Nimue Alban: Auf Gefechtsstation - David Weber - E-Book

Nimue Alban: Auf Gefechtsstation E-Book

David Weber

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Beschreibung

Vor Jahrhunderten flohen die Menschen vor einer übermächtigen Alienarmee auf den Planeten Safehold. Dort herrscht eine Kirchendiktatur, die jede moderne Technik verbietet. Seit Jahren kämpft das Inselkönigreich Charis für Unabhängigkeit und technischen Fortschritt. Und auch in den Tempellanden regt sich Unmut und Widerstand gegen das totalitäre Regime, befeuert von dem Geheimbund Helmspalter. Schaffen sie es endlich, die Kirche der Verheißenen zu stürzen?

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungMai, im Jahr Gottes 898.I..II..III..IV..V..VI.Juni, im Jahr Gottes 898.I..II..III..IV..V..VI..VII..VIII..IX..X..XI..XII.Juli, im Jahr Gottes 898.I..II..III..IV..V..VI.August, im Jahr Gottes 898.I..II..III..IV..V..VI..VII..VIII.Februar, im Jahr Gottes 899.I.GlossarCharaktere

Über dieses Buch

Vor Jahrhunderten flohen die Menschen vor einer übermächtigen Alienarmee auf den Planeten Safehold. Dort herrscht eine Kirchendiktatur, die jede moderne Technik verbietet. Seit Jahren kämpft das Inselkönigreich Charis für Unabhängigkeit und technischen Fortschritt. Und auch in den Tempellanden regt sich Unmut und Widerstand gegen das totalitäre Regime, befeuert von dem Geheimbund Helmspalter. Schaffen sie es endlich, die Kirche der Verheißenen zu stürzen?

Über den Autor

David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der Honor-Harrington-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.

David Weber

NIMUE ALBAN

AUF GEFECHTSSTATION

ROMAN

Aus dem Amerikanischen vonDr. Ulf Ritgen

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by David Weber

Published by arrangement with

Tom Doherty Associates, LLC. All rights reserved.

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Safehold 9: At the Sign of Triumpf« Teil 2

Originalverlag: Tor Books, New York

Dieses Werk wurde im Auftrag von Tom Doherty Associates durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Beke Ritgen, Bonn

Titelillustration: Arndt Drechsler, Leipzig

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7837-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Father George Anson Clarke, dem ich vor einem halben Jahrhundert sehr genau zugehört habe.Sie hatten recht.

Mai, im Jahr Gottes 898

.I.

Feste Rydymak,Grafschaft Cheshyr,sowieFeste Rock Coast,Herzogtum Rock Coast,Königreich Chisholm,Kaiserreich Charis,undNimues Höhle,Berge des Lichts

Merch O Obaith hielt mit dem Aufklärer-Schwebeboot auf die Feste Rydymak zu. Sie näherte sich ihrem Ziel rascher, als sich die Menschen Safeholds mit einigen wenigen Ausnahmen hätten träumen lassen. Währenddessen hörte sie dank der winzigen Fernsonde auf dem Kaminofen in jenem Zimmer, in dem Rebkah Rahskail, Gräfinwitwe Swayle, Gäste empfing, jedes Wort des Gesprächs mit. Der besondere Gast dieses Mal war Meister Zhonathyn Clyntahn, der vor drei Jahren noch der Büchsenmacherzunft von Cherayth vorgestanden, die letzte Wahl aber zu seinem großen Verdruss verloren hatte.

Ob Clyntahns sogenannte Freunde gern mehr Einzelheiten des Komplotts erführen? Aber gewiss doch, was denn sonst, Mylady!, antwortete Obaith grimmig auf die letzte Frage, die die Gräfinwitwe gestellt hatte. Und ich danke Ihnen sehr, dass Sie so freundlich sind, ebenjene Gelichter für uns ans Tageslicht zu locken! Ich bin gespannt, wie viele von Meister Clyntahns Verschwörern Sir Ahlber schon identifiziert hat. Nun, die, die ihm entgangen sind, dürften Nahrmahn und Owl auf ihren Listen haben. Ich wäre sogar bereit, darauf zu wetten. Aber besser, Namen doppelt zu hören, wenn’s um Hochverrat geht, als überhaupt nicht. Da kann man gar nicht genug Ratten im Gebälk aufspüren!

Wenn sie Owl und die SNARCs so schamlos zur Spionage nutzte, verspürte Obaith hin und wieder Schuldgefühle – allerdings immer seltener. Denn mittlerweile stand sie ebenso fest und unverbrüchlich zu Cayleb und Sharleyan Ahrmahk, deren Freunden und Verbündeten wie Merlin Athrawes; und ebenso wie Merlin brachte Merch niemandem sonderlich viel Sympathie entgegen, der es darauf anlegte, Menschen zu ermorden, die ihr am Herzen lagen.

Manchmal fragte sie sich, ob Nimue Albans ursprüngliche Persönlichkeit der ihren hierin glich. Hatte Nimue ebenso unnachgiebig und zielstrebig geschützt, was ihr schützenswert erschienen war? War ihre tiefe Verbundenheit mit einzelnen anderen nur durch den Umstand verdeckt gewesen, dass ihr ganzes Augenmerk dem hoffnungs- und aussichtslosen Krieg gegen die Gbaba gegolten hatte? Oder hatte gerade die Sinnlosigkeit jenes Krieges – das Wissen, dass er nur auf eine einzige Art und Weise enden konnte, was auch immer sie unternähme – sie womöglich so unnachgiebig und zielstrebig werden lassen?

Was Lady Swayle anging, nun, ihr stünden jedenfalls gleich einige unschöne Überraschungen bevor.

Eine davon betraf Colonel Brekyn Ainsail, ihren lieben Freund, der sie aus Herzensgüte und Treue zum verblichenen Graf Swayle mit Falltür-Mahndrayns ausstattete. In Wahrheit war Ainsail schlicht mehr Söldner, als der Gräfinwitwe lieb sein konnte: Das Geld aus Herzog Rock Coasts Kassen war für ihn deutlich mehr wert als Treuebekenntnisse, ob nun dem toten Kameraden und Freund oder dem Tempel gegenüber. Nun, und was Ainsail selbst betraf: Er wusste nicht – wie hätte er auch? –, dass Bewusstsein und Verstand eines längst verstorbenen Fürsten von Emerald und ein elektronisches Wesen, das nie einen Atemzug getan hatte, sorgsam jede Zahlung nachverfolgt hatten, jedes gefälschte Dokument, jede auf Umwegen verschleierte Lieferanforderung und jede Waffenauslieferung, die durch Ainsails Hände gegangen waren. Das Woher und Wohin jedes Gewehrs war diesen Spürnasen bekannt, die weder Schlaf noch Erschöpfung kannten. Bliebe nur die Frage, wie man Safeholds Öffentlichkeit erklärte, auf welche Weise man an die lückenlosen Informationen darüber gekommen war. Doch Merch wagte zu behaupten, in dieser Hinsicht würde Ainsail sich gewiss kooperationsbereit zeigen, kaum dass man ihm die Komplizenschaft nachgewiesen hätte. Er würde, so schnell ihm die Worte über die Lippen kämen, jedem Handel zustimmen, den ihm die Krone anböte. Eilfertig würde er die Ermittler zu den Waffenverstecken führen, und damit wäre er vor aller Welt die Informationsquelle.

Das wiederum wird Folgen für gewisse Personen haben, Folgen der unangenehmen Art, dachte Merch, und ein alles andere als freundliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Wenn dann ein paar Hochverräter beim Versteck auftauchen, um ihre Gewehre abzuholen, wartet dann – welch Zufall! – ein Zug Infanterie auf sie! So ein Pech aber auch, nicht wahr?

Merch O Obaith überflog die Sunset Hills, während sie der Gedanke beschäftigte, wie unzählig viele Möglichkeiten den Plan, die Verschwörerbande hochzunehmen, doch noch scheitern lassen könnten. Ihr selbst wäre es um einiges lieber gewesen, in dem Moment zuzuschlagen, wo genug Beweise gegen die Rädelsführer vorlägen. Doch Sharleyan verfolgte ein anderes Ziel, ein Ziel, dem beizupflichten Merch nicht umhinkonnte: Es war wirklich an der Zeit, sämtliche Hochverräter in Chisholms Adel aus der Reserve zu locken und sich ihrer zu entledigen, statt sich alle zehn oder zwanzig Jahre mit neuerlichen Auswüchsen dieser Art herumschlagen zu müssen. Dennoch machte sich Merch der möglichen Kollateralschäden unter Unschuldigen wegen Sorgen.

Ebendiese Sorge erklärte, warum sie Rydymak ansteuerte.

Das Wetter in Cheshyr war geringfügig besser als in Swayle, Kohlen aber teurer als dort, oder besser: Wenn es darum ging, für Kohlen zu zahlen, hatte Rydymaks Einwohnerschaft dafür deutlich weniger Geld in der Tasche.

In letzter Zeit allerdings hatte sich die Lage entspannt. Mehr Geld in der Tasche hatte zwar niemand, doch Lady Cheshyr hatte es geschafft, einen Teil der Kohlelieferung für die Dampfschiffe im Golf von Dohlar in die Cheshyr Bay umleiten zu lassen. Cheshyr mochte arm sein, seine Regentin aber nicht ganz ohne Freunde und Einfluss in Cherayth. Für kaum ein Zehntel des aktuellen Marktwerts hatte Cheshyrs Bevölkerung Kohle kaufen können; an Mittellose war der hochwillkommene Brennstoff sogar kostenlos ausgegeben worden.

Es hatte schon seine Gründe, dass Karyl Rydmakyrs Untertanen sie verehrten und liebten.

