Nimue Alban: Die Übermacht - David Weber - E-Book

Nimue Alban: Die Übermacht E-Book

David Weber

3,9
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das neue Abenteuer der Nimue-Alban-Reihe! Spektakuläre Abenteuer-SF um den Neubeginn der menschlichen Kultur auf einer fremden Welt. Die Anwendung fortschrittlicher Technik ist untersagt, denn die Menschen dürfen nicht aufgespürt werden: Eine feindliche Spezies hat sie von der Erde vertrieben und dabei fast ausgelöscht. Die ehemalige Offizierin Nimue Alban führt auf der neuen Welt einen harten Kampf gegen die totalitäre Kirche - mit Dampf- und Turbinentechnik. Doch wie soll sie einen Feind bezwingen, der ihr um das 15-fache überlegen ist?

"Hochgradige Empfehlung!" SFRevu.com

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 683

Bewertungen
3,9 (18 Bewertungen)
8
2
6
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Februar, im Jahr Gottes 895

.I.

.II.

.III.

.IV.

März, im Jahr Gottes 895

.I.

.II.

.III.

April, im Jahr Gottes 895

.I.

.II.

.III.

.IV.

.V.

.VI.

.VII.

.VIII.

Mai, im Jahr Gottes 895

.I.

.II.

.III.

Juni, im Jahr Gottes 895

.I.

.II.

.III.

.IV.

.V.

.VI.

.VII.

.VIII.

.IX.

.X.

.XI.

Charaktere

Glossar

Über den Autor

David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der HONOR-HARRINGTON-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.

David Weber

NIMUE ALBAN:

DIEÜBER-MACHT

Aus dem Amerikanischen vonUlf Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

© 2011 by David Weber

Titel der Originalausgabe: »How Firm a Foundation« (Teil 1)

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2012/2014 by Bastei Lübbe AG

This work was negotiated through Literary Agency

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen,

on behalf of St. Martin’s Press, L.L.C.

Textredaktion: Beate Ritgen-Brandenburg

Lektorat: Ruggero Leò

Titelillustration: Arndt Drechsler

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-1566-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

In Liebe Alice G. Weber gewidmet.He, Mom, schau! Ich hab’s geschafft!

Februar,im Jahr Gottes 895

.I.

Schiffbruch-Inseln, Großer Westozean,Kaiserlicher Palast, Cherayth,Königreich Chisholm,undEhdwyrd Howsmyns Arbeitszimmer,Delthak, Altes Königreich Charis

Noch dunkler kann eine Nacht kaum werden, dachte Merlin Athrawes und blickte zum wolkenverhangenen, stürmischen Himmel hinauf. Der Wolken wegen waren weder Mond noch Sterne zu sehen. Eigentlich war zu dieser Jahreszeit auf Safeholds südlicher Hemisphäre Sommer. Aber die Schiffbruch-Inseln lagen beinahe viertausend Meilen südlich des Äquators. Zudem waren auf Safehold die Durchschnittstemperaturen ohnehin ein wenig niedriger als auf Terra. Damit war ›Sommer‹ ein sehr relativer Begriff. Wieder einmal dachte Merlin darüber nach, wie diese Inselgruppe wohl zu ihrem Namen gekommen war.

Insgesamt waren es vier Inseln, und keine einzige davon hatte je einen eigenen Namen erhalten. Die größte Insel maß an ihrer breitesten Stelle weniger als zweihundertfünfzig, die kleinste nicht einmal siebenundzwanzig Meilen. Es gab einige wenige Arten arktischer Wyvern und Seehunde (der Terra-Spezies gleichen Namens tatsächlich recht ähnlich), die sich an den schmalen Ständen tummelten. Aber abgesehen davon hatte Merlin bislang noch keine Lebensformen auf den Inselchen entdeckt. Es waren Inseln aus kargen, schroffen Klippen und nacktem Fels, die aus dem Großen Westozean aufragten. Es war daher nicht schwer, sich vorzustellen, dass Schiffe, die sich näherten, auf Grund laufen oder an den Klippen zerschellen könnten. Aber Merlin verstand nicht, warum sich ein Schiff überhaupt in dieser Gegend aufhalten sollte und wie es noch überlebende Schiffbrüchige hatte geben können, denen die Inseln den Namen verdankten.

Der Name stammte, wie Merlin wusste, nicht bereits von den Terraformierungsteams, die einst Safehold für menschliche Besiedlung vorbereitet hatten. Merlin hatte Zugriff auf Pei Shan-weis Originalkarten, und darauf war für diese armseligen Brocken wind- und wettergepeitschter Eilande aus Eruptivgestein, Sand und Kies kein Name verzeichnet. Überall auf dem Planeten gab es immer noch unbenannte Regionen – trotz der detaillierten Atlanten, die Teil der Heiligen Schrift der Kirche des Verheißenen waren. Es waren allerdings deutlich weniger als seinerzeit (was hieß: kurz nachdem Shan-wei und der Rest der Alexandria-Enklave ermordet worden waren). Merlin fand es aus historischen Gründen faszinierend, welche dieser Regionen erst einen Namen erhalten hatten, nachdem sich bei den Nachfahren der ursprünglichen Kolonisten das ursprüngliche Standardenglisch zu den derzeitigen Dialekten verschliffen hatte.

Aber Merlin war nicht hier, um etymologische Recherchen zur planetaren Linguistik zu betreiben. Daher wandte er dem heulenden Wind den Rücken zu und überprüfte den letzten der Emitter.

Das Gerät war etwa halb so groß wie er selbst, dabei etwa vier Fuß breit: eine nichts sagende Kiste, die an jeder Seite eine Reihe derzeit geschlossener Zugangspaneele besaß. Über die vier kleinen Inseln waren mehrere ähnliche Geräte verteilt – einige etwas größer, die meisten von gleicher Größe oder sogar kleiner. Nun öffnete Merlin eines der Paneele und musterte die leuchtenden LEDs.

Eigentlich hätte er das nicht zu tun brauchen. Er hätte sein eingebautes Com nutzen und alles mit der künstlichen Intelligenz namens Owl besprechen können. Denn schließlich würde die KI ohnehin einen Großteil der eigentlichen Experimente durchführen. Auch die LEDs hätte Merlin eigentlich nicht benötigt. Selbst das sturmgepeitschte Zwielicht hier reichte ihm aus, um seine Umgebung taghell wahrzunehmen. Es hatte wirklich einige Vorteile, wenn man schon fast tausend Standardjahre tot war: Unter anderem war sein PICA-Körper gegen Unannehmlichkeiten wie Unterkühlung gefeit. Mittlerweile hatte Merlin viele dieser Vorteile immens zu schätzen gelernt – ungleich mehr als seinerzeit, als er noch eine lebende, atmende junge Frau namens Nimue Alban gewesen war, die ihren PICA nur hin und wieder benutzt hatte. Das hielt Merlin Athrawes allerdings nicht davon ab, sehr zu vermissen, nicht mehr besagte junge Frau zu sein.

Diesen Gedanken verdrängte er nun – es fiel ihm nicht leicht, aber er hatte mittlerweile reichlich Übung darin. Mit einem befriedigten Nicken schloss er das Abdeckpaneel. Dann schritt Merlin über felsigen Grund zu seinem Aufklärer-Schwebeboot, erklomm die kurze Leiter und nahm im Cockpit Platz. Einen Moment später stieg das kleine Fahrzeug schon auf seinem KontraGrav-Kissen auf. Turbinen kompensierten den peitschenden Wind, während das Schwebeboot rasch auf zwanzigtausend Fuß Höhe ging. Das Schiff durchbrach die dichte Wolkendecke und stieg weitere viertausend Fuß auf. In der dortigen, deutlich weniger bewegten Luft ging es dann in die Horizontale.

Hier oben, oberhalb des Sturms, gab es reichlich Mondlicht. Merlin blickte in die Tiefe, genoss die Schönheit der schwarzen, silbern beschienenen Wolkenberge. Schließlich atmete er tief durch – aus reiner Gewohnheit, nicht weil er tatsächlich hätte atmen müssen – und ging an die Arbeit.

»Also gut, Owl. Phase eins aktivieren.«

»Aktiviert, Lieutenant Commander«, erwiderte der Computer aus seinem Versteck. Die Höhle, die tief unter Safeholds höchstem Berg verborgen lag, war im Augenblick beinahe dreizehntausend Meilen von Merlins derzeitigem Aufenthaltsort entfernt. Die Signale zwischen dem Aufklärer-Schwebeboot und dem Computer wurden über die selbsttätig navigierenden, autonomen Aufklärer- und Kommunikationsplattformen weitergeleitet, die Merlin rings um den gesamten Planeten im Orbit ausgesetzt hatte. Diese hervorragend getarnten, fusionsbetriebenen SNARCs waren die tödlichsten Waffen in Merlins Arsenal. Er musste sich oft auf sie verlassen. Denn sie verliehen ihm und einer Hand voll Menschen, die in sein Geheimnis eingeweiht waren, Kommunikations- und Aufklärungsmöglichkeiten, mit denen es niemand sonst auf diesem Planeten aufnehmen konnte.

Bedauerlicherweise bedeutete das nicht, dass es nicht jemanden, besser etwas, jenseits des Planeten gab, das es durchaus mit ihnen aufnehmen konnte – oder Merlins SNARCs an Leistungsfähigkeit sogar noch überlegen war. Und genau darum ging es bei diesem Experiment.

Merlin hatte die Schiffbruch-Inseln mit Bedacht ausgewählt. Sie waren wirklich sehr abgelegen: Von hier aus waren es elftausend Meilen bis zum Tempel, fast neuntausend Meilen bis nach Tellesberg und mehr als siebentausend Meilen bis nach Cherayth. Selbst die Ödlande, die nächstgelegene Region, in der es überhaupt Siedler gab, waren noch rund dreitausend Meilen weit entfernt. Niemand würde sehen, was hier geschehen sollte. Und niemand (abgesehen von besagten Wyvern und Seehunden) würde das Leben verlieren, sollte es … unschön werden.

