Noblesse Oblige - Friedrich Spielhagen - E-Book

Noblesse Oblige E-Book

Friedrich Spielhagen

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Beschreibung

Ein historischer Roman aus der Zeit, als Hamburg von den französischen Truppen besetzt war. Friedrich Spielhagens Werke sind stark geprägt von seiner Liebe zum Meer, die er in seiner Zeit in Stralsund entwickelte.

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Seitenzahl: 546

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Noblesse oblige

Friedrich Spielhagen

Inhalt:

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Noblesse oblige

Erstes Buch.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Zweites Buch.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Drittes Buch

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Noblesse oblige, F. Spielhagen

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636395

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Romanschriftsteller, geb. 24. Febr. 1829 in Magdeburg als Sohn eines preußischen Regierungsrates, verbrachte sein Jugend in Stralsund (ein großer Teil seiner späteren Romane spielt an diesem Teile der Ostseeküste und auf der Insel Rügen), absolvierte hier das Gymnasium, studierte von 1847 an anfangs die Rechte, dann Philologie und Philosophie in Berlin, Bonn und Greifswald, war einige Zeit als Lehrer tätig, widmete sich aber bald ausschließlich der Literatur. Neben Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, von denen wir die »Amerikanischen Gedichte« (Leipz. 1856, 3. Aufl. 1871) nennen, veröffentlichte er schon in Leipzig die Novelle »Klara Vere« (Hannov. 1857) und das Idyll »Auf der Düne« (das. 1858), die jedoch nur geringe Beachtung fanden. Eine um so glänzendere Aufnahme fand der erste größere Roman Spielhagens: »Problematische Naturen« (Berl. 1860, 4 Bde.; 22. Aufl., Leipz. 1900), mit seiner abschließenden Fortsetzung: »Durch Nacht zum Licht« (Berl. 1861, 4 Bde.). Dieser Roman gehörte durch Lebendigkeit des Kolorits und eine in den meisten Partien künstlerisch ansprechende Darstellung zu den besten deutschen Romanen seiner Zeit. S. war inzwischen 1859 von Leipzig nach Hannover und Ende 1862 nach Berlin übergesiedelt, wo er kurze Zeit die »Deutsche Wochenschrift« und das Dunckersche »Sonntagsblatt« redigierte. Auch von der Herausgabe von Westermanns »Illustrierten deutschen Monatsheften«, die er 1878 übernommen, trat er 1884 wieder zurück. Sein zweiter großer Roman: »Die von Hohenstein« (Berl. 1863, 4 Bde.), der die revolutionäre Bewegung von 1848 zum Hintergrund hatte, eröffnete eine Reihe von Romanen, welche die Bewegungen der Zeit zu spiegeln unternahmen. War hierdurch ein gewisses Übergewicht des tendenziösen Elements gegenüber dem poetischen unvermeidlich, und standen die Romane: »In Reih' und Glied« (Berl. 1866, 5 Bde.) und »Allzeit voran!« (das. 1872, 3 Bde.) wie die Novelle »Ultimo« (Leipz. 1873) allzu stark unter der Herrschaft momentan in der preußischen Hauptstadt herrschender Interessen, so erwiesen andre freiere Schöpfungen den Gehalt, die Lebensfülle und die künstlerische Gewandtheit des Verfassers. Neben der Novelle »In der zwölften Stunde« (Berl. 1862), den unbedeutenderen: »Röschen vom Hofe« (Leipz. 1864), »Unter Tannen« (Berl. 1867), »Die Dorfkokette« (Schwerin 1868), »Deutsche Pioniere« (Berl. 1870), »Das Skelett im Hause« (Leipz. 1878) und den Reiseskizzen: »Von Neapel bis Syrakus« (das. 1878) schuf S., unabhängiger von den momentanen Tagesereignissen oder sie nur in ihren großen, allgemein empfundenen Wirkungen auf das deutsche Leben darstellend, die Romane: »Hammer und Amboß« (Schwer. 1868, 5 Bde.), »Was die Schwalbe sang« (Leipz. 1872, 2 Bde.) und »Sturmflut« (das. 1876, 3 Bde.), ein Werk, worin der Dichter, besonders im ersten und letzten Teile, auf der vollen Höhe seiner Darstellungskunst steht, und worin er in glücklicher Symbolik das Elementarereignis der Ostseesturmflut mit der wirtschaftlichen Sturmflut 1873 im Zusammenhange erzählt; den Roman »Platt Land« (das. 1878, 3 Bde.), die seine, nur etwas allzusehr zugespitzte Novelle »Quisisana« (das. 1879) sowie die Romane: »Angela« (das. 1881, 2 Bde.), »Uhlenhans« (das. 1884, 2 Bde.), »An der Heilquelle« (das. 1885), »Was will das werden« (das. 1886, 3 Bde.), »Noblesse oblige« (das. 1888), »Ein neuer Pharao« (das. 1889), »Sonntagskind« (das. 1893, 3 Bde.), »Susi« (Stuttg. 1895), »Zum Zeitvertreib« (Leipz. 1897), »Faustulus« (das. 1898), »Opfer« (das. 1900), »Frei geboren« (das. 1900), »Stumme des Himmels« (1903). Eine Abnahme der dichterischen Kraft Spielhagens ist seit der »Sturmflut« nicht zu verkennen; seine Darstellungsweise geriet immer mehr in den Stil des in sich selbst eingesponnenen Reflektierens, statt des einfach konkreten Gestaltens. Auch kam S. über den Standpunkt des liberalen Achtundvierzigers und des Liberalen aus der Konfliktszeit nicht mehr recht hinaus, und der große Meister der Zeitschilderung verstand nicht mehr den »neuen Pharao«. Nur in den kleineren Werken: »Deutsche Pioniere« und »Noblesse oblige«, streifte S. vorübergehend das Gebiet des historischen Romans. Mit dem nach einer eignen Novelle (Berl. 1868) bearbeiteten und an mehreren Theatern erfolgreich aufgeführten Schauspiel »Hans und Grete« (das. 1876) wendete er sich auch der Bühne zu. Größern Erfolg hatte das Schauspiel »Liebe für Liebe« (Leipz. 1875), in dem die Kritik neben novellistischen Episoden einen wahrhaft dramatischen Kern anerkannte. Außerdem brachte er die Schauspiele: »Gerettet« (Leipz. 1884), »Die Philosophin« (das. 1887) und »In eiserner Zeit«, Trauerspiel (das. 1891). Von S. erschienen ferner: »Vermischte Schriften« (Berl. 1863–68, 2 Bde.), »Aus meinem Skizzenbuch« (Leipz. 1874), »Skizzen, Geschichten und Gedichte« (das. 1881), »Beiträge zur Theorie und Technik des Romans« (das. 1883), »Aus meiner Studienmappe« (Berl. 1891), »Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik« (Leipz. 1898), »Am Wege«, vermischte Schriften (das. 1903) und eine Sammlung seiner formschönen »Gedichte« (das. 1892) und »Neuen Gedichte« (das. 1899). Die letzte Ausgabe seiner »Sämtlichen Romane«, die alle zahlreiche Auflagen erlebten, erschien in 29 Bänden (Leipz. 1896 ff.). S. schrieb auch seine Selbstbiographie: »Finder und Erfinder, Erinnerungen aus meinem Leben« (Leipz. 1890, 2 Bde.), die aber wesentlich nur die innere und äußere Entstehungsgeschichte seiner »Problematischen Naturen« erzählt. Vgl. Karpeles, Friedrich S. (Leipz. 1889), und die Festschrift zu Spielhagens 70. Geburtstag: »Friedrich S.« (das. 1899).

Noblesse oblige

Erstes Buch.

Erstes Kapitel.

Die Tür hatte geknarrt; Warburg wandte sich in seinem Sessel.

Was gibt's?

Ich bin's, Herr Senator, erwiderte Christiansen, nun in die völlig geöffnete Tür tretend.

Was gibt's? wiederholte Warburg ungeduldig.

Nichts Besonderes, Herr Senator. Ich hatte Fräulein Minna gesagt, daß der Herr Senator auf die Post gegangen wären, und da schickt sie mich nun, zu fragen, ob nicht doch vielleicht –

Nein!

Es war sehr heftig und trotzdem mit einem unsicheren und gepreßten Tone herausgekommen, der dem alten Diener auffiel, ebenso wie der Umstand, daß der Herr Senator noch im Hut und Ausgehrock an dem Pulte saß, als hätte er es sehr eilig gehabt, an die Lesung seiner Korrespondenz zu gelangen. Nur daß keine Korrespondenz eingelaufen war – heute so wenig wie gestern und wie seit so manchem, manchem Tage! Es lag ja kein Schnippelchen Papier auf dem Pulte, auf welchem um diese Abendstunde sonst Berge von Briefen sich aufgetürmt hatten! Da mußte denn wohl das arme Fräulein Minna sich trösten, daß auch sie wieder einmal leer ausgegangen war!

Nichts für ungut, Herr Senator! murmelte Christiansen, die schickliche Reverenz machend, trotzdem ihm der Herr bereits wieder den Rücken zukehrte. Dann schloß er die Tür.