Das zu verstehen fiel auch Sergeant Major Ahzbyrn Ohdwiar nicht schwer. Er kannte Lady Karyl oder Lady K, wie man sie beim Regiment nur nannte, nun schon seit fast dreißig Jahren. Er war ein auffallend muskulöser Mann und für seine fünfundvierzig Lebensjahre körperlich in geradezu beängstigend guter Form. Noch durch anderes fiel er auf: durch rabenschwarzes Haar, tiefdunkle Augen, vernarbte Wange und ein Hinkebein. Haar- und Augenfarbe hatte er von Geburt an, das andere waren Verwundungen, die er sich unter dem Kommando von Styvyn Rydmakyr im Dienste Königs Sailys’ zugezogen hatte. Sechsundzwanzig Jahre seines Lebens hatte der Sergeant der Armee geschenkt – bis er bei jener verhängnisvollen Übung verletzt worden war. Der Unfall hatte dafür gesorgt, dass er in den Ruhestand versetzt wurde. Ziellos hatte er sich seitdem treiben lassen, bis er hier gelandet war, hier in Rydymak. Dort hatte ihm die Witwe seines ehemaligen kommandierenden Offiziers ein Dach über dem Kopf geboten und ihm eine auskömmliche Anstellung als Waffenträger verschafft, auch wenn jemand mit einem verkrüppelten Bein wohl kaum von großem Nutzen war.

Aber Hinken und Hinken war nun einmal nicht dasselbe. Etwas in dieser Art dachte Ohdwiar, während er den zweihundertsten Liegestütz hinter sich brachte.

Zweihundertundeins: eine fließende Bewegung, Arme beugen, der Rücken kerzengerade, die Nase berührte fast den Boden, die Arme strecken. Nun, Ohdwiar hätte den Körper trotz seines Hinkebeins lieber durch Lauftraining ertüchtigt. Schließlich hatte ihm einer seiner Vettern, ein Heiler des Pasquale-Ordens, vor mehr als einem Jahrzehnt ein persönliches Trainingsprogramm zusammengestellt. Doch seit dem ›Unfall‹ kam diese Form der Leibesübung nun einmal nicht mehr infrage. Also trainierte Ohdwiar allein, im stillen Kämmerlein sozusagen – so wie die meisten anderen ›verkrüppelten‹ Waffenträger, die es so zufällig nach Rydymak verschlagen hatte.

Glücklicherweise gab es in der Feste Rydymak, so zugig sie war, schon Innentoiletten und ein beheizbares Badehaus, dessen Becken eigentlich nicht jedes Jahr für vier Monate zufrieren sollten. Mit der guten Kohle aus Gletscherherz, die ihren Weg in die Grafschaft gefunden hatte, war das nun auch wieder gewährleistet.

Ohdwiar stemmte sich hoch auf die Beine und beendete sein Training mit Dehnübungen, um sich den Körper langsam abkühlen zu lassen, nicht ohne Vorfreude auf die wohlige Wärme, die ihn im Badehaus empfangen würde. So spät am Abend würde er dort allein sein – es sei denn, Clairync Ohsulyvyn oder Dynnys Mykgylykudi fänden sich ebenfalls noch dort ein. Die beiden kannte Ohdwiar schon seit mehr als zwanzig Jahren. Fehlte also nur Zhaksyn Ohraily. Den hatte man zur Nachtwache vor Lady Ks Gemach eingeteilt, da er, was den Dienst als Waffenträger betraf, mit seinen kaum achtunddreißig Lebensjahren ja noch ein absoluter Frischling war. So konnten sich die müden Knochen seiner deutlich älteren Kameraden im Schlaf erholen.

Leise lachte Ohdwiar vor sich hin, während er durch die Tür seines kleinen Schlafgemachs trat. Er wollte im angrenzenden, etwas größeren Wohnraum gerade nach dem Handtuch greifen, das er vorsorglich dort über die Stuhllehne gehängt hatte …

»Suchen Sie das hier, Sergeant Major?«

Die Frage, gestellt von einer wohlklingenden Sopranstimme, ließ Ohdwiar erstarren. Es dauerte, die Starre abzuschütteln, und das Handtuch aus den Händen seiner unerwarteten Besucherin entgegenzunehmen. Der Blick, den er ihr zuwarf, war nicht gerade wohlwollend. Sie aber grinste nur breit, und ihr schaute der Schalk aus den blauen Augen, tiefer blau noch als die von Dynnys Mykgylykudi.

»Nicht, dass Sie glauben, ich wollte mich beschweren oder so was, Seijin Merch«, sagte er mit einem Anflug von Tadel in der Stimme, »aber es gibt einen Grund, warum die Wohnräume eines Mannes Türen haben. Und zwar Türen mit einem Schloss, wenn ich’s recht bedenke.«

»Ganz recht bedacht, Ahzbyrn. Sonst hätt’ ich ja nichts zu knacken gehabt.«

Ohdwiar seufzte. Vermutlich war es ein aussichtsloses Unterfangen, das Alter der Seijin zu schätzen, aber sicher war sie ein recht junges Exemplar ihrer Zunft. Klugscheißer, die noch grün hinter den Ohren waren, waren ihm in seinem Leben noch und nöcher untergekommen, sie bei so viel Erfahrung sofort zu erkennen, daher keine große Kunst.

Wo er jetzt so darüber nachdachte: Die ältere Art begegnete ihm jeden Morgen im Spiegel.

»Tja, stimmt wohl«, gab er zurück und verkniff sich dabei sämtliche deutlich kernigeren Bemerkungen, die ihm ebenfalls in den Sinn gekommen waren. Dann rieb er sich mit dem Handtuch über das ergrauende und – verdammt noch eins! – allmählich schütter werdende Haar. »Seid Ihr denn nur mal eben vorbeigekommen, um an meinem Schloss zu üben?«

»Sind Sie denn gar nicht erfreut, mich zu sehen, Ahzbyrn?« Es gelang ihr, einen Hauch wehmütiger Sehnsucht in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. Ja, es sah sogar so aus, als ließe sie ihre Unterlippe zittern.

»Aber klar doch – wie eine Nebelwyvern im Frühling, gnä’ Frau«, versicherte er ihr.

»Das klingt doch schon besser«, meinte sie mit so ernsthafter Erleichterung, dass er unwillkürlich lachen musste.

Es war ihr Waffengefährte gewesen, Seijin Cennady, der Ohdwiar und die anderen für ihre aktuelle Verwendung angeworben hatte. Doch seit ihrer Ankunft in der Cheshyr Bay war Seijin Merch ihre Verbindungsperson zum Seijin-Netzwerk im Dienste Ihrer Majestäten. Ohdwiar bezweifelte nicht, dass auch sie der Tod in Menschengestalt war. Das galt, soweit er das beurteilen konnte, für jeden und jede je geborene Seijin. Aber Merch erinnerte ihn an seine längst verstorbene Frau. Es war nicht die Figur: Mahrglys war eine bemerkenswert große Frau gewesen, mindestens fünf Zoll größer als Seijin Merch, die wahrlich nicht klein war, und seine Mahrglys hatte goldblondes Haar gehabt und graue Augen. Doch von diesen Äußerlichkeiten einmal abgesehen, waren die beiden einander so ähnlich, dass es ihm manchmal einen Stich mitten ins Herz versetzte.

»Aber nun ernsthaft, Meine Lady«, fuhr er fort und verwendete deswegen, aber nicht nur deswegen den Ehrentitel, über den Obaith sich jedes Mal aufs Neue ärgerte. Nun, sie war eine Seijin, Langhorne noch eins! »Ich darf doch wohl davon ausgehen, dass dies hier nicht nur ein Privatbesuch ist, oder?«

»Dürfen Sie«, bestätigte sie und nahm in einer fließenden Bewegung im Schneidersitz auf seinem wackeligen Tisch Platz. Beklommen nahm er das zur Kenntnis. Es war schließlich auch keine Kunst, zu erkennen, dass Seijin Merch nicht nur einen wohlproportionierten, sondern durchtrainierten Körper besaß. »Eigentlich bin ich vor allem hier, weil ich Lady Karyl sprechen will. Ich habe einige Nachrichten Ihrer Majestät für sie und dazu auch noch eine von Graf White Crag. Aber ich hatte mir gedacht, wenn ich ohnehin schon hier bin, schaue ich auch noch bei Ihnen und den anderen Grauechsen vorbei.«

Ohdwiar schnaubte auf. Welcher der Seijins seinen Gefährten und ihm diesen Spitznamen verpasst hatte, wusste er nicht zu sagen. Doch er mochte so genannt zu werden: genau die Art zweifelhaften Kompliments, die ein alter Haudegen wie er zu würdigen wusste.

»Seit Eurem letzten Besuch gibt es nicht viel Neues zu melden«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Wir haben die Augen offen gehalten, und es ist wirklich gut, dass uns Eure Nachricht erreicht hat.« Angewidert schüttelte er den Kopf. »Rock Coast lernt wohl nicht sonderlich schnell dazu.«

»Nun, dort, wo sein letzter Spion hergekommen ist, gibt es ja noch weidlich andere, die sich ihm andienen würden«, meinte Seijin Merch. »Er glaubt wohl, es wäre nur eine Frage der Hartnäckigkeit und der Zeit, bis es einer seiner Informanten in die Reihen von Lady Karyls Bediensteten schafft. Schließlich …«, sie grinste Ohdwiar an, »… weiß doch jeder, dass sie ein weiches Herz für herrenlose Hundewelpen und Grauechsen hat.«

Wieder schnaubte Ohdwiar, dieses Mal ein wenig rauer.

»Wie schwierig war es denn, den jüngsten Kandidaten abzuschrecken?«, erkundigte sich die Seijin.