Im Augenblick ließen die Sensordaten auf den Anzeigen des Aufklärer-Schwebeboots das allerdings nicht erwarten. Tatsächlich meldeten sie gerade, dass es auf den Inseln in einem halben Dutzend Städte und Dörfer mehrere tausend Menschen gäbe – allesamt erkannt an ihrer Thermosignatur. Eine Stadt befand sich angeblich genau dort, wo Merlin gerade eben das Gerät überprüft hatte, mehr als zwanzigtausend Fuß unterhalb des Schwebeboots. Denn genau dort hatte Owl besagtes Gerät aktiviert. Wer mit dem bloßen Auge diese Insel betrachtet hätte, dem wäre nichts aufgefallen. Die Sensoren des Schwebeboots aber hatten die neue Wärmequelle augenblicklich aufgespürt.

Merlin lehnte sich zurück und beobachtete die Thermosignatur: Die Temperatur stieg auf beinahe fünfhundert Grad Fahrenheit – diese Skala hatte vor fast neunhundert Safehold-Jahren Eric Langhorne den Kolonisten aufgezwungen, nachdem er sie einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen hatte. Als diese fünfhundert Grad erreicht waren, gab es keine weitere Änderung mehr. Hätte man den Ort auf der kleinen Insel mit Menschen- oder PICA-Augen betrachtet, so hätte man bemerkt, dass dort nun Dampf aufstieg. Es war nicht allzu viel Dampf, und der Wind trug die kleine Dampfwolke auch fast rascher davon, als sie überhaupt entstehen konnte. Doch die Sensoren hatten sie trotzdem bemerkt, und sie hatten auch erkannt, dass die Dampfentwicklung in Zyklen verlief. Nur eine künstliche Wärmequelle konnte ein solch regelmäßiges Muster entstehen lassen. Merlin wartete weitere fünf Minuten ab und beobachtete dabei unablässig die Instrumente.

»Irgendeine Reaktion der kinetischen Plattformen, Owl?«, fragte er dann.

»Negativ, Lieutenant Commander«, erwiderte die KI ruhig.

»Dann jetzt Phase zwei einleiten.«

»Eingeleitet, Lieutenant Commander.«

Einen Augenblick später orteten die Sensoren weitere Wärmequellen. Zunächst nur eine einzige Quelle, dann zwei, schließlich ein halbes Dutzend. Zwei Dutzend. Es wurden mehr und mehr, verstreut über alle vier Inseln, einzeln oder in Gruppen, alle im gleichen Temperaturbereich, aber von unterschiedlicher Größe. Und von ihnen allen stiegen diese kegelförmigen Dampfwölkchen auf. Die Zyklen waren nicht identisch; die Dampfwolken wurden verschieden groß und blieben verschieden lange erkennbar. Doch sie alle waren unverkennbar künstlichen Ursprungs.

Reglos saß Merlin da, beobachtete seine Instrumente, wartete. Fünf weitere Minuten verstrichen. Dann zehn. Fünfzehn.

»Jetzt eine Reaktion der kinetischen Plattformen, Owl?«

»Negativ, Lieutenant Commander.«

»Gut! Das ist wirklich gut, Owl!«

Dieses Mal antwortete der Computer nicht. Eigentlich hatte Merlin auch nicht mit einer Antwort gerechnet. Dabei zeigte Owl allmählich tatsächlich zumindest erste Ansätze der eigenständigen Persönlichkeit, die das Betriebshandbuch Merlin fest versprochen hatte. Es hatte besagt, die KI werde eine eigene Persönlichkeit entwickeln … irgendwann. Inzwischen hatte die KI wirklich hin und wieder spontane Antworten gegeben und eigenständig Interpolationen vorgenommen, aber nur sehr selten Merlin gegenüber. Wo er jetzt darüber nachdachte, bemerkte er, dass fast alle diese spontanen Reaktionen der KI Kaiserin Sharleyan galten. Merlin fragte sich, woran das wohl liegen mochte. Allerdings rechnete er nicht damit, das jemals herauszufinden. Selbst damals in der Terra-Föderation hatten KIs recht häufig eigenwillige Persönlichkeiten gezeigt. Auf manche Menschen reagierten sie einfach besser als auf andere. Das galt sogar für KIs der Klasse I, der Owl eindeutig nicht angehörte.

»Phase drei aktivieren«, befahl Merlin nun.

»Aktiviert, Lieutenant Commander.«

Hätte Merlin noch aus Fleisch und Blut bestanden, wäre er noch ein echter Mensch gewesen, dann hätte er jetzt angespannt den Atem angehalten. Die Sensoren meldeten ihm, etwa zwei Drittel der Dampf-Signaturen hätten sich in Bewegung gesetzt. Die meisten bewegten sich recht langsam und auf sonderbar verschlungenen Pfaden, stockten hin und wieder und bewegten sich dann weiter, bogen abrupt ab und liefen dann kurze Strecken schnurgerade. Andere hingegen waren nicht nur deutlich größer und auffälliger, sondern bewegten sich sehr viel rascher und gleichmäßiger … fast als liefen sie auf Schienen.

Merlin schaute zu, wie die langsameren Thermosignaturen kreuz und quer durch das simulierte Straßennetz von ebenso simulierten Städten und Dörfern zogen, während die größeren, schnelleren sich rasch zwischen Ballungsszentren ihrer kleineren Geschwister hin und her bewegten. Immer noch schien nichts zu passieren. Merlin zwang sich dazu, eine halbe Stunde abzuwarten, bevor er nachfragte.

»Immer noch keine Reaktion der Plattformen, Owl?«

»Negativ, Lieutenant Commander.«

»Fangen wir einen Signalaustausch zwischen den Plattformen und dem Tempel auf?«

»Negativ, Lieutenant Commander.«

»Gut!« Dieses Mal klang Merlin noch enthusiastischer als zuvor. Er ertappte sich selbst bei einem breiten Grinsen. Dann lehnte er sich in seinem Andrucksessel zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blickte zu dem Mond empor – jenem Mond, der für ihn, den Terrageborenen, immer ein wenig falsch aussah. Auch die Sterne am Himmel zeigten ein Muster, das kein terranischer Astronom jemals beobachtet hatte. »Eine Stunde geben wir ihnen noch«, entschied er. »Sag mir sofort Bescheid, wenn du irgendetwas von den Plattformen auffängst oder vom Tempel – ganz egal was! Ich möchte über jeden Signalaustausch zwischen den Plattformen und dem Tempel informiert werden.«

»Verstanden, Lieutenant Commander.«

»Während wir warten, kannst du mir gleich meinen Anteil an den markierten Aufzeichnungen der SNARCs schicken.«

»Jawohl, Lieutenant Commander.«

»Na ja«, sagte Merlin mehrere Stunden später, während sein Schwebeboot in nordwestlicher Richtung über die östlichsten Ausläufer von Carters Ozean hinweg Cherayth entgegenjagte. »Ich muss sagen, bislang sieht es ziemlich gut aus.«

»Trotzdem hättet Ihr uns sagen können, dass Ihr Eure kleine Versuchsreihe startet!«

Cayleb Ahrmahk, Kaiser von Charis und König des Alten Königreichs Charis, klang ein wenig gereizt – was Merlin jedoch nur mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm. Im Augenblick saßen Kaiserin Sharleyan und der Kaiser einander am Frühstückstisch gegenüber. Die Teller waren bereits abgeräumt. Cayleb hielt immer noch eine Tasse heiße Schokolade in der Hand. Eine zweite Tasse stand vor Sharleyan. Doch sie war im Augenblick viel zu sehr damit beschäftigt, ihre kleine Tochter, Prinzessin Alahnah, zu stillen, um selbst einen Schluck zu trinken. Geradezu deprimierend jung war die Morgensonne, die durch das vereiste Fenster hinter Caylebs Sessel fiel. Sergeant Edwyrd Seahamper stand vor der Tür des kleinen Speisezimmers, um den Regenten wenigstens ein wenig Privatsphäre zu verschaffen.

Ebenso wie das kaiserliche Paar hörte auch Seahamper Merlins Stimme. Möglich war das nur durch einen fast unsichtbaren, transparenten kleinen Ohrhörer. Im Gegensatz zu seinen Regenten war der Sergeant nicht in der Lage, sich aktiv an diesem Gespräch zu beteiligen. Denn er hatte (wieder im Gegensatz zu seinen Regenten) niemanden, der ihn bewachte und dafür sorgte, dass niemand zufällig vorbeikam und miterlebte, wie besagter Sergeant anscheinend Selbstgespräche führte.

»Ich hatte Euch gesagt, dass ich diesen Test so rasch wie möglich durchführen wollte, Cayleb – sobald Owl und ich die letzten Eloka-Emitter vor Ort hätten«, gab Merlin nun milde zurück. »Und Ihr und Sharleyan wusstet auch, dass Seijin Merlin die nächsten Tage in stiller Meditation verbringen würde. Das war die Tarngeschichte, um die Tests durchführen zu können, wenn ich mich recht erinnere. Ich möchte dezent darauf hinweisen, dass mein Gedächtnis nicht auf fehlbare organische Komponenten angewiesen ist.«

»Sehr witzig, Merlin!«, gab Cayleb zurück.

»Ach, jetzt sei doch nicht so ein Erbsenzähler, Cayleb!«, schalt ihn Sharleyan lächelnd. »Alahnah hat uns letzte Nacht durchschlafen lassen. Wenn Merlin also bereit war, uns ebenfalls unseren Schlaf zu gönnen, bin ich die Letzte, die sich darüber beschwert! Außerdem, Liebster, glaube ich nicht, dass sich aus den Reihen unserer Ratgeber jemand beklagen würde, weil du letzte Nacht auch ein bisschen mehr zur Ruhe gekommen bist als sonst. In letzter Zeit warst du häufig ein wenig grantig.«

Cayleb warf ihr einen beleidigten Blick zu. Doch Sharleyan schüttelte nur den Kopf.

