Nimue Alban: Kampf um Safehold - David Weber - E-Book

Nimue Alban: Kampf um Safehold E-Book

David Weber

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Beschreibung

Vor Jahrhunderten flohen die Menschen vor einer übermächtigen Alienarmee auf den Planeten Safehold. Dort herrscht eine Kirchendiktatur, die jede moderne Technik verbietet. Seit Jahren kämpft das Inselkönigreich Charis für Unabhängigkeit und technischen Fortschritt, und es scheint, als würde Charis endlich die Oberhand gewinnen. Doch die Kirche der Verheißenen gibt sich nicht gerne geschlagen, und wenn sie nicht mit erlaubten Mitteln gewinnen kann, dann muss sie eben zu verbotenen greifen ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungOktober, im Jahr Gottes 897.I.November, im Jahr Gottes 897.I..II..III..IV..V..VI..VII..VIII.Februar, im Jahr Gottes 898.I..II..III..IV..V..VI..VII..VIII..IX..X..XI..XII..XIII..XIV.April, im Jahr Gottes 898.I..II..III..IV..V..VI..VII..VIII..IX..X..XI..XII.Mai, im Jahr Gottes 898.I.GlossarCharaktere

Über dieses Buch

Vor Jahrhunderten flohen die Menschen vor einer übermächtigen Alienarmee auf den Planeten Safehold. Dort herrscht eine Kirchendiktatur, die jede moderne Technik verbietet. Seit Jahren kämpft das Inselkönigreich Charis für Unabhängigkeit und technischen Fortschritt, und es scheint, als würde Charis endlich die Oberhand gewinnen. Doch die Kirche der Verheißenen gibt sich nicht gerne geschlagen, und wenn sie nicht mit erlaubten Mitteln gewinnen kann, dann muss sie eben zu verbotenen greifen …

Über den Autor

David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der Honor-Harrington-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.

David Weber

NIMUE ALBAN

KAMPF UM SAFEHOLD

ROMAN

Aus dem Amerikanischen vonDr. Ulf Ritgen

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by David Weber

Published by arrangement with

Tom Doherty Associates, LLC. All rights reserved.

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Safehold 9: At the Sign of Triumpf« Teil 1

Originalverlag: Tor Books, New York

Dieses Werk wurde im Auftrag von Tom Doherty Associates durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Beke Ritgen, Bonn

Titelillustration: Arndt Drechsler, Leipzig

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7397-4

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Father George Anson Clarke, dem ich vor einem halben Jahrhundert sehr genau zugehört habe.Sie hatten recht.

Oktober, im Jahr Gottes 897

.I.

Stadtvilla des Grafen Thirsk,Gorath,Königreich Dohlar

»Verzeihen Sie mein ungebetenes Eindringen, Mein Lord, aber wir beide müssen uns dringend unterhalten.«

Ganz unvermittelt war der Gardist im Studierzimmer von Thirsks Stadtvilla aufgetaucht. Wie festgefroren in seinem Sessel starrte der Graf den Eindringling an, ungläubig und entsetzt. Das Entsetzen war groß genug, um Thirsks Trauer und Schmerz über den Verlust seiner Familie zu durchdringen, und wurde vor allem dadurch gespeist, dass er den Mann kannte. Unmöglich, dieser Mann konnte unmöglich jetzt hier sein, nicht in Gorath, nicht hier mitten in der Stadt! Dieser Gardist war, wie jeder wusste, immer an der Seite seines Kaisers, und dieser Kaiser befand sich momentan in Siddar-Stadt. Siddar-Stadt war von Gorath mehr als dreitausendvierhundert Meilen entfernt. Ach, selbst wenn er nicht in Siddar-Stadt bei seinem Kaiser wäre: Es war schlicht unvorstellbar, dass ein Fremder in Livree des Hauses Ahrmahk mitten durch das Herz der Hauptstadt des Königreichs Dohlar spazierte, ohne entdeckt und zumindest angesprochen zu werden.

Und doch stand er hier vor Thirsk. Der Graf ertappte sich, wie er mit der unverletzten Hand am Gürtel nach dem Dolch tastete, der dort gar nicht war.

»Seien Sie versichert, dass ich niemandem in diesen Mauern Schaden zufügen will«, fuhr Merlin Athrawes fort. »Aber ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn Sie jetzt nicht Zeter und Mordio schrien.« Er strich sich über den verwegenen Schnurrbart, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das würde unschön, und es kämen dann, das muss ich leider sagen, jede Menge Bewohner dieses Hauses zu Schaden.«

Irgendwo aus den dichten, nachtschwarzen Wolken draußen grollte Donner, Regen prasselte gegen die Fenster des Studierzimmers. Man hörte ihn gurgelnd durch Dachrinnen und Fallrohre strömen, auf das Straßenpflaster auftreffen und in Gullys rauschen. Goraths spärlich aufgestellte Straßenlaternen spendeten selbst an solchen Abenden nur mattes Licht, an denen die Sicht nicht auch noch durch strömenden Regen eingeschränkt war. Möglicherweise erklärte das ja, wie der ungebetene Besucher unbemerkt durch die Straßen der Stadt hatte gehen können. Der Graf hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, da fiel ihm schon auf, dass dies die nächste ungeheuerliche Frage aufwarf: Wie konnten Athrawes’ geschwärztes Kettenhemd, der schwarze Kasack, den er darunter trug, und sein rabenschwarzes Haar völlig trocken sein?

Aber, ach, meldete sich eine Stimme in Thirsks Hinterkopf, was zählt denn schon eine kleine Unmöglichkeit, wenn er überhaupt hier sein kann?

Ungeheuerlich klar und sachlich schien Lywys Gardynyr diese Stimme. Dabei hatte er an diesem Abend schon jede Menge Whisky getrunken.

Athrawes schloss die Tür hinter sich und durchmaß mit ein paar großen Schritten das Studierzimmer – lautlos, denn die hochglanzpolierten, trockenen Stiefel verursachten auf dem dicken Teppich nicht das mindeste Geräusch. In vielleicht fünfzehn Fuß Entfernung zum Hausherrn blieb er stehen, und Thirsk atmete tief ein, als sich Lampenschein auf den berühmt-berüchtigten Waffen des Seijin fing: den beiden Revolvern an den Hüften und dem Knauf der gekrümmten Klinge, die in ihrer Scheide auf dem Rücken getragen steckte. Wie viele Menschen Opfer dieser Waffen geworden waren, wusste Gott allein! Der Graf erschauerte bei dem Gedanken, welche Erklärung die Inquisition für die Anwesenheit dieses Mann hier und jetzt fände.

»Bezieht sich das ›niemandem in diesen Mauern‹ auch auf mich?«, hörte er sich selbst fragen. Seine Stimme klang beinahe ebenso widernatürlich ruhig wie die seines ungebetenen … Gastes. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass es hier noch lohnenswertere Ziele geben sollte.«

»Oh, vertrauen Sie mir, Mein Lord.« Dieses Mal fiel Athrawes’ Lächeln deutlich schmaler aus. »Ich wüsste Dutzende von Zielen zu nennen, allesamt lohnenswerter als Sie. Was allerdings nicht heißt …«, das Lächeln verschwand, »… dass Charis nicht auch mit Ihnen ein paar Wyvern zu rupfen hätte.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Thirsk schüttelte die Erstarrung ab und machte es sich in seinem Sessel bequem, wobei die unverletzte Hand zur noch längst nicht verheilten Schulter fuhr, die gerade neuerlich Schmerz durchzuckte. »Ich könnte es Kaiser Cayleb nicht verübeln, wenn er an mir das gleiche Urteil vollstrecken ließe, das er auch über die Inquisitoren gefällt hat. Und wenn ich ganz ehrlich bin, würde es mir nicht einmal etwas ausmachen. Nicht mehr.« Seine Mundwinkel zuckten, es war die Karikatur eines Lächelns. »Wenigstens kann ich mich darauf verlassen, dass es bei Euch schnell gehen wird, Meister Seijin, Dämon oder nicht. Das ist mehr, als ich über so manch ›gottesfürchtige‹ Männer sagen könnte, die ich namentlich zu nennen wüsste. Eigentlich täten Sie mir damit also einen Gefallen.«

Jener andere Schmerz, tiefer und quälender als jede körperliche Pein, erhob sich wieder wie ein ausgehungertes Raubtier, jetzt, wo die betäubende Wirkung des Entsetzens nachließ. Das Raubtier trieb Klauen aus Feuer und Eis in Herz und Seele des trauernden Grafen.

»Ich verstehe, warum Sie sich so fühlen.«

In Athrawes’ Tonfall lag keinerlei Zorn. Da war … Mitgefühl, und das steigerte Thirsks Schmerz nur noch. Er hatte dieses Mitleid nicht verdient – nicht nach dem, was den Charisianern widerfahren war, die vor seiner Navy kapituliert hatten. Nicht nach dem, was er, Thirsk, zugelassen hatte. Das wusste er verdammt genau, und er erinnerte sich an ein Zitat aus dem Buch Bédard: ›Tue Gutes jenen, die euch verachten, und spende Freundlichkeit jenen, die euch plagen und quälen, denn so wirst du feurige Kohlen auf ihr Haupt häufen.‹ Schon unzählige Male hatte er diese Worte gehört und gelesen. Aber erst jetzt begriff er wirklich und wahrhaftig, was der Erzengel gemeint hatte. Jetzt, da er das aufrichtige Mitgefühl in Merlin Athrawes’ Stimme hörte, jetzt, nachdem er das Geschenk des Mitleids von jemandem empfangen hatte, dem er so viele Gründe geliefert hatte, ihn zu hassen. Schuldgefühl und das Wissen darum, wie sehr Athrawes ihn eigentlich hassen und verachten sollte, fuhren auf seine gequälte Seele hinab wie Shan-weis Hammer.

