er lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den unteren Schenkel des weiß lackierten Schiebefensters. »Sehen Sie, hier im Holz?« Mit seinem latexbehandschuhten Finger zeigte er auf eine kleine quadratische Delle in dem glänzenden Lack, die höchstens einen halben Zentimeter breit war. »Das Fenster ist mit einem glatten, flachen Werkzeug hochgehebelt worden, vielleicht mit einem Schraubenzieher.«

»War das Fenster geschlossen, als Sie eingetroffen sind?«, fragte Erika.

»Ja.«

»Gute Arbeit«, sagte sie und betrachtete die winzige Delle im Lack. »Gab es Fußspuren in dem Kies hier?«

»Mehrere undeutliche Abdrücke, möglicherweise von kleinen Füßen, aber nichts, wovon wir einen Abdruck nehmen könnten. Ich würde gern noch einmal mit Ihnen ins Haus gehen«, sagte Nils. Sie folgten ihm ums Haus durch die gläserne Terrassentür in die Küche, auf die andere Seite des Schiebefensters.

»Sehen Sie mal. Hier müssten sich eigentlich Stopper befinden«, sagte Nils und zeigte auf zwei kleine quadratische Löcher auf beiden Seiten des Fensterrahmens.

»Was für Stopper?«, fragte Moss.

»Das sind kleine Plastikhaken, die mit Federdruck funktionieren. Die stehen innen an den oberen Rahmenteilen vor. Sie verhindern, dass das untere Schiebefenster hochgeschoben werden kann. Sie sind entfernt worden.«

»Könnte Gregory Munro sie selbst entfernt haben?«, fragte Erika.

»Nicht, wenn er fürchtete, dass bei ihm eingebrochen werden könnte, was ich vermute. Das ganze Haus ist mit dem modernsten Sicherheitssystem ausgestattet. Bewegungsmelder im Garten. Als der Strom abgeschaltet wurde, hätte normalerweise die Alarmanlage ausgelöst werden müssen. Dafür ist sie eigentlich da – aber nichts ist passiert.«

»Also hat der Täter die Stopper entfernt und kannte außerdem die Zahlenkombination der Alarmanlage?«, fragte Erika.

»Ja, das könnte sein«, erwiderte Nils. »Aber da ist noch etwas.«

Er führte sie noch einmal durch die Glastür auf den Rasen hinaus. Als sie das Ende des Gartens erreichten, schob Nils die unteren Äste eines Baums zur Seite, und sie konnten sehen, dass der Maschendrahtzaun aufgeschnitten war.

»Der Garten grenzt an Eisenbahnschienen und den Honor Oak Naturpark«, erklärte Nils. »Ich vermute, dass der Täter von hier gekommen ist. Der Zaun ist mit einer Drahtschere zerschnitten worden.«

»Mist«, sagte Moss. »Wer zum Teufel kann das denn gemacht haben?«

»Zuerst müssen wir mehr über diesen Dr. Gregory Munro herausfinden«, sagte Erika und schaute zum Haus hinüber. »Auf diese Weise werden wir unsere Antworten finden.«

5

Unter einer Treppe in einem bescheidenen Haus stand ein alter PC auf einem quietschenden Metallschreibtisch mit Rollen. Auf dem Bildschirm erschien die Chatraum-Startseite. Sie war simpel gemacht, ohne ausgefallene Grafik. Die etablierten Chaträume waren normalerweise ziemlich bieder, aber dieser hier dümpelte in den trüben Untiefen des Internets, in denen der Abschaum gedieh.

Mit einem Piepton tauchte der Name eines Nutzers auf, ZAR, der etwas zu schreiben begann.

ZAR: Irgendwer auf?

Die Hände flitzten eifrig über die Tastatur.

NIGHT STALKER: Ich bin immer auf, Zar.

ZAR: NIGHT STALKER, wo hast du gesteckt?

NIGHT STALKER: Hatte zu tun. Ich habe drei Tage nicht geschlafen. Fast mein Rekord.

ZAR: Mein Rekord sind vier Tage. Die verrückten, tripmäßigen Halluzinationen waren es beinahe wert. Nackte Weiber. Absolut real …

NIGHT STALKER: Ha! Ich wünschte, ich hätte auch so tolle Halluzinationen.