»Bitte fahrt mit Eurem Bericht fort, Merlin!«, sagte sie dann. »Bevor Cayleb noch etwas herausrutscht, was wir dann bedauern, egal, ob er es tut oder nicht!«

Vom fünften und letzten Teilnehmer des Gespräch stammte der Laut, der bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem erstickten Lachen hatte.

»Das habe ich gehört, Ehdwyrd!«, maulte Cayleb.

»Ich weiß wirklich nicht, was Ihr meint, Euer Majestät. Oh, Entschuldigung, Euer Durchlaucht! Schließlich befinden Ihr Euch ja derzeit in Chisholm«, erwiderte Ehdwyrd Howsmyn unschuldig aus seinem Studierzimmer im weit entfernten Alten Königreich Charis.

»Klar, war ja zu erwarten! Sie wissen nicht, was ich meine – ha!«

»Ach, still jetzt, Cayleb!« Unter dem Frühstückstisch versetzte Sharleyan ihrem Gemahl einen Tritt gegen das Schienbein. »Sprecht weiter, Merlin, rasch!«

»Euer Wunsch ist mir Befehl, Eure Majestät«, versicherte Merlin ihr. Cayleb indes massierte sich mit der rechten Hand das schmerzende Schienbein und tat, als drohe er ihr mit der zur Faust geballten Linken.

»Wie ich schon sagte«, fuhr Merlin fort und klang nun deutlich sachlicher als zuvor, »sieht bislang alles recht gut aus. Die Sensoren des Schwebeboots ebenso wie die SNARCs, die Owl für mich überwacht, melden, es gäbe dort eine Vielzahl Dampfmaschinen, die entweder stationär arbeiten oder kreuz und quer durch die Landschaft tuckern. Das läuft jetzt schon seit mehr als sieben Stunden so. Bislang haben darauf weder die Plattformen für kinetisches Bombardement reagiert noch die Energiequelle unterhalb des Tempels, bei der ich nicht genau weiß, für welche Aufgaben sie Energie bereitstellt. Wir gehen davon aus, dass die ›Erzengel‹ tatsächlich eine Art automatisiertes Technologieüberwachungssystem eingerichtet haben, das jegliche unzulässig hochentwickelte Technologie umgehend zerstört. Wenn dem so ist, scheinen Dampfmaschinen noch nicht hochentwickelt genug zu sein, um den Alarm auszulösen.«

»Ich wünschte beinahe schon, wir hätten denen wenigstens irgendeine Reaktion entlockt«, meinte Cayleb. Der gespielt-finstere Blick für Sharleyan war Nachdenklichkeit gewichen. »Mir wäre lieber gewesen, wenn die Plattformen so etwas wie ›Schaut mal, ich habe Dampfmaschinen gefunden!‹ an den Tempel geschickt hätte und dann nichts passiert wäre. Dann nämlich wüssten wir ganz sicher, dass es eine Art Meldeschleife gibt und diesem Ding unter dem verdammten Tempel Bericht erstattet wird. So aber könnte irgendetwas dieses Ding unter dem Tempel dazu bringen, seine Meinung zu ändern und später doch noch einen Vernichtungsbefehl auszugeben – sei er auf Eure Maschinen bezogen oder auf irgendetwas ganz anderes.«

»Von diesen ganzen Gedankenspielchen bekomme ich Kopfschmerzen«, klagte Sharleyan. Ihr Gatte blickte sie fragend an, und sie zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe ja, was du meinst. Aber es ist zu früh am Morgen, um derart um die Ecke zu denken.«

»Auch ich begreife, was Ihr meint, Cayleb«, sagte Merlin. »Aber im Gegensatz zu Euch passt mir, dass das nicht passiert ist. In gewisser Weise wäre es eine Erleichterung, ganz klar. Nur: Über den Entscheidungsfindungsprozess würde das nichts aussagen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich bin erleichtert, dass wir mit unserem kleinen Experiment dieses ›Ding unter dem Tempel‹, wie Ihr es nennt, nicht geweckt haben. Wir wollen ja nun wirklich nicht, dass bei dieser ganzen Sache plötzlich noch ein unberechenbarer Faktor mitmischt, oder? Vor allem ein Faktor, der die Waagschale zugunsten der ›Vierer-Gruppe‹ senkt!«

»Der Gedanke hat etwas für sich«, gestand Cayleb ein, und Sharleyan nickte nachdrücklich.

Keiner von ihnen war sonderlich glücklich über die Energiesignaturen, die Merlin unter dem Tempel entdeckt hatte. Natürlich waren die beiden auf Safehold geborenen Regenten nicht mit der Technologie vertraut, die dahintersteckte. Das wenige, was sie wussten, war hauptsächlich theoretischer Natur und erschreckend unvollständig. Doch sie waren mehr als bereit, Merlin und Owl beim Wort zu nehmen: Diese Signaturen waren ein Hinweis, dass sich unter dem Tempel, der auf wundersame Weise immer angenehm temperiert und gut belüftet war, mehr als nur ein Klimaanlagensystem befand. Cayleb hatte Recht: Es wäre natürlich hilfreich gewesen, zu wissen, was für diese zusätzlichen Energiesignaturen verantwortlich war – zu wissen, dass diese geheimnisvollen Systeme nicht doch beizeiten die Plattformen auf ihrer Umlaufbahn um Safehold zu kinetischem Bombardement animieren würden. Schließlich war auf genau diese Art und Weise vor neunhundert Jahren die Alexandria-Enklave in das Armageddon-Riff verwandelt worden. Es war daher denkbar, dass das erste Auftreten von Dampfmaschinen auf Safehold zu einem neuerlichen Angriff führte. Andererseits: Was auch immer sich unter dem Tempel befand (vorausgesetzt, es befand sich dort tatsächlich etwas, und Merlin und seine Verbündeten waren nicht nur in sehr kreativer Weise paranoid), schien im Augenblick noch zu ›schlafen‹. Es dabei zu belassen, und zwar so lange wie möglich, klang tatsächlich sehr vernünftig.

»Ich muss Euch Recht geben, Merlin«, meldete sich Howsmyn zu Wort. »Aber falls wir uns doch täuschen sollten, bin ich vermutlich derjenige, der am ehesten kinetisches Bombardement über sich ergehen lassen muss. Deswegen muss ich zugeben, dass ich mir doch ein wenig Sorgen mache, inwieweit sich Hartnäckigkeit unsererseits auf das Verhalten der Plattformen auswirken könnte.«

»Deswegen habe ich ja auch gesagt, bislang sieht es ziemlich gut aus«, gab Merlin zurück und nickte bestätigend, obwohl keiner seiner Gesprächspartner ihn sehen konnte. »Es ist durchaus möglich, dass ein eingebauter Filter in den Sensoren dieser Plattformen sämtliche Signale über einen Zeitverlauf integriert. Ich weiß, wie verführerisch der Gedanke ist, die ›Erzengel‹ nur für größenwahnsinnige Irre zu halten. Aber wahnsinnig waren sie ja nun nicht. Deswegen dürfen wir eines als Tatsache ansehen: Derjenige, der das Ruder übernommen hat, als Langhorne durch die Hand von Commodore Pei starb, war sicher schlau genug, den ›Rakurai‹ nicht bei jeder kleinen Übertretung der Ächtungen zu entfesseln. Mir fallen spontan mehrere gänzlich natürliche Phänomene ein, die man auf den ersten Blick für genau die industriellen oder technologischen Prozesse halten könnte, die die Ächtungen eigentlich verhindern sollen. Deswegen bin ich überzeugt davon, dass Langhornes Nachfolger die gleiche Möglichkeit einkalkuliert hat.

Zumindest im Augenblick lassen wir die Sensoren der Plattformen auf mehreren Inseln ein komplexes Durcheinander offenkundig künstlicher Wärmequellen orten, insgesamt verteilt über ein Areal von etwa hunderttausend Quadratmeilen. Bei genauerer Beobachtung werden die Sensoren feststellen, dass es sich um ›Dampfmaschinen‹ handelt. Und Owl wird diese simulierten Maschinen ein- und ausschalten, als würden ›Eisenbahnen‹ regelmäßig an verschiedenen ›Bahnhöfen‹ halten.« Merlin zuckte mit den Schultern. »Wir haben genug Energie, um die Emitter mehrere Monate lang ununterbrochen arbeiten zu lassen, und Owls Fernsonden kommen auch mit allen Schwierigkeiten zurecht, die sich innerhalb dieser Zeitspanne ergeben könnten. Ich schlage vor, abzuwarten. Lassen wir diese ›Züge‹ doch einen oder zwei Monate lang ›fahren‹! Sollten wir in all der Zeit den Plattformen oder dieser Energiequelle unterhalb des Tempels keinerlei Reaktion entlocken, können wir uns meines Erachtens gefahrlos an die Entwicklung von Dampfmaschinen machen. Und viel weiter sind wir ja noch nicht! Ich bin noch längst nicht bereit, Experimente zu unternehmen, um herauszufinden, wie die kinetischen Plattformen auf Elektrizität reagieren. Aber schon Dampfmaschinen würden uns einen gewaltigen Vorteil verschaffen, selbst wenn wir sie vorerst nur für reine Antriebsvorgänge nutzten.«

»Das gewiss«, stimmte Howsmyn nachdrücklich zu. »Die Hydraulikspeicher sind eine enorme Hilfe. Gott sei Dank, dass Pater Paityr die abgesegnet hat! Aber die sind groß, schwerfällig und teuer. In den Bergbaugebieten kann ich sie nicht aufstellen. Sobald aber Dampfmaschinen benutzt werden dürfen, um die Loren statt von Drachen über die Schienen vor den Gießereien zu ziehen, dauert es nicht mehr lange, bevor ein findiger Geist bemerkt, welche Möglichkeiten sich aus einem regelrechten Schienennetz ergeben würden.« Er stieß ein belustigtes Schnauben aus. »Und selbst wenn niemand sonst auf diese Idee kommen sollte: Sind die Dampfmaschinen erst ein paar Monate lang in den Gießereien eingesetzt worden, dürfte ich ja wohl notfalls auch selbst wieder einmal eine ›Eingebung‹ haben. Allmählich erarbeite ich mir den Ruf, genial zu sein!«

Er schaffte es, bei seinem letzten Satz geradezu unerträglich selbstgefällig zu klingen. Merlin lachte stillvergnügt in sich hinein, als er sich vorstellte, wie der Eisenhüttenbesitzer gerade die Nase emporreckte und über das ganze Gesicht grinste.