»Ich verstehe es«, wiederholte Merlin, »aber vielleicht ist es verfrüht. Für Sie gibt es noch viel zu erledigen, Mein Lord.«

»Für mich gibt es überhaupt nichts mehr!«, bellte Thirsk in unvermittelt aufloderndem Zorn, der sich aus seiner Trauer speiste … und aus seinem Schuldgefühl. »Dafür hat dieser Dreckskerl in Zion gesorgt!«

»Vielleicht … nicht ganz«, gab Athrawes zurück.

Thirsk starrte ihn an. Athrawes musste doch wissen, wie es Lywys Gardynyrs Familie ergangen war – die ganze Welt wusste das! Er öffnete schon den Mund zu einer geharnischten Antwort, und sein Gesicht verfärbte sich vor Zorn, doch Merlin hob abwehrend die Hand.

»Ich bin heute nicht nur im Auftrag von Kaiser Cayleb und Kaiserin Sharleyan hier, Mein Lord. Ich habe Ihnen auch noch von jemand anderem eine Nachricht zu übermitteln.«

»Ach, und von wem?«, verlangte Thirsk rau zu wissen.

»Von Ihren Töchtern, Mein Lord«, antwortete Athrawes ruhig.

»Wie können Sie es wagen, mein Haus zu betreten und mir dann derlei …?!« Thirsk gingen die Worte aus. Er wuchtete sich aus dem Sessel, achtete nicht auf den Schmerz in der Schulter, baute sich vor dem bewaffneten und gerüsteten Seijin auf. Der Mann war mehr als einen Fuß größer als er, und Thirsks einzige Waffe war sein Zorn.

»Mein Lord, Ihre Töchter leben«, erklärte ihm Athrawes da. »Gleiches gilt für Ihre Enkel und Ihre Schwiegersöhne. Für sie alle.«

Lywys Gardynyr hob die geballte Faust und wollte sich schon auf den großen Seijin stürzen. Ihn in seinem Schmerz so zu verspotten! Doch Athrawes machte keinerlei Anstalten, den kommenden Schlag abzuwehren. Er stand da, die Arme vor dem Brustharnisch verschränkt, und sein ruhiger, entschlossener Blick aus blauen Augen genügte, um den Grafen mitten in der Bewegung innehalten zu lassen.

Was für ein Blau, durchzuckte es Thirsks Gedanken, ein Saphirblau, das im Lampenschein fast schwarz wirkte, und ein Blick so unerschrocken, dass er Thirsk entwaffnete. Keine Lüge ließ sich entdecken, kein Spott … keine Grausamkeit.

Und doch waren Athrawes’ Worte die grausamste aller Fallen. Sie flüsterten ihm Möglichkeiten ein, luden ein, den schützenden Mantel abzulegen, den Unabänderliches hinzunehmen um einen Trauernden zu legen vermochte. Sie verlockten, das Herz neuerlicher Hoffnung zu öffnen …

»Ach, Sie wollen mir jetzt erzählen, dass man in Charis sogar Tote wieder ins Leben zurückholen kann?«, höhnte er. Es galt, jene tödliche Versuchung im Keim zu ersticken, gleich zu zertreten. »Nicht einmal Langhorne vermag das zu tun! Aber es heißt ja, Shan-wei sei die Mutter der Lügen, nicht wahr?«

»Ja, das heißt es. Und ich kann es Ihnen auch nicht verdenken, wenn Sie … Skepsis an den Tag legen, Mein Lord. Aber als die Sankt Frydhelm explodierte, war Ihre Familie nicht mehr an Bord. Sie war an Bord eines Schoners, zusammen mit zwei meiner … Weggefährten.«

Erstaunt blinzelte Thirsk ihn an. Einen oder zwei Herzschläge lang stand er reglos da, doch dann schüttelte er den Kopf wie ein müder, verwirrter Bär. »Was?«

Die Frage, das eine Wort, klang ruhig – zu ruhig. Es war die Ruhe, die unaussprechlichem Schock und unendlicher Verwirrung entsprang, die Ruhe eines Mannes, der nicht zu glauben wagte – sich nicht zu glauben erlauben würde.

Merlin griff in die Tasche am Gürtel und hielt Thirsk dann Goldglitzerndes auf der ausgestreckten Handfläche entgegen. Tief erschrocken sog der Graf die Luft ein, Unglauben und Furcht ließen ihn erneut versteinern. Der Regen prasselte, das Kaminfeuer knisterte und knackte, während Thirsks Blick allein dem Medaillon galt, von dem er sich sicher gewesen war, es wäre für immer verloren. Er war außerstande, es zu berühren – mindestens zehn Sekunden lang war er rein körperlich dazu nicht in der Lage. Doch dann, endlich, streckte er eine zitternde Hand aus, und Athrawes gab das Schmuckstück dem Grafen in die Hand.

Er hielt es, spürte das vertraute Gewicht, und dann erst betrachtete er das Abbild auf dem Medaillon, das geliebte Gesicht einer sehr jungen Frau mit grauen Augen und goldenem Haar. Er hob den Blick, starrte Merlin Athrawes an. In dessen Saphiraugen stand wieder jenes Mitgefühl zu lesen, das in der Stimme des Seijin so unverkennbar gewesen war.

»Gewiss, Mein Lord, es gibt eine schier unbegrenzte Zahl an Möglichkeiten, wie dies in meinem Besitz gekommen sein kann. Viele davon wären kaum besser als das Schicksal, das in Ihren Befürchtungen Lady Mahkzwail ereilt hat. Aber ich habe es wohl kaum vom Grund des Golfs von Dohlar holen können, stimmt’s?«

Thirsk drehte das Medaillon zwischen den Fingern, betrachtete die eingravierten, verschnörkelten Initialen auf der Rückseite. Einhändig war es schwierig, aber es gelang dem Grafen, einen Daumennagel in den schmalen Spalt zu schieben und den Glasdeckel des Medaillons zu öffnen. Thirsk drehte sich zum Licht und blickte auf der Rückseite des Porträts seiner geliebten Kahrmyncetah auf sein eigenes Abbild, auf dem er ebenso alt war wie sie damals.

Der Lywys Gardynyr längst vergangener Zeiten.

Thirsk schloss das Medaillon und umklammerte es fest. Nun, möglicherweise wusste man in Charis, irgendjemand zumindest, dass seine Tochter Stefyny dieses Medaillon Tag und Nacht getragen hatte. Vielleicht wusste man dort sogar von den Initialen auf der Rückseite des Schmuckstücks. Aber kein Sterblicher hätte jemals eine derart perfekte Kopie anzufertigen vermocht. Wenn also das Kaiserpaar von Charis nicht doch zu den Dämonendienern zählte …

»Wie?« Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen, er sackte in seinen Sessel zusammen. Den weißglühenden Schmerz in seiner Schulter spürte er kaum und wiederholte: »Wie?!«

»Mein Lord, Kaiser und Kaiserin wissen seit Jahren, dass die ›Vierer-Gruppe‹ Sie mit dem Leben Ihrer Familie unter Druck gesetzt hat. Sie sind wahrlich nicht der Einzige, dem es so ergangen ist, und es ist kaum überraschend, dass Clyntahn zu derart verachtungswürdigen Mitteln greift. Wüsste er die Kinder der Kirche auch nur mit einem Zehntel des Geschicks zu begeistern, mit dem er sie in Angst und Schrecken zu versetzen vermag, würde der Tempel diesen Heiligen Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verlieren! Aber das ist ja das Problem jeder Schreckensherrschaft: Ist die fremde Bedrohung, die sie erforderlich gemacht hat, erst ausgeräumt, verliert sie jeden Nutzen. Ist es wirklich so schwer zu glauben, dass mein Kaiserpaar dem Großinquisitor ebenjene Waffe würde aus der Hand schlagen wollen, wenn es Gelegenheit dazu gäbe?«

»Aber …«

»Sicher haben Sie bemerkt, dass unser Spionagenetz ausgezeichnet ist.« Für einen winzigen Moment wirkte Athrawes’ Lächeln schelmisch. »Von Clyntahns Plänen, Ihre Familie nach Zion zu schaffen, haben wir vor Ihnen gewusst, Mein Lord. Ein wenig länger hat es gedauert, herauszufinden, auf welchem Wege man sie nach Zion schaffen wollte. Aber nachdem auch das in Erfahrung gebracht war, haben meine Weggefährten die Sankt Frydhelm abgefangen. Das Wetter war ihnen gnädig, und so gelangten sie unbemerkt an Bord.«

Nun, auf Thirsk waren in kürzester Zeit viel zu viele Überraschungen eingeprasselt, doch seit mehr als einem halben Jahrhundert fuhr er zur See, und diese Behauptung war ungeheuerlich. Athrawes stieß ein belustigtes Schnauben aus, als er den Unglauben im Blick seines unfreiwilligen Gastgebers sah.

»Mein Lord, die ganze Welt beharrt darauf, mich als Seijin zu bezeichnen. Warum sich also hin und wieder nicht so verhalten? Erinnern Sie sich doch nur an diese Sache mit Irys und Daivyn! Bei aller uns geziemender Bescheidenheit: Das mit der Sankt Frydhelm war für Gwyliwr und Cleddyf auch nicht schwieriger als das. Auf jeden Fall ist es dieses Mal schneller gegangen. Allmählich wird das wohl eine unserer Spezialitäten. Wenn der Heilige Krieg vorbei ist, sollten wir Seijins vielleicht ins Menschenrettungsgeschäft einsteigen – einfach nur, um in Übung zu bleiben, Sie verstehen?«

Erneut kniff Thirsk die Augen zusammen. Zorn loderte in ihm auf: Dass der Seijin in einem solchen Moment zu scherzen beliebte! Doch statt etwas zu sagen, atmete er tief durch.