Warburg blieb an dem Pulte sitzen, bis der schwere Schritt des Alten auf dem Korridor nach dem Zimmer der Töchter im Hinterhause verhallt war. Nun erhob er sich, ging eilig nach der Tür, schob den Riegel vor, kehrte nach dem Pulte zurück und starrte auf den Brief, der da lag.

Nein! der Christiansen hatte den Brief nicht sehen können; er hatte ja mit seiner ganzen Breite davor gesessen und, als er das Knarren der Tür hörte, die linke Hand darauf gelegt: es hatte nur eben noch ein Eckchen hervorgeguckt. Ein Glück freilich, daß der Christiansen nicht noch weiter in das Zimmer gekommen war, oder eine Minute später! Wie kann man aber auch nicht abriegeln, wenn man dergleichen vorhat!

Er warf einen scheuen Blick auf den unglückseligen Brief, trat in das Nischenfenster und starrte auf die Alster. Die stille Fläche glänzte im letzten Abendscheine, ohne auch nur von einem einzigen Boote durchfurcht zu werden; auf der breiten Gasse zwischen seinem Hause und dem Wasser, wo es um diese Stunde sonst von Promenierenden wimmelte, gab es heute niemand zu sehen und zu hören, als wäre Hamburg ausgestorben und er ganz allein da zurückgeblieben mit seinem verdüsterten Gemüt. Ja, ja, seine Sonne war im Untergehen, wie die da draußen! Nur, daß sie morgen sich nicht wieder heben würde, wie die da draußen – nicht morgen und niemals wieder. Es wäre denn, daß Minna die unsinnige Liebe zu dem französischen Abenteurer fahren ließe und Theodor Billows Frau würde! Billow hatte sich für heute abend ansagen lassen. Und da sollte er dem tollen Mädchen eine Stunde vorher den Brief – den dritten Brief – oder war es schon der vierte? Freilich der vierte – den ersten – aus Berlin – den vom März – hatte er ihr gegeben. Und das war dumm. Er hätte ihr alle geben sollen oder keinen. Aber damals – ja, da hatten die Sachen doch auch ganz anders gestanden; da war T. A. Warburg noch nicht bankrott gewesen, so gut wie bankrott.

Auf der stillen Gasse waren nun doch ein paar Menschen vorübergekommen – kleine Leute, die heute lässig schlenderten, wie sonst die Vornehmen – sie hatten ja nichts zu tun und nichts zu versäumen. Und jetzt erschallten von rechts her dumpfe Tritte eines größeren Menschenhaufens – eine französische Patrouille natürlich – er wollte die verdammten Kerls nicht sehen!

Er trat vom Fenster zurück und schritt, die Hände auf dem Rücken, ein paarmal im Zimmer auf und ab, von Zeit zu Zeit einen scheuen Blick auf den Brief werfend, der ihn zu verfolgen schien, wie die Augen eines Porträts von der Wand herab den daran Vorüberwandelnden zu verfolgen scheinen. Als ob es die Augen des Mannes wären, der den Brief geschrieben – die großen, braunen, mild-glänzenden Augen – und ihn vorwurfsvoll fragten: Das kannst du, der ehrliche Mann, mir – das kannst du, der zärtlich liebende Vater, deiner Tochter tun?

Ja, gerade weil ich sie zärtlich liebe, sagte Warburg laut, indem er plötzlich stehenblieb; gerade weil – ach was! es ist nun einmal nicht anders; es muß nun einmal sein.

Er hatte die bereitstehende Lampe auf dem Pulte angezündet, auch die Vorhänge am Fenster heruntergelassen, obgleich das Parterrezimmer zu hoch lag, als daß jemand von draußen hätte sehen können, was er tat.

Etwas, das er noch nie getan. Noch niemals hatte er einen Brief, der an ihn nicht gerichtet war, erbrochen. Auch die vorhergehenden des Marquis nicht; er hatte sie, wie er sie empfangen, in das Geheimfach des Pultes gelegt zu den Briefen Minnas, die er nicht hatte abgehen lassen. Diesen wollte er lesen. Vielleicht stand darin, daß Herr von Héricourt, des langen, vergeblichen Harrens müde, Minna ihr Wort zurückgäbe; vielleicht, daß er verwundet sei, keine Hoffnung habe, mit dem Leben davonzukommen – es wäre ja auch wunderlich, wenn ihm in dieser russischen Kampagne, wo es ja offenbar ganz fürchterlich herging, früher oder später nichts Menschliches passieren sollte! Dann aber war Minna frei; dann konnte sie in Gottes Namen Billow ihre Hand –

Noch einen Moment zögerte er, bevor er ihn erbrach. Aber hier war ja eigentlich nichts mehr zu erbrechen. Augenscheinlich war der Brief mit dem halben Dutzend Stempel schon durch viele und nicht immer feine oder saubere Hände gegangen, welche die Adresse halb verwischt und das schlechte Wachs des Siegels fast gänzlich zerbröckelt hatten. Kaum daß das Wappen noch zu erkennen war. Nur eine kleine Ecke an dem Rande hatte sich, wie durch ein Wunder, ausgeprägt erhalten. Doch brauchte man nur mit dem Nagel darauf zu drücken, so –

Auch das Eckchen war abgesprungen – es war ein unverschlossener Brief; man hatte ihn nur aus dem Kuvert zu nehmen und zu entfalten.

Vier Quartseiten, eng beschrieben – schwerlich von einem Verwundeten! Der schreibt nicht so viel und nicht mit einer solchen Hand – einer Kaufmannshand fast, wenigstens was die Sauberkeit und die Deutlichkeit betraf – aber der Mann war ja in allem immer die Akkuratesse und die Ordnung selbst gewesen – ein vollendeter Edelmann – und dessen Degen aus der Scheide fahren würde, wenn er jetzt sähe – aber es ist weit von hier nach dem Biwak, nahe – Roudnja? kenne das Nest nicht, kommt ja auch nicht darauf an – vor Smolensk? So! Und vom zwanzigsten Juli? – Und heute schreiben wir den fünfzehnten Oktober! Beinahe drei Monate! Nun, da könnte er wirklich auch ebensogut gar nicht angekommen sein!

»Im Biwak nahe Roudnja, acht Lieues vor Smolensk (im Weißen Rußland), den zwanzigsten Juli 1812, sechs Uhr abends.

Erst heute habe ich, meine teure, süße Freundin, Ihren lieben Brief vom dreißigsten März erhalten –«

Hier stutzte der Leser abermals. Wie denn? Minnas Brief vom dreißigsten März – es war der erste ihrer Briefe gewesen – er hatte ihn selber expediert – hatte Herr von Héricourt erst am zwanzigsten Juli erhalten? So hätten die folgenden Briefe Minnas bis zu dem Datum dieses Briefes auch noch nicht in seinen Händen sein können, es wäre denn gewesen, daß der eine Brief schneller ging als der andere. So mußte es sein. Es waren ja doch inzwischen die anderen Briefe von ihm eingetroffen. Gleichviel: bei einer so großen Unsicherheit der Post konnten ebensogut alle Briefe verloren gehen, wie einer. Dahinter konnte man sich im schlimmsten Falle verschanzen.

Und er las weiter:

»Ich vermag die Ausdrücke nicht zu finden, die stark genug wären, das Vergnügen zu schildern, welches derselbe mir bereitet hat; wahrlich, es ist mir unmöglich, in Worten das Glück zu malen, welches meine Seele in diesem Augenblicke fast erdrückt; wie so weit würden dieselben hinter meinen Empfindungen für Sie zurückbleiben!

Ihr Brief traf mich in einem Augenblicke tiefster Melancholie, wie sie die Entfernung, die Entbehrung dessen, was man liebt, hervorbringen. Ich lag auf dem Stroh meines Biwaks, im Schutze zweier mächtiger, buschiger Fichten, am Rande eines prächtigen Sees, dessen durch den Wind heftig bewegte Wellen sich zu meinen Füßen brachen. Dieser malerische Anblick der Natur, der vollkommen mit der sanften Melancholie meiner Seele zusammenklang, ließ mich heiße Tränen weinen: ich dachte an Dich, meine Freundin, und ich konnte mich nicht überreden, daß Du mich so bald vergessen haben solltest. Ich rief mir die Erinnerung zurück aller jener glückseligen Stunden, die ich an der Seite meiner Minna verbringen durfte; und obgleich der Anschein so gegen Sie sprach, da ich noch immer jeglicher Nachricht von Ihnen entbehrte, tat ich mein Bestes, von Ihnen auch den Anschein einer Schuld abzuwehren. In diese so traurigen, so grausam qualvollen Betrachtungen versunken, wurde ich aus meiner Träumerei wachgerufen durch einen meiner lieben Freunde, der mir zwei Briefe brachte. Der eine war von meiner Mutter, der zweite war der Ihrige. – Ich erkannte sofort diesen teuren Brief, und meine erste Regung war, ihn zu küssen und tausend- und tausendmal an mein Herz zu drücken, ohne daß ich daran gedacht hätte, ihn zu lesen. Welch heilenden Balsam träufelte er in meine Seele!! er hat mein Herz wieder einmal der Freude und dem Glücke geöffnet, da er mir beweist, daß Sie Ihren treuen Hypolit noch nicht vergessen haben.