»Besser Sie erfinden die Eisenbahn als ich – und das aus wer weiß wie vielen guten Gründen«, bemerkte Merlin trocken.

»Alles schön und gut«, warf nun Sharleyan ein, »und ich teile durchaus Ihre Einschätzung der Lage, Ehdwyrd. Aber damit kommen wir wohl schon zum nächsten Knackpunkt.«

»Ihr meint, wie wir Pater Paityr dazu bringen, das Konzept von Dampfmaschinen abzusegnen, ja?«, griff Howsmyn den Gedanken sofort auf. Nun klang er deutlich düsterer.

»Ganz genau.« Sharleyan verzog das Gesicht. »Ich mag ihn ja wirklich gern, und ich bewundere und respektiere ihn auch. Aber diese Maschinen gehen weit über alles hinaus, was den Ächtungen nach an technologischer Entwicklung erlaubt sein kann! Es dürfte daher schwierig werden, ihm die Zustimmung dafür abzuringen – ach, es nur schwierig zu nennen, ist eine glatte Untertreibung!«

»Das stimmt leider«, bestätigte Merlin. »Es wäre zudem eine dumme Idee, ihn zu sehr unter Druck zu setzen. Seine Prinzipien und seinen festen Glauben dürfen wir nie in direkten Konflikt zu seinem Vertrauen in Maikels Urteilsvermögen bringen. Dass er auf der Seite der Kirche von Charis steht, ist für uns von immensem Vorteil – und das nicht nur hier in Charis. Seine Familie genießt Respekt auf ganz Safehold. Es wäre daher katastrophal für uns, wenn er sich irgendwann gegen die Kirche von Charis stellt. Das ist ein weiterer Grund dafür, die Emitter erst einmal relativ lange laufen zu lassen. Die Zeit arbeitet für uns, wenn wir Pater Paityr davon überzeugen wollen, uns nicht auffliegen zu lassen. Da nutzt es zu wissen, dass die kinetischen Plattformen uns tatsächlich nicht umbringen.«

»Und wenn diese Plattformen Eure ›Dampfmaschinen‹ irgendwann innerhalb dieser Zeitspanne doch noch zerstören«, griff nun Cayleb die Argumentation auf, »kommt wenigstens niemand zu schaden, von ein paar gänzlich nutzlosen, unbewohnten Inseln einmal abgesehen.«

»Nutzlose, unbewohnte Inseln, die so abgelegen sind, dass niemand überhaupt bemerken wird, wenn ›Langhornes Rakurai‹ tatsächlich wieder auf sie herniederfährt«, stimmte Sharleyan zu und nickte.

»So«, bestätigte Merlin, »lautet zumindest der Plan.«

.II.

HMS Destiny,Golf von Mathyas

»Und, Master Aplyn-Ahrmahk?«, rief Lieutenant Rhobair Lathyk durch sein ledernes Sprachrohr. Er stand tief unten an Deck. »Sie wollen doch wohl heute noch irgendwann Meldung machen, oder?«

Ensign Hektor Aplyn-Ahrmahk, je nach Anlass auch als Seine Durchlaucht Herzog Darcos bekannt, verzog das Gesicht. Lieutenant Lathyk hielt sich für geistreich und witzig – nicht ganz unberechtigt, wie Aplyn-Ahrmahk fand. Aber was das anging, würde der Ensign ganz gewiss nicht ungefragt seine Meinung kundtun. Aber egal, ob der Lieutenant nun ein Ausbund an Schlagfertigkeit war oder nicht, so war er doch eines: einer der besten Seefahrer, denen Aplyn-Ahrmahk jemals begegnet war. Man sollte vielleicht nicht annehmen, ein so junger Mann wie der Ensign, noch nicht ganz sechzehn Jahre alt, wäre in der Lage, das seemännische Können anderer einzuschätzen. Dieser junge Mann aber fuhr bereits seit seinem zehnten Lebensjahr zur See. Seitdem hatte er eine ganze Anzahl Marineoffiziere erlebt, manche fähige Seefahrer, andere nicht. Lathyk fiel unzweideutig in erstere Kategorie. Lathyk hatte zudem Gelegenheit gehabt, sein Können unter Sir Dunkyn Yairley noch zu verfeinern. Sir Dunkyn aber war zweifellos der begnadetste Seefahrer, unter dem Aplyn-Ahrmahk jemals gedient hatte.

Trotzdem und trotz all der lauteren Eigenschaften Lieutenant Lathyks gingen Aplyn-Ahrmahk im Augenblick einige wenig schmeichelhafte Gedanken durch den Kopf, während er sich mit dem schweren Fernrohr abmühte. Er hatte schon Gerüchte über Ferngläser gehört: eine Art Doppelfernrohr, das man vor beide Augen gleichzeitig halten konnte. Angeblich hatte jemand an der Königlichen Hochschule von Charis so etwas entwickelt. Die Neuentwicklung sollte derart viele Vorteile mit sich bringen, dass sich der Ensign schon damit zufrieden gegeben hätte, wenn auch nur die Hälfte davon stimmte. Aber selbst wenn solche Wundergeräte tatsächlich schon entwickelt worden sein sollten, würde es doch noch einige Zeit dauern, bis auch die Flotte damit ausgerüstet würde. In der Zwischenzeit mussten junge Ensigns immer noch die Großstenge erklimmen, in der Hand ein langes, unhandliches Fernrohr. Hernach mussten sie ihr Bestes geben, um durch Dunst und Nebel und weiß Langhorne was noch alles hindurchzuspähen, um die unverständliche Meldung eines noch jüngeren Midshipman zu ergänzen. Und währenddessen riefen einem ungeduldige Vorgesetzte, die dabei gemütlich auf dem Achterdeck stehen durften, gewollt witzige Bemerkungen hinterher.

Der junge Ensign spähte durch das Fernrohr. Jahrelange Übung erlaubte es ihm, das schwere Rohr bemerkenswert ruhig zu halten, obwohl HMS Destiny recht kräftig rollte und stampfte. Das Schiff maß hundertfünfundfünfzig Fuß Gesamtlänge und mehr als zweiundvierzig Fuß in der Breite. Die Verdrängung der großen Galeone mit ihren vierundfünfzig Geschützen betrug zwölfhundert Tonnen. Alles zusammengenommen machte aus der Destiny ein bemerkenswert leistungsstarkes Hochseeschiff. Nur irgendetwas am derzeitigen Wetter schien ihr überhaupt nicht zu behagen.

Ensign Aplyn-Ahrmahk ging es ähnlich, wo er jetzt so darüber nachdachte. Die Luft hatte etwas Sonderbares an sich, als ob sie das, was sich in ihr bewegte, mit Schwüle zu erdrücken gedachte. Es war ein allgegenwärtiger feuchter Dunstschleier, der über der Staiphan Reach hing, und erschwerte, in der Ferne Details auszumachen. Eigentlich hatte Lieutenant Lathyk doch wohl genau danach gefragt. Na dann …

»Ich kann auch nichts erkennen, Sir!« Es passte Hektor gar nicht, das zugeben zu müssen. Aber es hatte ja keinen Sinn, sich etwas aus den Fingern zu saugen. »Bei diesem Dunst sehe ich kaum Howard Island!« Er blickte zu Lathyk hinunter. »Jenseits von Howard sind einige Segel in Fahrt zu erkennen, aber ich sehe wirklich nicht mehr als nur die Topps! Ich vermag nicht einmal auszumachen, ob das Kriegsschiffe oder Handelsschiffe sind!«

Lathyk verrenkte sich fast den Hals, als er mehrere Sekunden lang zu dem Ensign aufblickte. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Dann, Master Aplyn-Ahrmahk, wären Sie wohl auf Deck besser aufgehoben, was?«

»Aye, aye, Sir!«

Aplyn-Ahrmahk schlang sich das Fernrohr über den Rücken und zog sorgfältig noch einmal den Tragegurt vor der Brust zurecht. Wenn er das teure Fernrohr jetzt fallen ließe, sodass es auf Deck zerschellte, würde das Lathyk auch nicht fröhlicher stimmen … selbst dann nicht, wenn das fallende Gerät nicht einem von Hektors Schiffskameraden den Schädel einschlüge. Solches Glück aber würde ihm sicher nicht beschieden sein – nicht nach dem, wie dieser Morgen bislang für Hektor verlaufen war.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Fernglas wirklich hielt, kletterte er im Eiltempo die Wanten hinab.

»Sie sagen, der Dunst nehme noch weiter zu?«, fragte ihn Lathyk, fast noch bevor Hektors Füße das Achterdeck erreicht hatten. Aplyn-Ahrmahk nickte.

»Jawohl, Sir«, erwiderte er und bemühte sich nach Kräften, nicht so zu klingen, als wolle er sich für eine alles andere als zufriedenstellende Meldung rechtfertigen. »Meiner Schätzung nach hat die Sicht seit dem letzten Glasen um mindestens vier oder fünf Meilen abgenommen.«

»Hmpf.« Lathyk stieß den fast tonlosen, nichts sagenden Laut aus, mit dem er der Welt verkündete, er denke nach. Kurz darauf blickte er erneut zum Himmel empor. Der Lieutenant blickte nach Südsüdwest, der Länge nach die Terrence Bay hinab, genau in den Wind. Am Horizont war ein dunkler Schimmer zu erkennen, trotz der recht frühen Morgenstunde. Gewaltige Wolkenberge türmten sich auf. Sie waren sonderbar gerieft, zur Wasserlinie hin wirkten sie bedrohlich schwarz. Auf einem Planeten namens Terra, von dem weder Lathyk noch Aplyn-Ahrmahk jemals auch nur gehört hatten, hätte man sie als Cumulonimbuswolken bezeichnet.