Ich ertrage es nicht, wenn das Licht an ist, weil es mir wehtut … Dann werden die Schatten lebendig. Leere, augenlose Gesichter sehen mich aus meinem Augenwinkel an. Und ich sehe ihn.

ZAR: Geht’s dir so beschissen?

NIGHT STALKER: Hab mich dran gewöhnt … Weißt schon.

ZAR: Stimmt, weiß ich.

ZAR: Und, hast du’s gemacht?

NIGHT STALKER: Ja.

ZAR: Im Ernst?

NIGHT STALKER: Ja.

ZAR: Hast du den Exit-Bag benutzt?

NIGHT STALKER: Ja.

ZAR: Wie lange hat’s gedauert?

NIGHT STALKER: Fast vier Minuten. Er hat sich gewehrt, trotz der Droge.

Es entstand eine Pause. Eine Blase erschien: »ZAR schreibt …« Einen Moment lang geschah nichts.

NIGHT STALKER: Bist du noch da?

ZAR: Ja. Hätte nicht gedacht, dass du’s tust.

NIGHT STALKER: Hast wohl gedacht, ich wäre auch so’n Schwätzer wie die meisten im Netz.

ZAR: Nein.

NIGHT STALKER: Glaubst wohl, ich bin nicht stark genug?

ZAR: Nein.

NIGHT STALKER: Gut, denn ich meine es ernst. Ich bin es schon lange leid, dass die Leute mich unterschätzen. Mich für einen Schwächling halten. Mit mir machen, was sie wollen. Mich ausnutzen. Ich bin NICHTSCHWACH. Ich habe MACHT. Mentale und körperliche MACHT, und ich hab sie endlich ausgeübt.

ZAR: Ich zweifle nicht an dir.

NIGHT STALKER: Das würdest du nicht wagen.

ZAR: Tut mir leid. Ich habe nie an dir gezweifelt. Nie.

ZAR: Wie hast du dich gefühlt?

NIGHT STALKER: Wie Gott.

ZAR: Wir glauben nicht an Gott.

NIGHT STALKER: Und wenn ich Gott bin?

Ein paar Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah, dann schrieb ZAR:

ZAR: Und wie geht’s jetzt weiter?

NIGHT STALKER: Das war erst der Anfang. Der Doktor war der Erste auf meiner Liste. Den Nächsten hab ich schon im Visier.

6

Um kurz vor acht Uhr am nächsten Morgen bog Erika auf den Parkplatz des Polizeireviers in der Lewisham Road ein. Die Spurensicherung am Tatort hatte bis in die frühen Morgenstunden gedauert, und sie hatte nur wenige Stunden geschlafen und kurz geduscht, bevor sie zur Arbeit fuhr. Abgase hingen schwer in der heißen Luft, als sie aus dem Wagen stieg, und Lastwagen krochen auf der Umgehungsstraße vorüber. Kreischend und scheppernd beförderten Kräne an den diversen Baustellen in der näheren Umgebung ihre Lasten – gegen die Hochhäuser in unterschiedlichen Bauphasen wirkte das gedrungene Betongebäude des Polizeireviers beinahe mickrig. Erika schloss den Wagen ab und strebte auf den Haupteingang zu; der Schlafmangel machte sie übellaunig, sie war jetzt schon nass geschwitzt, und sie brauchte dringend etwas Kaltes zu trinken.

Im Empfangsbereich war es zwar etwas kühler als draußen, aber die Wärme, in die sich der Geruch nach Erbrochenem und Desinfektionsmitteln mischte, verbesserte ihre Laune auch nicht gerade. Sergeant Woolf saß über seinen Schreibtisch gebeugt und füllte ein Formular aus. Der Bauch quoll ihm über den Gürtel, und sein hängebackiges Gesicht war gerötet und verschwitzt. Ein großer, dünner Typ in einem schmuddeligen Trainingsanzug stand vor ihm und beäugte seine Besitztümer in einem Plastikbehälter auf dem Schreibtisch: ein brandneues iPhone und zwei noch eingeschweißte Zigarettenpäckchen. Das hohlwangige Gesicht und der gierige Blick des Mannes passten überhaupt nicht zu dem teuren iPhone, auf das er wartete. Erika konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass es nicht lange dauern würde, bis man ihn erneut einsperren würde.