Wie oft habe ich nicht schon alle Postbeamten verwünscht, die, als richtige Einfaltspinsel, Ihren Brief so lange in ihren Bureaus verzettelt und mich so um das Glück gebracht haben, früher Nachricht von Ihnen zu erhalten. Während dieser Zeit habe ich, außer jenem Briefe aus Berlin, auf welchen der soeben empfangene Ihre liebe Antwort ist, noch ein zweites Mal aus Berlin geschrieben, am 24. April; ein drittes Mal aus Posen, am 15. Mai; ein viertes Mal aus Wilna, am 20. Juni – und wenn, wie ich voraussetzen muß, da Sie mir nicht antworteten, diese letzteren drei Briefe verloren gingen, müssen Sie ja geglaubt haben, an mir, der ich Ihnen nicht schreibe, liege die Schuld. Und müssen Sie ja Ihrem Freunde ernstlich zürnen, ihn für flatterhaft halten, der Untreue, der Grausamkeit anklagen! Ach nein, holde Freundin, beurteilen Sie mich ganz anders! und glauben Sie mir, daß es nur Folge und Schuld des feindlichen Geschicks ist, das mir immer nur ein Paar Augenblicke des Glücks zu genießen verstattete, um mich hinterher seine ganze Härte fühlen zu lassen und um mich unglücklich zu machen, ach! wie sehr unglücklich!!! –

Und wenn ich doch wenigstens die süße Genugtuung hätte, jeden Moment meines Daseins mir das bezaubernde Bild derjenigen vor die Augen zu stellen, für die allein ich atme; es beständig auf meinem Herzen zu tragen, es an mein Herz zu drücken – es würde doch den grausamen Schmerzen, welche die Trennung mir auferlegt, einige Linderung schaffen. Ja, meine gütige Freundin: zu meiner Ruhe ist Ihr schönes Bild durchaus nötig. Glauben Sie mir, wäre ich der glückliche Besitzer desselben, es würde mir nichts mehr zu meiner Zufriedenheit fehlen. Wenn es von Ihrer Liebe zu mir nicht zu viel fordern heißt: machen Sie mir umgehend das kostbare Geschenk Ihres Bildes, und seien Sie der Diskretion Ihres treuen Freundes versichert! Sie wünschen Nachrichten von Ihrem Bruder. – Es fehlt viel, viel daran, daß ich ihn häufig auch nur sähe, da wir ja nicht in demselben Truppenteil stehen, doch will ich Ihnen alles, was ich weiß, berichten. Am 24. Juni kamen wir an die Ufer des Niemen, eine viertel Lieue unterhalb Kowno, um in Russisch-Polen überzugehen. Die ganze Kavallerie der französischen Armee war da, und ich sah das Regiment Ihres Bruders defilieren; ich glaube, ihn bemerkt zu haben, aber sicher bin ich meiner Sache nicht. Am 20. desselben Monats gelangten wir nach Wilna (Hauptstadt von Russisch-Polen) um acht Uhr morgens. Das 9. Regiment der Chevauleger-Lanciers biwakierte in einem Gehölz am Eingange zur Stadt. Da meine Division in den Vorstädten Position genommen, bin ich zu Fuß in die Stadt gegangen und in der Entfernung zwei Chevaulegers begegnet, von denen sich der eine ein paarmal umwandte, nach mir zu sehen. Daran und an der Haltung glaubte ich, Ihren Bruder zu erkennen. Ein anderes machte mich meiner Sache sicher. Ach, meine Freundin, wie schmerzt es mich, Ihnen auch dies sagen zu müssen: der junge Mann, anstatt auf mein Zurufen stehenzubleiben, beschleunigte seine Schritte und war für den gepreßten Herzens ihm Nacheilenden in den engen Gäßchen der Stadt mit seinem Kameraden alsbald verschwunden. Er hat mir eben ausweichen wollen... Dafür habe ich denn wiederholt einem anderen nicht ausweichen können, dem ich so gern ausgewichen wäre: einem gewissen Major und Bataillonschef eines gewissen Regiments der leichten Infanterie, der mit mir in Garnison in Hamburg war – aber still! ... erwecken wir in einem geliebten Herzen nicht Erinnerungen, die ihm nicht anders als peinlich sein können!

Es geht uns sehr traurig in dieser Armee, meine Freundin. Seit dem 22. Juni lagern wir beständig im Biwak, sehr häufig ohne Stroh und drei Viertel bis einhalb der Zeit ohne Brot. In dem völlig verwüsteten Lande gibt es nicht einen einzigen Bewohner mehr, was denn zur Folge hat, daß man sich absolut nichts verschaffen kann. Ich wäre dem Elend sicher schon erlegen, dächte ich nicht beständig an Sie.

Da wir wenigstens 900 Lieues getrennt sind, dürfen Sie, mir zu antworten, nicht auf meine Briefe warten, oder ich würde des Glückes, Nachricht von Ihnen zu haben, allzu grausam entbehren müssen. Obgleich ich Tag für Tag auf einem Roggen- oder Kartoffelfelde kampiere und jedes, auch des geringsten Komforts ermangele, werde ich doch mein möglichstes tun, um Ihnen zu schreiben und mich so des einzigen Glückes zu versichern, das meine trostlose Lage mir noch gestattet.

Wie befindet sich denn zur Stunde meine liebe, kleine Jeanette? Sagen Sie ihr nicht, daß ich sie meine »kleine« genannt habe! Sie ist es ja auch längst nicht mehr mit ihren siebzehn Jahren – oder sind es siebzehn ein halb? – aber sagen Sie ihr, daß ich ihr herzlich für die gesandten Grüße dankbar bin und ihr ebenso viele zurücksende. Wenn ich das Glück haben werde, sie wiederzusehen, wird sie schwerlich noch gewachsen, aber womöglich noch schöner geworden sein, schön wie ein Engel, schön wie... mit einem Worte: wie Sie.

Verabsäumen Sie nicht, mir schnell, recht schnell zu schreiben, und vor allem: geben Sie mir befriedigende Nachricht von Ihrem mir so teuren Wohlergehen! Und schreiben Sie mir recht lange, recht lange Briefe, damit die Wonne, sie zu lesen, um so länger währe! Ich wiederhole: es gibt nichts als Ihre Briefe, woraus ich Linderung aller meiner Leiden schöpfen, nichts, was mir die Pein meines Lebens einigermaßen abmindern könnte bis zu dem glückseligen Augenblicke des Wiedersehens.

Wir sind nur noch 70 Lieues von Moskau. Sobald ich in dieser Stadt bin, schreibe ich abermals an meine geliebte, zärtliche Minna.

In fester Hoffnung, daß mich das Geschick Dich wiedersehen lassen wird, umarme ich Dich tausend- und tausendmal und bin für das Leben Dein treuer und beständiger Freund

Hypolit Drouot d'Héricourt, Kapitän im 1. Kürassierregiment, 2. Kürassierdivision, 2. Reservekorps der Kavallerie der großen Armee in Rußland.«

Warburg faltete den Brief, tat ihn wieder in das Kuvert und wog ihn unschlüssig in der linken Hand, während er auf das zerbröckelte Siegel starrte. Es ließ sich, wenn man das Wachs ein wenig anwärmte, zur Not so weit zusammenfügen, daß der Brief für einen unerbrochenen gelten mochte – auch würde sie in ihrem Jubel, den Brief in Händen zu haben, sich schwerlich Zeit lassen, den Zustand des Siegels zu prüfen. Und dann die Stelle, wo Héricourt erzählte, daß er Georg begegnet und Georg ihm ausgewichen sei – dem Liebhaber und heimlich Verlobten seiner Schwester, dem verhaßten Feinde – es würde eine treffliche Lektion für das überspannte Mädchen sein! Aber sie hatte sich ja an des Bruders Widerspruch, an sein Zürnen, Schelten, Toben nicht gekehrt damals, als sie dem Marquis ihre Hand zusagte; so würde auch dies schwerlich einen besonderen Eindruck auf sie machen. Und was noch sonst in dem Briefe stand: diese immer wiederholten Versicherungen seiner Liebe und Treue; das heiße Flehen um ihr Porträt – das hieß ja nur Öl ins Feuer gießen. Dazu die Schilderung seiner trostlosen Lage, des Elends im Biwak! Freilich, Georg war gewiß nicht sanfter gebettet, und er war nicht Franzose und Kapitän und Marquis; war ein deutscher konskribierter gemeiner Soldat – da mußte seine Lage noch viel schrecklicher sein. Und der Junge blieb sich treu in seinem grimmen Trotze und hielt sein Wort, das er beim Abschied gesprochen: sie sollten auf keine Zeile von ihm hoffen; denn jede würde ein Fluch gegen die Unterdrücker sein; und er wolle, käme so ein Brief, wie voraussichtlich, einmal in falsche Hände, weder sich selbst noch die Seinen den Henkern ans Messer liefern! Dafür beklagte und bejammerte denn der andere sein so unendlich viel günstigeres Los. Daraus ließ sich am Ende doch Kapital schlagen, wenn man es ihr so recht eindringlich vorstellte – auch ohne das – ohne jeden Kommentar, wenn man ihr nur den Brief auslieferte! Ja, ja, sie sollte ihn haben! Daß er ihn vorhin verleugnet, das tat nichts. Man konnte sagen, man habe die Überraschung nur um so größer, nur um so freudiger machen wollen. Und sofort mußte sie ihn lesen, noch bevor Billow kam! So konnte man sie am besten auf Billows Bewerbung vorbereiten. Er hatte ja versprochen, heute abend endlich sich den Mut zu fassen und das entscheidende Wort zu sprechen.