»Och, nicht sonderlich«, beantwortete Ohdwiar die Frage und grinste gehässig. »Das war ganz komisch: Als sich Lady K gerade mit der Frau unterhalten hat, ist Zhorzhyna hereingekommen, um zu berichten, dass der silberne Salzstreuer aus der Küche verschwunden ist, und zwar, seit die junge Dame dort darauf gewartet hat, zur Lady vorgelassen zu werden. Und sieh an, das gute Stück findet sich in ihrer Tasche! Wie es da wohl hingekommen ist?«

»Aber, aber, wie hinterhältig, Ahzbyrn! Gefällt mir!«

»Na ja, Spionin hin oder her, meine Jungs und ich haben es einfach nicht übers Herz gebracht, dem dummen Ding die Knie zu zertrümmern. Deswegen erschien uns allen dieser kleine Trick die beste Lösung. Außerdem habt Ihr uns eingeschärft, bloß nicht aufzufallen, und das ist ein bisschen schwierig, wenn man jeden zweiten Fünftag ein junges Ding über die Mauerzinnen wirft.«

»Stimmt.« Ernst nickte Merch, in ihren blauen Augen blitzte es. Sie mochte Sergeant Major Ohdwiar. Er erinnerte sie an die Handvoll eisenharter Sergeants der Terran Marines, die sie vor ungefähr eintausend Jahren gekannt hatte.

»Nun, ich wollte natürlich nicht nur sicherstellen, dass Sie keine Salzstreuer stehlenden Frauen über Zinnen werfen oder auf eine Tasse Tee bei Lady Karyl vorbeischauen. Ich habe da noch etwas anderes im Sinn.«

»Und das wäre?«, erkundigte sich Ohdwiar misstrauisch.

»Ich hoffe, Sie haben das Versteck gefunden, über das wir bei meinem letzten Besuch gesprochen haben. In ungefähr zwei Fünftagen wird in der Cheshyr Bay ein Fischerboot auftauchen. Der einzige ›Fischer‹ an Bord wird ein Bursche namens Dagyr Cudd sein. Er wird ein wenig Hilfe brauchen, seinen Fang an Land zu schaffen.«

»Was denn für eine Art Fang, wenn ich fragen darf?«

»Ach, ein paar Kisten mit Gewehren. Dazu noch ein paar Kisten mit Munition. Solches Zeug eben«, sagte sie und winkte beiläufig ab. »Ich glaube, Dynnys wird sich darüber besonders freuen. Wenn ich mich nicht irre, sind auch noch zwei oder drei Mörser dabei.« Engelsgleich lächelte sie den Sergeant Major an. »Ich hoffe, Ihre Jungs und Sie, Ahzbyrn, passen auf Ihr neues Spielzeug auch gut auf!«

»Haben Sie den Brief entschlüsselt, Euer Durchlaucht?«, erkundigte sich Sedryk Mahrtynsyn.

»Soeben fertig geworden, Pater«, erwiderte Zhasyn Seafarer. Er lehnte sich in seinem Sessel vor dem prasselnden Feuer zurück und hielt mehrere eng beschriebene Blätter dem Licht entgegen, um sie Zeile für Zeile ein weiteres Mal durchzulesen. Es dauerte mehrere Minuten, doch schließlich blickte er von der Lektüre auf und lächelte.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass Sie sich bereit erklärt haben, als unser Bote zu fungieren, Pater«, sagte er voller Herzlichkeit. »Rebkah hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie Ihre Dienste ebenso zu schätzen weiß wie ich. Uns ist sehr wohl bewusst, welches Risiko Sie zu unseren Gunsten eingehen.«

»Bei allem schuldigen Respekt, Euer Durchlaucht, ich gehe diese Risiken nun wahrlich nicht allein zu Ihren Gunsten ein«, gab der Unterpriester zu bedenken und verzog die Lippen zur Andeutung eines schiefen Grinsens. »Wohlgemerkt: Es ist mir eine Ehre, Ihnen behilflich zu sein. Doch sicherlich hätte ich mich nicht derart beflissen dazu bereit erklärt, wenn es dabei lediglich um eine Belohnung in der Welt der Sterblichen ginge.«

»Dem ist nichts hinzuzufügen«, bemerkte Herzog Rock Coast.

»Darf ich mich erkundigen, ob Lady Swayle Positives hat berichten können?«

Zu seiner eigenen Sicherheit war Mahrtynsyn niemals über den Inhalt der verschlüsselten Briefe informiert, die er kreuz und quer durch Chisholm transportierte. Entsprechend ging es hier für ihn, nach allem, was er eben wusste, nur um die Korrespondenz von Cousin und Cousine, die dem Empfänger beziehungsweise der Empfängerin zu überbringen ihm eine Ehre war. Das war die Tarngeschichte, mit der er durch das Königreich reiste. So könnte er weder durch Tricks noch Täuschung, nicht einmal auf der Folter, dazu verleitet werden, etwas preiszugeben, was er schlicht nicht wusste.

»Sogar eine ganze Menge. Einen Großteil davon werde ich allerdings für mich behalten müssen, so leid es mir tut. Es steht mir nicht zu, diese Informationen ohne das Wissen meiner Base preiszugeben. Nur so viel: Holy Tree sitzt mittlerweile nicht mehr zwischen den Stühlen.«

»Das ist ja wunderbar, Euer Durchlaucht!«, rief Mahrtynsyn.

Der Schuelerit hatte sich schon gefragt, wie sich Sir Bryndyn Crawfyrd letztendlich entscheiden würde. Er war noch nicht einmal vierzig Jahre alt und hatte sich noch nie sonderlich aktiv am Widerstand gegen die Macht der Krone beteiligt. Ein besonders inbrünstiger Tempelgetreuer war er auch nicht. Allerdings beunruhigten ihn die sozialen Veränderungen, die er kommen sah. Letztendlich dürfte den Ausschlag, Stellung zu beziehen, vermutlich sein Status als zukünftiger Schwager des derzeitigen Grafen Swayle gegeben haben. Mit der Einbindung von Holy Trees Herzogtum in die Verschwörung war Swayles Ostgrenze gesichert, und der territoriale Einfluss der Verschwörer würde sich weitere dreihundert Meilen weit in Richtung Cherayth erstrecken. Vielleicht noch wichtiger: Damit würde die Grafschaft Saint Howan in die Zange genommen, eingekeilt zwischen Holy Tree und Swayle im Norden und dem Herzogtum Black Horse im Westen. Sir Dynzayl Hyntyn, Graf Saint Howan, war bekannt für seine unverbrüchliche Treue Sharleyan Ahrmahk gegenüber. Er war ihr Schatzkanzler.

»Ja, wirklich eine gute Nachricht«, bestätigte Rock Coast. »Aber sie könnte sogar noch besser sein.«

»Wie das, Euer Durchlaucht?« Mahrtynsyns Augen schienen zu glühen.

Rock Coast lächelte. »Zunächst einmal: Während Ihrer Abwesenheit lud ich zur Eisechsenjagd. Zur Jagdgesellschaft gehörte auch Lantern Walk, und gemeinsam im Anstand hatten wir Gelegenheit für ein ausgiebiges Gespräch.«

»Wird sich der Herzog uns anschließen, Euer Durchlaucht?«, fragte Mahrtynsyn eifrig nach.

»Nicht ganz … noch nicht zumindest. Er ist wirklich vorsichtig, wissen Sie. Ich vermute, dass er schon an mehr als einem der bisherigen Versuche beteiligt gewesen ist, die Macht der Krone … in Grenzen zu halten. Dann ist es wohl kaum verwunderlich, dass er sich uns nicht gleich geradewegs in die Arme wirft.«

Mahrtynsyn nickte. Sir Bahnyvyl Kyvlokyn als vorsichtig zu beschreiben, war eine Untertreibung. Mit über vierzig hatte der Mann sich durch nichts und niemanden beeinflussen lassen. Er sorgte sich zwar in gewissem Maße darum, die Privilegien des Adels könnten allmählich ausgehöhlt werden, doch er war durchaus bereit, das geschehen zu lassen … solange er sich letztendlich ganz obenauf befände, durch welches System auch immer besagte Privilegien ersetzt würden.

»Ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, ihn ganz auf unsere Seite zu ziehen, aber zumindest ist er bereit, seine Neutralität zu erklären, sobald wir losschlagen. Wenn die Umstände günstig sind, wird er gewiss bereit sein, mehr als das zu tun, da bin ich mir sicher. Er hatte nicht nur Kontakt mit mir, sondern auch mit Lady Swayle und Black Horse, ohne auch nur einen von uns bei Zhustyn oder Stoneheart anzuschwärzen.«

»Euer Durchlaucht!« Mahrtynsyn wirkte zutiefst beunruhigt.

Rock Coast winkte ab. »Es ist ja nicht so, als hätte auch nur ein Einziger von uns je in Gegenwart anderer etwas Justiziables gesagt, Pater. Und keiner von uns hat sich im Schreiben an Bahnyvyl in irgendeiner Weise selbst belastet. Sogar wenn Lantern Walk geneigt gewesen wäre, uns zu verraten, hätte er dafür keine Beweismittel in der Hand, und Hörensagen allein hat noch nie ausgereicht, um ein Mitglied des Oberhauses zu verurteilen, nicht einmal unter Sailys und Sharleyan. Außerdem ist es gut möglich, dass er, wenn die Zeit gekommen ist, mehr unter Druck stehen wird, sich uns anzuschließen, als er derzeit glaubt.«

»Wieso das, Euer Durchlaucht?«

»Ich habe – sehr vorsichtig – mit Mountain Heart gesprochen. Er hat sich ja nun schon mehrmals die Finger verbrannt. Deswegen lässt er mehr als nur Vorsicht dabei walten, es ein weiteres Mal zu versuchen, vor allem jetzt, wo auch noch dieser Dreckskerl Cayleb mitmischt! Aber Mountain Heart hat auf einen interessanten Umstand hingewiesen: Wenn es uns gelingt, das ganze Königreich einzunehmen, kann sich Sharleyan von ihrem Ehemann immer noch eine Armee ausleihen – oder zumindest eine Flotte – und dann für einen neuerlichen Versuch zurückkehren. Gewiss, im Erfolgsfall können wir die derzeitige Armee auflösen und eine eigene neue aufstellen. Diese wäre dann groß genug, um es mit beliebig viel Marineinfanteristen aufzunehmen. Was aber noch wichtiger ist: Ich habe den Eindruck, Mountain Heart vermutet, dass Black Bottom dieses Mal bereit sein wird, sich uns anzuschließen.«

Langsam und bedächtig nickte Mahrtynsyn. Sir Vyrnyn Atwatyr, Herzog Black Bottom, war ein Aristokrat der ganz alten Schule. Bislang jedoch hatte er davon abgesehen, sich an Ränken gegen die Krone zu beteiligen. Er hatte beachtlichen Respekt vor der Armee des Königshauses und keinerlei Bedürfnis, sie über seine eigenen Ländereien marschieren zu sehen. Aber er war jetzt achtundsiebzig Jahre alt und, was kaum jemand wusste, glühender Tempelgetreuer. Mehr noch: Seine beiden Söhne und sein einziger Enkel waren schon verstorben, der derzeitige Erbe seines Herzogtums ein Großneffe, den Atwatyr nicht sonderlich mochte … und der Gesundheitszustand von Herzog Black Bottom verschlechterte sich derzeit rapide. Er spürte den eisigen Wind der Sterblichkeit sehr deutlich. Also wollte er um alles in der Welt seinen Frieden mit Gott machen, und in der Welt hatte er nur noch sehr wenig zu verlieren.

