Sturmflut - Friedrich Spielhagen - E-Book

Sturmflut E-Book

Friedrich Spielhagen

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Beschreibung

"Sturmflut" zählt zu den bekanntesten Werken des großen Schriftstellers. Vor dem Hintergrund der Jahrhundertflut an der Ostsee 1872 spinnt er die Geschichte zweier verfeindeter Familien bis in die Finanzspekulationswelt der Großstadt Berlin.

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Seitenzahl: 481

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Sturmflut

Friedrich Spielhagen

Inhalt:

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Sturmflut

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Sturmflut, F. Spielhagen

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636432

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Romanschriftsteller, geb. 24. Febr. 1829 in Magdeburg als Sohn eines preußischen Regierungsrates, verbrachte sein Jugend in Stralsund (ein großer Teil seiner späteren Romane spielt an diesem Teile der Ostseeküste und auf der Insel Rügen), absolvierte hier das Gymnasium, studierte von 1847 an anfangs die Rechte, dann Philologie und Philosophie in Berlin, Bonn und Greifswald, war einige Zeit als Lehrer tätig, widmete sich aber bald ausschließlich der Literatur. Neben Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, von denen wir die »Amerikanischen Gedichte« (Leipz. 1856, 3. Aufl. 1871) nennen, veröffentlichte er schon in Leipzig die Novelle »Klara Vere« (Hannov. 1857) und das Idyll »Auf der Düne« (das. 1858), die jedoch nur geringe Beachtung fanden. Eine um so glänzendere Aufnahme fand der erste größere Roman Spielhagens: »Problematische Naturen« (Berl. 1860, 4 Bde.; 22. Aufl., Leipz. 1900), mit seiner abschließenden Fortsetzung: »Durch Nacht zum Licht« (Berl. 1861, 4 Bde.). Dieser Roman gehörte durch Lebendigkeit des Kolorits und eine in den meisten Partien künstlerisch ansprechende Darstellung zu den besten deutschen Romanen seiner Zeit. S. war inzwischen 1859 von Leipzig nach Hannover und Ende 1862 nach Berlin übergesiedelt, wo er kurze Zeit die »Deutsche Wochenschrift« und das Dunckersche »Sonntagsblatt« redigierte. Auch von der Herausgabe von Westermanns »Illustrierten deutschen Monatsheften«, die er 1878 übernommen, trat er 1884 wieder zurück. Sein zweiter großer Roman: »Die von Hohenstein« (Berl. 1863, 4 Bde.), der die revolutionäre Bewegung von 1848 zum Hintergrund hatte, eröffnete eine Reihe von Romanen, welche die Bewegungen der Zeit zu spiegeln unternahmen. War hierdurch ein gewisses Übergewicht des tendenziösen Elements gegenüber dem poetischen unvermeidlich, und standen die Romane: »In Reih' und Glied« (Berl. 1866, 5 Bde.) und »Allzeit voran!« (das. 1872, 3 Bde.) wie die Novelle »Ultimo« (Leipz. 1873) allzu stark unter der Herrschaft momentan in der preußischen Hauptstadt herrschender Interessen, so erwiesen andre freiere Schöpfungen den Gehalt, die Lebensfülle und die künstlerische Gewandtheit des Verfassers. Neben der Novelle »In der zwölften Stunde« (Berl. 1862), den unbedeutenderen: »Röschen vom Hofe« (Leipz. 1864), »Unter Tannen« (Berl. 1867), »Die Dorfkokette« (Schwerin 1868), »Deutsche Pioniere« (Berl. 1870), »Das Skelett im Hause« (Leipz. 1878) und den Reiseskizzen: »Von Neapel bis Syrakus« (das. 1878) schuf S., unabhängiger von den momentanen Tagesereignissen oder sie nur in ihren großen, allgemein empfundenen Wirkungen auf das deutsche Leben darstellend, die Romane: »Hammer und Amboß« (Schwer. 1868, 5 Bde.), »Was die Schwalbe sang« (Leipz. 1872, 2 Bde.) und »Sturmflut« (das. 1876, 3 Bde.), ein Werk, worin der Dichter, besonders im ersten und letzten Teile, auf der vollen Höhe seiner Darstellungskunst steht, und worin er in glücklicher Symbolik das Elementarereignis der Ostseesturmflut mit der wirtschaftlichen Sturmflut 1873 im Zusammenhange erzählt; den Roman »Platt Land« (das. 1878, 3 Bde.), die seine, nur etwas allzusehr zugespitzte Novelle »Quisisana« (das. 1879) sowie die Romane: »Angela« (das. 1881, 2 Bde.), »Uhlenhans« (das. 1884, 2 Bde.), »An der Heilquelle« (das. 1885), »Was will das werden« (das. 1886, 3 Bde.), »Noblesse oblige« (das. 1888), »Ein neuer Pharao« (das. 1889), »Sonntagskind« (das. 1893, 3 Bde.), »Susi« (Stuttg. 1895), »Zum Zeitvertreib« (Leipz. 1897), »Faustulus« (das. 1898), »Opfer« (das. 1900), »Frei geboren« (das. 1900), »Stumme des Himmels« (1903). Eine Abnahme der dichterischen Kraft Spielhagens ist seit der »Sturmflut« nicht zu verkennen; seine Darstellungsweise geriet immer mehr in den Stil des in sich selbst eingesponnenen Reflektierens, statt des einfach konkreten Gestaltens. Auch kam S. über den Standpunkt des liberalen Achtundvierzigers und des Liberalen aus der Konfliktszeit nicht mehr recht hinaus, und der große Meister der Zeitschilderung verstand nicht mehr den »neuen Pharao«. Nur in den kleineren Werken: »Deutsche Pioniere« und »Noblesse oblige«, streifte S. vorübergehend das Gebiet des historischen Romans. Mit dem nach einer eignen Novelle (Berl. 1868) bearbeiteten und an mehreren Theatern erfolgreich aufgeführten Schauspiel »Hans und Grete« (das. 1876) wendete er sich auch der Bühne zu. Größern Erfolg hatte das Schauspiel »Liebe für Liebe« (Leipz. 1875), in dem die Kritik neben novellistischen Episoden einen wahrhaft dramatischen Kern anerkannte. Außerdem brachte er die Schauspiele: »Gerettet« (Leipz. 1884), »Die Philosophin« (das. 1887) und »In eiserner Zeit«, Trauerspiel (das. 1891). Von S. erschienen ferner: »Vermischte Schriften« (Berl. 1863–68, 2 Bde.), »Aus meinem Skizzenbuch« (Leipz. 1874), »Skizzen, Geschichten und Gedichte« (das. 1881), »Beiträge zur Theorie und Technik des Romans« (das. 1883), »Aus meiner Studienmappe« (Berl. 1891), »Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik« (Leipz. 1898), »Am Wege«, vermischte Schriften (das. 1903) und eine Sammlung seiner formschönen »Gedichte« (das. 1892) und »Neuen Gedichte« (das. 1899). Die letzte Ausgabe seiner »Sämtlichen Romane«, die alle zahlreiche Auflagen erlebten, erschien in 29 Bänden (Leipz. 1896 ff.). S. schrieb auch seine Selbstbiographie: »Finder und Erfinder, Erinnerungen aus meinem Leben« (Leipz. 1890, 2 Bde.), die aber wesentlich nur die innere und äußere Entstehungsgeschichte seiner »Problematischen Naturen« erzählt. Vgl. Karpeles, Friedrich S. (Leipz. 1889), und die Festschrift zu Spielhagens 70. Geburtstag: »Friedrich S.« (das. 1899).