»Morgen. Besteht die Chance, unten in der Kantine einen Eiskaffee zu kriegen?«, fragte Erika.

»Nein«, erwiderte Woolf und wischte sich mit seinem behaarten Unterarm den Schweiß vom Gesicht. »Es fällt denen ja nicht schwer, einem eiskaltes Essen zu servieren. Wieso die das beim Kaffee nicht hinkriegen, ist mir schleierhaft.«

Erika grinste. Der dünne Typ verdrehte die Augen. »Ja, ja, labert ihr nur rum. Ich hab ja reichlich Zeit und will nur mein iPhone zurückhaben. Es gehört mir.«

»Das Ding wurde vor vier Monaten an einem Tatort sichergestellt, da können Sie wohl noch ein paar Minuten warten«, sagte Woolf und bedachte ihn mit einem kühlen Blick. Er legte seinen Stift beiseite und betätigte den Türöffner, um Erika ins Innere des Polizeireviers durchzulassen. »Marsh ist schon da, Sie sollen sich sofort bei ihm melden.«

»Okay«, sagte Erika. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und der Summer verstummte. Auf dem Weg durch den muffigen, von Neonlicht erhellten Korridor ging sie an lauter leeren Büros vorbei. Es war noch früh am Tag, aber viele Kollegen hatten sich freigenommen, und alles lief ein bisschen langsamer als gewöhnlich.

Sie fuhr mit dem Aufzug in den obersten Stock, in dem sich das Zimmer ihres Chefs befand. Sie klopfte, und als sie eine gedämpfte Antwort vernahm, trat sie ein. Detective Chief Superintendent Marsh stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und betrachtete den Verkehr und die Baukräne. Er war groß und breitschultrig, das kurz geschnittene Haar grau meliert. Als er sich umdrehte, sah Erika, dass er zwischen den Lippen einen hellgrünen Strohhalm hielt, der in einem Becher mit Eiskaffee von Starbucks steckte. Marsh sah gut aus, wirkte aber erschöpft. Er hob die Augenbrauen und schluckte.

»Morgen, Sir«, sagte sie.

»Morgen, Erika. Hier, dachte, Sie könnten auch einen gebrauchen.« Marsh trat an seinen vollgerümpelten Schreibtisch, nahm einen zweiten Becher mit Eiskaffee aus dem Chaos und reichte ihn ihr zusammen mit einem in Papier verpackten Strohhalm. Der Becher hinterließ einen großen feuchten Kreis auf dem Ausdruck des vorläufigen Berichts über den Mord an Gregory Munro, den Erika ihm am frühen Morgen zugemailt hatte.

»Danke, Sir.« Erika nahm den Becher entgegen, und während sie die Papierhülle vom Strohhalm ablöste, sah sie sich im Zimmer um. Es herrschte heilloses Chaos, und es wirkte wie eine Mischung aus Chefzimmer und dem Zimmer eines Teenagers, dachte sie jedes Mal. An den Wänden hingen Auszeichnungen, ein Aktenschrank war mit Ordnern vollgestopft, und aus halb geschlossenen überfüllten Schubladen lugten irgendwelche Papiere. Der Papierkorb quoll über, obenauf balancierten ein paar leere Kaffeebecher und Plastikverpackungen von Sandwiches. Auf dem Fensterbrett standen vertrocknete Zimmerpflanzen, und an einer Wand lag eine Garderobe in Einzelteilen. Erika fragte sich, ob sie unter zu vielen Mänteln und Jacken zusammengebrochen war oder ob Marsh das Ding in einem Wutanfall zerlegt hatte, den sie glücklicherweise nicht hatte miterleben müssen.

Sie schob den Strohhalm durch das Loch im Deckel ihres Kaffeebechers und trank genüsslich einen Schluck kühlen Eiskaffee.