Warburg sah nach der Uhr: sieben; um einhalb acht wollte Billow kommen. Es blieb noch gerade Zeit.

Da ging die Haustürschelle. Eine Stimme auf dem Flure, die nach den Damen fragte: Billows Stimme; und eine zweite: wohl die des jungen Sandström. Schade! Die schöne Gelegenheit war verpaßt – schade! – Vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte der lamentable Brief doch nur Unheil angerichtet. Man würde sehen. Also morgen – oder übermorgen – der Brief konnte morgen oder übermorgen oder in acht Tagen so gut eingetroffen sein wie heute. Vorläufig –

Und Warburg schloß ein Geheimfach seines Pultes auf, legte den Brief zu dem kleinen Paket von Minnas nicht abgegangenen Briefen an Hypolit und Hypolits an Minna eingegangenen, aber nicht abgelieferten, schloß sorgfältig wieder zu, erhob sich und hatte gerade, noch Zeit, endlich den Hut vom Kopfe zu nehmen und die Zimmertür zu entriegeln, als Christiansen abermals hereinsah, zu melden, daß die Herren Billow und Sandström gekommen und oben im Teezimmer von dem Fräulein empfangen worden seien.

Ich werde sofort erscheinen, sagte Warburg und ging in sein Schlafzimmer nebenan, die nötige Toilette für den »Empfangsabend« zu machen. To save the appearances! murmelte er vor sich hin, während er sich vor dem Spiegel das frisch aus dem Kasten genommene weiße Halstuch knüpfte. – Und auch damit wird es bald nichts mehr sein, wenn Billow nicht heute abend endlich spricht. Der blöde Mensch! Und weiß doch sonst mit den Weibern Bescheid. Freilich, die Weiber sind auch danach!

Zweites Kapitel.

Die beiden einzigen Freunde, die uns geblieben! rief Warburg, noch in der Tür des Teezimmers stehend und den zwei jungen Männern, die auf ihn zutraten, die Hände entgegenstreckend.

Mir ist das gerade recht, Herr Senator; erwiderte Oskar Sandström lachend, während Theodor Billow sich begnügte, die Hand seines erhofften Schwiegervaters so heftig zu drücken, daß es diesem fast einen Schmerzensschrei ausgepreßt hätte. Nun aber, in Anbetracht der erfreulichen soliden Gesinnung, die sich in diesem Drucke äußern zu wollen schien, lächelte er und sagte, um doch etwas zu sagen:

Warum das, lieber Sandström?

Oskar wurde rot und strich sich das blonde Haar aus der Stirn. Er war nicht darauf gefaßt gewesen, die Empfindung, die er ausgesprochen, lang und breit erklären zu sollen. Auch vermied er es, Johanna, die am Stutzflügel in den Noten blätterte, anzusehen, als er jetzt, ein wenig undeutlich und stockend, etwas von vielen Lichtern und vielen Menschen murmelte, die einen ja sonst ganz verwirrt gemacht hätten, noch dazu einen armen Ausländer.

Nun hört einmal unseren jungen Freund! rief Warburg. Lebt der feine Herr seit einem Jahre in Hamburg, ist in unserem Hause wie ein Sohn aufgenommen und, ich weiß nicht, in wie vielen unserer besten Häuser – und will sich noch immer auf den Ausländer herausspielen – auf einen armen Ausländer dazu! Ei ei, Herr Sandström, da müßte man nie von der Firma Erich Sandström und Kompanie in Stockholm gehört, oder, wie unser Freund Billow hier, wiederholt die Ehre gehabt haben, in dem prächtigen Hause gastlich aufgenommen worden zu sein. Lacht ihn doch aus, ihr Mädchen!

Johanna kam dieser väterlichen Aufforderung nicht nur nach, sondern griff ein paar klägliche, wimmernde Takte auf dem Flügel, die selbst Minna, welche am Tische vor dem Sofa die Teesachen ordnete, ein flüchtiges Lächeln abnötigten. Der Vater, der sie verstohlen eifrig beobachtet hatte, war mit seinem Erfolge sehr zufrieden. Er hatte Minna seit vielen, vielen Tagen nicht lächeln sehen. Und hätte sie gar gewußt, daß da unten der vier Seiten lange Brief lag bei den anderen, auf die sie schon seit einem halben Jahre vergeblich harrte –

Er war in einer Regung, die er sich selbst nicht klar machte, schnell auf sie zugetreten, und hatte sie auf die Stirn geküßt. Minna hob die großen blauen Augen verwundert zu ihm auf. Dann fiel ihr ein, daß sie vorhin Christiansen zum Vater geschickt, zu fragen, ob kein Brief für sie gekommen. Es war ja sehr töricht von ihr gewesen. Warum sollte denn gerade heute ein Brief gekommen sein? Und das war die Antwort des Vaters! Eine Güte, die sie nicht erwartet hatte, nicht hatte erwarten können. Die Tränen traten ihr in die Augen.

Mein armes Kind! murmelte Warburg. Und zugleich sagte er sich: das war sehr dumm. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was du beabsichtigt hast. Wie machst du diese Dummheit wieder gut?

Inzwischen waren die anderen herangetreten; man nahm am Tische Platz; Warburg auf dem Sofa; ihm zur Linken Minna, welche den Tee einschenkte; zu seiner Rechten Billow; zwischen diesem und Minna der junge Schwede und Johanna. Das Arrangement paßte Warburg nicht: er hätte lieber Billow neben Minna gesehen; aber das ließ sich für den Augenblick nicht ändern: der Abend würde schon eine schicklichere Kombination ermöglichen. Vorläufig galt es, ein Passendes Gespräch auf die Bahn zu bringen, das heißt eines, das dem schweigsamen Billow Gelegenheit und Veranlassung gab, mitzureden.

Was für Nachrichten haben Sie aus Schweden, lieber Sandström? fragte er über den Tisch herüber.

Gar keine, Herr Senator, antwortete der junge Mann aus seinem eifrigen, leise geführten Streite mit Johanna heraus, in welchem es sich um eine musikalische Sache zu handeln schien.

Und Sie, lieber Billow, aus England? fuhr Warburg fort, sich zu dem Angeredeten wendend.

Ich danke, erwiderte dieser, sich räuspernd; sie sind freilich auch schon vierzehn Tage alt – es wird immer schwerer, die Londoner Briefe durchzubringen; man weiß kaum noch, wie man sie dirigieren soll, ohne Gefahr zu laufen, daß sie den schuftigen –

Die letzten waren also noch gut? fragte Warburg rasch.

Recht gut, erwiderte der andere; wir haben jetzt sogar zwei Schiffe mehr unterwegs.

Sie Glücklicher! sagte Warburg mit einem Seufzer. Im englisch-hamburgischen Hause Billow Brothers ist es wie beim Whist, wo die Renonce des einen Partners dem anderen seine Atouts anbringen hilft. Sie freilich können es ruhig mit ansehen, wenn Ihre Schiffe hier abgetakelt im Hafen liegen. Und es sind ihrer denn auch nur zwei; die anderen hatten sie ja seinerzeit noch glücklich aus der Elbe gebracht! Sie können ohne Schmerz durch ihre verödeten Kontore gehen: für jedes Pult, das hier leer steht, wird in London an zweien gearbeitet. Aber wir; aber ich –

Das ist denn doch Ihre Schuld, Herr Senator, murmelte der junge Kaufmann.

Ich hatte mich freilich in zu vielerlei eingelassen, erwiderte Warburg. Aber wenn man nicht, wie Sie, von Haus aus ein großes Vermögen hinter sich hat, muß man sich wohl rühren und das Glück zu fassen suchen, wo immer es eine Chance zu bieten scheint. Daß es freilich so kommen würde –

Warburg strich sich mit der Hand über die Stirn, während sein Blick Minnas Gesicht streifte. Sie saß mit niedergeschlagenen Augen da und zusammengepreßten Lippen, wie jemand, dem ein Gespräch, welchem er schweigend zuhören muß, peinlich ist. Ich kann dir nicht helfen, sagte Warburg bei sich.

Eine kurze Pause war entstanden.

Ich habe das vorhin anders gemeint, sagte Billow.

Wie anders? fragt? Warburg rasch.

Ich habe gemeint, fuhr Billow fort, es ist Ihre Schuld insofern, als Sie den Kredit, den Sie haben, nicht in der rechten Weise anspannen. Kredit ist für den Kaufmann zurückgelegtes Kapital für den Fall der Klemme, der Not. Das wissen Sie doch ebensogut wie ich.