»Was sagt das Barometer, Chief Waigan?«, erkundigte sich Lathyk dann.

»Fällt noch, Sir.« Chief Petty Officer Frahnklyn Waigan klang unglücklich. »In der letzten Stunde mehr als sieben Strich, und es fällt immer schneller.«

Aplyn-Ahrmahk bemerkte, wie er sich unwillkürlich anspannte. Vor der Einführung dieser neuen arabischen Zahlen wäre es unmöglich gewesen, die Intervalle auf der Anzeige eines Barometers so genau zu unterteilen, wie das mittlerweile gang und gäbe war. Doch wenn man Prognosen über das Wetter anstellen wollte, war weniger von Interesse, wie der derzeitige Luftdruck aussah, sondern vielmehr, wie rasch er sich veränderte. Ein Absinken des Luftdrucks um mehr als 0,07 Zoll Quecksilber in weniger als einer Stunde war recht beachtlich. Aplyn-Ahrmahk spähte in die gleiche Richtung wie Lathyk.

»Master Aplyn-Ahrmahk, bitte richten Sie meine Empfehlung an den Captain aus«, entschied Lathyk. »Informieren Sie ihn, dass das Barometer rasch fällt und mir das Wetter nicht zusagt!«

»Aye, Sir. Ihre Empfehlung an den Captain, das Barometer fällt rasch, und das Wetter sagt Ihnen nicht zu.«

Zufrieden nickte Lathyk, und Aplyn-Ahrmahk eilte noch ein wenig rascher als sonst zur Achterdeckluke.

Lieutenant Lathyks Sinn für Humor mochte vielleicht zu wünschen übrig lassen. Selbiges durfte man aber über sein Gespür für das Wetter nicht behaupten.

Der Wind hatte dramatisch aufgefrischt: Innerhalb von nicht einmal zwanzig Minuten war aus einer steifen Brise etwas ungleich Kräftigeres geworden. Die Wellen, zuvor kaum zwei Fuß hoch und mit leichten, glasigen Kronen, waren nun dreimal so hoch. Überall sah man weiße Schaumkronen, Gischt stob umher. Ein erfahrener Matrose hätte von grober See gesprochen und wäre, unter gewöhnlichen Umständen, damit durchaus zufrieden gewesen. Mit einer Windgeschwindigkeit von etwas weniger als fünfundzwanzig Meilen in der Stunde konnte ein Schiff wie die Destiny vor dem Wind unter Bramsegeln vielleicht sieben Knoten erreichen. Aber ein derartiges Auffrischen des Windes innerhalb so kurzer Zeit war alles andere als ein Grund zur Zufriedenheit, vor allem, nachdem das Barometer nun noch rascher fiel. Man hätte mit Fug und Recht behaupten können, es falle nicht, es stürze.

»Gefällt mir nicht, Captain«, bemerkte Lathyk. Neben Captain Yairley stand er hinter dem großen Steuerrad und starrte auf den Kompassstand. Der Lieutenant schüttelte den Kopf und blickte zu den Segeln empor. »Normalerweise bekommt man in diesen Gewässern keine schwere See aus Südwest – nicht um diese Jahreszeit.«

Yairley nickte. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt betrachtete auch er den Kompass.

Als diensttuender Commodore des Geschwaders, dessen Aufgabe es war, darauf zu achten, dass die Imperial Desnairian Navy nicht den Jahras-Golf verließe, gab es so einiges, das ihm Kopfzerbrechen bereitete. So bestand sein Geschwader im Augenblick lediglich aus seinem eigenen Schiff, denn die Mountain Root, das Schwesterschiff der Destiny, hatte vor drei Tagen Bekanntschaft mit einem der auf keiner Karte verzeichneten Felsbrocken im Golf von Mathyas gemacht. Die Hälfte der Kupferbeschichtung ihres Rumpfes war dabei abgerissen, der Rumpf selbst schwer beschädigt worden. Obwohl ihre Pumpen das Einströmen des Wassers hatten aufhalten können und keine Gefahr bestand, das Schiff könnte sinken, hatte sie sich der nötigen Reparaturen wegen natürlich zurückziehen müssen. Und damit nicht genug: HMS Valiant, die dritte Galeone von Yairleys gestutztem Geschwader (und jedes Geschwader war bei der Schlacht in der Markovianischen See gestutzt worden!) hatte bereits zwei Tage zuvor Trinkwassermangel gemeldet: Nicht weniger als drei ihrer eisernen Wassertanks hatten geleckt. Daher hatte Yairley vor dem Leckschlagen der Mountain Root bereits ernstlich in Erwägung gezogen, sie für die erforderlichen Reparaturen von dieser Mission abzuziehen. So wenig das einem Kommandeur an seiner Stelle auch behagen konnte, hatte er nun beide beschädigte Galeonen zu Tarots Thol Bay zurückgeschickt. Das war der nächstgelegene befreundete Stützpunkt. Die Valiant konnte nun die Mountain Root eskortieren – für den Fall, dass die Schäden am Rumpf sich unerwartet verschlimmerten. Denn schließlich lag eine Fahrt von dreitausend Meilen vor ihr.

Mit einer einzelnen Galeone die Blockade des Jahras-Golfs durchzusetzen, war ein Unding: Die Staiphan Reach war mehr als hundertzwanzig Meilen breit, auch wenn die eigentliche Fahrrinne deutlich schmaler war. Doch innerhalb des nächsten Fünftages sollte Yairley Verstärkung von weiteren sechs Galeonen erhalten. Zudem war die Blockade gar nicht seine eigentliche Aufgabe. Schließlich hatte die Desnairian Navy noch nie sonderlich viel Unternehmungsgeist an den Tag gelegt. Tatsächlich hätte die Imperial Charisian Navy einen Ausfall der Desnairianer sogar begrüßt. Allerdings war es höchst unwahrscheinlich, dass die Desnairianer so töricht wären, der ICN eine Gelegenheit zu bieten, sie auf offener See anzugreifen – vor allem nach dem, was der Flotte Gottes in der Markovianischen See widerfahren war. Sollte Herzog Jahras aus irgendeinem unerfindlichen Grunde plötzlich doch beschließen, sich aus seiner Deckung zu wagen, wäre es nicht Yairleys Aufgabe, ihn aufzuhalten. Vielmehr sollte er diese Tatsache lediglich melden und den Herzog anschließend im Auge behalten. Dank der Boten-Wyvern in ihrem Käfig unter Deck würde Admiral Payter Shain vor der Thol Bay trotz der beachtlichen Entfernung in kaum mehr als drei Tagen von allen Bewegungen der Desnairianer erfahren. Und Shain wüsste dann auch genau, was zu tun wäre.

Die Desnairianer könnten beschließen, nach Norden zu fahren – was sehr unwahrscheinlich war. Dann würden sie sich ihren Weg durch den Tarot-Kanal freikämpfen müssen, an Shains Geschwader vorbei. Bis sie dort angelangt wären, hätte Yairleys Warnung dafür gesorgt, dass Shain aus Charis weitere Verstärkung erhalten hätte. Natürlich könnten die Desnairianer einen Kurs nach Süden anlegen, die deutlich wahrscheinlichere Möglichkeit. Sie würden dann an der Ostküste von Howard vorbei das südliche Kap umfahren und sich den Einheiten des Grafen Thirsk anschließen. Auch dann wären die deutlich flinkeren, kupferbeschlagenen Schoner der ICN längst auf Yairleys Warnung hin aufgebrochen. Damit bliebe genug Zeit, um Corisande und Chisholm zu informieren, lange bevor die Desnairianer ihr Ziel erreichten.

Effektiv war also Yairleys ›Geschwader‹ nur ein vorgeschobener Beobachtungsposten … mehr als dreitausend Meilen vom nächstgelegenen befreundeten Stützpunkt entfernt. Derart fernab jeglicher Unterstützung konnte einer kleinen, isoliert operierenden Streitmacht alles Mögliche an unschönen Dingen widerfahren – und genau das bewiesen ja auch die Probleme, die sich bei der Mountain Root und der Valiant ergeben hatten. Die ICN hatte angesichts dessen den Geschwaderkommandeur natürlich nicht aufs Geratewohl ausgewählt. Vor allem gab es die heiklen Beziehung mit dem Großherzogtum Silkiah zu bedenken. Die Silkiah-Bucht mündete genau nördlich der Staiphan Reach in den Golf von Mathyas. Dutzende unter silkiahanischer und siddarmarkianischer Flagge fahrende Händler – Schiffe mit charisianischer Besatzung und charisianischen Skippern – kreuzten ständig in der Silkiah-Bucht. Natürlich war das ein eklatanter, kaum verhohlener Verstoß gegen Zhaspahr Clyntahns Handelsembargo. Aber es war auch kein offener Bruch mit den Tempel-Landen. Liefe nun tatsächlich jedoch ein reguläres charisianisches Kriegsschiff in die Silkiah-Bucht ein, mochte das Clyntahn zur Weißglut treiben. Das aber würde diese für beide Seiten höchst lukrative Übereinkunft schlagartig beenden. Yairley musste außerordentlich vorsichtig vorgehen, damit nicht zu offensichtlich wurde, welche Absprache zwischen seinen Vorgesetzten und den Silkiahanern bestand.

Theoretisch sollte Yairley, obschon er nur noch eine einzige Galeone unter seinem Kommando hatte, seine Mission erfüllen können, falls die Desnairianer tatsächlich einen Vorstoß wagen sollten. Doch in Wahrheit stand er auf seinem Posten gänzlich allein, war effektiv von jeglicher Versorgung und jeglichem Entsatz abgeschnitten, und es gab auch keinen Hafen einer befreundeten Nation, in dem er bei allzu schwerer See Zuflucht hätte finden können. Diese Gedanken bedrückten den Captain, als die Wetterfront näher und näher kam. Doch er ließ sich seine Besorgnis nicht anmerken. Er schürzte nur die Lippen und blickte nachdenklich zu den Wolken empor. Dann atmete er tief durch und wandte sich an Lathyk.