»Okay, Sir, wie kommt’s, dass Sie mir einen Kaffee spendieren? Machen Sie Urlaub?«

Er setzte sich grinsend und bot ihr mit einer Handbewegung ebenfalls einen Platz an. »Ja, zwei Wochen Südfrankreich, und ich kann’s kaum erwarten. Also, ich habe Ihren Bericht gelesen. Gewalt unter Schwulen gestern Abend, scheußliche Sache.«

»Ich weiß nicht, ob es sich um einen Fall von Gewalt unter Schwulen handelt, Sir …«

»Das Ganze riecht doch geradezu danach: männliches Opfer, Schwulenpornos, Erstickungstod. Ein gut verdienender Arzt. Wahrscheinlich hat er sich ’n Strichjungen kommen lassen. Sie steigern sich rein. Der Strichjunge besorgt es ihm und dann … Fehlt irgendwas?«

»Nein, Sir. Aber wie gesagt, ich glaube nicht, dass es sich um gezielte Gewalt unter Schwulen handelt. Ich habe es in meinem vorläufigen Bericht auch nicht als solche bezeichnet.« Sie bemerkte Marshs verwirrten Gesichtsausdruck. »Haben Sie meinen Bericht überhaupt gelesen, Sir?«

»Natürlich habe ich ihn gelesen!«, knurrte er.

Erika nahm ihren Bericht vom Schreibtisch, in dessen Mitte ein kreisrunder nasser Fleck prangte. Es war nur ein einzelnes Blatt. Sie stand auf, ging zu Marshs Drucker, öffnete das Papierfach, nahm einen Stapel Papier von der Ablage, legte es in den Drucker und schloss das Fach wieder.

»Was machen Sie denn da?«, fragte er. Der Drucker klickte und begann zu surren, und als die zweite Seite ausgespuckt wurde, drückte sie sie Marsh in die Hand und setzte sich wieder hin. Als er sie las, wurde er blass.

»Sir, es gibt Hinweise darauf, dass diese Tat im Voraus geplant war. Die Alarmanlage war abgeschaltet, die Telefonleitungen waren durchtrennt, und wir haben nur Fingerabdrücke und Körperflüssigkeiten des Opfers gefunden.«

»Verdammt noch mal, das hat uns gerade noch gefehlt. Und ich dachte, es ginge nur um Gewalt unter Schwulen.«

»Nur um Gewalt unter Schwulen, Sir?«

»Sie wissen schon, was ich meine. Solche Gewalttaten – na ja, die sind eben nicht so medienwirksam.« Marsh studierte Erikas Bericht noch einmal gründlicher. »Verdammt, Gregory Munro war praktischer Arzt in dem Viertel, ein Familienmensch. Wo hat er noch mal gewohnt?«

»Laurel Road. Honor Oak Park.«

»Das ist eine sehr gute Adresse. Tut mir leid, Erika. Ich hatte eine lange Woche … Sie hätten die Seiten nummerieren können.«

»Sie sind nummeriert, Sir. Ich warte noch auf den Obduktionsbericht und die forensischen Ergebnisse von Isaac Strong. Wir überprüfen den Computer und das Telefon des Opfers. Ich muss jetzt los zur Einsatzbesprechung mit meinem Team.«

»Okay, halten Sie mich auf dem Laufenden. Sobald Sie etwas Neues haben, will ich es wissen. Das gefällt mir ganz und gar nicht, Erika. Je eher wir den Scheißkerl finden, umso besser.«

7

Die Einsatzzentrale des Polizeireviers Lewisham Row war in einem großen fensterlosen Mehrzweckraum untergebracht. Neonröhren an der Decke tauchten die anwesenden Polizisten in ein gnadenlos grelles Licht. Auf beiden Seiten verliefen Flure hinter Glaswänden; entlang einer der Glaswände stand ein langer Tisch mit Druckern und Kopierern. Erika, die an einem der Drucker stand, empfand die vertraute Mischung aus Aufgeregtheit und Entsetzen, als sie die ersten Obduktionsergebnisse las. Der Drucker spuckte eine Seite nach der anderen aus, und das Papier war noch warm.