»Nun ja, ich habe Mountain Heart gegenüber angedeutet, Lantern Walk unterstützte uns nachdrücklicher, als das derzeit tatsächlich der Fall ist. Mountain Heart ist eine viel zu vorsichtige alte Wyvern, um das geradewegs zu Lantern Walk zu tragen, und Lantern Walk wiederum ist zu vorsichtig, um Mountain Heart unumwunden zu fragen, in welche Richtung er denn nun tendiere. Also glauben derzeit beide, der jeweils andere habe sich bereits für unsere Seite entschieden. Folgerichtig machen sich beide Sorgen um die Grenzen ihrer Herrschaftsgebiete: Lantern Walk weiß schon jetzt Swayle und Holy Tree an seinen Grenzen stehend; wenn Mountain Heart und Black Bottom nun ebenfalls mitmachen, wird er von drei Seiten eingeschlossen sein. Was Mountain Heart betrifft, hat er, wenn Lantern Walk sich uns anschließt, Black Bottom im Südosten, Cheshyr – so oder so – im Süden und mich gleich auf der anderen Seite von Lake Land. Ursprünglich hatte ich auch auf Lake Lands Unterstützung gesetzt, aber das war, bevor der alte Symyn im letzten Jahr gestorben ist. So wie uns Paitryk in Tellesberg in den Rücken gefallen ist – und wie er seitdem Sharleyan und Cayleb in den Hintern kriecht –, haben sich die Dinge also, so bedauerlich das ist, geändert. Natürlich könnte ich mich hinsichtlich Paitryk täuschen, nachdem er jetzt ganz offiziell den Titel geerbt hat und sich mit den tatsächlichen Gegebenheiten von Sharleyans Tyrannei herumschlagen muss. Aber bis die Zeit gekommen ist, werde ich ihm gegenüber verdammt noch eins kein Wort über das Ganze verlieren! Andererseits hat mein Herzogtum dreimal mehr Einwohner als seines, und er verfügt, Sailys’ ansonsten verwünschten Gesetzen sei Dank, über gerade einmal zwanzig oder höchstens dreißig Waffenträger. Ich hingegen habe fast eintausend Mann, die derzeit mitten im Nirgendwo ausgebildet werden. Wenn es sein muss, rausche ich durch sein Herzogtum wie die letzte Mahlzeit durch eine Wyvern, und das weiß er so gut wie Mountain Heart.«

Ganz wie es seine Art war, nickte Mahrtynsyn bedächtig. Der Respekt, den er Rock Coast entgegenbrachte, stieg ein Stück weiter an. Niemand hätte den Herzog als brillanten Denker bezeichnet, doch er meinte es mit der Verschwörung gegen die Krone offenkundig ernst. Wie konzentriert er bei der Sache war, beeindruckte, und dieses Mal hatte er sich auch nur lobenswert wenig Fehler erlaubt.

»Und die andere gute Nachricht von Lady Swayle lautet: Sie hat mittlerweile Kontakt zu Elahnah Waistyn aufgenommen.«

»War das ratsam, Euer Durchlaucht?«

War er hinsichtlich etwaiger Fehler des Herzogs womöglich doch zu optimistisch gewesen war? Die Frage schoss Mahrtynsyn mit einem Mal durch den Kopf. Elahnah Waistyn, Herzoginwitwe Halbrook Hollow, war mütterlicherseits betrachtet eine angeheiratete Tante Kaiserin Sharleyans und zudem Herzog Eastshares Schwester. Gewiss, ihr Gemahl war des Hochverrats für schuldig befunden worden, also hatten Rebkah Rahskail und sie schon einiges gemein, auch wenn Byrtrym Waistyn von Mitverschwörern gegen die Krone ermordet und nicht hingerichtet worden war. Beide Verschwörer aber waren jahrelang eng befreundet gewesen. Doch Mahrtynsyn schien es kein sonderlich geschickter Zug, sich in die komplexe Gemengelage von Elahnahs verständlicherweise ausgeprägten Loyalitätskonflikten zu wagen.

»Ach, machen Sie sich keine Sorgen! Zunächst einmal hat Elahnah den Kontakt zu Rebkah gesucht, nicht etwa andersherum. Seit Barkahs Hinrichtung hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Deswegen überraschte Rebkah auch die Einladung nach Halbrook Hall. Und während sie dort war, ist kein einziges Wort zum Thema Verschwörungen gefallen. Elahnah hat aber recht deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie es sehr zu schätzen wüsste, wenn in Chisholm die rechtmäßige Autorität von Mutter Kirche wiederhergestellt werde. Sie leidet gewiss immer noch gewaltig unter Byrtryms Tod, vor allem darunter, wie er zu Tode gekommen ist. Aber ihr Glaube ist fest und unverbrüchlich. Zur rechten Zeit und angemessen kontaktiert, stehen die Chancen ausgezeichnet, dass sie uns zumindest passiv unterstützt. Und Sailys ist Byrtrym nicht nur äußerlich geradezu erschreckend ähnlich. Sie wissen ja auch, dass er die gleichen Ansichten vertreten hat wie sein Vater, und seit Byrtryms Tod hat nur sehr wenig Kontakt zwischen Sharleyan und ihm bestanden. Ich weiß, in welche Richtung ihn sein Herz ziehen wird. Wohin ihn sein Verstand lenken will, wird daher kaum eine Rolle spielen, wenn es so aussieht, als würde sich der gesamte Westen auf unsere Seite schlagen – und wenn seine Mutter ihn nur ein klein bisschen ermuntert.«

Verstohlen gestattete sich Mahrtynsyn einen Seufzer der Erleichterung. Er war längst nicht im gleichen Maße wie Rock Coast davon überzeugt, dass das Herz des jungen Herzogs Halbrook Hollow so unzweideutig für die Tempelgetreuen schlug. Doch er mochte sich natürlich täuschen. Dass Halbrook Hollow der Krone derart nahe war, machte es für ihn entschieden zu gefährlich, Kontakt zu einem der Agenten des Inquisitor-Generals aufzunehmen. Deswegen hatte Mahrtynsyn selbst noch keinen persönlichen Eindruck von ihm gewinnen können. Aber es war durchaus möglich, dass Rock Coast, was den jungen Herzog anging, recht hatte: Würde oder könnte er sich den Verschwörern noch entziehen, wenn der ganze Südwesten des Königreichs sich gegen die Krone erhöbe? Halbrook Hollow aber in den Reihen der Verschwörer – das wäre von großer Bedeutung!

Schon jetzt war klar, dass sich Ahdem Zhefry, Graf Cross Creek, ihnen niemals freiwillig anschlösse. Immer schon hatte er unerschütterlich Sharleyan und die Monarchie unterstützt. Aber jetzt war sein Schwager, Graf White Crag, auch noch zum Ersten Ratgeber des Königreichs aufgestiegen, nachdem Zhaspahr Clyntahns Attentäter Baron Green Mountain schwer verletzt hatten. Sollten allerdings Holy Tree, Lantern Walk und Halbrook Hollow wirklich mitmachen, würde Cross Creeks Land nicht nur an drei Seiten an gegnerisches Territorium grenzen: Gleiches gälte auch für drei Viertel der Ostgrenze des Herzogtums Tayt.

Es sieht ganz so aus, als könnte Rock Coast das hier hinbekommen, sinnierte der Schuelerit beinahe schon erstaunt.

Seit mehr als zwei Jahren arbeitete er nun schon genau auf dieses Ziel hin, doch es eines Tages tatsächlich zu erreichen, daran hatte er nie so recht geglaubt. Er hatte keine Mühen gescheut, allen Gefahren und Risiken zum Trotz, denn er war ja nicht nur ein Mann der Kirche, sondern auch ein zutiefst gläubiger Mensch. Ein Mann musste wissen, wofür er zu sterben bereit war, und diese Frage hatte Sedryk Mahrtynsyn an jenem Tag für sich beantwortet, an dem offiziell der Heilige Krieg ausgerufen worden war. Doch erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er eigentlich nicht damit gerechnet hatte, seine Saat könnte aufgehen und Chisholm durch eine Verschwörung destabilisiert werden.

Heute aber hatte das Zweifeln am eigenen Erfolg ein Ende.