»Damit habt Ihr recht, Seijin Merlin«, räumte er ein. »Damit habt Ihr zweifellos recht. Aber die beiden mussten sich doch immerhin der gesamten Besatzung einer Kriegsgaleone annehmen.«

Augenblicklich war die Belustigung verschwunden. »Das haben sie auch getan.« Angespannt fuhr Merlin Athrawes fort: »Seijin Gwyliwr hat dafür gesorgt, dass Ihre Familie auf das Fischerboot gebracht wurde, mit dem sie die Galeone erreicht haben – und auf dem sich, wie ich hinzufügen möchte, Ihre Schwiegersöhne, der junge Ahlyxzandyr and Gyffry sehr nützlich gemacht haben. Und währenddessen hat Seijin Cleddyf die Besatzung … davon abgehalten, sich einzumischen.«

Die Worte klangen grimmig, und Thirsk bedachte seinen Besucher mit einem langen Blick, ehe er nickte, langsam und bedächtig. Er kannte die Berichte darüber, wie Merlin Athrawes sich einen blutigen Pfad durch die Besatzungsmitglieder von nicht weniger als drei corisandianischen Galeonen gebahnt hatte. Im Alleingang durch eine ganze Wand aus Schwertern und Piken. Hinter ihm, so wurde es berichtet, habe kein Mann mehr gestanden. Das alles hatte er zu tun vermocht, als er zu Haarahlds von Charis Rettung herbeigeeilt war. Allein hatte er das Achterdeck der Royal Charis gegen zweihundert heranstürmende Feinde verteidigt, während sein tödlich verwundeter König hinter ihm in den Armen eines Midshipman das Leben aushauchte. Es waren unglaubliche Berichte gewesen – Geschichten, die man engen Freunden bei einem Humpen Bier oder einem Glas Whisky zuraunte, wo sie nicht der Inquisition zu Ohren kommen konnten. Thirsk hatte schon viel zu viele Gefechte, Tod und Sterben miterlebt, um auch nur die Hälfte dieser wilden Geschichten zu glauben … bis zum heutigen Abend.

»Diese Männer hatten wirklich Besseres verdient«, sagte Athrawes nun mit rauer Stimme. »Doch Clyntahn hat in dem Moment, da er Ihre Familie an Bord hat bringen lassen, das Todesurteil über die Besatzung verhängt.«

»Ihr habt das Schiff in die Luft gejagt, ist es nicht so?«, fragte Thirsk leise, in Wahrheit keine Frage mehr, und doch hoffte er auf Bestätigung.

»Das haben wir.« Merlins Nasenflügel bebten, doch er weigerte sich, den Blick abzuwenden. »Wir hatten keine andere Wahl. Hätte Clyntahn auch nur vermutet, Ihre Familie wäre noch am Leben – ganz zu schweigen davon, dass sie sich in charisianischer Hand befände –, hätten Sie und ich niemals Gelegenheit gehabt, dieses Gespräch zu führen. Wie Sie sehr genau wissen.«

»Ja.« Thirsks Stimme war kaum hörbar, doch er nickte langsam. »Ja, das weiß ich.«

Schweigen senkte sich über das Studierzimmer, das einzige Geräusch das unablässige Prasseln des Regens, das die Stille nur noch betonte. Thirsk setzte sich auf, in der Hand immer noch die Miniatur seiner schon vor langer Zeit verstorbenen Frau, und brach das Schweigen.

»Und jetzt setzen Sie mich mit dem Leben meiner Familie unter Druck«, sagte er. »Ich kann es Ihnen nicht einmal verdenken. Ihr Kaiser hat weiß Gott genug Grund, mich zu hassen. Ich an seiner Stelle würde unweigerlich daran zurückdenken, welche Gnade er mir vor dem Armageddon-Riff gewährt hat, und das gegen das abwägen, was seinen Männern widerfahren ist, nachdem sie in dohlaranische Hände gefallen waren.«

»Weder mein Kaiser noch meine Kaiserin werden das je vergessen, Mein Lord – und ich auch nicht«, erwiderte Merlin düster. »Aber Sie sind Kaiser Cayleb ja persönlich begegnet: Können Sie sich vorstellen, dass er Ihre Töchter und deren Kinder als Waffe nutzt? Er würde lieber sterben, als sich in einen Zhaspahr Clyntahn zu verwandeln.«

Dieses Mal wirkte der Blick aus den blauen Augen noch schärfer, und Lywys Gardynyr wand sich vor Scham, denn er war Cayleb ja tatsächlich persönlich begegnet: Er kannte den Mann hinter jener überlebensgroßen Mythengestalt des Kaisers von Charis. Doch Thirsk war eben auch vertraut mit den Notwendigkeiten und der Unausweichlichkeit des Krieges.

»Seijin Merlin, selbst wenn ich noch einmal so lange lebe wie bisher, könnte ich nie angemessen in Worte fassen, wie dankbar ich bin. Ihr … Ihr und Kaiser Cayleb habt meiner Familie das Leben gerettet, und ich glaube aufrichtig, dass Ihr so gehandelt habt, weil Ihr es für das Richtige haltet.« Er schüttelte den Kopf und war von sich selbst überrascht: Er glaubte tatsächlich, was ihm gerade über die Lippen gekommen war. »Aber Cayleb ist ein Kaiser, und er befindet sich im Krieg mit Mutter Kirche. Er kann unmöglich die Gelegenheit – ja, die Notwendigkeit! – verstreichen lassen, mich dazu zu bewegen, mich seinem Willen unterzuordnen. Kein Regent, der seine Krone zu Recht trägt, könnte das! Und er bräuchte auch nicht damit zu drohen, meiner Familie etwas anzutun, um das zu bewirken.«

»Natürlich nicht.« Athrawes nickte. »Er bräuchte nur aller Welt zu verkünden, dass Ihre Familie noch lebt und sich in charisianischen Händen befindet. Clyntahn würde das zweifellos sofort leugnen. Schließlich widerspricht das ganz und gar der Geschichte, die er für die Welt konstruiert hat. Trotzdem begriffe er sofort, dass Sie zu einer möglicherweise todbringenden Waffe geworden sind – weil Sie jetzt eine Waffe in Charis’ Hand sind, nicht mehr in seiner. Seine Reaktion ist damit ausgemachte Sache. Nun spricht gegen dieses Szenario, dass mein Kaiserpaar Sie lieber lebendig und ungefoltert wüsste.«

»Natürlich nur aufgrund seiner endlosen Herzensgüte, nehme ich an«, versetzte Thirsk trocken.

»In der Tat besitzen beide reichlich Herzensgüte«, bestätigte Merlin. »Aber Sie haben schon recht: Das Kaiserpaar hat seinerseits Verpflichtungen, und beide sind sich dieser ebenso bewusst wie Sie der Ihren. Aber Charis wird Ihre Kinder nicht bedrohen, und es wird auch nicht kundtun, dass Ihre Familie überlebt hat. Allerdings wird Charis auch nicht tun, worum Lady Stefyny bat.«

»Worum Stefyny …«, setzte Thirsk an, doch dann verstummte er und schüttelte den Kopf. »Natürlich. Sie hat natürlich gefragt, ob Ihr mich ebenfalls holen kommt, nicht wahr?«

»Sie liebt Sie wirklich sehr«, erwiderte Athrawes, und der Graf lächelte ob dieses vermeintlichen Themenwechsels.

»Das also ist leider nicht der Grund für mein Hiersein«, fuhr der Seijin fort, und in seiner tiefen Stimme schwang unverkennbar ein Hauch echten Bedauerns mit. »Aber ich habe das hier für Sie.« Erneut griff er in die Tasche an seinem Gürtel und zog einen dicken, mit Wachs versiegelten Briefumschlag hervor. »Das Schreiben ist kürzer, als von ihr gewünscht. Denn sie wusste, dass der Bote dieser Zeilen nicht allzu viel Zeit in Gorath würde verbringen können, und sie wollte Ihnen auf jeden Fall genug Zeit für eine kurze Antwort lassen. Ich muss sehr bald fort, aber eine Viertelstunde kann ich Ihnen für die Antwort zugestehen. Und …«, der Seijin streckte dem Grafen den Umschlag entgegen, »… ich muss Sie bitten, den Brief anschließend umgehend zu verbrennen. Es wäre nicht sonderlich vorteilhaft, fiele dieses Schreiben der Inquisition in die Hände.«

Thirsks Blick heftete sich auf den Umschlag, die Hand des Grafen schoss vor, und, kaum dass er die Handschrift seiner Tochter erkannte, riss er ihn Athrawes förmlich aus der Hand.

»Sie wird Ihnen in diesen Zeilen gewiss die Geschehnisse jener Nacht in eigenen Worten schildern, Mein Lord. Seijin Cleddyf hat ihr versprochen, ich würde das Schreiben ungelesen abliefern – und da ich mich daran gehalten habe, ist das natürlich nur eine Vermutung. Aber ich bezweifle sehr, dass sich ihre Schilderung sonderlich von dem unterscheiden wird, was mein Gefährte mir darüber berichtet hat. Natürlich werden die beiden Berichte auch nicht identisch sein, schließlich hat Ihre Tochter die Geschehnisse aus gänzlich anderer Warte erlebt.« Die Worte begleitete ein flüchtiges Lächeln. »Aber Kaiser Cayleb bat mich, Ihnen noch eine andere Nachricht zu übermitteln.«

»Was für eine Nachricht?«

»Der Inhalt ist ziemlich einfach. So wie Sie Gelegenheit hatten, ihn kennenzulernen, hatte er Gelegenheit, Sie kennenzulernen, und darauf, Menschen einzuschätzen, versteht er sich erschreckend gut. Seiner Einschätzung nach heißen Sie nicht gut, was die Kirche Ihnen abverlangt. Bitte beachten Sie, dass ich Kirche sagte, nicht etwa Gott, denn das ist ein Unterschied. Aber ich glaube, den kennen Sie selbst.«

»Ich werde nicht so tun, als verstünde ich nicht, was Ihr meint. Aber auch die Tatsache, dass Clyntahn schändlich und korrupt ist, gibt Cayleb Ahrmahk und Maikel Staynair keineswegs das Recht, Mutter Kirche zu zerstören und sich gegen Gottes Willen aufzulehnen.«

»Und Sie, Mein Lord, glauben gar nicht, dass sich die beiden gegen Gottes Willen auflehnen«, versetzte Athrawes sofort. »Wahrscheinlich war das von Anfang an Ihre Überzeugung – oder zumindest schon sehr lange.«

Der scharfe Einwurf des Seijin stand zwischen ihnen: unübersehbar eine Herausforderung, die Thirsk dennoch nicht anzunehmen bereit war. Er hielt dem Blick seines Gegenübers stand und weigerte sich, das Gesagte zu bestätigen … oder zu bestreiten.