Minna rückte unruhig auf ihrem Sessel. Der Vater konnte nicht zweifeln, daß sie, wurde das Gespräch in dieser Weise fortgesetzt, unter irgend einem Vorwande aufstehen und das Zimmer verlassen werde. Er sagte deshalb:

Verzeihe, liebe Minna! aber wir Kaufleute sind nun einmal wenig zu einer Konversation geschickt, wie sie junge Damen freilich lieber haben. Das versteht denn unser Freund Sandström besser.

Der Herr Senator befehlen? fragte der junge Schwede, der nur seinen Namen gehört hatte.

Ich befehle gar nichts, erwiderte Warburg lächelnd; ich meine nur, wenn ihr beide doch einmal euren Tee kalt werden lassen wollt, könntet ihr uns ebensogut ein wenig Musik zum besten geben.

Wollen Sie, Fräulein? fragte Oskar, der sich bereits halb erhoben hatte.

Mais, sans doute!rief Johanna. Herr Sandström soll uns ein paar seiner wundervollen Volkslieder singen!

Wenn uns das Fräulein dafür durch ein Paar deutsche erfreuen will?

Ohne Komplimente, wenn ich bitten darf! rief Warburg vom Sofa.

Das junge Paar hatte sich zum Flügel begeben, und wenn es ohne alle Komplimente nicht abging, so hatten sie sich doch bald geeinigt. Oskar trug mit wohllautender Tenorstimme eines seiner anmutigen heimischen Lieder vor, dem er ein zweites und drittes folgen lassen mußte, bis Johanna an die Reihe kam und mit hellem, wohlgeschultem Sopran erst auch ein Volkslied und dann eine Opernarie sang. Dann hatte Oskar seine Geige aus dem Kasten genommen, das Notenpult an den Flügel gerückt, und Johanna, bereits eifrig in ihren Noten nach einigen Stellen blätternd, die erfahrungsmäßig noch nicht gut gingen, fragte, ob man Geduld zum Anhören einer kleinen Haydnschen Sonate habe?

Aber gewiß, mein Kind! sagte Warburg, wenn ihr nur mich entschuldigen wollt. Ich habe einen Brief zu schreiben – Sie wissen, Billow!

Er hatte, sich erhebend, die letzten Worte in einem scheinbar gleichgültigen Tone hingeworfen, der dennoch für den jungen Kaufmann eine sehr energische Bedeutung hatte.

Ich weiß, ich weiß! murmelte er, während er dem älteren Herrn, als er jetzt zwischen dem Sofa und ihm durchschlüpfte, einen unsicheren Blick zuwarf, den dieser mit einem finsteren Stirnrunzeln beantwortete.

Ich komme in spätestens einer Viertelstunde zurück, sagte Warburg, bereits an der Tür; bitte dringend, sich in keiner Weise durch meine kurze Abwesenheit stören zu lassen.

Damit drückte er die Tür hinter sich zu.

Lassen wir uns also nicht stören! sagte Johanna. Und nun, Sandström, tun Sie mir die einzige Liebe und vergessen Sie nicht wieder das vorgezeichnete b im zweiten Satze –

Sie sollen heute zufrieden sein, Fräulein Johanna, sagte der junge Mann, bitte a! danke! – Also, wenn's beliebt!

Drittes Kapitel.

Das Spiel begann.

Wenn Oskar und Johanna ernsthaft in ihre geliebte Musik geraten waren, ließen sie sich in der Tat so leicht durch nichts stören. Minna wußte es, und daß sie während der ganzen Zeit zu einem Tête-à-tête mit Billow verurteilt sein würde. Es war recht häßlich von Johanna, die doch wiederum ihrerseits recht gut wußte, wie peinlich ihr eine solche Situation sei und, als der Vater, freilich unerwartet, das Zimmer verließ, hätte einlenken und mit Sandström zum Teetische zurückkommen sollen, an dem sie nun allein mit Billow saß, ängstlich die Entfernung messend, die zwischen dem Teetische und dem Flügel in dem großen Gemache sich schier endlos dehnte. Dabei schien es dunkler geworden zu sein als vorhin, trotzdem zu der einen Kerze am Flügel Johanna eine zweite entzündet und Billow die beiden Kerzen auf dem Teetische mit großer Sorgfalt geschneuzt hatte.

Billow hatte zu dem Zwecke aufstehen müssen, sich aber dann nicht wieder auf seinen alten Platz, ihr gegenüber, an den runden Tisch gesetzt, sondern um einen Stuhl näher, den vorhin Sandström innegehabt, so daß jetzt nur noch ein Stuhl zwischen ihr und ihm war. Es mochte das absichtslos oder eine bloße Höflichkeit sein. Dennoch war Minna, als der Stuhl leise unter ihm krachte, in sich zusammengeschaudert und starrte nun mit halb geschlossenen Lidern vor sich nieder, als ob sie gänzlich im Anhören der Musik versunken sei, die sie doch nur als wirres, mißtönendes Geräusch vernahm. Es hätte laut sein sollen wie Donner, damit sie kein Wort verstand von dem, was der Mann da an ihrer Seite jetzt sprechen würde. Warum sprach er nicht? Einmal würde er es doch. Da war es gleich, ob heute oder morgen. Und besser heute als morgen!

Inzwischen hatte Billow, trotzdem auch er die Augen halb eingedrückt hielt, von der Seite blickend, Minna fortwährend beobachtet, in aller Eile noch einmal die Chancen gegeneinander abwägend. Es war derselbe Kalkül, den er nun schon ein paar hundertmal angestellt, bloß, daß die Ansätze sich heute vielleicht ein wenig günstiger gestaltet hatten. War doch die Lage des Vaters von Tag zu Tag mißlicher geworden, so mißlich, daß nur noch eines, vielmehr: einer ihn retten konnte; einer, den Minna kannte und dessen Hand sie nehmen, ja ergreifen mußte, oder aber den Vater verloren geben; auf deutsch: ihn zum Bettler machen und sich selbst und die Schwester zu Bettlers Kindern. Zweitens: die ebenfalls von Tag zu Tag sich mehrende Wahrscheinlichkeit, daß sie von dem französischen Herrn Galan vergessen sei, er nur sein Spiel mit dem schönen Mädchen getrieben habe, das nun froh sein werde, wenn sich ein ehrlicher Mann, ein solider Mann, ein reicher Mann der treulos Verlassenen erbarmte. Drittens: – und der blinzelnde Rechner empfand dies Dritte mit voller Macht, daß ihm schier das Herz darüber zu klopfen begann – sie schien ihm von Tag zu Tag schöner geworden: das gewellte, blauschwarze Haar noch glänzender, die Stirn noch weißer, die scharf gezogenen Brauen über den großen Augen noch dunkler – Wangen, Mund, Kinn – und der kräftige Hals und der volle Busen, während er die Taille mit beiden Händen schier umspannen konnte – ja, es mußte sein! Er hatte es bereits der ganzen Stadt erzählt; auch dem Alten Wort und Hand darauf gegeben: das war so gut wie ein abgeschlossener Handel –

Fräulein Minna –

Sie hatte es bereits seit Minuten, die ihr eine Ewigkeit dünkten, vorausgehört, und doch schrak sie jetzt innerlich zusammen und erhob warnend, Schweigen heischend, mit einem vorwurfsvollen Blicke nach den Spielenden die Hand.

Sie hören uns nicht, flüsterte Billow.

Er hatte nur zu recht: sie hörten nichts, konnten nichts hören von dem, was da etwa am Tische gesprochen wurde. Oskar hatte nun doch das im zweiten Satze vorgezeichnete b übersehen und mußte die wohlverdiente Schelte von Johanna entgegennehmen. Nicht ohne zu erwidern, daß seine Partnerin dafür das Tempo im ersten Satze viel zu rasch gegriffen habe! Der Zank konnte in einer Minute beendet fein; er konnte ebensogut eine Viertelstunde dauern. Billow lächelte.

Wir sind wirklich so gut wie allein, Fräulein Minna, begann er von neuem; und da würde ich Ihnen recht dankbar sein, wenn Sie mir auf ein paar Minuten Ihre Aufmerksamkeit liehen. Darf ich?

Er wartete die Erlaubnis des Mädchens nicht ab, sondern wechselte den Stuhl, den er jetzt innehatte, mit dem neben ihr und fuhr in leisem Tone fort:

Ich habe es wohl gesehen, Fräulein Minna, Sie waren erzürnt, als ich vorhin Ihrem Herrn Vater den Vorwurf machte, daß er seinen Kredit nicht in der rechten Weise anspanne; aber Sie werden mir zugeben, ich war zu der Äußerung, die sich vielleicht in Ihrer Gegenwart nicht schickte, provoziert durch die Klagen Ihres Herrn Vaters, die denn doch auch in Ihrer Gegenwart gemacht waren! Hätte ich geschwiegen, so mußte ich als einer erscheinen, der ihn nicht verstanden hatte, oder in den schlimmeren Verdacht geraten, ihn nicht verstehen zu wollen.

Sie haben recht, murmelte Minna; Sie waren provoziert.