Ihr Team arbeitete bereits auf Hochtouren; viele der Kollegen waren nach nur wenigen Stunden Schlaf direkt vom Tatort hergekommen. Sergeant Crane – der blonde Motor der Einsatzzentrale im Dauerbetrieb – ging von Schreibtisch zu Schreibtisch und verteilte die Ausdrucke für die Besprechung. Um die Telefonate kümmerte sich Moss gemeinsam mit Detective Constable Singh, einer zierlichen, hübschen Polizistin mit scharfem Verstand. Detective Constable Warren pinnte gerade das, was sie bisher hatten, an das riesige Whiteboard am Ende des Raums. Der hoch motivierte, gut aussehende junge Kollege war neu im Team.

Detective Inspector Peterson kam herein und betrachtete das geschäftige Treiben. Er war ein attraktiver, hochgewachsener schwarzer Polizist mit kurz geschnittenem Kraushaar. Er und Moss waren die Kollegen, denen Erika am meisten vertraute. Petersons lässige, kluge Kultiviertheit bildete ein gutes Gegengewicht zu Moss’ direkter Schnodderigkeit.

»Hatten Sie einen schönen Urlaub, Peterson?«, fragte Erika und sah von ihrem Bericht auf.

»Ja. Barbados. Frieden, Ruhe, Sandstrände … genau das Gegenteil von dem hier«, erwiderte er wehmütig, aber Erika war schon wieder in ihre Unterlagen vertieft. Peterson nahm Platz und schaute sich in der schäbigen Einsatzzentrale um.

Moss bedeckte die Sprechmuschel ihres Telefons mit der Hand. »Warst du tatsächlich weg? Du siehst gar nicht aus, als hättest du viel Sonne abgekriegt …«

»Ha, ha … Und die Hafergrütze, die ich heute Morgen zum Frühstück gegessen habe, hatte mehr Farbe als du«, frotzelte Peterson grinsend.

»Schön, dass du wieder da bist«, sagte sie augenzwinkernd und widmete sich wieder ihrem Telefon.

»So. Guten Morgen allerseits«, sagte Erika und trat an die Weißwandtafel, an der sie mehrere Tatortfotos befestigte.

»Das Opfer ist Gregory Munro, sechsundvierzig Jahre alt. Praktischer Arzt des Viertels.« In der Einsatzzentrale kehrte Stille ein, während alle die Fotos betrachteten. »Ich weiß, dass einige von Ihnen letzte Nacht am Tatort waren, aber für die anderen möchte ich die gestrigen Geschehnisse noch einmal kurz durchgehen.«

Die Polizisten hörten schweigend zu, als Erika die Ereignisse des Vorabends zusammenfasste. »Aus der Gerichtsmedizin habe ich soeben die toxikologischen und auch die anderen vorläufigen Ergebnisse der Obduktion erhalten. Im Blut des Opfers befand sich eine geringe Menge Alkohol, außerdem ein sehr hoher Anteil von Flunitrazepam: achtundneunzig Mikrogramm pro Liter. Flunitrazepam ist auch bekannt als Rohypnol oder Roofies.«

»Allgemein beliebte Vergewaltigungsdroge«, bemerkte Peterson trocken.

»Ganz genau. Und Reste davon wurden im Weinglas am Tatort gefunden, in der Küche«, fügte Erika hinzu.

»Jemand muss es ihm da reingetan haben. Es sei denn, er wollte sich umbringen. Als Arzt wird er ja gewusst haben, dass eine so hohe Dosis ihn hätte umbringen können«, sagte Moss.