»Euer Durchlaucht, ich bin zutiefst beeindruckt, vor allem davon, dass sich das alles jetzt so geschickt verzahnt. Gewiss ist es als ein Zeichen für Gottes Wohlwollen und Zustimmung anzusehen, dass all dies gerade in jenem Moment geschieht, da General Kahlyns kurz davorsteht, die ganzen neuen Regimenter an die Front zu schicken.«

»Gewiss«, bestätigte Rock Coast. »Aber wir sollten nicht vergessen, dass Gott und die Erzengel jenen helfen, die sich selbst helfen, Pater! Wie viele Menschen wir auch auf unsere Seite ziehen können, bevor wir losschlagen: Wir sind nur eine Minderheit im Königreich Chisholm, zumindest anfänglich. Darüber habe ich bereits mit Black Horse gesprochen. Wir sind beide der Ansicht, dass zunächst einmal wir uns gemeinsam offen und ausdrücklich der Krone entgegenstellen. Die andern sollten nach und nach folgen – wie Dominosteine in einer Reihe. Erst müssen wir unsere Forderungen stellen, und dann müssen die anderen, nach und nach, unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass sie unsere Forderungen nicht nur für gerechtfertigt halten, sondern für zutiefst gerecht. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, die anderen wären Teil eines viel größeren, von langer Hand vorbereiteten Plans. Aber die ›Gewissensentscheidungen‹ der anderen sollten höchsten einen Fünftag auf sich warten lassen. Auf diese Weise wird das Ganze eine völlig eigenständige Schwungkraft entwickeln, die uns nur zum Vorteil gereichen kann.«

»Ich verstehe, was Sie meinen, Euer Durchlaucht«, gab Mahrtynsyn zurück, erneut zutiefst beeindruckt.

»Bislang haben Black Horse und ich das Ganze auf fünf grundlegende Punkte heruntergebrochen«, fuhr Rock Coast fort, schloss eine eisenverstärkte Schublade seines Schreibtischs auf und entnahm ihr ein einzelnes Blatt Papier. »Das meiste davon habe ich mit Ihnen ja schon im Vorfeld besprochen, zumindest grundsätzlich. Aber jetzt haben wir das Ganze in eine mehr oder minder fertige Form gegossen, und dazu würde ich gern Ihre Meinung hören.«

»Selbstverständlich, Euer Durchlaucht.« Mahrtynsyn lehnte sich in seinem Sessel zurück, ließ die Hände in den Ärmels seiner Soutane verschwinden und neigte in konzentrierter Neugier den Kopf.

»Anfangen wollen wir«, hob Rock Coast an und warf einen kurzen Blick auf seine Unterlagen, »mit der Erklärung, dass Sharleyans Eheschließung mit Cayleb null und nichtig ist, da sie offenkundig rechtswidrig geschlossen wurde. Schließlich wurde das traditionelle Recht missachtet, dem zufolge die Verlobung oder Verheiratung des Thronerben vom Oberhaus zu billigen ist. Bei Langhorne, dieses Recht wurde nicht nur missachtet, es wurde schlichtweg ignoriert! Die Frau hat sich einfach vor das Parlament gestellt und uns allen erklärt, sie habe sich bereits entschieden!

Zweitens: Da der Ehevertrag rechtswidrig und somit ungültig ist, gilt Gleiches auch für den Zusammenschluss der beiden Königreiche. Das wiederum bedeutet, dass rechtlich gesehen Chisholm niemals Teil dieser Ungeheuerlichkeit namens Charisianisches Kaiserreich gewesen ist.

Drittens: Es hat Sharleyan und Cayleb nicht ausgereicht, die Verfassung durch eine rechtswidrige Eheschließung und einen ebenso rechtswidrigen Zusammenschluss unabhängiger Königreiche mit Füßen zu treten: Nein, sie haben sich auch noch dazu verschworen, die Rechte und Privilegien, die den Mitgliedern des Oberhauses von alters her zustehen, noch weiter zu beschneiden. Damit setzen sie den Prozess fort, den König Sailys vor all den Jahren rechtswidrig in Gang gesetzt hat – und zwar unter Einsatz roher Gewalt!

Viertens: Diese Farce einer widerrechtlichen Eheschließung hat das Königreich geradewegs in einen ganz und gar unnötigen Krieg gegen Mutter Kirche geführt und damit in direkter Folge Tausenden und Abertausenden von Sharleyans Untertanen den Tod gebracht, ebenso unnötigerweise. Und selbst wenn man einräumt, dass sich Mutter Kirche etwaiger Verbrechen schuldig gemacht haben mag – oder vielmehr einige ihrer Vikare, die in ihrem Namen handeln –, kann weitere Verbrechen zu begehen doch nicht die Lösung dieses Problem sein! Erst recht nicht, wenn nicht zuvor um Wiedergutmachung des entstandenen Schadens ersucht wurde, und zwar vor den kirchlichen Gerichten, die von den gesegneten Erzengeln ja ausdrücklich zu genau diesem Zwecke eingerichtet wurden!

Und fünftens: Um Unterstützung für dieses rechtswidrige, schlichtweg obszöne Lügengebäude zu erhalten, ermutigen und ermuntern Sharleyan und Cayleb den absoluten Abschaum der Gesellschaft, nicht nur Bauern und das Gesindel auf der Straße, sondern sogar ehemalige Leibeigene, sich zu einem gottlosen Bündnis zusammenzuschließen, gegen die Stabilität und die Besitzrechte des Königreichs, um eine … nennen wir es in Ermangelung eines besseren Wortes ›Pöbelherrschaft‹ zu errichten, bei der sich ihre Verbündeten von niederer Geburt nicht nur dem Adel entgegenstellen, sondern auch den Kleineigentümern, den Ladenbesitzern und Handwerksmeistern, die zusammen mit den Bauern schon immer das eigentliche Rückgrat von Chisholm waren.«

Er faltete das Papier zusammen und reichte es dem Unterpriester.

»Gewiss muss an den Formulierungen noch gefeilt werden, Pater, denn ich fühle mich mit Taten ungleich wohler als mit Worten. Aber zumindest wird jetzt der Grundgedanke klar, und das ist schon einmal ein Anfang. Und unter uns gesagt …«, er blickte Mahrtynsyn ruhig und fest in die Augen, »… ein Mann könnte durchaus für ungleich schlechtere Prinzipien als diese in den Tod gehen.«

»Wenn Sie wirklich glauben, das seien Prinzipien, für die es sich zu sterben lohne, Euer Durchlaucht, hätte ich da eine nette schwimmende Insel in der Hsing-wu-Passage für Sie! Kaufen Sie sie mir ab, dann können Sie sich eine hübsche kleine Sommerresidenz darauf errichten«, knurrte Nahrmahn Baytz säuerlich. »Aber Sie sollten die Bauarbeiten abgeschlossen haben, bevor die Insel geschmolzen ist!«

Derzeit war er ›zu Besuch‹ in Owls Hauptprozessor. Eingerichtet hatte Owl diese Verbindung, damit er – die KI war zu dem Schluss gekommen, für sich selbst das männliche Pronomen zu bevorzugen – auf diese Weise Nahrmahns nach wie vor unvollständige virtuelle Persönlichkeit besser aufrechterhalten konnte. Seit die beiden so eng miteinander verbunden waren, hatte Owl für Nahrmahns virtualisiertes Selbst eine Art Gästezimmer eingerichtet, und einen beachtlichen Teil ihrer Datenauswertung führten sie im hyperheuristischen Modus durch.

»Ich habe festgestellt, dass die Menschen im Laufe ihrer Geschichte immer wieder beachtliche Bereitschaft entwickelt haben, sich eine Vielzahl unlogischer ›Prinzipien, für die es sich zu sterben lohnt‹ zu eigen zu machen«, bemerkte Owl. »Mir scheinen die des Herzogs Rock Coast nicht törichter als die vieler anderer.«

»Weißt du was, Owl? Damit hast du leider recht«, räumte Nahrmahn ein. »Natürlich ist es möglich, dass ich in dieser Hinsicht voreingenommen bin. Schließlich war ich nie so töricht, für Prinzipien notfalls auch mein Leben aufs Spiel zu setzen.«

»Meiner Analyse der tatsächlichen Gegebenheiten gemäß ist diese Behauptung nur deswegen zutreffend, weil Sie niemals eine entsprechende Entscheidung treffen mussten«, korrigierte ihn Owl ruhig. »Allerdings will ich wohl einräumen, dass Sie, als Sie sich für den Tod entschieden, dies aus einem deutlich wichtigeren Grund getan haben, als zugunsten eines an sich bedeutungslosen, eigennützigen Prinzips.«

»Allzu viel ›Entscheidung‹ allerdings war dabei nicht im Spiel. Es war vielmehr eine Art automatischer Reaktion.«

»Und im Nachhinein betrachtet: Hätten Sie sich lieber anders entschieden?«, forderte ihn Owl lächelnd heraus.

»Nein«, räumte Nahrmahn ein. Er legte eine elektronische Hand auf die ebenso unstoffliche Schulter der KI und schüttelte sie sanft. »Nein, hätte ich nicht. Diese Runde hast also wohl du gewonnen.«

»Wenn es um Logik und Analyse geht, gewinne ich fast immer«, gab Owl zu bedenken. »Bedauerlicherweise scheinen mir bei Menschen Logik und Analyse immer der letzte Ausweg für Gauner zu sein.«

»Ein Scherz!« Nahrmahn lachte hocherfreut. »Ich habe wirklich einen schlechten Einfluss auf dich, Owl! Wenn das so weitergeht, werden dir beizeiten noch Kalauer glücken!«

»Und dann, da bin ich mir sicher, wird Commander Athrawes genug Mitgefühl aufbringen, um eine vollständige Speicherlöschung meinerseits anzuordnen«, erwiderte Owl.

Nahrmahn lachte laut auf, ehe er sich wieder der aktuellen Aufgabe zuwandte.

Nun, wo die Verschwörer allmählich in die Endphase ihrer Planung kamen, wurde eine ganze Reihe an Schriftstücken hin und her geschickt. Eine andere Möglichkeit blieb ihnen auch kaum, selbst wenn die meisten Schreiben gewissenhaft verbrannt wurden, sobald ihr jeweiliger Empfänger sie erhalten und eingehend studiert hatte. Doch bevor die Schreiben wirklich den Flammen zum Opfer fielen, hatten die Fernsonden der SNARCs von fast allen Briefen klare Bilder angefertigt: Denjenigen, die besagte Schriftstücke so gründlich hatten verschwinden lassen, stünde eine entsetzliche Überraschung bevor, wenn als Beweismittel gegen sie perfekte Kopien davon auftauchten. Natürlich nicht von sämtlichen Briefen, sondern nur von denen mit dem belastendsten Inhalt. Und auch das nur, wo es möglich wäre, jenen, die die Wahrheit nicht kannten, plausibel zu erklären, wie besagte Schriftstücke den Vertretern der Anklage in die Hände gefallen waren. Das bedeutete unter anderem, dass es sich ausschließlich um Schreiben handeln konnte, deren Verbrennung kein Zeuge beobachtet hatte.