Sie hatte sagen wollen: absichtlich provoziert; aber im letzten Augenblicke verschluckte sie das Wort. Wenn sie das Spiel auch durchschaute, sie durfte es sich um ihres Vaters willen nicht merken lassen.

Nicht wahr? sagte Billow eifrig; und wenn ich so schon aus Schicklichkeitsrücksichten nicht wohl schweigen durfte, so hatte ich außerdem einen sehr triftigen Grund zu sprechen. Dieser Grund aber ist das aufrichtige, innige Interesse, das ich an Ihrem Herrn Vater, an Ihrer ganzen Familie und deren Wohlergehen nehme und immer genommen habe.

Ich zweifle nicht daran, murmelte Minna.

Sie können es nicht, sagte der junge Kaufmann, in demselben leisen und eifrigen Tone weitersprechend. Und wie sollte es anders sein? Ich bin der Lehrling Ihres Herrn Vaters gewesen, ehe ich sein Geschäftsfreund wurde, und seine Geschäfte wären besser gegangen, hätte er meinen Ratschlägen, an denen ich es nicht habe fehlen lassen, williger Folge geleistet. Ihr Bruder, ist er auch ein Paar Jahre jünger als ich, war, seitdem er herangewachsen, mein Freund, ich darf wohl sagen: ich war sein bester Freund; und Sie wissen, meine Schuld ist es nicht, wenn er, als er im Frühjahre konskribiert wurde, von mir, seinem Chef, das Geld, mit dem er sich hätte loskaufen können, und das ihm freilich Ihr Herr Vater zu geben nicht mehr imstande war, nicht nehmen wollte. Und, glauben Sie mir, Fräulein Minna, was ich immer gesagt: Georg wäre nie auf die Konskriptionsliste gesetzt, hätte Ihr Herr Vater im vorigen Jahre nicht seine Stelle im Munizipalrate niedergelegt. Ein unvermögender Mann dürfe nicht hoher, öffentlicher Beamter sein! Ganz gut; aber es wäre eben niemals so weit gekommen, hätte er sich schon damals meine Hilfe gefallen lassen, wie –

Er sie sich heute wird gefallen lassen müssen, sagte Minna.

Der Eifrige an ihrer Seite überhörte die bittere Ironie, die in den Worten lag und aus dem Tone, mit dem sie gesprochen wurden, für ein feineres Ohr deutlich genug hervorgeklungen wäre. Er war mit dem bisherigen Gange der Unterhandlung sehr zufrieden; die Sache erwies sich leichter, als er sie sich gedacht hatte! Freilich, er traute sich immer zu wenig zu und wußte doch aus Erfahrung: er brauchte nur etwas erst einmal ernsthaft in die Hand zu nehmen, und es gelang!

Ich glaube: ja; ich hoffe: ja; sagte er. Denn einmal ist seine Lage wirklich verzweifelt, und – ich muß mich nun schon heute ganz aufknöpfen, Fräulein Minna – ich bin der einzige, der ihm nicht bloß helfen kann – das wären schon noch mehrere imstande, wenn zwar nicht eben viele – sondern helfen will. Ihr Herr Vater ist nicht beliebt in unseren Kreisen, Fräulein Minna. Er hat immer zu viel auf einmal gewollt, zu oft sein Geschäft gewechselt; ich meine: den Schwerpunkt bald hierhin, bald dorthin gelegt. Und dann stammt er nicht aus einer der alten eingesessenen Familien, denen schon manches eher verziehen wird. Und – aber das gehört nicht eigentlich hierher, und ich komme auch nur so im Vorübergehen darauf zu sprechen. Die Hauptsache ist: ich allein kann und will ihm helfen.

Und der Preis?

Sie hatte zum erstenmal, seitdem diese Szene spielte, die Augen aufgeschlagen. Diese großen Augen waren jetzt mit einem starren Blicke auf ihn gerichtet und erschienen in dem flackernden Lichte der Kerzen unheimlich dunkel, während aus den Wangen jede Spur von Röte verschwunden war. Billow entging das alles nicht; aber er sagte sich zu seiner Beruhigung, daß er denn doch ebenfalls, trotzdem er sich nichts merken ließ, innerlich ungewöhnlich aufgeregt war; und vor allem, daß er zu weit gegangen sei, um jetzt nicht noch weiter gehen, die Sache zu Ende bringen zu müssen. Indessen konnte es nicht schaden, wenn er ein paar Momente gewann, sich die Ausdrücke zurechtzulegen, und so sagte er:

Ich verstehe Sie nicht, Fräulein Minna.

Das wundert mich, erwiderte sie, ohne die bedenkliche Miene zu verändern. Ein Kaufmann, wie Sie, kreditiert nicht einem Manne, dessen Lage verzweifelt ist, aus purer Freundschaft, ohne alle und jede Sicherheit; ohne zu überlegen, wann und wie er wieder zu seinen Auslagen kommt – à fonds perdu? Das ist, meine ich, das Wort, das ihr für dergleichen habt? Ich sagte vorhin: »der Preis«; aber auf den Ausdruck kommt es ja wohl nicht an.

Der Preis sind – Sie selbst, schönes Fräulein Minna.

Er hatte ihr dabei in die Augen sehen wollen – es gelang ihm nicht. Und nun mußten die beiden am Flügel ganz plötzlich ihren Streit zu Ende gebracht haben. Es war so still im Saale; Billow hörte deutlich das kurze, heftige Atmen der Dame; er wußte nicht, ob er nicht doch wünschen solle, die Stille möge anhalten und ihr das Antworten unmöglich machen, wenn auch nur für heute abend.

So vergingen ein paar peinliche Sekunden, in die plötzliches lautes Gelächter der beiden jungen Leute da hinten am Flügel wie ein Hohn hereinschaute – als hatten sie alles gehört, was hier am Teetische gesprochen war – auch seine letzten Worte – und könnten nun beim besten Willen nicht länger ernst bleiben. Aber der Himmel mochte wissen, worüber sie so toll gelacht hatten. Im nächsten Augenblicke schon setzten sie, ohne weiter ein Wort zu sprechen, die unterbrochene Musik eifrig fort. Jetzt mußte Minnas Antwort kommen. Er hob die Augen zu ihr auf mit einem halb trotzigen, halb zaghaften Blicke.

Ich kann den Preis nicht zahlen, sagte sie.

Es war sehr leise gesagt, aber auch sehr bestimmt, so bestimmt, daß Billow seine Sache sofort verloren gab: eine zurückgewiesene Offerte, eine verunglückte Spekulation, die ihn grimmig ärgerte, über die er sehr wütend war, ohne sich seinen Ärger, seine Wut merken lassen zu dürfen! Weshalb dem Gegner den Vorteil gönnen? Daß er ein Narr wäre! Und wenn das Unternehmen für den Augenblick gescheitert war – es kam vielleicht eine bessere Konjunktur. Man mußte sich die Möglichkeit reservieren, auf das Geschäft zurückzugreifen.

Das alles fuhr ihm blitzschnell durch den Kopf und zugleich der Gedanke, jetzt sei der Augenblick gekommen, sich über die Natur des Verhältnisses zwischen Minna und dem Marquis Gewißheit zu verschaffen. Zum Tausend! er hatte doch das Recht, zu fragen, weshalb man ihn zurückwies! Das war das wenigste, was er verlangen durfte, und was für die Zukunft sehr viel werden konnte. Man hatte dann doch sicheren Boden unter den Füßen!

Sie können den Preis nicht zahlen, sagte er in einem Tone, der zugleich traurig und bescheiden klingen sollte und auch wirklich ungefähr so klang. Es war ein häßliches Wort, das wir nicht hätten brauchen sollen – mein Gott, wir sind ja hier nicht auf der Börse! Gleichviel: ich habe Sie doch richtig dahin verstanden, daß Sie meine aufrichtige, respektvolle Werbung zurückweisen? Ist es mir verstattet, zu fragen, ob Sie mir gar keine Hoffnung lassen können?

Ich bitte, brechen wir von dem Gegenstande ab! erwiderte Minna viel weicher, als sie vorhin ihre Absage gesprochen hatte. Und sie machte eine Bewegung, sich zu erheben. Billow legte ihr leicht die Hand auf den Arm, zog sie aber, als sie sich wieder in den Sessel sinken ließ, sofort zurück und sagte:

Sie müssen mir verstatten, Ihnen noch ein paar Momente unbequem zu fallen, schon, um in Zukunft vor mir sicher zu sein. Man weiß in meiner Lage gern, ob man seiner selbst willen verschmäht wird, oder ob man nur hinter einem anderen zurückstehen muß.

Ich glaube nicht, daß ich Ihnen darauf eine Antwort schuldig bin, erwiderte Minna, diesmal in augenscheinlicher Verwirrung.