»Mein Lord, wie gesagt, es drängt die Zeit. Sie haben noch einen Brief zu lesen und zu beantworten, also fasse ich mich kurz. Mein Kaiserpaar hat Ihre Familie in Sicherheit gebracht und stellt keinerlei Forderungen. Beide wissen und erkennen an, dass Sie nicht nur als treuer Sohn von Mutter Kirche aufgewachsen sind, sondern dass Sie den Eid, den Sie auf die Krone von Dohlar abgelegt haben, ebenso ernst nehmen wie Ihre Pflichten der von Ihnen kommandierten Flotte gegenüber. Ein Ehrenmann hat hier gar keine andere Wahl … es sei denn, es gäbe eine größere Pflicht, eine sogar noch tiefer gehende Verantwortung, der es zu gehorchen gälte. Eine solche schwerwiegende Verantwortung ist jetzt von Ihnen genommen. Trotzdem würden weder Cayleb noch Sharleyan Ahrmahk von Ihnen erwarten, in Ihrem Handeln Ihrem eigenen Dafürhalten nach den Interessen Ihres Königreichs und dem Heil Ihrer eigenen Seele zu schaden. Zwänge mein Kaiserpaar Sie dazu, wäre Charis keinen Deut besser als die ›Vierer-Gruppe‹, was niemals geschehen darf, so meine Kaiserin und mein Kaiser. Deswegen haben sie mich angewiesen, Ihnen das tödlichste aller Geschenke zu überreichen.«

Fest blickte er Thirsk im Lampenschein in die Augen.

»Freiheit, Mein Lord. Das ist das Geschenk von Charis an Sie. Die Freiheit, das zu tun, was Sie für richtig halten … welche Konsequenzen auch immer das nach sich ziehen mag.«

November, im Jahr Gottes 897

.I.

Sheryl-Seridahn-Kanaldie Südmarschen,Republik Siddarmark

»Scheiße«, entfuhr es Lieutenant Klymynt Hahrlys voller Inbrunst. Er stemmte sich hoch und wuchtete sich aus dem knietiefen Matsch, der ihm soeben den Stiefel vom rechten Fuß gesogen hatte.

»Wird langsam ’n bisschen arg zäh, Sir«, meinte Gyffry Tyllytsyn, sein Zugführer, mitfühlend. Er stapfte durch den trügerisch fest wirkenden Matsch auf seinen Vorgesetzten zu, um ihm eine helfende Hand zu reichen.

Hahrlys spie aus und kam mit Tyllytsyns tatkräftiger Hilfe endlich wieder auf die Beine. Seine nun nackten Zehen verkrampften sich im kalten, nassen Matsch, und Matsch gab es auch reichlich vom Gesicht zu wischen. Währenddessen schob der Sergeant vornübergebeugt die Hand tief in selbigen Matsch und tastete nach dem dort verschwundenen Stiefel. Mit einem befriedigten Grunzlaut und unter Einsatz der gesamten Kraft seiner Arme zog er das Schuhwerk aus dem tiefen Schlagloch, das sich unter dem allgegenwärtigen Schlamm so effektiv verborgen hatte. Tyllytsyn drehte den Stiefel um, und breiiger Matsch, ein ganzer Strom davon, ergoss sich klatschend auf den Boden. Als der Strom zum Rinnsal verebbte und schließlich versiegte, schüttelte der Sergeant den Stiefel noch einmal aus, ehr er ihn seinem Eigentümer reichte.

»Vielleicht woll’n Sie sich auf meine Schulter stützen, Sir, bis wir aus diesem Schlammsee hier raus sind«, schlug er vor. »Wär vielleicht auch keine schlechte Idee, den Quartiermeister davon zu überzeugen, noch ’n Paar Stiefel für Sie aufzutreiben.« Er verzog das Gesicht. »Wird wirklich Zeit, dass Sie ’n neues Paar kriegen – diesmal eins mit Schnürsenkeln und so. Das hier wieder sauber zu kriegen, das wird nicht leicht wer’n.«

»Und wie kommen Sie auf die Idee, unser Quartiermeister hätte noch ein Paar in meiner Größe?«, fragte Hahrlys säuerlich, nahm den Stiefel entgegen und klemmte ihn sich unter den linken Arm. Dann stützte er die linke Hand auf die Schulter des Sergeanten und hüpfte auf einem Bein durch den immer seichter werdenden Schlamm, der besagtes Schlagloch umsäumte.

»Na, was das angeht … ich hätt’ da noch diese Flasche Whisky, die Edwyrds und ich irgendwann gebunkert ham. Vielleicht hilft das ja seinem Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Bestechung ist gegen die Vorschriften.« Hahrlys warf Tyllytsyn einen strengen Blick zu, dann zuckte er mit den Schultern. »Außerdem wird’s vermutlich nicht funktionieren. Stiefel scheinen im Moment tatsächlich Mangelware zu sein.«

»Das weiß man immer erst, wenn man’s probiert hat, Sir«, gab der Sergeant gelassen zurück, und Hahrlys schnaubte belustigt auf.

Endlich hatten sie festeres Erdreich unter den Füßen. Mit einem dankbaren Lächeln nahm Hahrlys die Hand von der Schulter des Unteroffiziers. Ein Blick auf den geretteten Stiefel, und das Lächeln wich einem angewiderten Gesichtsausdruck. Die Vorstellung, seinen Fuß wieder in diesen Stiefel zu schieben, behagte ihm nicht. Aber ihm blieb keine Zeit für eine gründliche Reinigung und die Trocknung des malträtierten Schuhwerks. Captain Maizak hatte eine Offiziersbesprechung anberaumt, die in weniger als zwei Stunden beginnen sollte, und der Kommandostand der Kompanie lag noch mehr als eine Meile weit vor ihnen. Die Vorstellung, diese Strecke barfuß – oder halb barfuß – zurücklegen zu müssen, behagte Hahrlys noch weniger. Außerdem war sein Fuß ja ohnehin von demselben Matsch bedeckt, der das Innere des Stiefels auskleidete. Früher oder später würde sich der Matsch aufwärmen, was das Laufen erträglicher machen würde.

Er seufzte und wünschte sich, der Quartiermeister hätte tatsächlich noch ein paar Kampfstiefel in seiner Größe vorrätig – die Sorte Kampfstiefel, die auch unter den herausforderndsten Bedingungen am Fuß bliebe! Leider hatte Hahrlys außergewöhnlich große Füße, weit jenseits aller Standardausführungen, und zwei Sätze anständiger Kampfstiefel (mit Schnürsenkeln!) hatte er schon verschlissen. Deswegen besaß er jetzt nur noch das Paar ungeschnürter Stulpenstiefel, wie sie die Berittene Infanterie der Imperial Charisian Army zu tragen pflegte. Natürlich war er nicht der Einzige aus seinem Zug, der dringend neue Stiefel benötigte. Es stand zu hoffen, dass schon bald Stiefelnachschub einträfe – rechtzeitig genug, um zu verhindern, dass sich der halbe Zug eine Lungenentzündung einfinge.

Hahrlys verzog das Gesicht, schob seinen Fuß entschlossen in den Lederschaft hinein … und hörte das Schmatzen.

»Dann sollten wir jetzt wohl wieder, Gyffry!« Er schaffte es nicht, seine Resignation in dem Maße zu verbergen, wie sich das bei einem Offizier gegenüber Untergebenen gehörte. Tyllytsyn aber diente nun schon sehr lange unter ihm, und so lachte der Sergeant nur leise.

»Da haben Sie wohl recht, Sir«, pflichtete er Hahrlys bei und stapfte weiter durch den Matsch. Dabei ging er vorsichtiger vor als sein Leutnant eben: Er mied verdächtig aussehende Bereiche. Gemeinsam marschierten sie in Richtung der Pioniere, die die Landstraße parallel zum Sheryl-Seridahn-Kanal instand setzten – beziehungsweise das, was von der Straße übrig geblieben war.

Rumpelnd näherte sich ihnen von hinten ein von einem Drachen gezogener Frachtwagen. Davon gab es hier viele, ein schier endloser Zug von Wagen, tagaus, tagein. Beladen ließen sich die Frachtwagen wegen der schlechten Straßenverhältnisse nämlich nur zu einem Drittel. Tyllytsyn trat einen Schritt zur Seite, um Drachen und Wagen passieren zu lassen. Die Räder des Karrens waren fast mannshoch, und doch versanken sie hier und dort fast bis zur Nabe im Schlamm. Die Drachen mussten alle Kraft aufbringen, um sie von der Stelle zu bewegen. Die armen Viecher gaben ihr Bestes. Es war ein Shan-wei-Kreis: Wegen des Matsches vermochten sie höchstens zwei Drittel der Versorgungsgüter herbeizuschaffen, die bei den vorgeschobenen Einheiten der Thesmar-Armee so dringend benötigt wurden. Man war gezwungen, alles über das Gelände unmittelbar neben der Straße zu transportieren, weil das Vorankommen auf der völlig zerstörten Landstraße selbst noch mühseliger war. Das wiederum war der Grund für den Matsch, und dieser der Grund für die Behinderung der Versorgungstransporte. Der fehlende Nachschub aber machte den schwer schuftenden Pionieren ihre Arbeit noch schwerer, die ja nur deshalb schufteten, damit der Versorgungstross wieder die Landstraße nutzen konnte.