Wie praktisch, dass die meisten Verräter dazu neigen, Beweismittel immer schön heimlich, still und leise zu vernichten – ohne Zeugen, dachte Nahrmann. Das wird die Sache für Rock Coast und seine Freunde deutlich erschweren. Ist ja nicht so, als könnten sie sich aus der Affäre ziehen, wenn sie verkündeten, der Anklage könnten die Schreiben unmöglich vorliegen, weil sie vernichtet worden seien. Na, das wäre mal ein Schuldeingeständnis, wie es eindeutiger nicht sein könnte, was?

Leise lachte er in sich hinein, während er über die möglichen Argumente und Winkelzüge der Rechtsgelehrten nachdachte. Die denkbaren Konsequenzen, die diese Prozesse für die gesamte Rechtssprechung von Safehold haben mochten, könnten … interessant sein. Nicht, dass es für die Beschuldigten letztendlich einen sonderlich großen Unterschied machen würde.

Die werden ein öffentliches, ganz und gar faires Verfahren bekommen, bevor wir sie hängen, dachte er. Und das, seine Miene verfinsterte sich, ist deutlich mehr als das, was sie ihrer Gegenseite zuzugestehen bereit sind.

Nun jedoch war es erst einmal an der Zeit, dass die geheimnisvollen Seijins ihre jüngsten Entdeckungen niederschrieben. Er lehnte sich in seinem virtuellen Sessel zurück, blätterte seine Notizen durch und überlegte, welche Textabschnitte er nun in die Handschrift welches Seijins übertragen sollte.

Nahrmann war zu einer bemerkenswerten Erkenntnis gekommen: Wenn man im Jenseits ›das große Spiel‹ auf diesem Niveau betrieb, war der eigene Tod beinahe schon lohnenswert.

.II.

Mahkbyths Weine und Spirituosen,Mylycynt-Hof,Zion,die Tempel-Lande

Das Glöckchen über der Tür klingelte.

»Guten Abend, der Herr! Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Ahrloh Mahkbyth hörte Zhak Myllyrs Stimme nur mit halbem Ohr. Aber wenn Zhak sich nicht umgehend des Kunden angenommen hätte, der soeben das Geschäft betreten hatte, wäre das selbstverständlich anders gewesen. Geräusche aber, die Alltäglichkeit verhießen, reibungslos ablaufende Routine, lenkten Ahrloh nicht von seinem aktuellen Problem ab: Wie und wohin hatte eine ganze Kiste Yu-kwau-Brandy verschwinden können?

Mürrisch ging er zum wiederholten Mal die Bestandsliste durch. Gerade momentan machte es ihm der ganze Papierkram sauer, sein eigenes Geschäft zu führen, obwohl Buchhaltung und Inventarisierung etwas waren, worauf er sich recht gut verstand. Nun, viel und teure Ware zu verlegen war jedenfalls nicht seine Art. Und das ausgerechnet jetzt, wo charisianische Handelsstörer im Golf von Dohlar Ersatzlieferung aus der Alexov-Bucht verhinderten oder zumindest verzögerten! Zhak Myllyr hatte sich sicher nicht an der Kiste vergriffen. Er war eine grundehrliche Haut, von einem einzigen Manko – oder besser: Makel – einmal abgesehen. Nein, eher kehrte Langhorne in Glanz und Gloria zurück, als dass Zhak Myllyr seinen Arbeitgeber bestahl! Zudem hatte Mahkbyth in letzter Zeit reichlich andere und ungleich drängendere Dinge im Kopf gehabt. Unter diesen Umständen wäre es möglich, dass ihm ein ganzes Dutzend Inventarisierungsfehler hätten unterlaufen können. Also: Irgendwo musste die Kiste noch sein! Er brauchte sie nur noch zu finden. Und wenn er sie gefunden hätte, würde er sie bei Gott nicht wieder entkommen las…

»Guten Abend«, hörte Mahkbyth den Kunden antworten, »hätten Sie wohl eine Flasche Seijin Kohdys Premium Blend?«

Schlagartig war der Yu-kwau-Brandy vergessen.

Mahkbyth zwang sich, sich entspannt aufzusetzen, sich zu strecken und beiläufig zu gähnen, ohne dass sein Blick hinüber in den vorderen Teil des Ladengeschäfts ging. Mit einem Achselzucken säuberte er in ebenso aufgezwungener Bedächtigkeit die Schreibfeder, ehe er sie in den Halter zurücksteckte. Erst dann trat er um das Stehpult herum, um ganz beiläufig den Kunden in den Blick zu nehmen, der diesen Wunsch geäußert hatte.

Der Mann war gut gekleidet und auffallend groß, die Augen grau, das blonde Haar erkennbar schütter, und den Kinnbart ergänzte ein auffallend stattlicher Schnurrbart. Als fiele ihm erst jetzt auf, dass nicht nur Myllyr im Laden war, blickte der Kunde kurz über dessen Schulter hinweg zu Mahkbyth hinüber. Sofort aber galt seine Aufmerksamkeit wieder dem Verkäufer, der ihn angesprochen hatte.

»Tatsächlich ja, Sir«, beantwortete Myllyr gerade die Frage. »Ja, ich glaube sagen zu können, dass wir einer der wenigen Läden in ganz Zion sind, die diesen Whisky führen. Den meisten Whiskyfreunden der Tempel-Lande ist er zu torfig. Ich selbst, erlauben Sie mir, das zu sagen, schätze ihn gerade deswegen.«

»Ich ebenfalls«, mischte sich nun Mahkbyth ein. Er trat vor und streckte dem Kunden die Hand entgegen. »Es ist schön, Sie wiederzusehen, Meister Murphai. Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Faible für Seijin Kohdys haben.«

»Meister Mahkbyth!« Sie tauschten einen Händedruck, Murphais Lächeln war herzlich. »Erst kürzlich durfte ich ihn bei einer Freundin, die ihn in den höchsten Tönen lobte, probieren und bin seitdem sehr angetan. Wie Ihr Assistent schon sagte: Sehr torfbetont, aber im Großen und Ganzen angenehm, nicht wahr?«

»Stimmt.« Mahkbyth blickte zu Myllyr hinüber und fuhr, an ihn gewandt, fort: »Zhak, diesen Kunden übernehme ich.«

»Aber …«, setzte Myllyr an.

Energisch schüttelte Mahkbyth den Kopf. »Gehen Sie ruhig schon in Ihre Mittagspause! Ich jedenfalls brauche dringend ein bisschen Abwechslung, ich schiele ja schon, so viel habe ich seit gestern in den Bestandslisten geblättert und gelesen – ohne, Shan-wei sei verdammt, der fehlenden Kiste auf die Spur gekommen zu sein!«

»Wenn Sie meinen, Sir …«

»Klar doch!« Mahkbyth angelte mit zwei Fingern nach einer silbernen Zehntelmark in seiner Hosentasche und schnippte sie dann seinem Angestellten zu. »Falls Sie sich irgendwie schuldig fühlen sollten, mich mit dieser unglaublich schwierigen Aufgabe jetzt allein zu lassen, bringen Sie mir doch auf dem Rückweg von Zhantrys eine Portion Fish’n’Chips mit, aber mit extraviel Essig und mindestens zwei großen sauren Gurken!«

»Jawohl, Sir!« Myllyr, der die Münze geschickt aufgefangen hatte, grinste und griff nach seiner Jacke. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Meister Murphai.«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Murphai freundlich.

Myllyr streifte die Jacke über, schlang sich den Schal um den Hals und öffnete die Ladentür. Das Wetter war mild genug, dass Myllyr beides nicht unbedingt benötigt hätte. Doch nur ein unverbesserlicher Optimist ginge davon aus, im wetterwendischen Zion bliebe das länger als ein, zwei Stunden so. Die Sonne hatte schon Kraft, aber es war erst Anfang Mai. Wo die Sonnenstrahlen für eine Weile hinfielen, schmolzen die Überreste der letzten Schneefälle. Dort, angetaut, über Nacht gefroren, angetaut und wieder gefroren und ordentlich verharscht, schien der Schnee den Stiefeln von Zions geschäftiger Bevölkerung zu weichen. Wo aber keine Sonne hinkam, lag der Schnee immer noch so hoch, dass man fast bis zum Knie darin versank, und mannshoch türmte er sich an den Straßenecken, wohin man all den Schnee vom Bürgersteig und vor den Eingangstüren der Geschäfte geschoben hatte. Was auch immer die trügerisch warme Mittagssonne verhieß: Die Eisdecke auf dem Pei-See brach gerade erst, und aus der Tempel-Bucht oder bei Westwind auch vom See her konnte rasch, schneller, als man »Ohne Vorwarnung« sagen konnte, ungemütlicheres Wetter aufziehen.

Murphai blickte Myllyr nach. Kaum fiel die Tür ins Schloss, suchte er den Blick des Ladeninhabers.

»Schön, Euch zu sehen, Seijin«, sagte dieser in nun völlig anderem Tonfall. »Kommt Ihr von Arbalest?«

»Nicht direkt.« Murphai klang ernst, düster. »Aber ich hatte Kontakt zu ihr. Bitte verzeihen Sie, ich wünschte wirklich, ich hätte früher hier sein können. Aber Arbalest hielt es für das Beste, den Kontakt zu Ihnen zu minimieren, bis wir uns mehr oder minder sicher sein konnten, dass Sie nicht unter Verdacht stehen.«

»Dann seid Ihr Euch also jetzt ›mehr oder minder sicher‹, ja?« Mahkbyth neigte den Kopf zur Seite; sein Lächeln fiel säuerlich aus, beinahe schon bissig.