Ich glaube doch, sagte Billow, eben aus dem angeführten Grunde. Sehen Sie, Fräulein Minna, ich will mich nicht unwissender stellen, als ich bin. Ich müßte blind gewesen sein, hätte ich seinerzeit nicht bemerken sollen, mit welcher Geflissentlichkeit sich ein gewisser Jemand um Sie bewarb. Es haben ja auch andere bemerkt, die weniger als ich Ursache hatten, die Augen aufzumachen. Von Ihrem Bruder spreche ich nicht. Sein Haß gegen alles Französische und alle Franzosen machte ihn unzurechnungsfähig, und so habe ich ihm nie geglaubt – obgleich er es mit wilder Heftigkeit versicherte und beschwor – daß – Sie wissen, was ich sagen will, Fräulein Minna?

Ich weiß es und muß Ihnen allerdings jetzt sagen, daß Georg Ihnen nur die Wahrheit berichtet hat: ich bin die Verlobte des Herrn von Héricourt.

Billow lächelte sarkastisch.

Was man so verlobt nennt, sagte er, oder auch nicht, wenigstens nicht bei uns in Hamburg. Bei uns pflegt wenigstens der Vater es zu wissen, wenn die Tochter verlobt ist.

Mein Vater wird nie das Gegenteil behauptet haben, erwiderte Minna rasch.

Da muß ich submissest um Entschuldigung bitten! Er hat mich noch gestern versichert, daß Fräulein Minna völlig frei sei und Freiheit habe, ihre Hand einem ehrlichen Bewerber zu geben.

Wie konnte mein Vater das! rief Minna, die Hände im Schoße krampfhaft ringend.

Billow sah es; aber die augenscheinliche Verzweiflung des Mädchens vermehrte nur seine eifersüchtige Wut. Sie mußte also den vornehmen französischen Herrn mit den verfluchten melancholischen braunen Augen sehr lieben auf Kosten eines Hamburger Patriziersohnes, der ihren Vater in der Tasche hatte, und von dem es abhing, ob die Warburgs noch in nächster Woche einen »Empfangsabend« in ihrem Hause, vielmehr, ob sie überhaupt noch ein Dach über dem Kopfe haben, oder, als Abgehauste, der Armenkasse zur Last fallen sollten. Er sagte mit einer Ironie, die er jetzt nicht einmal mehr zu verhüllen strebte:

Ein Mann in der Lage Ihres Herrn Vaters, mein Fräulein, versichert freilich gar manches, was mit der wirklichen Situation nicht immer strikte übereinstimmt. Und in diesem Falle würde ihm eine besondere Entschuldigung zur Seite stehen. Durch die Bekanntwerdung der Verlobung seiner Tochter mit einem Franzosen, wenn er auch noch so vornehmer Abkunft ist, würde sein Kredit bei den Hamburgern – ich meine: bei den echten, ehrlichen, patriotischen – nicht gewonnen haben. Unter anderen ganz gewiß nicht bei mir.

Ich muß es Ihnen überlassen, die geschäftlichen Konsequenzen aus einer Mitteilung zu ziehen, die Sie mir abgezwungen haben –

Mein Fräulein –

Ja, mein Herr: abgezwungen!

Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist –

Billow kam nicht weiter. Von dem Flügel her erschallte abermals lautes Gelächter. Johanna war von ihrem Sessel aufgesprungen und kam nach dem Teetische gerannt, schon von weitem rufend: Habt ihr es gehört? Ist es erhört? Eine Viertelstunde lang habe ich ihm auseinandergesetzt, warum der zweite Satz ein b hat, haben muß, wenn die rechte Wirkung herauskommen soll. Wir quälen euch nochmals mit dem ersten Satze, damit ihr den schönen Übergang recht genießen könnt, und richtig – im zweiten Satze – ist es nicht, um sich tot zu ärgern!

Und die junge Schöne lachte, daß es silbern durch das weite Gemach schallte; und Oskar, der mittlerweile seine Geige in den Kasten gelegt hatte und nun herangekommen war, lachte ebenfalls trotz seiner Verlegenheit nicht minder herzlich, während sie sich zwischendurch, einander verklagend, mit lebhafter Rede und Gestikulation zu den beiden wandten, die sich vom Teetische erhoben hatten. Warburg, der just zur Tür – an der er bereits eine Weile gelauscht – hereintrat, mußte dafür halten, daß diese soeben ihre Verlobung mitgeteilt hätten und von jenen beglückwünscht würden. Sollte er den Überraschten spielen? oder den weisen Vater, der dies langst hat kommen sehen, Wenn es ihn auch, nachdem es nun gekommen, darum nicht weniger beglückt?

Die Täuschung währte nur kürzeste Frist. Minnas Blässe, der Ausdruck ihres Gesichtes, die zornige Röte auf Billows niedriger Stirn und seine aus Ärger, Hohn und Verlegenheit gemischte Miene; dazu die Reden der anderen mit den harmlosen Scherzen, die sich um die törichte Musik drehten, keineswegs um das, was ihm allein am Herzen lag und dessen Eintreten er so sehnlich erhofft, so bestimmt erwartet hatte – er war außer sich. Wenn es ihm auch mit Aufbieten seiner ganzen Kraft gelang, sich so weit zu beherrschen, daß seine innere Empörung nicht zum vollen Ausbruch kam, konnte doch seine Verstörung niemand entgehen. Oskar und Johanna fragten wie aus einem Munde, ob ihm etwas Unangenehmes begegnet sei? ob er sich unwohl fühle? Auch Billow murmelte etwas der Art durch die Zähne; Minna war nicht imstande, ein Wort hervorzubringen. Sie hatte den schnellen Blick, den der Vater und Billow gewechselt hatten, aufgefangen; sie wußte jetzt, was sie vorhin nur geargwohnt: daß Billow ihr mit Wissen, vielleicht auf den Antrieb des Vaters den Antrag gemacht; der Vater sie Billow ausgeliefert habe, nachdem er damals ihrem Verlöbnis mit Héricourt seinen Segen erteilt. Da mußte es allerdings weit mit ihm gekommen, da mußte freilich seine Lage, wie Billow es ausdrückte, verzweifelt sein.

Viertes Kapitel.

Man hatte wieder um den Teetisch Platz genommen; Warburg, der die kleine momentane Schwäche vorhin völlig überwunden zu haben behauptete, leitete die Unterhaltung. Das war dem Weitgereisten, Vielgewandten, Vielerfahrenen sonst so leicht gewesen; heute kostete es ihn augenscheinlich Mühe, und während er sich den Anschein der Heiterkeit und Unbefangenheit zu geben suchte, machte sich die Bitterkeit, die ihn erfüllte, je weiter der Abend vorschritt, immer mehr Luft. Daß er bei den Lamentationen, in denen er sich erging, in die bedenklichsten Widersprüche mit seinen sonst geäußerten Ansichten, ja mit seinem eigenen Charakter und Temperament geriet, wollte oder konnte er in seiner verzweifelten Stimmung nicht bemerken. Er, der Lebemann, dessen ungezügelter Hang zum Wohlleben und Luxus selbst in den Augen ihm Wohlgesinnter der hauptsächliche Grund seiner jetzigen materiellen Notlage war, warf sich zum Prediger einer aszetischen Sittenlehre auf. Die Welt liege im argen, die große, wie die kleine, und da schelte nun alles auf Napoleon, der doch ganz sichtbarlich nur ein Werkzeug in der Hand Gottes sei, die verwahrloste, verwilderte Menschheit zur Räson zu bringen. Was sei denn in den früheren öffentlichen und privaten Zuständen nicht heillos gewesen und wert, daß es zugrunde ging? Vor wem habe man Respekt empfinden sollen? Vor den Herrschern etwa, denen ihre Untertanen nur Herden gewesen seien, die sich mit Lammesgeduld hätten scheren lassen? Wäre es den ersteren nicht recht, daß sie der Allgewaltige mit Schimpf und Schande von ihren Thronen und Thrönchen stoße? oder den letzteren nicht billig, daß er sie heute in diesen und morgen in jenen Pferch sperre, wie es ihm gerade in seine Wirtschaft passe, ohne sie nach ihrem Willen zu fragen, den sie nie besessen hätten? Und habe es in der Republik Hamburg besser ausgesehen? Ein schöne Republik, fürwahr! Republik zu nennen, wie lucus a non lucendo! Ein öffentliches Gemeinwesen, darauf beruhend, daß zwischen den Abkömmlingen von ein paar Dutzend alter Geschlechter im geheimen Gesetze und Vorschriften abgekartet, Maßnahmen und Einrichtungen getroffen würden, bei denen alles Fleisch in ihre – der Geschlechter – Töpfe komme und das gemeine Wesen leer ausgehe. Bis auf die Knochen – selbstverständlich! – an denen die Leute jetzt nagten, nachdem sich die Herren am Ruder wohl gehütet hätten, in den fetten Jahren vor der Sperre in die öffentlichen Scheuern zu sammeln! Er habe immer gegen diese Mißwirtschaft opponiert, vergeblich! und deshalb nur konsequent gehandelt, als er im Frühjahre, nachdem sich die Folgen jener Mißwirtschaft so eklatant herausgestellt, aus dem Munizipalrat schied, um damit aller Welt klarzumachen, daß er die Verantwortung nicht tragen wolle für Zustände, deren Elendigkeit das französische Regime weniger erzeugt, als an den Tag gebracht habe. Und er müsse sagen, wenn Georg damals die Konskription über sich ergehen ließ und jedes Anerbieten, ihn loszukaufen, trotzig von sich wies – nun ja, es sei ihm ein Schlag ins Vaterherz gewesen, den er niemals wieder ganz verwinden würde, auch wenn gegen alles Ermessen, ja schon gegen alle Hoffnung, der arme Junge aus dem schrecklichen Kriege heil zurückkehre. Aber ein Gutes habe der Trotz des Jungen doch gehabt: zu zeigen, daß es dem Vater bitterer Ernst gewesen mit seiner Resignation auf Ehren und Würden, die er nie ambiert; mit seinem Verzicht auf ein Wohlleben, das ihm nur zum Mittel gedient, um sich, der die besten Kreise aller Hauptstädte Europas kennen gelernt, über die Stupidität und Langeweile der Hamburger Sozietät wegzutäuschen. Und noch ein Drittes dürfe er nicht vergessen, für das er seiner jetzigen Lage verpflichtet sei: für die Einsicht in den Wert von Freundschaften, die genau so lange vorhielten, wie der Glücksstand des lieben, hochverehrten Freundes! Er brauche wohl nicht zu sagen, daß hier, wie überall, die Anwesenden ausgenommen seien. Oder was sollte auch wohl seine beiden jungen Freunde heute abend in diesen Saal geführt haben, wenn nicht die verlockende Aussicht, mit der von allen sonst gemiedenen Familie einen insipiden Tee zu trinken im Lichte von vier kümmerlichen Talgkerzen, die noch dazu verlöschen würden, wenn Herr Billow nicht die Güte haben wolle, sie gefälligst zu schneuzen.