»Wir ändern den Kurs, Master Lathyk«, sagte er entschlossen. »Bringen Sie sie bitte vor den Wind! Ich möchte mehr Wasser unter unserem Lee sehen, falls der Wind dreht.«

»Aye, Sir.«

»Und wenn Sie sie auf den neuen Kurs gebracht haben, möchte ich, dass die Bramstengen niedergeholt werden.«

Jemandem, der Lathyk gut genug gekannt und sehr genau beobachtet hätte, wäre vielleicht ein überraschtes Aufblitzen in seinen Augen aufgefallen. Doch es währte nur kurz. Dann legte der Lieutenant zum Salut die Hand an die Brust. Auch seiner Stimme war die Überraschung nicht anzumerken, als er den Befehl bestätigte.

»Aye, Sir.« Der First Lieutenant blickte den Bootsmaat vom Dienst an. »Alle Mann an die Brassen, Master Kwayle!«

»Aye, aye, Sir!«

Das Barometer fiel weiter. Der Wind steigerte sich noch, und erste Blitze durchzuckten die schwere Wolkenfront, die von Süden her stetig näher kam.

Nachdem die obersten Masten niedergeholt waren, wirkte die Destiny sonderbar gestutzt. Ihre Segel waren aufgegeit, die Binnen- und Mittelklüver gestrichen, und in den Marssegeln hatte man einzelne Reffs gesetzt. Trotz der immens verminderten Segelfläche pflügte das Schiff mit beachtlicher Geschwindigkeit stetig nach Nordosten. Die Windgeschwindigkeit hatte mittlerweile mindestens dreißig Meilen in der Stunde erreicht, und es kündigten sich bereits die ersten noch deutlich stärkeren Böen an. Gewaltige Wellenberge nahmen von achteraus das Schiff mit sich, zehn Fuß oder mehr. Die Schaumkronen waren höher geworden, die Gischt überall. Unter dem Achterschiff brachen die Wellen und versetzten den ganzen Rumpf der Destiny in eine unschöne Rollbewegung. Rettungsleinen waren über Deck gespannt; die Mannschaft trug bereits Ölzeug. Trotz des stetig anwachsenden Windes war es unter dieser Schlechtwetterausrüstung erstickend heiß. Allerdings war niemand an Bord optimistisch genug, zu glauben, das werde noch lange so bleiben: Gewiss, auf ihrer derzeitigen Position standen sie weniger als dreihundert Meilen oberhalb des Äquators. Aber die aufkommenden Wolken standen hoch am Himmel, und der Regen, den sie unweigerlich mit sich brächten, würde kalt sein.

Eisig kalt.

Es wäre Aplyn-Ahrmahk nicht leichtgefallen, genau zu erklären, was hier vor sich ging: Mit Atmosphärenmechanik kannte er sich wahrlich nicht aus. Doch was er sah, als er von seinem Posten auf dem Achterdeck der Destiny nach Süden blickte, war der Zusammenstoß zweier Wetterfronten. Die kältere, schwerere Luft eines Hochdruckgebiets aus dem Westen lag unter der wärmeren, wassergesättigten Luft hinter einer Warmfront, die vor drei Tagen aus dem Osten in den Golf von Mathyas gezogen war. Und dort war sie dann geblieben. Wegen der Rotation des Planeten wehte der Wind meist parallel zu den Isobaren, sodass sich klare Wetterfronten ergaben. Das wiederum bedeutete, dass zwei kräftige, bewegte Windmassen sich stetig auf Kollisionskurs befanden. Ein Meteorloge auf Terra hätte von einem tropischen Zyklon gesprochen.

Glücklicherweise war es die falsche Jahreszeit für die heftigste Form eines tropischen Zyklons … der gemeinhin als Hurrikan bezeichnet wurde.

Ensign Aplyn-Ahrmahk jedoch brauchte all diese Begriffe nicht zu kennen, um die Wetterzeichen deuten zu können. Er begriff sehr wohl, was schon bald geschehen würde – und er freute sich ganz und gar nicht darauf. Das Gute war: Captain Yairley hatte alle erforderlichen Vorbereitungen rechtzeitig getroffen, früh genug für mehrmaliges Überprüfen derselben. Schlecht hingegen war: Das Wetter wusste anscheinend nicht, dass im Augenblick keine Hurrikan-Saison herrschte.

Sei doch nicht albern!, schimpfte der jungen Ensign mir sich selbst. Das wird kein Hurrikan, Hektor! Wenn das ein Hurrikan wäre, würde es hier viel schneller schlimmer werden. Glaube ich.

»Stellen Sie eine Gruppe ab, und überprüfen Sie die Laschung der Beiboote, Master Aplyn-Ahrmahk!«, wies ihn Captain Yairley an.

»Aye, Sir!« Aplyn-Ahrmahk salutierte und wandte sich ab. »Master Selkyr!«

»Aye, Sir?«, erwiderte Ahntahn Selkyr, ein weiterer Bootsmaat der Destiny.

»Überprüfen wir die Laschung der Beiboote!«, sagte Aplyn-Ahrmahk und ging entschlossenen Schrittes nach achtern, während Selkyr ein halbes Dutzend Männer zusammenrief, um ihnen behilflich zu sein.

»Wollen Sie dem jungen Burschen etwas zu tun geben, Sir?«, erkundigte sich Lieutenant Lathyk leise und blickte dem jugendlichen Ensign lächelnd hinterher.

»Ach, vielleicht ein bisschen«, bestätigte Yairley und lächelte ebenfalls. »Aber schaden kann das wirklich nicht, und Master Aplyn-Ahrmahk ist ein guter Offizier. Er wird dafür sorgen, dass das richtig gemacht wird.«

»Ja, das stimmt wohl, Sir«, pflichtete ihm Lathyk bei. Dann drehte er sich erneut zu den dräuenden Wolkenbergen um, die im Süden höher und höher stiegen. Trotz des auffrischenden Windes fühlte sich die Luft jetzt dicker und schwerer an. Auch das Licht hatte eine sonderbare, fast widernatürliche Färbung.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich zunächst gedacht, Sie würden überreagieren, als Sie die Bramstengen niederholen ließen, Sir. Jetzt hingegen …«, er zuckte mit den Schultern, und seine Miene wirkte alles andere als glücklich, »jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Es ist immer so tröstlich, wenn Sie mit mir einer Meinung sind, Rhobair«, versetzte Yairley trocken, und Lathyk lachte in sich hinein. Ernst fuhr der Captain fort: »Trotzdem gefällt mir das alles ganz und gar nicht. Und es gefällt mir auch nicht, wie die Wolken sich langsam nach Osten ausbreiten. Passen Sie auf, Rhobair, dieses Ding wird uns noch einkesseln!«

Düster nickte Lathyk. Während der Wintermonate kam der Wind im Golf von Mathyas meist aus Nordosten. Das hätte normalerweise erwarten lassen, dass jegliche Windveränderungen eher nach Westen verliefen als nach Osten. Trotzdem hatte der Lieutenant das unschöne Gefühl, seinem Captain Recht geben zu müssen.

»Denken Sie, wir kommen weit genug nach Osten, um die Silkiah-Bucht zu verlassen, bevor der Wind in unsere Richtung dreht, Sir?«

»Ja, das ist die große Frage, nicht wahr?« Wieder lächelte Yairley. Dann wandte er dem schwarzen Horizont den Rücken zu und schaute zu, wie Aplyn-Ahrmahk und seine Matrosen das Tauwerk überprüften, mit dem die Beiboote an den Achterdeckdavits befestigt waren.

»Ich glaube, wir könnten es vielleicht aus der Mündung der Bucht hinausschaffen«, sagte er dann. »Aber ich bin mir nicht sicher, dass wir es bis zur Tabard Reach schaffen. Das …«, kurz ließ er seine Zähne aufblitzen, »werden wir wohl einfach herausfinden müssen, was?«

Wie Langhornes Rakurai zuckten die Blitze über den schwarzdräuenden und purpurfarbenen Himmel. Der Donner dröhnte wie die Explosionen von Shan-weis Artillerie. Er übertönte sogar das Heulen des Windes und das ohrenbetäubend laute Rauschen der Wellen, die, dreißig Fuß hoch und höher, unablässig und mit Macht auf den Schiffsrumpf krachten. Eiskalter Regen prasselte auf das Ölzeug der Mannschaft wie Tausende winzige Hämmer. HMS Destiny taumelte durch die schwere See, geradewegs vor dem Wind. Sie hatte nun nur noch einen einzigen Sturmklüver gesetzt, ein gerefftes Großbramsegel und ein ebenso gerefftes Vorsegel. Sir Dunkyn Yairley stand auf dem Achterdeck, eine Rettungsleine um den Oberkörper geschlungen. Er schaute zu, wie vier Männer am Steuer versuchten, sein Schiff weiterhin auf Kurs zu halten.

Die Wellen drückten das Heck nach Osten. Daher sah sich Yairley gezwungen, mehr Segel gesetzt zu halten, als ihm lieb war. Das Schiff war ungleich luvgieriger als erwünscht. Die Windgeschwindigkeit lag jetzt bei über fünfundfünfzig Meilen in der Stunde. Man musste von einem schweren Sturm sprechen, nicht nur einem stürmischen Wind. Yairley vermutete, es würde noch schlimmer werden, ehe es endlich vorbei wäre. Den Vorwärtsauftrieb, den die gesetzten Segel erlaubten, aber brauchte die Destiny. Trotzdem würde Yairley das Mars- und das Großsegel einholen müssen und nur unter Sturm-Stagsegel fahren, wenn der Sturm noch schlimmer würde. Er musste so rasch wie möglich nach Osten kommen. Aber mit Verminderung der Segelfläche verlöre das Schiff auch Geschwindigkeit. Die Entscheidung, wann die Segel einzuholen seien – und Yairley musste die Entscheidung treffen, bevor er sein Schiff in Gefahr brachte –, war eine reine Instinktsache. Yairley fragte sich, warum ihm die Vorstellung, mit Mann und Maus unterzugehen und zu ertrinken, so viel weniger Sorgen bereitete als die Vorstellung, durch die Kanonenkugeln des Feindes einen Arm oder ein Bein zu verlieren.