Murphai schnaubte leise. »Ich mag ein Seijin sein, Ahrloh«, sagte er und verwendete ganz bewusst Mahkbyths normalen Vornamen, nicht seinen ›Helmspalter‹-Codenamen Barcor, »aber allwissend bin ich nicht. Gleichwohl verfüge ich über bessere Quellen als die meisten anderen, und keine davon hat Anzeichen entdeckt, Sie stünden unter Beobachtung. Und ehrlich gestanden sind Sie ein entschieden zu dicker Fisch, als dass man Sie frei herumlaufen ließe in der Hoffnung, Sie führten die Behörden zu den Hintermännern. Ahnten Rayno oder Wynchystair, wer Sie sind, wären Sie unmittelbar nach Rückkehr von Ihrer ›Geschäftsreise‹ verhaftet worden. Und, das möchte ich nicht unterlassen anzumerken, mit besagter Rückkehr haben Sie verdammt noch eins viel Mumm gezeigt.«

»Ja, vielleicht.« Mahkbyth zuckte mit den Schultern. »Nur so konnte ich mir sicher sein, und es ist ja nun nicht so, als hätte ich nicht schon an dem Tag, an dem mich Arbalest angeworben hat, meinen Frieden mit den Erzengeln gemacht. Bitte haltet mich nicht für gleichgültig«, setzte er rasch hinzu, als Murphai fragend eine Augenbraue wölbte, »und ich habe es auch ganz und gar nicht eilig, mich im Himmel zu melden! Aber damals habe ich mich entschieden, dass es diese Sache wert ist, mein Leben zu riskieren, und seitdem hat sich meine Meinung nicht geändert. Aber natürlich würde ich auch gern um die peinliche Befragung oder die Strafen Schuelers herumkommen.«

Nicht mehr nur grimmig klang er bei diesem letzten Satz, sondern eisig – mit einem Stich ins geradezu Boshafte. Kaum merklich drehte er die linke Hand, sodass sich das Licht an dem goldenen Opalring brach, den er an dieser Hand trug.

»Ich weiß nicht, wie es diese Dreckskerle geschafft haben, Brautreif und Castagnette zu verhaften, bevor sich die beiden vergiften konnten. Aber mich davon abzuhalten, werden die richtig große Schwierigkeiten haben!«

»Nun, wenn’s Ihnen beliebt, zöge ich selbst es vor, wenn es nicht dazu käme«, gab Murphai zurück. »Ganz abgesehen davon, dass Arbalest Sie wirklich sehr mag, können wir es uns schlichtweg nicht leisten, Sie zu verlieren, vor allem nach den Verlusten, die wir haben hinnehmen müssen.«

»Ich habe die Nachricht von der Festnahme kaum, dass ich davon erfuhr, weitergegeben«, sagte Mahkbyth mit schwerer Stimme. »Ich hatte allerdings nicht die Zeit herauszufinden, ob die Nachricht auch alle erreicht hat. Andererseits wäre es nicht klug gewesen, miteinander zu reden, hätte auch nur einer von uns unter Verdacht gestanden.«

»Stimmt. Aber mit Stichtag letztem Fünftag kann ich berichten, dass nur zwei Angehörige von Brautreifs Zelle ihr Versteck in Tanshar nicht erreicht haben – bisher nicht. Sie sind auf dem Weg, und ich bin zuversichtlich, dass sie ihr Ziel doch noch erreichen.« In Wahrheit wusste er, dass dem so war. »Ihr Weg war länger, und das Wetter war ihnen nicht gerade hold.«

»Langhorne sei’s gedankt!« Mahkbyth flüsterte die Worte fast. Er schloss die Augen, und als wäre ihm eine schwere Last von den Schultern genommen, entspannte er sich.

»Sie haben sie alle rechtzeitig fortbringen können, Ahrloh.« Der Seijin legte Mahkbyth eine Hand auf die Schulter.

»Brautreifs und Castagnettes Verdienst. Sie haben lange genug durchgehalten, um mir die Gelegenheit dazu zu geben.« Die Stimme rau, und in den Augen glitzerten unvergossene Tränen. »Mögen Langhorne und Bédard ihnen Frieden und ewige Ruhe schenken.«

»Amen«, sagte Murphai leise, und trotz seines Wissens und seiner Meinung über die ›Erzengel‹ war das Wort voll und ganz aufrichtig gemeint.

Einen Moment lang senkte sich Schweigen über das Ladenlokal; schließlich räusperte sich der Seijin.

»Wir haben unglaubliche Gerüchte darüber gehört, was nach der Verhaftung der beiden in Zion passiert ist. Sicher, Gerüchte haben eigentlich immer zumindest einen wahren Kern, aber wie groß der ist …?« Er schüttelte den Kopf.

»Wenn Ihr von den gleichen Gerüchten sprecht, die auch mir zu Ohren gekommen sind, dann ist ›unglaublich‹ eher untertrieben«, gab Mahkbyth zurück.

»Berichten Sie mir, was Sie gehört haben, dann werde ich Gleiches mit Gleichem vergelten«, forderte ihn Murphai auf.

»Na ja, es fängt ja schon damit an, dass …«

Murphai erkannte Mahkbyths Bericht als bemerkenswert ungenaue Version der tatsächlichen Ereignisse. Oder vielmehr: bemerkenswert unvollständige Version. Die entscheidende Botschaft war wohl bis auf die Straße durchgedrungen. Aber was genau sich abgespielt hatte und wie sämtliche Personen innerhalb der Gefängnismauern von Sankt Thyrmyn ums Leben gekommen waren … nein, darüber war wenig nach außen gedrungen. Ernst lauschte Murphai, nickte hin und wieder, und am Ende atmete er tief durch.

»Ja, das sind die gleichen Gerüchte, die mir zugetragen wurden«, bestätigte er dann. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass es weder Dialydd Mab noch ein anderer Seijin war, der durch das Gefängnis gezogen ist, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Nicht, weil wir das nicht gern getan hätten, verstehen Sie mich nicht falsch! Aber solange wir nicht darauf vorbereitet sind, uns auf Zions Straßen offen der Inquisition entgegenzustellen, können wir nicht derart … proaktiv vorgehen. Nun, eines kann ich Ihnen versichern: Es war nicht Grimaldi persönlich, der in Shan-weis Namen die Inquisition angegriffen hat, wie Rayno das Gerücht streuen ließ. Übrigens«, räumte er gedankenvoll ein, »gar kein schlechter Schachzug von ihm.«

»Ihr seid Euch sicher, dass er diese Geschichte hat verbreiten lassen?«

»Nein, sicher bin ich mir natürlich nicht. Aber für mich riecht das ganz nach ihm: Die Vorgehensweise ist ungleich subtiler als Clyntahns übliche.« Nachdenklich strich sich Murphai über den Bart. »Die erste Verteidigungsstrategie ist es immer, gar nichts zu sagen und Tatsachen und Ereignisse so lange wie möglich zu leugnen. In Phase zwei stärkt man dann den eigenen Leuten den Rücken. Man lanciert in die Reihen der Inquisition hinein die Geschichte, es sei ein dämonischer Angriff auf die Wahren Recken von Mutter Kirche gewesen. Natürlich wird das durchsickern, damit ist zu rechnen, wie jedermann weiß. Das passiert unweigerlich, egal wie sehr man immer wieder betont, das Ganze müsse unbedingt vertraulich behandelt werden. Selbst Inquisitoren sind bloß Menschen und tratschen. Je interessanter eine Geschichte, desto schneller verbreitet sie sich. Ich wette darauf, dass die Geschichte sich bald und weit genug herumspricht, um Phase drei einzuläuten: Man wird offiziell verlauten lassen, die Inquisition habe die Wahrheit über die Geschehnisse in Sankt Thyrmyn bewusst geheim gehalten, bis man gründlich nachgeforscht und dämonische Beteiligung belegen konnte. Und wer könnte besser darüber entscheiden als die Hüter der Heiligen Schrift?«

»Nun, stimmt schon, aber wird Rayno wirklich die Öffentlichkeit dazu bekommen, ihm das abzukaufen?«, fragte Mahkbyth skeptisch nach.

»Sie leben schon länger in Zion als ich«, erwiderte Murphai. »Was glauben Sie, wie der Durchschnittseinwohner reagiert?«

Nachdenklich runzelte Mahkbyth die Stirn und schwieg mehrere Sekunden lang. Dann verwandelte sich sein Stirnrunzeln in eine Grimasse des Abscheus.