Billow kam der erhaltenen Aufforderung alsbald nach, Wut im Herzen und entschlossen, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen, in dem er – Theodor Billow – sich erst einen Korb von der hochmütigen Tochter hole, um dann von dem törichten Vater mit Vorwürfen und Beleidigungen reguliert zu werden. Denn daß die letzte Invektive des Alten ihm allein gegolten habe, war ja sonnenklar.

Jedenfalls hatte der junge Schwede sie auf sich nicht bezogen. Das bewies seine verblüffte Miene, die Johanna zu fragen schien: Was hat der Herr Vater heute abend nur? worauf denn Johanna mit einem kaum merklichen Zucken der zarten Schultern antwortete und einem flüchtigen Blicke empor zur Zimmerdecke, als spähte sie dort nach den bösen Geistern, die über dem Abend walteten, auf den sie sich so gefreut.

Minna hatte mit blassen Wangen und fest geschlossenen Lippen dagesessen. Ihr freilich brauchte niemand zu sagen, was dies alles bedeutete, woher die grimmige Laune des Vaters stammte. Aber es erschien ihr als ein Unrecht, daß er sie an Billow ausließ. Sie liebte den Mann nicht; sie hatte ihn, der ihr eine so schlimme Stunde bereiten konnte, vorhin beinahe gehaßt. Aber wenn das schon unbillig von ihr war, die seit Jahr und Tag wußte, daß er sich um sie bewerbe, daß er nur notgedrungen vor Héricourt zurückgewichen sei und heute abend ohne das Zureden des Vaters weiter geschwiegen haben würde, wie bisher, so war der Vater noch viel weniger zu einem Betragen berechtigt, welches sogar mit den gewöhnlichen Pflichten der Höflichkeit und Gastfreundschaft im schneidendsten Widerspruche stand. Sie durfte es nicht so hingehen lassen.

Ich kann den Wert der Freundschaften nicht so niedrig anschlagen wie der Vater, sagte sie; aber der Vater hat auch wohl nur die falschen gemeint. Wer möchte denen das Wort reden? Ich meine aber, daß man die wahren von den falschen unterscheiden, vielmehr die letzteren mit dem schönen Namen gar nicht bezeichnen solle, so wenig wie man die Krankheit Gesundheit, die Lüge Wahrheit, das Laster Tugend nennt.

Ein Kapitel aus dem Rousseau? fragte Warburg höhnisch.

Ich zweifle nicht, erwiderte Minna ruhig, mit dem, was ich gesagt, den Sinn und die Meinung des großen Mannes hinreichend getroffen zu haben, wenn er meinen Gedanken auch einen so viel schöneren Ausdruck gegeben haben würde.

Freilich! rief Warburg bitter; es ist keine Kunst, mit schönen Worten zu prunken, wenn man sich ein für allemal exküsiert, sobald man beim Worte genommen werden soll, und sich wohlweislich hütet, von den Pflichten, die man so herrlich predigt, für seine Person auch nur eine einzige zu erfüllen. Monsieur Jean Jaques hat für diese so bequeme Praxis in seinem Leben das eklatanteste Beispiel gegeben. Ist es da ein Wunder, wenn der würdige Meister, der die eigenen Kinder ins Findelhaus schickte, sich Schüler oder auch Schülerinnen erzieht, die sich mit Herz und Sinn von ihren Eltern abwenden? es anständiger finden, ihre eigenen, selbstsüchtigen Wege zu gehen, ohne sich die Frage vorzulegen, was dabei aus jenen wird?

Die Anwesenden sind hier, wie vorhin, ausgenommen, sagte Minna.

Aber selbstverständlich! rief der Vater mit bösem Lächeln. –

Jetzt waren doch auch Johanna und Oskar innegeworden, auf welchem vulkanischen Boden sie sich ahnungslos die ganze Zeit bewegt hatten. Sie blickten einander erschrocken an und dann verstohlen auf die übrigen, denen die innere Verstörung nur allzu deutlich auf den Gesichtern geschrieben stand. Warburg saß in der Sofaecke zurückgesunken, finsteren Blickes an der Unterlippe nagend; Minna war so völlig bleich, daß die großen, starren, blauen Augen schwarz erschienen; Billows immer lebhafte Gesichtsfarbe hatte sich dagegen zu einer schier beängstigenden Röte gesteigert; er rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her.

Ich glaube, es ist sehr spät, sagte er plötzlich, von dem Sessel emporschnellend.

Gewiß – sehr spät! rief Oskar, dem gegebenen Beispiele alsbald folgend.

Und ich bitte dringend, daß man bleibe! rief Warburg, oder soll ich glauben, daß unsere letzten Freunde die Abende in meinem Hause allzu lang finden, seitdem ich ihnen zum Schlaftrunk nur ein Glas Punsch bieten kann? Wo bleibt der Punsch, ihr Mädchen?

Er hatte das, ohne sich aus der Sofaecke zu rühren, in einem Tone gesagt, der scherzhaft und verbindlich sein sollte und erregt und herrisch klang. Das hinderte freilich Oskar nicht, seinen Hut, den er bereits ergriffen hatte, sofort wieder niederzulegen; aber Billow wollte die Partie, die jetzt zu seinen Gunsten lag, nicht so leichten Kaufes aufgeben. Schied er heute abend als Beleidigter aus diesem Hause, war er morgen vor den Ansprüchen sicher, die Warburg zweifellos an ihn stellen würde, wenn es jetzt auch nur zu einer scheinbaren Versöhnung kam. So bat er denn, ihn zu entschuldigen; er fühle sich sehr abgespannt, in der Tat ein wenig unwohl. Warburg, der sehr genau wußte, was in dem anderen vorging, wollte das nicht gelten lassen: seit wann fürchte sich Theodor Billow vor einem leichten Unwohlsein, das noch dazu am besten durch ein Glas Punsch kuriert werde? – Johanna, die dem Vater ansah, wieviel ihm an Billows Bleiben lag und der ebenso damit gedient war, da es das einzige Mittel schien, Oskar festzuhalten, erbat sich mit einem Knix Billows Hut, den dieser mürrisch-unhöflich verweigerte.

So trinken Sie Ihren Punsch mit dem Hut in der Hand! rief die junge Dame lachend, indem sie Christiansen, der eben in das Gemach gekommen war, eines der gefüllten Glaser von dem Brette nahm und dem Übellaunigen darbot. Der junge Kaufmann sah sich wohl oder übel zum Bleiben gezwungen. Christiansen hatte unterdessen auch den anderen präsentiert und flüsterte seinem Herrn jetzt etwas ins Ohr.

Er soll morgen wiederkommen, hörte man Warburg sagen, worauf der alte Diener abermals zu flüstern begann.

Das ist doch wunderlich, murmelte Warburg.

Darf man fragen, was es ist? sagte Oskar.

In der Tat, sehr wunderlich, erwiderte Warburg, sich zu den anderen wendend. Da kommt der Samuel Hirsch von dem Bleichergang – Sie kennen ihn ja, Billow – in nachtschlafender Zeit zu mir: er habe mir etwas Wichtiges mitzuteilen, und das er nicht bis morgen aufschieben möge, weil er wisse, daß es mich freuen werde. Ich könnte den alten Mann nun freilich unten in meinem Kontor empfangen; aber ich fürchte –

Dann läuft uns unsere Gesellschaft hier oben fort, rief Johanna. Du hast ganz recht, Vater. Laß den lieben alten Herrn heraufkommen! Ein Glas Punsch wird auch ihm nicht schaden; und er hat es doppelt verdient, wenn er dir etwas Gutes bringt.