Dieser Gedanke entlockte ihm ein kurzes Lachen. Natürlich konnte keiner der Rudergänger ihn im Sturmesbrausen und dem wasserfallartigen eisigen Regen hören. Doch sie sahen ihn lachen, blickten einander kurz an und lächelten ebenfalls.

Yairley bemerkte es nicht. Er hatte sich abgewandt und spähte erneut in das düstere Halbdunkel im Nordwesten. Seit die Sichtverhältnisse sich derart verschlechtert hatten, hatten sie seiner Schätzung nach etwa fünfundzwanzig Meilen geschafft, möglicherweise dreißig. Wenn das stimmte, befand sich die Destiny nun etwa zweihundertsechzig Meilen südöstlich vom Ahna-Kap und etwa vierhundertsechzig Meilen südöstlich von Seidenstadt. Allerdings waren es von ihrer aktuellen Position aus in südlicher Richtung gerade einmal hundertzwanzig Meilen bis zur Hecht-Bank. Das Lächeln schwand von Yairleys Gesicht, als er vor seinem geistigen Auge die Entfernungen und Peilungen der Karte sah. Er war weit genug nach Osten gekommen, um nicht in die Silkiah-Bucht geweht zu werden – wahrscheinlich zumindest –, wenn der Wind drehte. Aber er musste noch mindestens weitere zweihundertfünfzig Meilen schaffen – wahrscheinlich sogar eher dreihundert –, bevor er die windgeschützte Tabard Reach erreichte. Es gefiel dem Captain überhaupt nicht, darüber nachzudenken, wie viele Schiffe auf der Hecht-Bank oder dem dahinter liegenden Schraper-Sund schon in Not geraten waren.

Aber meinem Schiff wird das nicht passieren!, sagte er sich selbst und ignorierte dabei, wie sehr dieser Gedanke doch einem Stoßgebet ähnelte.

»Enter auf, geit auf Vorsegel!«

Im Tosen des Sturm und dem unablässigen Donnergrollen war das Kommando kaum zu verstehen. Die grimmig dreinblickenden Toppsgasten indes brauchten den Befehl auch nicht zu hören. Sie wussten genau, womit sie es hier zu tun hatten … und sie wussten auch, wie es sich dort oben in den Rahen anfühlen würde. Mit einem gequälten Lächeln blickten sie einander an.

»Auf geht’s, Jungs!«

In einem solchen Sturm waren die Leewanten lebensgefährlich. Daher hasteten sie die Luvwanten empor. Doch selbst dort ließen sie mehr Vorsicht walten als sonst. Auf den Topps versammelten sie sich, hielten sich an der Takelage fest, während die Männer an Deck zu den Brassen eilten.

Bei einer Windgeschwindigkeit von siebzehn Meilen pro Stunde lastete ein Druck von einem Pfund auf jedem Quadratzoll Segelfläche. Bei einer Geschwindigkeit von vierunddreißig Meilen verdoppelte sich dieser Druck nicht nur, sondern vervierfachte sich. Nur wehte der Wind jetzt noch deutlich kräftiger. Im Augenblick war das Vorsegel der Destiny doppelt gerefft, sodass es nicht mehr sechsundreißig Fuß lang war, sondern nur noch vierundzwanzig. Anders als ein Marssegel mit seiner Trapezform war das Vorsegel tatsächlich quadratisch, an der Ober- und der Unterkante gleich breit. Das bedeutete, seine Breite von zweiundsechzig Fuß veränderte sich über die Länge nicht. Die effektive Segelfläche musste daher von mehr als 2250 Quadratfuß auf weniger als 1500 vermindert werden. Doch der Wind mit seiner Geschwindigkeit von mehr als fünfundfünfzig Meilen in der Stunde übte immer noch einen Druck von mehr als siebzehnhundert Tonnen auf das straff gespannte Tuch aus. Eine einzige kleine Unachtsamkeit würde ausreichen, um diese ganze Energie entsetzliche Dinge mit der Takelage des Schiffes anstellen zu lassen – und bei den derzeitigen Wetterverhältnissen mochte das tödliche Folgen haben.

»Brasst an das Vorsegel!«

»Luv anbrassen! Lee abbrassen!«

Das Vorsegel war so aufgespannt, dass es den Wind von Backbord achteraus nahm. Nun schwang die Fockrahe herum, als die Backbordbrasse, die achteraus zur Scheibe der Großmars und von dort aus zum Deck hinunterführte, die Luvnock der Rah anholte. Die Stärke des Windes erleichterte das Manöver: Der Wind selbst schob das Steuerbordende der Rah nach Lee, und als die Rah sich in Bewegung setzte, veränderte sich auch die Lage des Segels selbst: Zuvor hatte es lotrecht zum Wind gestanden, nun stand es beinahe parallel dazu. Die Wanten, die den Mast hielten, verhinderten jedoch, dass die Rah ganz so weit längsschiffs schwenkte, wie sich die Mannschaft der Destiny das als Idealfall gewünscht hätte. Das war einer der Hauptgründe, weswegen Rahsegler nie ganz so hart am Wind segeln konnten wie Schoner. Auf diese Weise aber verminderte sich der Druck auf das Vorsegel immens.

»Geit auf! Anholt die Notgordings!«

Die Geitaue führten vom Schothorn des Segels bis zum Ende der Rahen, dann durch Blöcke nahe der Rahenmitte und hinab zum Deck, während die Bauchgordings von der Rah bis zum Unterliek des Segels reichten. Während die Männer an Deck anholten, hoben die Geitaue und Bauchgordings das Segel an. Dabei halfen ihnen die Notgordings – Taue, die man eigens für solche Wetterverhältnisse in der Takelage hatte. Es waren einfache Seile, die von der Rah hinunterführten und dann eine Schlinge um das Segel bildeten, fast wie ein weiterer Satz Bauchgordings. Ihr Name verriet bereits, dass sie eigentlich nur im Notfall zum Einsatz kamen, und ihre Aufgabe bestand darin, das Unterliek anzuholen. Der Wind konnte dann nicht mehr weiter auf eine gespannte Segelfläche einwirken. Danach sollte sich das Tuch ohne größere Mühe bergen lassen.

»Fiert auf das Fall!«

Die Toppsgasten warteten, bis das Tuch gänzlich geborgen war und die Rah wieder ihre ursprüngliche Position eingenommen hatte. Erst dann konnten sie gefahrlos auf die Rah selbst. Wurde die Rah wieder ordnungsgemäß ausgerichtet, war es deutlich leichter – und ungefährlicher –, sie von der oberen Spiere zu erreichen. Wäre die See ruhiger, wären viele der Männer wohlgemut auf die Rah selbst gestiegen und hätten sich ganz auf ihren Gleichgewichtssinn verlassen. Aber unter derartigen Windverhältnissen war es unverzichtbar, das unter der Rah befestige Fußpeerd zu nutzen.

Die Männer verteilten sich über die fünfundsiebzig Fuß lange Spiere, siebzig Fuß über dem schwankenden, stampfenden Deck – fast neunzig Fuß über der unbändigen, schäumenden Wut der Wellen, wann immer das Deck gerade einmal horizontal lag. Mit bloßen Händen zwangen sie das Tuch dazu, sich ihrem Willen zu fügen, während der Wind und der Regen sie unablässig peitschten.

Ein Geitau nach der anderen wurde um das eingeholte Segel geschlungen und fest vertäut. Dann wurde es Zeit, das Gleiche mit dem Großbramsegel zu wiederholen.

»Halten Sie sie so nah an Ostnordost, wie Sie können, Waigan!«, schrie Yairley seinem Ersten Rudergänger geradewegs ins Ohr.

Waigan, der Inbegriff eines alten Kämpen, blickte zu den Sturm-Stagsegeln empor. Die dreieckigen Stagsegel dreifacher Dicke zwischen dem Kreuzmast und dem Großmast sowie dem Groß- und dem Fockmast waren zusammen mit dem Sturm-Vorstagsegel alles, was die Destiny derzeit an Segeln gesetzt halten konnte.

»Ostnordost, aye, Sir!«, schrie er zurück, während Regen und Gischt von seinem eisengrauen Bart heruntertroffen. »So nah wir können, Sir!«, versprach er. Yairley nickte und gab ihm einen zufriedenen Klaps auf die Schulter.

Kein Segelschiff konnte den einmal angelegten Kurs tatsächlich einhalten, und schon gar nicht unter derartigen Bedingungen. Tatsächlich waren vier Mann am Steuer erforderlich, um überhaupt irgendeinen Kurs halten zu können. Sie konnten sich nur bemühen, das Schiff in etwa auf dem ursprünglich geplanten Kurs zu halten, und der Erste Rudergänger würde dabei nicht einmal auf die Kompassrose schauen können. Er würde ganz auf besagte Stagsegel achten müssen und sich immer wieder vergewissern, dass sie den Wind richtig nahmen und dem Schiff den Schwung und die Stabilität verliehen, die sie brauchten, um diesen Mahlstrom überhaupt zu überstehen. Der dienstälteste seiner Helfer würde auf den Kompass achten und den Ersten Rudergänger informieren, sobald sie zu weit vom geplanten Kurs abwichen.

Noch einmal blickte Yairley zu den Segeln auf. Dann wischte er sich den Regen aus dem Gesicht und winkte Garaith Symkee herbei, den Second Lieutenant der Destiny.

»Aye, Sir?«, brüllte Lieutenant Symkee und beugte sich nahe genug zu Yairley hinüber, um ihn trotz des Sturms zu verstehen.