»Aber das hat ihn nicht umgebracht. Er ist erstickt. Hier sieht man den durchsichtigen Plastikbeutel über seinem Kopf, der mit einer dünnen weißen Schnur zugebunden war.« Erika zeigte auf ein Foto von Gregory Munro, dessen weit aufgerissene Augen durch das Plastik zu sehen waren. »Die Hände sind ihm nach Eintritt des Todes gefesselt worden. Außerdem wurden Schwulenpornos in seiner Nachttischschublade gefunden. Wir haben also die Hefte, Tod durch Ersticken mit einem Plastikbeutel und die Vergewaltigungsdroge. Das heißt, wir müssen klären, ob es sich um einen autoerotischen Unfall handelt. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Vergewaltigung, keinerlei Haare oder Körperflüssigkeiten außer seinen eigenen …« Erika betrachtete die Gesichter der Polizisten, die sie erwartungsvoll anschauten. »Ich bin der Ansicht, dass irgendjemand in das Haus eingebrochen ist, Gregory Munro unter Drogen gesetzt und ihn anschließend erstickt hat. Ich gehe außerdem davon aus, dass dies keine Zufallstat war. Nichts wurde entwendet, weder Geld noch wertvolle Gegenstände. Die Telefonleitungen waren gekappt, und der Strom war abgeschaltet, was für eine geplante Tat spricht, und wer auch immer das getan hat, musste die Alarmanlage deaktivieren, bevor er den Strom abgeschaltet hat.

Wir gehen vor wie üblich: Befragung der Anwohner in der Laurel Road und den anliegenden Straßen. Das läuft bereits, aber ich möchte, dass jeder, der in der Straße wohnt oder sich in der Gegend aufgehalten hat, befragt wird. Tragen Sie alle Daten über Gregory Munro zusammen, Bankverbindungen, Telefon, E-Mails, Soziale Medien, Freunde und Familie. Er lebte von seiner Frau getrennt, daher nehme ich an, dass er einen Anwalt hat. Finden Sie heraus, ob er auf Schwulentreff-Seiten aktiv war. Überprüfen Sie, ob er auf seinem Handy Schwulentreff-Apps gespeichert hatte; finden Sie alles heraus über seine Arbeit – hatte er Probleme mit Kollegen oder Patienten?«

Erika wandte sich wieder dem Whiteboard zu und zeigte auf die Fotos, die im Garten aufgenommen worden waren.

»Der Mörder ist durch den Zaun gekommen, der das Grundstück zu den Eisenbahngleisen und einem kleinen Landschaftspark abgrenzt. Besorgen Sie sich das Material aus sämtlichen Überwachungskameras, die es in der Umgebung der Gleise gibt, ebenso in den nächstgelegenen Bahnhöfen und umliegenden Straßen. Crane, Sie übernehmen die Koordination hier in der Einsatzzentrale.«

»Alles klar, Chefin«, erwiderte Crane.

»Ich denke, Gregory Munro hat den Täter gekannt, folglich wird uns die Erforschung seines Privatlebens zu seinem Mörder führen. Also, an die Arbeit. Um sechs treffen wir uns hier und tragen unsere Ergebnisse zusammen.«

Alle sprangen auf und setzten sich in Bewegung.

»Gibt es irgendetwas Neues über Gregory Munros Mutter?«, erkundigte sich Erika bei Moss und Peterson.

»Sie ist immer noch im Krankenhaus in Lewisham. Scheint sich gut erholt zu haben, aber sie muss noch von einem Arzt entlassen werden«, sagte Moss.

»Okay, wir statten ihr einen Besuch ab – Sie kommen mit, Peterson.«

»Sie halten sie aber doch nicht für eine Verdächtige?«, fragte Moss.

»Nein, aber Mütter sind in der Regel eine gute Informationsquelle«, antwortete Erika.

»Davon kann ich ein Lied singen. Meine steckt ihre Nase in jedermanns Angelegenheiten«, sagte Peterson, stand auf und schnappte sich seine Jacke.

»Dann wollen wir mal hoffen, dass das auch für Estelle Munro gilt«, sagte Erika.

8

Die Uniklinik Lewisham war ein weitläufiger Gebäudekomplex, eine Mischung aus altem Backstein und futuristischen Glaselementen, außerdem gab es einen neuen Flügel mit in Blau und Gelb gehaltenen Fassaden aus Sichtbeton. Auf dem Parkplatz herrschte Hochbetrieb, und ein steter Strom aus Krankenwagen fuhr an der Notaufnahme vor. Erika parkte und ging mit Moss und Peterson zum Haupteingang, einem großen Kasten aus Glas und Stahl gegenüber der Notaufnahme. Beim Näherkommen bemerkten sie eine ältere Dame im Rollstuhl, die eine neben ihr hockende Krankenschwester anraunzte.