»Ihr habt recht«, seufzte er. »Jene, die alles anzweifeln, was Clyntahn über die Lippen kommt, werden von vorneherein kein Wort glauben. Das ist nach wie vor eine Minderheit, auch wenn sie in letzter Zeit zahlenmäßig gewachsen ist. Die anderen, die jedem Wort, weil es sein Wort ist, glauben, brauchen eine für sie schlüssige Erklärung – vor allem jetzt, wo in den geheimnisvollen Plakaten und Flugblättern ständig schlechte Nachrichten verbreitet werden, nur darüber nicht.« Sinnierend blickte er Murphai an. »Ich wüsste auch gern, warum dort über die Geschehnisse nicht berichtet wurde. Wisst Ihr nicht zufällig darüber Bescheid, Seijin Murphai?«

»Was denn, ich?« Murphai war die Unschuld in Person. »Seit wir beide das letzte Mal miteinander gesprochen haben, war ich nicht mehr in Zion, Ahrloh.«

»Na, das ist mal eine Antwort, die keine ist!«, meinte Mahkbyth. »Vermutlich ist das auch alles, was ich Euch zu diesem Thema werde entlocken können, oder?«

»Wahrscheinlich«, bestätigte Murphai. »Andererseits: Steckte ich hinter den Flugblättern, und das ist nicht der Fall, würde ich vermutlich mit Enthüllungsgeschichten warten, bis ich die ganze Wahrheit kenne. Bisher verdanken die Flugblätter ihren Erfolg dem Umstand, dass sie keine Unwahrheiten enthielten. Alles, was in ihnen stand, war fehlerfrei und präzise.« Der Seijin zuckte die Achseln. »Die Ereignisse jetzt sind so … fantastisch, dass man sich der Fakten schon sehr sicher sein muss, will man sie darstellen. Obendrein sollte man sich versichern, in welche Richtung die Inquisition ihre Propagandalügen dreht, sobald vertuschen nicht mehr hilft und die Wahrheit ans Licht drängt. Nun, mich jedenfalls würde nicht wundern, wenn diejenigen, die hinter den Flugblättern stecken, sich beim Gedanken an Clyntahn und Rayno ein Grinsen nicht verkneifen könnten. Wie sollten sie auch? Man muss sich ja nur vorstellen, wie … unwohl sich Clyntahn und Rayno in ihrer Haut fühlen müssen. Schlaflose Nächte werden sie haben, während sie darüber nachgrübeln, wie die Ereignisse wohl in den Flugblättern dargestellt werden. Meinen Sie nicht auch?«

Mahkbyth stieß ein raues, zustimmendes Schnauben aus und starrte einen Augenblick gedankenverloren durch das Schaufenster auf die Straße hinaus. Im Mai waren die Tage in Zion noch kurz, selbst wenn das Wetter nicht beschloss, den Himmel über der Stadt unwetterartig zu verfinstern. Im Westen dräuten bereits dunkle Wolken, die das freundliche Sonnenlicht ausschlossen.

»Zhak wird schon bald mit meinen Fish’n’Chips zurückkommen«, sagte er. »Informant der Inquisition hin oder her, er arbeitet hart. Darf ich davon ausgehen, dass Ihr mich zur Fortsetzung dieses Gesprächs heute Abend in der Euch eigenen unauffälligen Art und Weise in meinem bescheidenen Heim besuchen werdet?«

»Wahrscheinlich«, wiederholte Murphai. Er wandte sich zur Seite und warf beiläufig ebenfalls einen Blick durch das Fenster. Myllyr könnte tatsächlich jeden Moment zurückkehren. »Aber bis dahin noch eines: Arbalest hat mich nicht nur hergeschickt, damit ich einmal bei Ihnen vorbeischaue. Sie hat einen Auftrag für Sie.«

»Ach, wirklich?« Plötzlich schienen seine blauen Augen regelrecht zu leuchten. »Rayno? Soll’s dem kranken Schwein endlich an den Kragen gehen?«

»Nein, nicht Rayno.« Bedauernd schüttelte Murphai den Kopf.

»Bei allem Respekt: Arbalest muss uns endlich erlauben, ihn auszuschalten«, ereiferte sich Mahkbyth. »Mit nichts anderem könnten wir Clyntahn effektiver schaden – abgesehen natürlich davon, ihn selbst umzubringen. Es ist an der Zeit, der Inquisition eine unmissverständliche Nachricht zukommen zu lassen. Man mag ja dort alles unter dem Deckel halten, was in Sankt Thyrmyn passiert ist, aber jeder Agenten-Inquisitor, vom frisch gebackenen Laienbruder bis hinauf zum Bischofsinquisitor, weiß ganz genau, dass man zwei aus unseren Reihen lebendig gefasst hat. Das hat den Eindruck der … Unantastbarkeit, der uns bislang umgab, massiv geschadet.«

»Ich verstehe, aber Sie haben ja auch zuvor schon Leute verloren«, erwiderte Murphai. »Hat es Sie wirklich unbeeindruckt gelassen und Ihre Urteilsfähigkeit nicht getrübt, dass Sie als Ahrloh Mahkbyth beide, Brautreif und Castagnette, und als Barcor auch noch Brautreif persönlich gekannt haben?«

»Unbeeindruckt? Nein, natürlich nicht, und ja, ich bin persönlich betroffen. Das war ich immer schon, sonst wäre ich ›Helmspalter‹ nie beigetreten. Aber meine Urteilsfähigkeit getrübt? Nein! Richtet Arbalest aus, dass wir Rayno unbedingt ausschalten müssen – und eine Nachricht an seine Soutane heften, die der ganzen Inquisition erklärt, dass dies die Vergeltung und die gerechte Strafe für das ist, was er zwei unserer Schwestern angetan hat. Soll die Scheiß-Inquisition doch versuchen, damit zurechtzukommen!«

»Das mitzuerleben fände ich in der Tat erhebend«, gab Murphai offen und ehrlich zu. »Aber bedauerlicherweise glaube ich, dass Arbalest recht hat. Derzeit brauchen wir Rayno noch genau dort, wo er ist. Er besitzt, sichtbar oder nicht, tatsächlich einen mäßigenden Einfluss auf Clyntahn. Was Clyntahn alles täte, wenn wir Rayno ausschalten, weiß Gott allein, aber ich wäre bereit zu wetten, dass es zu einem Blutbad käme.« Der Seijin schürzte die Lippen. »Wenn man ausschließlich das Ziel, den Sieg über die ›Vierer-Gruppe‹, im Blick hat, könnte das unter Umständen von Vorteil sein. Ohne Raynos mäßigenden Einfluss wird Clyntahn, sollte die ›Faust Gottes‹ Rayno aus dem Weg räumen, überreagieren und eine so groß angelegte Säuberungsaktion befehlen, dass die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Inquisition in den Augen praktisch der gesamten Bevölkerung Zions untergraben würde. Aber bedenken Sie doch, wie viele Brautreif und Castagnette zu folgen hätten, unzählige Menschen, Unschuldige, Unwissende!«

»Das gebe ich wohl zu«, erwiderte Mahkbyth ungerührt. »Aber früher oder später müssen wir es tun. Und ich meine es ernst: Wir müssen der Inquisition einen Gegenschlag verpassen, einen wirklich harten Schlag! Einen Schlag, der die Moral der Truppe untergräbt, jetzt, wo sie auf ein neues Hoch gestiegen ist, weil sie die ›Faust Gottes‹ verwundbar sieht!«

»Letztendlich wird das, was in Sankt Thyrmyn passiert ist, ja, sogar schon die Gerüchte darüber, voll und ganz ausreichen, um die Moral der Truppe zu untergraben, Ahrloh«, gab Murphai zu bedenken. »Aber das soll nicht heißen, dass Arbalest nicht in zumindest einer Hinsicht ganz Ihrer Meinung ist: Auch sie findet, es sei an der Zeit, Clyntahn eine Nachricht zu senden. Nur wünscht sie nicht, dass der Empfänger der Nachricht Rayno ist. Noch nicht. Sie möchte sich das für eine besondere Gelegenheit aufheben.«

»Und an welche Nachricht hat sie gedacht?«, setzte Mahkbyth nach und kniff die Augen zusammen. »Es wird etwas Besonderes sein, wo sie Euch persönlich zu mir schickt.«

»Oh, glauben Sie mir: Dafür hat sie mich nicht schicken müssen«, gab Murphai zurück. »Dafür habe ich mich freiwillig gemeldet. Eine Zeit lang stand nicht einmal fest, ob ich Ihnen die Nachricht nun überbringe … oder Merlin.«

»Merlin, wirklich?« Wieder trat das Leuchten in Mahkbyths Augen – nicht ganz so strahlend wie zuvor, aber doch unverkennbar.

»Ja, wirklich«, bestätigte Murphai. »Den Großinquisitor haben die Ereignisse in Sankt Thyrmyn gehörig aufgeschreckt. Deswegen hat er beschlossen, allen anderen Feuer unter dem Hintern zu machen. Mir scheint, er steht kurz davor, ein Exempel auf höchster Ebene zu statuieren. Meine Idealvorstellung wäre, es wäre Rayno, den sein Zorn träfe, dann bräuchten wir uns um den nicht mehr selbst zu kümmern. Es bräche mir nicht gerade das Herz, den freundlichen Herrn Erzbischof auf dem Platz der Märtyrer wiederzusehen.«

»Zu dem Spektakel brächte ich sogar Knabbereien mit!«

»Dacht’ ich’s mir. Nur leider wird das nicht passieren, nicht heute und nicht morgen. Andererseits scheint die Lage in den Randstaaten allmählich schlimm genug, dass Inquisitor-General Wylbyr für ein persönliches ›Gespräch‹ mit Vikar Zhaspahr nach Zion zurückbeordert wurde.«

»Arbalest glaubt, Clyntahn werde an Edwyrds die Strafen Schuelers vollziehen lassen?« Mahkbyth klang skeptisch, und Murphai konnte es ihm nicht verdenken.

»Ausgerechnet den Mann umbringen zu lassen, den der Großinquisitor persönlich dafür ausgewählt hat, die Siddarmark in den Schoß von Mutter Kirche zurückzuholen? Nein, das dürfte für die breite Masse doch zu demoralisierend wirken«, bestätigte Murphai. »Clyntahn mag zwar schon ernsthafter darüber nachdenken, als noch vor vielleicht einem Monat, aber nein, auch das wird nicht passieren. Er will wohl dem Inquisitor-General eine gehörige Standpauke halten und ihn dann wieder an die Front zurückschicken, damit allen Inquisitoren in den Randstaaten, in Tarikah und in Westmarch Beine gemacht werden. Dialydds liebevolle Fürsorge vor Ort scheint ihren Enthusiasmus doch erkennbar gedämpft zu haben.«

Das Lächeln, das die beiden Männer tauschten, hätte einem Kraken alle Ehre gemacht.

»Aber auch das wird nicht passieren«, fuhr der Seijin dann fort. »Zufälligerweise habe wir einen Informanten, der uns genauestens über Edwyrds Zeitplan in Kenntnis setzen wird. Wir werden also ganz genau wissen, wann, wo und auf welchem Wege er in Zion eintrifft – und ›Helmspalter‹ wird ihn erwarten.«

»Wir dürfen Edwyrds ausschalten?« Mahkbyth fasste den Plan noch einmal zusammen, als wollte er sich vergewissern, sich nicht verhört zu haben.