»Ich denke, so wird es erst einmal gehen, Master Symkee!«, schrie Yairley zurück. »Halten Sie sie auf Ostkurs, so gut das eben geht! Vergessen Sie bloß nicht, dass die Hecht-Bank dorthinten auf uns wartet!« Er deutete nach Norden, über das Backbordschanzkleid hinweg. »Wenn es nach mir geht, darf es gern weiterhin auf uns warten – und zwar vergebens, verstehen Sie mich recht!«

Symkee grinste über das ganze Gesicht und nickte zustimmend. Yairley erwiderte das Grinsen.

»Ich gehe unter Deck und schaue mal, ob Raigly mir nicht was zu essen auftreiben kann! Wenn die Köche das hinbekommen, werde ich dafür sorgen, dass es für die Wache an Deck wenigstens heißen Tee gibt – vielleicht sogar noch etwas Besseres!«

»Danke, Sir!«

Yairley nickte und zog sich Hand über Hand an der Rettungsleine der Luke entgegen. Er rechnete damit, dass es eine außerordentlich lange Nacht würde. Ein wenig Ruhe konnte er jetzt gut gebrauchen. Und auch etwas Warmes zu essen im Bauch. Jeder Einzelne an Bord würde all seine Kraft brauchen. Der Captain der Destiny aber musste Entscheidungen treffen, von denen das Leben der gesamten Besatzung abhing.

Na ja, dachte er und verkniff sich ein schiefes Grinsen, als er die Luke erreichte und die steile Treppe hinunterkletterte, die zu seiner Kajüte führte. Sylvyst Raigly, sein Kammerdiener und Steward, erwartete ihn dort bereits. Das klingt zumindest besser, als wenn man sagt, der Captain sei zu verwöhnen und zu verhätscheln. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte!

Und wie er es auch ausdrücken mochte: Es stimmte dennoch.

.III.

HMS Destiny, vor der Sand-Untiefe, Schraper-Sund, Großherzogtum Silkiah

»Master Zhones!«

Der bemitleidenswerte Midshipman in seinem Ölzeug kauerte an Deck und gab sich redlich Mühe, sich nicht zu übergeben – nicht schon wieder! Als Lieutenant Symkee ihn lautstark beim Namen rief, blickte Ahrlee Zhones auf. Er war zwölf Jahre alt, litt schlimmer an Seekrankheit als je in seinem Leben, und er war zu Tode verängstigt. Doch zugleich war er ein Offiziersanwärter der Imperial Charisian Navy. So zwang er sich dazu, sich aufzurichten und Haltung anzunehmen.

»Aye, Sir?«, erwiderte er laut genug, um das Heulen und Brausen des Sturms zu übertönen.

»Holen Sie den Captain!« Zhones und Symkee standen keine fünf Fuß voneinander entfernt, und trotzdem konnte der Midshipman den Second Lieutenant kaum verstehen. »Meine Empfehlungen, der Wind dreht! Informieren Sie ihn …«

»Ignorieren Sie das, Master Zhones!«, erklang eine weitere Stimme. Zhones und Symkee fuhren herum und sahen Sir Dunkyn Yairley. Irgendwie war es dem Captain gelungen, wie von Zauberhand auf dem Achterdeck zu erscheinen. Sein Ölzeug troff bereits von Regen und Gischt, und sein Blick war fest auf die gestrafften Stagsegel gerichtet. Obwohl der Captain ebenfalls brüllen musste, um sich verständlich zu machen, klang seine Stimme beinahe ruhig – zumindest hatte Zhones diesen Eindruck.

Der Midshipman schaute zu, wie der Captain sich ein Tau um die Brust schlang und sich damit an einer an Deck gespannten Rettungsleine vertäute. Er wirkte dabei fast geistesabwesend und hatte nur Augen für die Segel und die bei diesem Wetter kaum erkennbare Wetterfahne am Topp des Großmastes. Dann warf er einen Blick auf die beleuchtete Windrose des Kompassstandes und wandte sich schließlich Symkee zu.

»Der Wind steht Süd zu West, Master Symkee. Würden Sie dem zustimmen?«

»Vielleicht noch ein Viertelstrich weiter südlich, Sir«, erwiderte Symkee mit einer Bedachtsamkeit, die Zhones schlichtweg unerträglich erschien. Der Captain deutete ein Lächeln an.

»Also gut, Master Symkee, das wird reichen.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Segel und runzelte die Stirn.

»Befehle, Sir?«, schrie Symkee schließlich, und der Captain blickte ihn fragend an, eine Augenbraue hochgezogen.

»Wenn mir irgendwelche Befehle nötig scheinen, Master Symkee, lasse ich Sie das als Ersten wissen!« Natürlich war es schlichtweg unmöglich, jemanden ebenso kühl wie tadelnd anzubrüllen. Doch Zhones hatte den Eindruck, der Captain habe dieses Kunststück sehr wohl fertig gebracht.

»Aye, Sir!« Zum militärischen Gruß legte Symkee die Hand an die Brust und wandte seine Aufmerksamkeit dann ganz bewusst anderen Dingen zu.

Trotz seines ruhigen Auftretens und seiner nüchternen Sprechweise, arbeitete Sir Dunkyn Yairleys Verstand auf Hochtouren. Wieder und wieder dachte er über die aktuelle Position seines Schiffes nach. Der Sturm war so stark geworden, dass der Captain seine Destiny schon vor Stunden geradewegs vor den Wind hatte bringen müssen. Nun durchpflügte die Galeone in rasender Fahrt die gewaltigen, schaumgekrönten Wellen, die ihr von achteraus hinterherzulaufen schienen. Immer wieder zerpflückte eine Sturmböe die Wellenkämme. Während der Wind weiter nach Osten drehte, wurde das Schiff auf diese Weise langsam, aber stetig von seinem Nordost-Kurs auf einen zunehmend nördlichen Kurs gezwungen. Die Wellen indes, die sich noch nicht an die veränderte Windrichtung angepasst hatten, rollten immer noch von Südsüdwest heran. So krachten sie beinahe schon dwars gegen den Schiffsrumpf, nicht von achteraus, und sorgten so für eine unangenehme Rollbewegung des Schiffes. Das erklärt natürlich auch das kalkweiße Gesicht des jungen Zhones’, dachte der Captain ein wenig mitleidig. Der junge Bursche schlug sich wirklich wacker. Aber ebenso unbestreitbar neigte er dazu, seekrank zu werden.

Wichtiger jedoch war, dass mit Veränderung in der Bewegung des Schiffes Yairley auch auf die veränderte Windrichtung aufmerksam geworden war. Deswegen war er an Deck gekommen. Wenn der Wind noch weiter drehte, dann standen ihnen ernste Schwierigkeiten bevor.

Selbst für einen so erfahrenen Seemann wie Yairley war es schlichtweg unmöglich, genau zu wissen, wie weit nach Osten er gekommen war. Er hatte Zweifel, dass es reichen würde. Wenn seine Einschätzung stimmte, dann befanden sie sich fast genau südlich der Hecht-Bank, jener hundertfünfzig Meilen langen Sand- und Felsbarriere, die den Schraper-Sund nach Osten begrenzte. Langhorne allein wusste, wie viele Schiffe auf dieser Untiefe schon in Schwierigkeiten gekommen waren. Und die Geschwindigkeit, mit der der Wind drehte, war erschreckend. Wenn es so weiterging, würde der Sturm innerhalb der nächsten Stunde die Destiny geradewegs in die Untiefe drücken, und wenn das geschähe …

Der Wind drehte weiter nach Osten, und er änderte seine Richtung sogar noch rascher, als Yairley erwartet hatte. Vielleicht – nur vielleicht – hatte die Windstärke ein wenig nachgelassen. Die Gefahr allerdings, die die neue Richtung mit sich brachte, wiegte diesen schwachen Trost mühelos wieder auf. Grimmig ging dieser Gedanke Yairley durch den Kopf. Die rasche Änderung der Windrichtung tat auch der Bewegung des Schiffes selbst nicht gerade gut: Die Destiny rollte und stampfte schlimmer denn ja. Nun kamen die Wellen geradewegs backbord achteraus ein, und das Schiff schlingerte so sehr, dass die Pumpen stündlich mindestens fünf Minuten lang arbeiten mussten. Das Wasser, das an Bord kam, bereitete dem Captain keine sonderliche Sorge – bei jedem Schiff drang ein wenig Wasser durch die Fugen, wenn sich die Spanten solchem Wetter zu stellen hatten. Ein wenig Wasser kam auch immer über die Geschützpforten und Luken herein, so dicht man sie auch verstopfen mochte. Doch der Anblick der sturmgepeitschten Gischt in dieser Nacht war beunruhigender denn je.

Außerdem wies jetzt, wenn sich Yairley nicht allzu sehr täuschte, der Bugspriet seines Schiffes geradewegs auf die Hecht-Bank.

Wir kommen nicht weit genug nach Osten, egal, was wir tun, dachte er. Damit bleibt uns nur Westen. Natürlich warten da auch ein paar kleinere Probleme, nicht wahr?

Darüber dachte er noch einen Moment nach, blickte ein weiteres Mal zu den Segeln auf, stellte Überlegungen zu Wellengang und Stärke des heulenden Windes an und traf schließlich seine Entscheidung.

»Rufen Sie die Mannschaft zusammen, Master Symkee! Wir legen das Schiff auf Backbordbug!«

Sir Dunkyn Yairley starrte in die Finsternis hinaus und ertappte sich bei dem Wunsch, die Blitze, die zuvor noch unablässig den Nachthimmel durchzuckt hatten, hätten sich nicht ganz so rasch verzogen. Momentan nämlich konnte er kaum etwas erkennen. Allerdings war die windgepeitschte Gischt so dicht, dass es wahrscheinlich auch mit ein wenig mehr Licht kaum besser gewesen wäre. Doch was Yairley nicht sehen konnte, das konnte er immer noch fühlen. Eine Hand auf die Schanz der Destiny schloss er die Augen und konzentrierte sich ganz darauf, wie die hoch aufragenden Wellen immer und immer wieder unablässig gegen den Schiffsrumpf krachten.

Der richtige Zeitpunkt, dachte ein kleiner Teil seines Verstandes. Es geht immer nur um den richtigen Zeitpunkt.