»Unverschämt!«, sagte sie und zeigte mit einem arthritischen Finger, dessen Nagel rot lackiert war, auf die Krankenschwester. »Erst lassen Sie mich ewig auf die Entlassung warten, und dann stellen Sie mich hier ab und lassen mich eine geschlagene Stunde in der Hitze schmoren! Ohne Handtasche, ohne Handy, und Sie kümmern sich um nichts!«

Die Leute, die durch den Haupteingang ins Freie traten, registrierten die Szenerie, aber mehrere Krankenschwestern, die auf dem Weg hinein waren, zuckten mit keiner Wimper.

»Das ist sie – Estelle Munro, Gregory Munros Mutter«, sagte Moss. Die Krankenschwester bemerkte die drei Polizisten und stand auf. Sie war Ende vierzig und wirkte erschöpft. Erika, Moss und Peterson wiesen sich aus.

»Alles in Ordnung hier?«, fragte Erika. Estelle blinzelte aus ihrem Rollstuhl zu ihnen auf. Sie war etwa Mitte sechzig, eine elegant gekleidete Frau, aber nach einer Nacht im Krankenhaus waren ihre helle Hose und die Bluse mit Blumenmuster zerknittert, ihr Make-up hatte sich in der Hitze weitgehend aufgelöst, und ihr kurzes rotbraunes Haar stand ungekämmt vom Kopf ab. In ihrem Schoß lag ein transparenter Plastikbeutel mit schwarzen Lacklederpumps.

»Nein! Hier ist überhaupt nichts in Ordnung …«, setzte Estelle an, doch die Krankenschwester stemmte die Hände in die breiten Hüften und fiel ihr ins Wort: »Die Polizisten, die heute Morgen hier waren, um ihre Aussage aufzunehmen, haben ihr angeboten, sie nach Hause zu bringen, aber sie hat es abgelehnt.«

»Natürlich habe ich das abgelehnt. Ich steige doch nicht vor meiner Haustür aus einem Streifenwagen! Ich möchte in einem Taxi nach Hause gebracht werden … Ich kenne mich aus. Mir steht ein Taxi zu. Aber ihr wollt ja nur an allen Ecken sparen …«

Erikas Erfahrung nach lösten Trauer und Schock sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Manche Leute brachen in Tränen aus, andere waren wie benommen und verstummten, und wieder andere wurden wütend. Estelle Munro gehörte offensichtlich zu letzterer Kategorie.

»Man hat mich die ganze Nacht in dem gottverlassenen Loch namens Notaufnahme gefangen gehalten. Ich bin einfach nur in Ohnmacht gefallen, sonst nichts. Aber ich musste mich natürlich in die Schlange einreihen, und die Betrunkenen und Drogenabhängigen kamen zuerst an die Reihe.«

Estelle wandte sich jetzt direkt an Erika, Moss und Peterson. »Dann hat mich einer Ihrer Leute mit Fragen gelöchert. Man sollte meinen, ich wäre die Täterin! Was machen Sie drei überhaupt hier? Mein Junge ist tot … ermordet!«

Und dann verlor Estelle die Fassung. Sie umklammerte die Armlehnen des Rollstuhls und schrie mit zusammengebissenen Zähnen: »Haut ab! Lasst mich in Ruhe! Ihr alle!«

»Wir sind in einem Zivilfahrzeug hierhergekommen. Wir können Sie jetzt nach Hause bringen, Mrs. Munro«, sagte Peterson freundlich, hockte sich vor sie und bot ihr ein Papiertaschentuch an.

Sie schaute ihn unter Tränen an. »Wirklich?«

Peterson nickte.

»Dann bringen Sie mich bitte nach Hause. Ich möchte einfach nur nach Hause und meine Ruhe haben«, sagte sie und betupfte sich die Augen mit dem Papiertaschentuch.

»Danke«, flüsterte die Krankenschwester fast unhörbar.

Peterson löste die Bremse des Rollstuhls und schob Estelle Richtung Parkplatz.