Genau deswegen hatten die Dohlaraner sich während ihres Rückzugs so viel Mühe gegeben, den nachrückenden Charisianern so wenig wie möglich Nutzbares zu hinterlassen. Der düstere Gedanke beschäftigte Hahrlys, während er dem Sergeanten durch den sanften Nieselregen folgte. Wenigstens goss es gerade einmal nicht, selten genug. Der Winter in den Südmarschen war zwar nicht so unerbittlich kalt wie in den nördlicheren Provinzen des Königreichs, aber das war auch schon das Beste, was man über ihn sagen konnte. Statt eisig und frostig war es kalt und nass, was auch dafür sorgte, dass man sich erbärmlich fühlte. Schon bald – innerhalb der nächsten ein oder zwei Fünftage – würden die Temperaturen so weit absinken, dass der Matsch über Nacht zumindest teilweise gefrieren würde. Vom Monatsende an wäre das aufgewühlte Erdreich auch tagsüber gefroren. Dann hätten die Charisianer endlich wieder vernünftigen Boden unter den Füßen, nicht nur eine trügerisch feste oberste Schicht, die unter jedem einbräche, der dumm genug war, ein paar Schritte darauf zu wagen. Aber vielleicht würde das Wetter ihnen diesen Gefallen auch nicht tun. Nein, gewiss wäre es, so Hahrlys’ Überzeugung, nicht derart entgegenkommend.

Mutter meint immer, das Praktische am Pessimismus sei, dass man eigentlich so gut wie immer positiv überrascht werde, sagte er sich selbst. Aber schaut man sich das bisherige Wetter an, muss jeder, der immer noch nicht zum Pessimismus konvertiert ist, bekloppt sein!

Donnergrollen in der Ferne brachte Hahrlys dazu, sich umzuwenden. Er blickte nach Westen, dem rumpelnden Frachtkarren hinterher. Das Donnergrollen hatte dem unablässigen Regen zum Trotz nichts mit dem Wetter zu tun. Hahrlys’ Kiefermuskeln arbeiteten, als das Dröhnen der Artillerie anschwoll. Es war die düstere Erinnerung daran, warum sich seine Männer durch knie-, manchmal gar hüfttiefen Morast kämpften und sich abmühten, die Landstraße wieder ansatzweise nutzbar zu machen. Die Front lag weniger als fünf Meilen vor ihnen, aber das Vorrücken der Thesmar-Armee glich qualvollem Kriechen durch alles durchweichenden Morast.

Er wischte sich Regen und, nicht zu vergessen, Matsch aus den Augen und spähte am Kanal entlang, als glaubte er, tatsächlich Mündungsfeuer erkennen zu können. Ein Ding der Unmöglichkeit. Aber das war auch nicht nötig, um genau zu wissen, was dort vorn geschah. Das Dröhnen detonierender Mörsergeschosse klang völlig anders als das Bellen schwerer Geschütze. Diesen Unterschied nahm jeder wahr, der beides so reichlich zu hören bekommen hatte. Und das Artillerieduell war mittlerweile nicht mehr völlig einseitig.

An Truppenstärke hatte Sir Fahstyr Rychtyrs Seridahn-Armee nicht sonderlich gewonnen: Die Königlich-Dohlaranische Armee schien Schwierigkeiten zu haben, hinreichend ausgebildete Männer aufzutreiben. Aber Rychtyrs Regiment wurde mit einer kleinen, aber stetig wachsenden Zahl von Hinterladergewehren aus dohlaranischer Fertigung versorgt. Das war nicht gut, ebenso wenig wie das Auftauchen bandverstärkter Geschütze und erster in Dohlar gefertigter Steilfeuergeschütze an der Front. Glücklicherweise gab es von Letzteren nur wenige, und weder Dohlars noch die Armee Gottes waren – bislang – in der Lage, dem indirekten Beschuss aus charisianischen Mörsern und Steilgeschützen Vergleichbares entgegenzusetzen. Ihre Artillerie blieb damit dem charisianischen Gegenfeuer ausgesetzt, denn ihre Geschütze waren auf gerade Schusslinien und freies Schussfeld ausgelegt – was auch freies Schussfeld für die Gegenseite bedeutete. Doch mittlerweile verschanzten sich die Dohlaraner besser, und ihre Feuerstellungen waren jetzt schwieriger zu zerstören. Um selbst Treffer zu erzielen, mussten sie dem Feind auch nicht mehr bis auf charisianische Gewehrschussreichweite nahe kommen. Geschützführer des Gegners in großer Zahl von charisianischen Scharfschützen ausschalten zu lassen, war seitdem keine Option mehr. Eine steigende Zahl von Steilfeuergeschützen hieß jedoch nicht, dass die dohlaranische Artillerie in absehbarer Zeit ähnlich geschickt damit umzugehen verstünde wie die Charisianer. Schmerzhaft-effektiv aber war jede einzelne von diesen Waffen. Charis hatte auf die harte Tour herausgefunden, dass die Dohlaraner sehr rasch lernten … vor allem unter feindlichem Beschuss.

Und Graf Hanth hat auch längst nicht so viele Mörser und Steilgeschütze, mit denen er auf die schießen könnte, wie er gern hätte, dachte Hahrlys bedrückt. Ja, tatsächlich verfügen die Dreckskerle da drüben zwischenzeitlich über eine größere Reichweite, als sie unsere Dreißigpfünder haben – und die machen zwei Drittel unserer Feldartillerie aus!

Blieb immer noch die Tatsache, dass Charis’ Truppen immer noch in Richtung der siddarmarkianisch-dohlarischen Grenze vorrückten. Selbst in ihrem derzeitigen Schneckentempo würde die Thesmar-Armee noch vor Ende des Monats das Herzogtum Thorast erreichen.

Es sei denn, es käme irgendein neuer Aspekt hinzu.

Bis dahin galt es, die Männer, die hier fluchten, bluteten und starben, nach Möglichkeit zu versorgen. Klymynt Hahrlys wandte sich vom Donnergrollen ab und jenen Männern zu, die sich damit abmühten, diese Versorgung sicherzustellen.

»Verzeihen Sie, Sir!«

Sir Hauwerd Breygart, anderweitig auch bekannt als Graf Hanth, verzog das Gesicht und wedelte hektisch mit der Hand. Ausnahmsweise war er für das nasskalte Wetter dankbar, denn nasskalt linderte den Schmerz in den verbrühten Fingern.

»Erschießungskommando im Morgengrauen, Dyntyn!«, knurrte er und warf seinem Adjutanten einen strengen Blick zu. »Notieren Sie das!«

»Jawohl, Sir. Natürlich werden Sie, wenn Sie mich haben erschießen lassen, jemand anderen finden, der für Sie Karten auftreibt.« Major Dyntyn Karmaikel verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen. »Das ist meine Geheimwaffe, Sie verstehen! Ich denke so bei mir, wenn niemand sonst Gewünschtes für Sie auftreiben kann, müssen Sie mich wohl oder übel behalten.«

»Ganz schön gerissen.« Der Graf hörte auf, mit der Hand zu wedeln, und begutachtete sie aufmerksam. Blasen waren keine zu erkennen, doch der Ringfinger war unbestreitbar gerötet.

»Versuchen wir’s noch einmal, aber dieses Mal vorsichtiger«, sagte er und nahm Karmaikel den riesigen Becher mit Kirschbohnentee aus der Hand, ohne dass es zu einem weiteren unangenehmen Zwischenfall kam.

Eigentlich war es ja nicht die Schuld des Majors, dass das Getränk übergeschwappt war. Außerdem hatte seine Hand den Tee davon abgehalten, auf die Karte zu platschen, die unter der tropfnassen, schützenden Plane ausgebreitet lag. Abgesehen davon: Solange man nicht ganze Finger verlor, ließ sich doch eine Brandblase leidlich verschmerzen, nicht wahr?

Hanth nippte an dem heißen Getränk, genoss die Wärme und die belebende Wirkung des Coffeins. Seine Kirschbohnenteesucht war noch recht frisch; er hatte sich dieses Gewohnheit erst nach seiner Anlandung in Thesmar zu eigen gemacht. Im Alten Königreich Charis war dieses Getränk noch nicht sonderlich verbreitet, während es sich in Emerald beachtlicher Beliebtheit erfreute. Noch deutlich beliebter – um nicht zu sagen: sogar gewaltig beliebt – war es jedoch in der Republik. Das war nicht weiter verwunderlich, wenn man den siddarmarkianischen Winter bedachte. Daher war von hoher Priorität gewesen, die Vorräte für die Kompanien der Miliz wieder aufzustocken, die Thesmar hatten halten können – trotz allem, was die tempelgetreue Miliz ihnen entgegengeschleudert hatte. Bei jeder Besprechung leitender Offiziere gehörte Kirschbohnentee zu den Grundnahrungsmitteln – vor allem, wenn sie frühmorgens stattfanden. Bis zur ersten Tasse Kirschbohnentee schien der Siddarmarkianer an sich unfähig zu rationaler Überlegung. Unter Umständen wie diesen war eine Abhängigkeit zu entwickeln vermutlich unvermeidbar gewesen, verwunderlich nur, dass Hanth es sich angewöhnt hatte, den Tee schwarz zu trinken. Für jemanden, der mit deutlich milderen Tees und heißer Schokolade aufgewachsen war, war das höchst seltsam.

So läuft das wohl, wenn man in schlechte Gesellschaft gerät, sinnierte Hanth und umschloss den schweren Steinzeugkrug mit beiden Händen, um sich daran aufzuwärmen. Und es gibt eindeutig schlechtere Angewohnheiten.

»Gibt es Neues von Brigadier Snaips?«, fragte er dann.