»Als sie eingeliefert wurde, war sie in einem fürchterlichen Zustand, sie war extrem dehydriert und stand unter schwerem Schock«, sagte die Krankenschwester zu Moss und Erika. »Sie wollte niemanden anrufen. Ich weiß nicht, ob sie einen Nachbarn hat oder vielleicht eine Tochter? Sie braucht Ruhe, wenn sie zu Hause ist.«

»Peterson wird seinen ganzen Charme zum Einsatz bringen, er hat einen Schlag bei älteren Damen«, sagte Moss. Sie alle schauten zum Parkplatz hinüber, wo Peterson Estelle im Rollstuhl zu seinem Wagen fuhr. Die Krankenschwester lächelte und ging wieder ins Gebäude zurück.

»Ach, Mist, die Autoschlüssel hab ich ja!«, sagte Erika. Sie beeilten sich, um Peterson einzuholen.

»Gott, was für eine Hitze …«, stöhnte Estelle verzweifelt, als sie alle in dem aufgeheizten Wagen saßen. »Das geht jetzt schon seit Tagen so!« Sie saß auf dem Beifahrersitz neben Erika, während Moss und Peterson auf dem Rücksitz Platz genommen hatten.

Erika beugte sich über Estelle und half ihr mit dem Sicherheitsgurt. Dann ließ sie den Motor an. »Es wird gleich kühler. Der Wagen hat eine Klimaanlage.«

»Wie lange hat der Wagen hier gestanden?«, fragte Estelle, als Erika dem Mann an der Schranke ihren Dienstausweis zeigte. Er winkte sie durch.

»Eine Viertelstunde«, antwortete Erika.

»Wären Sie nicht von der Polizei, müssten Sie ein Pfund fünfzig zahlen. Selbst wenn man nicht die volle Stunde benötigt. Ich habe Gregory immer wieder gefragt, ob er nichts dagegen unternehmen könnte, dass die Patienten zahlen müssen. Er wollte unserer Abgeordneten deswegen einen Brief schreiben. Er ist ihr ein paarmal begegnet – bei offiziellen Anlässen …« Estelle versagte die Stimme, und sie kramte nach einem neuen Taschentuch, um sich die Augen damit zu betupfen.

»Möchten Sie vielleicht einen Schluck Wasser, Estelle?«, fragte Moss, die am Automaten im Revier ein paar Flaschen gezogen hatte.

»Ja, bitte, und nennen Sie mich bitte Mrs. Munro, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Selbstverständlich, Mrs. Munro«, sagte Moss und reichte eine kleine, vom Kondenswasser ganz nasse Wasserflasche durch die Lücke zwischen den Vordersitzen. Estelle schraubte den Deckel ab und trank einen großen Schluck. Sie fuhren durch Ladywell, vorbei an dem weitläufigen Park neben dem Krankenhaus, wo ein paar Jungs in der heißen Morgensonne Fußball spielten.

»Gott, tut das gut«, sagte Estelle, lehnte sich zurück und genoss die kühle Luft, die aus der Klimaanlage strömte.

»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«, sagte Erika.

»Kann das nicht warten?«

»Wir brauchen später eine offizielle Aussage von Ihnen, aber wie gesagt, ich würde Ihnen vorab gern einige Fragen stellen … Bitte, Mrs. Munro, das ist wirklich wichtig.«

»Also gut.«

»Gregory wollte eigentlich in Urlaub fahren?«

»Ja, nach Frankreich. Er sollte auf einer Konferenz der BMA, der British Medical Association, eine Rede halten.«

»Er hat Sie nicht angerufen, um Ihnen Bescheid zu geben, dass er angekommen ist.«

»Natürlich nicht.«

»War das ungewöhnlich?«

»Nein. Wir haben nicht einer auf dem Schoß des anderen gesessen. Ich wusste, dass er mich irgendwann von unterwegs anrufen würde.«

»Gregory war von seiner Frau getrennt?«

»Ja. Penny«, erwiderte Estelle mit angewidert nach unten gezogenen Mundwinkeln.

»Darf ich fragen, warum?«

»Darf ich fragen, warum … Das tun Sie doch schon, oder? Es ging von Penny aus. Sie hat die Scheidung eingereicht. Aber wenn einer einen Grund gehabt hätte, sich scheiden zu lassen, dann war das Gregory«, sagte Estelle kopfschüttelnd.