»Keinen vollständigen Bericht, Mein Lord, aber gleich nach dem Frühstück hat er einen aktualisierten Lagebericht übermittelt.« Dyntyn schnitt eine Grimasse und wies hinauf zur pechschwarzen Unterseite der hohen Wolkenberge. Die Geste schloss auch die nebelartigen Regenschleier ein. »Bei solch einem Schmuddelwetter kommt man mit Heliographen oder Semaphoren wirklich nicht weit. Deswegen hat er einen Meldegänger geschickt. Seine Vorhut zählt noch, aber er sagt, insgesamt seien die Verluste nicht so hoch ausgefallen, wie zunächst angenommen. Laut Colonel Brystahl hat der Zug, den er schon vollständig überrannt gewähnt hatte, die Stellung doch noch halten können. Es scheint auch mehr Verwundete als Gefallene gegeben zu haben, und der Kommandeur dieser Einheit hatte bei Ablösung sogar zwanzig oder dreißig Gefangene zu überstellen.«

»Gut!« Nachdrücklich nickte Hanth.

Brigadier Ahrsynio Snaips’ 4. Brigade war Breygarts vorderste Einheit, und Colonel Fhranklyn Brystahls 7. Regiment fungierte seit zwei Fünftagen als deren Vorhut. Es war eine undankbare Aufgabe, vor allem bei diesem Wetter, und Hanth mühte sich redlich, diese Pflicht auch anderen Einheiten zu übertragen. Unter anderem deswegen sollte im kommenden Fünftag das 8. Regiment an Brystahls Männern vorbeiziehen und die Offensive übernehmen. Das Gelände war beengt, die Bodenverhältnisse erbärmlich und die Logistik jämmerlich, weshalb die Frontbreite eines Regiments das Äußerste dessen war, was von der Thesmar-Armee vorrücken konnte. Clyftyn Sumyrs Alyksberg-Division hatte den Auftrag, beide Flanken zu sichern. Dafür waren dessen siddarmarkianische Pikenierkompanien auf Sollstärke gebracht und mit Gewehren bewaffnet worden. Allerdings standen sie relativ weit hinter Hanths Speerspitze – wenn man bei derart mühseligem Vorrücken diesen Begriff überhaupt verwenden mochte. Nun, vorrücken konnte man eh nur so weit, wie es die Reparatur der Landstraße gestattete. Anderenfalls liefe Hanth Gefahr, seine gesamte Armee auszuhungern.

Aus demselben Grund operierte er auch nicht mehr mit Kehrtwenden, wie er sie zu Jahresanfang hatte vollführen lassen: Damals hatte er sich einen Weg entlang der Flanken der Seridahn-Armee gesucht, um Rychtyr zum Rückzug zu zwingen, statt sich geradewegs in die dohlaranischen Stellungen hineinzufressen. Auch nach Einsetzen der Regenfälle war er so vorgegangen … bis der aufgeweichte Boden es nicht mehr zuließ. Bei den Männern hatte die damit einhergehende unerfreuliche Erfahrung ›Grimaldis Schlammbad‹ geheißen – nachvollziehbar, warum, fand Hanth. Natürlich hätte er Infanterie und Kavallerie querfeldein vorrücken lassen können, wenngleich nur langsam. Gewiss wären die Männer ihm auch dabei gefolgt … doch die dringend benötigten Versorgungsgüter mit ihnen Schritt halten zu lassen, war das eine Problem, das andere, seine Vorhut bei diesen Bodenverhältnissen überhaupt vorrücken zu lassen, selbst entlang des Kanals.

Auf freiem Feld waren die Bedingungen noch schlechter, als befürchtet. Fast jeden Morgen nach dem Aufstehen verwünschte Hanth sich dafür, nicht auf die einheimischen Verbündeten gehört zu haben, die ihn genau davor gewarnt hatten. Natürlich hatte er ihnen sofort geglaubt, ihm stünden widrige Bedingungen bevor. Nur hatte er sich das Ausmaß der Widrigkeit nicht vorstellen können – oder wollen. Zu seiner Verteidigung ließ sich nur vorbringen, dass noch nie jemand versucht hatte, ganze Armeen durch dieses Gelände zu führen, selbst nicht während der Kriege zwischen Desnairia und der Republik. Also hatte tatsächlich niemand gewusst, wie seicht das Wasser östlich von Fyrayth und der Kette der Fyrayth-Hügel wirklich war. Selbst die Siddarmarkianer hatten ihn nicht vor dem Sumpf warnen können, in den sich das an sich angenehm flache Gelände verwandeln würde, zögen dort erst ein paar tausend Infanteristen, Kavalleristen und Versorgungskarren hindurch.

Bedauerlicherweise war die Logistik der Seridahn-Armee deutlich besser als seine eigene. Übereinstimmend berichteten Aufklärer, der Königlich-Dohlaranischen Armee fehle es nach wie vor an ausgebildeten Männern und neuen Waffen. Nur die Versorgung mit Lebensmittel- und Munitionsvorräten sei gut, denn die Landstraße hinter General Rychtyrs Einheiten war nach wie vor intakt. Schlimmer noch: Im Gelände westlich der Fyrayth-Hügel lief das Wasser deutlich besser ab; daher war es dort deutlich weniger sumpfig. Obendrein war der Kanal noch bis auf eine Entfernung von dreißig Meilen vor der Frontlinie vollständig schiffbar. Rychtyrs Truppen mochten es ja kalt und nass haben und sich elend fühlen, aber sie waren anständig ernährt und daher voller Tatendrang, und Sir Fahstyr selbst wurde immer zuversichtlicher oder zumindest weniger zögerlich, Verluste in den eigenen Reihen zu riskieren.

Zudem hatte er das Kommando über die Einheiten, die in Kontakt mit der Thesmar-Armee standen, General Clyftyn Rahdgyrz übertragen, dem womöglich fähigsten, zweifellos aber aggressivsten seiner Divisionskommandeure. Ein Gegenangriff wie der, der letzte Nacht im Schutze der Dunkelheit erfolgt war, war ganz typisch für ihn. Nun, seine Männer nannten ihn nicht umsonst ›die Peitschenechse‹. Er hatte die Bedingungen für diesen Angriff sehr sauber durchdacht. Die niedrig hängende Wolkendecke und der Regen hatten die Effektivität der charisianischen Leuchtraketen drastisch eingeschränkt; das galt sogar für die neueren Leuchtgranaten, die an Admiral Sympsyns Kanoniere ausgegeben worden waren. Das hatte es Rahdgyrz’ Männern ermöglicht, das von beiden Seiten nur als Niemandsland bezeichnete Territorium unter deutlich weniger Verlusten zu durchqueren, als das eigentlich hätte geschehen sollen. Gekämpft worden war aus nächster Distanz, hinterhältig und erbittert … und mit einem hohen Preis für alle Beteiligten. Brystahl hatte verlorenen Boden wieder gutgemacht, doch der Angriff der Dohlaraner hatte ihn Zeit gekostet, nicht nur Männer … und das war zweifellos Rahdgyrz’ Hauptziel gewesen. Vor dem morgigen Tag war an ein weiteres Vorrücken nicht zu denken: Angesichts der jüngsten Verluste brauchte das 7. Regiment mindestens diesen einen Tag, um sich neu zu organisieren.

Darüber dachte Hanth noch nach, während er, die Tasse Kirschbohnentee in der einen, mit dem Zeigefinger der anderen Hand über die Buntstiftlinien fuhr, die auf der Karte die Stellungen der 4. Brigade markierten.

»Wir werden wohl General Sumyrs fragen müssen, ob sich Brigadier Snaips zur Unterstützung für ein paar Tage die Alyksberg-Dritte ausleihen kann«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht müssen wir uns deswegen zusätzlich auch noch an die Südmark-Siebte wenden. Die Landstraße da ist hinreichend in Schuss. Sie sollten also gut vorankommen, und während der Neuaufstellung möchte ich Major Fairstocks Bataillon vollständig von der Front abziehen.«

»Jawohl, Sir«, bestätigte Karmaikel und machte sich auf seinem Block Notizen.

»Und sobald Sie diese Nachricht abgeschickt haben, Dyntyn, setzen Sie gleich die nächste auf: Fragen Sie Admiral Sympsyn, ob er sich wohl zum Lunch zu uns gesellen mag. Ich würde gern mit ihm besprechen, wie wir unsere neuen Steilgeschütze am besten zum Einsatz bringen, sobald sie eintreffen.«

Der Graf bemühte sich – weitgehend erfolgreich –, bei den letzten Worten nicht bitter zu klingen. Es gab niemanden, dem man konkret dafür hätte die Schuld geben können, dass er eine – exakt eine! – Batterie neuer 6-Zoll-Steilfeuergeschütze erhalten hatte. Doch so höllisch schwierig sich unter den Geländeverhältnissen auch deren Verlegung gestaltete, so sehr war diese eine Geschützbatterie doch ihr (beachtliches) Gewicht in Gold wert. Und falls man sich in diesem Falle wie sonst auch auf Ehdwyrd Howsmyns Wort verlassen konnte, sollten innerhalb der nächsten Fünftage vier oder fünf weitere jener Batterien hier eintreffen.

»Ich wünschte, die würden uns auch ein paar der neuen Vierzöller mitschicken«, fuhr Hanth fort. »Ich will weiß Langhorne nicht wie ein Jammerlappen klingen, aber Steilgeschütze und Mörser können nicht unbegrenzt viel ausrichten, und ich würde die Dreißigpfünder wirklich gern zusammen mit Fairstocks Bataillon von der Front abziehen. Aber na ja, wir sollten dankbar sein für alles, was wir bekommen.«

Dieses Mal nickte Karmaikel beim Weiterschreiben nur.

Hanth schwieg einen Moment lang, den Blick auf die Karte gerichtet. Nichts als der Versuch, das Unausweichliche hinauszuzögern!, dachte er. Es wird auch dann noch regnen, wenn du endlich deinen Hintern auf den Sattel geschafft hast, mein Lieber.

Kurz war er versucht, den jungen Karmaikel anzuweisen, das Vorankommen von Ahrthyr Parkyrs Pionieren allein zu überprüfen. Anschließend könnte ihm der Major doch gewiss alle wichtigen Informationen aus erster Hand liefern, da bräuchte er doch gar nicht mitzukommen!

Tja, nur müssen die Männer sehen, wie sehr ich zu schätzen weiß, dass sie sich alle den Arsch abschuften!, ermahnte er sich. Und wenn ein General vorbeikommt, um ihnen bei der Arbeit über die Schulter zu schauen, dann vermittelt ihnen das weit mehr das Gefühl für … Dringlichkeit … vor allem, wenn besagter General, der ihnen über die Schulter schaut, durchgefroren und durchnässt und grantig ist. Nur sollte ich nicht vergessen, dass die auch Ermutigung brauchen! Immerhin ist es nicht ihre Schuld, dass ich durchgefroren und nass sein werde!

Er stieß ein belustigtes Schnauben aus und nahm einen großen Schluck Kirschbohnentee.

»Also gut, Dyntyn«, seufzte er dann und ließ den Becher sinken. »Dann sollten Sie jetzt wohl die Pferde holen gehen.« Ein kurzer, heftigerer Platzregen prasselte auf die Zeltplane, und ein Schauer lief dem Grafen über den Rücken. »Ich bleibe noch hier und trinke meinen Tee … und hoffe darauf, dass der heutige Morgen das hier …«, er schwenkte den Teebecher in einer Geste, die das gesamte Wetter einzuschließen schien, »… ausgetrieben bekommt, bis Sie wiederkommen.«

»Ist das ein weiterer jener ›Mit-dem-Rang-kommen-die-Privilegien‹-Momente, Sir?«, fragte Karmaikel leise lächelnd.

»Ach, na ja, Major …«, Hanths Lächeln fiel deutlich breiter aus als das seines Adjutanten, »wahrscheinlich schon.«

.II.

HMSSerpentundHMSFleet Wing,Trosan-Kanal,Golf von Dohlar

»In zwei oder zweieinhalb Stunden hat uns der Dreckskerl eingeholt«, raunte Lieutenant Karmaikel Achlee seinem Kommandeur in Ohr. »Die sind schneller als wir, verdammt noch eins!«

Lieutenant Commander Truskyt Mahkluskee nickte und bemühte sich redlich, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Selbstredend zweifelte er weder am Geschick noch am Mut seiner Mannschaft. Denn die Royal Dohlaran Navy hatte auf die harte Tour herausgefunden, dass das Kreuzen der Klingen mit der Imperial Charisian Navy fast immer übel ausging – vor allem, wenn Letztere die Bedingungen für das Zusammentreffen festlegte. Der Bursche, der Mahkluskee verfolgte, würde ihn nicht verfolgen, wäre er nicht sehr zuversichtlich, ebendiese Bedingungen diktieren zu können.

Sein kleines Fernrohr unter dem rechten Arm, verschränkte Mahkluskee die Hände hinter dem Rücken und spähte über die Heckreling hinweg zu der unverkennbaren Schonertakelung hinüber, die immer näher aufkam. Der Wind wehte mit etwa zwanzig Meilen in der Stunde fast direkt aus Nordwest, die Wellen kamen auf sechs Fuß Höhe – grobe See also. Dabei frischte der Wind noch weiter auf, und er trieb schwere Wolkenbänke vor sich her, die Regen verhießen. Mahkluskee konnte ihn beinahe schon riechen. Setzte der Regen doch nur jetzt ein – bevorzugt so dicht, dass die Sicht auf praktisch null schrumpfte! Doch so würde es nicht kommen. Oder erst lange, nachdem der erbarmungslose Verfolger die Serpent eingeholt hätte.

Verdammte Anstellerei!, schalt er sich. Ja, das sind Charisianer, und sie verfolgen uns. Ist das etwa verwunderlich? Nach den Geschehnissen in der Hahskyn Bay will jedes charisianische Kriegsschiff Blut sehen – was man denen ja kaum verdenken kann! Also ist der Bursche hinter uns wohl sauer genug, um Risiken einzugehen, die er sonst vermiede. Und Charisianer hin oder her: Selbst die sind keine zehn Fuß groß und nutzen Piken nicht als Zahnstocher. Vergiss das bloß nicht … und lass keinen der Jungs hier glauben, du hättest auch nur einen Moment lang Zweifel!

»Zwei Stunden, Karmaikel, mehr nicht, scheint mir«, schätzte er dann. »Tja, schade, dass bislang niemand die Zeit gehabt hat, uns den Rumpf zu verkupfern.«

Achlee grunzte zustimmend. Erst nachdem sie ein paar charisianische Schiffe aufgebracht und auseinandergenommen hatten, hatte die Royal Dohlaran Navy verstanden, dass und wie man Kupferplatten am Schiffsrumpf anbringen konnte, um ihn vor Bohrern und Seetang zu schützen. Warum das funktionierte, wusste niemand: Mittlerweile jedoch wusste jeder, dass Versuche, das Kupfer mit Eisennägeln zu befestigen, zerstörerisch waren, ein absoluter Fehlschlag. Das Wissen allein machte es nicht weniger herausfordernd, einen Schiffsrumpf zu verkupfern, der durch nichts als Eisennägel zusammengehalten wurde. Bei einem Schiffsneubau konnte man den neu gewonnenen Erkenntnissen Rechnung tragen, aber bei einem bereits bestehenden Schiff jeden einzelnen Eisennagel herauszuziehen und durch einen aus Kupfer zu ersetzen, war immens zeitaufwendig und obendrein kostspielig. Die Lösung der Schiffszimmermänner war folgende: Man beplankte den Schiffsrumpf neu, nutzte zur Anbringung Bronze, überzog die Umkleidung dann mit Pech, und an dieser schraubte man dann die Kupferplatten an. Teuer, Shan-wei noch eins, aber es funktionierte! Schließlich machte die Wirkung der Kupferplatten den Geschwindigkeitsverlust mehr als wieder wett, der sich durch den voluminöseren Schiffsrumpf ergab: Die Schiffe blieben dauerhaft ohne die langen Tangstränge, die sich auf Kupfer nun einmal nicht ansetzten, aber nicht verkupferte Rümpfe wenige Tage nach dem Sauberschrubben bereits verlangsamten.

Dummerweise war die Serpent nur eine einfache Brigg. Die Entscheidungsträger bei der Königlich-Dohlaranischen Flotte wussten natürlich, dass Schiffe ihrer Größe noch mehr auf Geschwindigkeit angewiesen waren als größere Pötte. Sie waren jedoch auch entbehrlicher, und Priorität besaßen die Galeonen … und die Schraubengaleeren, deren Priorität sogar noch höher war.

Womit die Serpent ins sprichwörtliche Hinterteil gekniffen war.

Wieder einmal.

»Was meinen Sie, wie die vorgehen werden?«, fragte Achlee nach kurzem Schweigen.

»Die bringen Wind mit«, antwortete Mahkluskee und zuckte mit den Schultern. »Die sind schneller, denn sie haben eine Schonertakelung und den Windvorteil. Die entscheiden, über welche Entfernung hinweg gekämpft wird, wenn die nicht so richtig Mist bauen – und wann haben Sie das letzte Mal gehört, dass ein Charisianer in der Seeschlacht Mist gebaut hat? Die Frage ist wohl nur noch, ob unser Verfolger mehr für ›hin und her tänzeln und gelegentlich schießen‹ zu haben ist oder für ›geradewegs hinein ins Ganze‹. Ehrlich gesagt, zöge ich Letzteres vor.«

»Ich auch«, pflichtete ihm Achlee bei.

Einen großen Bewaffnungsunterschied gab es zwischen der Serpent und einem typischen Schoner der Imperial Charisian Navy nicht: Die Brigg verfügte über zwanzig Fünfundzwanzigpfünder-Karronaden und dazu als Jagdbewaffnung über zwei Achtzehnpfünder-Langrohrgeschütze am Bug. Je nachdem, zu welcher Klasse der Schoner gehörte, dürfte er zwischen sechzehn und zwanzig Geschütze an Bord haben, höchstwahrscheinlich Dreißigpfünder-Karronaden. Bei manchen größeren Schonern allerdings war die Anzahl der Geschütze vermindert, hin und wieder sogar halbiert, um Platz für Siebenundfünfzigpfünder zu schaffen. Abgefeuert von einem Siebenundfünfzigpfünder besaß eine Sieben-Zoll-Explosivgranate eine verheerende Wirkung. Na ja, gut, das galt auch schon für eine gewöhnliche Kanonenkugel dieser Größe! Doch Mahkluskee und seine Männer konnten natürlich immer noch darauf hoffen, dass der Verfolger achteraus bei seinen alten Dreißigpfündern geblieben war. Beide Kriegsparteien hatten ihre Breitseitenbewaffnung mittlerweile so umgerüstet, dass sie auch Granaten abzufeuern vermochten. Die Königlich-Dohlaranische Flotte hielt es indes für wenig sinnvoll, Explosivgranaten für Leichteres als Fünfundzwanzigpfünder zu entwickeln, weil diese dann nur mit einer sehr kleinen Sprengladung beschickt werden konnten. Für ein Schiff der Größe eines Schoners oder einer Brigg nämlich machte es kaum einen Unterschied, ob es von einer Dreißigpfünder- oder Fünfundzwanzigpfündergranate getroffen wurde: Die Auswirkungen auf ihre leichte Beplankung und ihre weniger robusten Spanten waren fast identisch.

Doch in einem solchen Gefecht käme es letztendlich nur darauf an, wer zuerst traf. Mahkluskee setzte zwar großes Vertrauen in die Qualität seiner Mannschaft, aber die Charisian Navy hatte Schiffsgeschütze nun einmal erfunden. Auch heute noch waren sie auf diesem Gebiet die Besten der Welt, was zuzugeben sich der Lieutenant Commander nicht schämte. Das bedeutete aber auch, dass ein ›Hin-und-her-Tänzler‹ sich vermutlich so lange zurückhalten würde, bis er die ersten ein, zwei Schuss abgesetzt hätte. Näher aufkommen und die Angelegenheit mit kaltem Stahl zu einem Abschluss bringen würde er nur, ließe es sich gar nicht vermeiden.

»Er muss zumindest Vorsicht walten lassen«, sinnierte Mahkluskee. »Wir sind der Heimat ungleich näher als er. Wenn er sich zusammenschießen lässt, wird er vermutlich leichte Beute für den nächsten sein, dem er begegnet.«

»Steht zu hoffen, dass er das im Hinterkopf hat, Sir!«, grinste Achlee.

»Schaden könnte es nicht«, pflichtete ihm Mahkluskee bei, dann atmete er tief durch. »In ungefähr zwei Stunden sollte es Lunch geben. Sagen Sie dem Koch, er soll das Essenfassen vorverlegen. Ich möchte, dass die Jungs anständig gefüttert sind, bevor es hoch hergeht. Und dann sagen Sie Fytsymyns, dass ich ihn sprechen möchte. Mir scheint, nach dem Essen sollten wir ein paar Dinge neu arrangieren.«

»Dann ist es wohl an der Zeit, Schiff klar zum Gefecht zu geben, Zosh«, sagte Lieutenant Hektor Aplyn-Ahrmahk nachdenklich.

Mit seinen achtzehn Jahren war Aplyn-Ahrmahk, der bei gesellschaftlichen Anlässen als Seine Gnaden Herzog Darcos angesprochen wurde, gerade so eben alt genug, um ein Kriegsschiff der Kaiserlich-Charisianischen Flotte zu befehligen. Da er Kaiser Caylebs und Kaiserin Sharleyans Adoptivsohn war, gab es einige, die mit dieser Beziehung zu den höchsten Kreisen des Kaiserreichs erklärt sahen, wieso er in diesem zarten Alter schon zum Kommandanten von HMSFleet Wing aufgestiegen war. Doch niemand, der so dachte, hatte jemals unter dem Herzog Dienst getan. So nämlich, als der Herzog, wurde der Leutnant mittlerweile bei fast der gesamten Flotte bezeichnet, als hätte es in deren Reihen noch nie einen anderen Herzog gegeben. Seit seinem zehnten Lebensjahr fuhr Hektor zur See. Er war elf Jahre alt gewesen, als der König von Charis in seinen Armen gestorben war, und im Laufe des letzten halben Jahrzehnts hatte er sich den Ruf erworben, besonders furchtlos zu sein. Weder sein jugendliches Alter noch der verkrüppelte linke Arm – die Folge eines beinahe tödlichen Attentats am Tage seiner Hochzeit – änderten etwas daran, dass ihm jedes Besatzungsmitglied selbst bei einem Ansturm gegen Shan-weis Höllentore gefolgt wäre. Das Seemannshandwerk hatte der Herzog bei Sir Dunkyn Yairley erlernt, Baron Sarmouth. Vielleicht – aber wirklich nur vielleicht! – gab es bei der Imperial Charisian Navy zwei Schiffskommandeure, die besser und geschickter waren als Sarmouth, aber drei bessere gab es sicher nicht! Und anders als viele wirklich geschickte Seefahrer war der Baron auch noch einer der besten Lehrer, die jemals auf einem Achterdeck gestanden hatten … was recht gut erklärte, warum Aplyn-Ahrmahk sein schnelles, schnittiges Schiff mit dem Selbstbewusstsein und Geschick eines Seebären mindestens doppelten Alters befehligte.

Zudem hatte er mehr als ein Jahr lang als Sarmouths Flaggleutnant gedient. Das hatte ihm Einblicke in die strategischen Bedürfnisse der Flotte gewährt und damit die Grundlage für ein strategisches Geschick gelegt, das bei derart jungen Offizieren selten zu finden war. Hierin nun lag der Grund dafür, dass gerade er für die Aufgabe ausgewählt worden war, die Fundinsel anzusteuern und Chelmport zu erkunden.

Chelmport hatte Admiral Gwylym Manthyr bei dessen verhängnisvollem Vorstoß in den Golf von Dohlar als Stützpunkt gedient, und die Fundinsel – in der Südwestecke der Dohlar-Bank – lag ungefähr auf halber Strecke zwischen der Talisman-Insel, dem derzeitigen vorgeschobenen Stützpunkt der Royal Charisian Navy, und der Gorath Bay, seefahrtstechnisch das Herzstück des Königreichs Dohlar. Fünf Monate waren seit der Schlacht in der Meerenge von Kaudzhu vergangen, und obwohl Dohlar bei diesem Gefecht den Sieg errungen hatte, hatten beide Flotten schwer gelitten. Derzeit war die Königlich-Dohlaranische Flotte ebenso damit beschäftigt, Reparaturen vornehmen zu lassen, Wiederaufbau und Neukonstruktionen in Auftrag zu geben, wie das in Charis der Fall war. Aber Dohlar hatte den Vorteil, dass zum Zeitpunkt des Gefechts eine beachtliche Anzahl neuer Galeonen kurz vor Stapellauf gewesen war. Charis andererseits verfügte über eine ungleich größere bereits bestehende Flotte, aus deren Reihen sich Verstärkung und Entsatz herbeirufen ließ, darunter ebenfalls neue Schiffstypen. Laut Baron Sarmouth dürfte sich diese Verstärkung bereits auf dem Weg befinden, um vor der Klaueninsel zu Admiral Sharpfield zu stoßen. Sodann würde Sharpfield zweifellos Mittel und Wege suchen, sie so aggressiv wie möglich – und so tief wie möglich im Feindesgebiet – zum Einsatz zu bringen, und ein Stützpunkt in Chelmport befände sich an der idealen Stelle, um mit jenen Galeonen die Mahthyw-Passage zu überwachen, den Hilda- und den Trosan-Kanal sowie die Fern-Meerenge. Damit wäre das gesamte östliche Ende des Golfs abgeriegelt, wodurch die Royal Dohlaran Navy und auch das gesamte Transportgewerbe des Königreichs südlich der Dohlar-Bank im Hankey-Sund und der Salthar-Bucht eingeschlossen wären. Daneben wäre auch jeder Küstenfahrer bedroht, der unbedacht genug wäre, sich in den Tanshar-Golf vorzuwagen.

Es schien beliebig unwahrscheinlich, dass sich ein so schlauer Fuchs wie Graf Thirsk dieser Möglichkeiten weniger bewusst sein sollte als die Charisianer – vor allem, wo doch Manthyr Chelmport während seines Abstechers genau dafür genutzt hatte.

Sarmouth trieb nun die Frage um, was Thirsk unternommen hatte, um zu verhindern, erneut so wie von Manthyr behandelt zu werden – und Hektor war die Aufgabe erteilt worden, die Antwort auf die Frage zu finden.

Die Antwort lautete: eine ganze Menge. Unmöglich hatte Thirsk alle Häfen entlang der sechzehntausend Meilen Küste im Golf von Dohlar verschanzen lassen können – ganz zu schweigen von den Dutzenden von Inseln, in denen ein Stoßtrupp zumindest vorübergehend vor Anker gehen könnte. Das musste Thirsk auch nicht. Denn es gab Kriterien wie die Wassertiefe in potenziellen Hafenbecken, Verfügbarkeit von Trinkwasser, Windverhältnisse vor Ort und all die anderen Faktoren, die ein erfahrener Seemann stets im Blick hatte, die die Unzahl an Möglichkeiten schrumpfen ließ. Dennoch blieben mehr, als dass Thirsk darauf hoffen könnte, sie alle beschützen und abriegeln zu können.

Chelmport jedoch hatte er besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Hafeneinfahrt war jetzt durch eine schlagkräftige Batterie von Vierzigpfündern gesichert. Es waren zwar nicht mehr als vielleicht zwanzig Geschütze, aber diese waren sehr gut positioniert und durch breite und hohe Erdwälle geschützt. Zudem wurden vor Ort auch noch neue Geschützstellungen vorbereitet. Deren Positionen ließ auf neue Fultyn-Geschütze schließen – jene bandverstärkten Kanonen mit gezogenem Rohr, die mit Feuereifer in den Gießereien der Kirche produziert wurden. Verteidigungsanlagen wie diese reichten aus, um ungepanzerte Galeonen auszuschalten. Außerdem hatte die Royal Dohlaran Navy derzeit die einzige Panzergaleone im Golf von Dohlar in ihrer Gewalt, die HMSDreadnought (das Schiff hatte auch nach der Aufbringung seinen charisianischen Namen behalten). Chelmport jedenfalls war als vorgeschobener Stützpunkt unbrauchbar.

Das allerdings konnte sich ändern, wie alles im Leben, und was den Blick in die Zukunft betraf, genossen Hektor Aplyn-Ahrmahk und Sir Dunkyn Yairley doch gewisse Vorteile.

»Bitte vergessen Sie nicht, dass Sie in die Heimat zurückkehren müssen, um Ihren offiziellen Bericht abzuliefern«, hörte Hektor eine trockene Stimme in seinem Ohr, als wollte diese ihn an genau jene Vorteile erinnern. Kurz zuckte es um Hektors Mundwinkel. Es gelang ihm, das Lächeln gerade noch zu unterdrücken, das er Lieutenant Hahlbyrstaht nur sehr schlecht hätte erklären können. Seinem Ersten Offizier gegenüber zu erwähnen, er höre Stimmen, wäre wahrscheinlich keine gute Idee gewesen, auch wenn unter besagten Stimmen unter anderem die von Baron Sarmouth war. Noch weniger gut war diese Idee schon deswegen, weil das zufälligerweise der Wahrheit entsprach.

Unfair, das ist es! Der Admiral kann mir ein Ohr abquatschen und weiß doch genau, dass ich kein Wort erwidern darf!

Nun, leider hatte Sarmouth recht. In Wahrheit hatten Hektor und er schon lange, bevor die Männer im Ausguck ihm die ersten Berichte zuriefen, ganz genau gewusst, was Hektor vor Chelmport zu sehen bekäme. Die SNARC