Sturmflut

Erstes Buch

Das Wetter war gegen Abend unfreundlicher geworden. Auf dem Vorderdeck hatten sich die Gruppen der Erdarbeiter, die nach Sundin an die neue Eisenbahn wollten, enger zwischen den hochgestapelten Fässern, Kisten und Kasten zusammengekauert, von dem Hinterdeck waren die Passagiere bis auf wenige verschwunden. Zwei ältere Herren, die während der Reise viel zusammen geplaudert, standen auf der Steuerbordseite und blickten und deuteten nach der Insel, die der Dampfer nach Südwest zu umfahren hatte und deren flache, in gewaltigem Bogen bis zu dem Vorgebirge sich herumschwingende Küste mit jedem Moment bestimmter heraustrat.

Das ist also Warnow?

Verzeihung, Herr Präsident, – Ahlbeck, ein Fischerdorf, allerdings auch Warnowscher Grund. Warnow selbst liegt weiter landeinwärts. Der Turm der Kirche blickt noch eben über den Dünenrand.

Der Präsident lächelte: Ja, ja, es ist klassischer Boden, sagte er, es ist viel um ihn gestritten worden; viel und – vergeblich!

Und ich bin überzeugt, es war gut, daß der Streit vergeblich geblieben, zum wenigsten nur ein negatives Resultat gehabt hat, sagte der General.

Ich bin nicht sicher, daß er nicht wieder aufgenommen wird, erwiderte der Präsident. – Graf Golm und Genossen machen neuerdings die größten Anstrengungen.

Nachdem Sie die Unrentabilität der Bahn so schlagend nachgewiesen?

Wie Sie die Unzweckmäßigkeit des Kriegshafens!

Verzeihung, Herr Präsident, ich hatte nicht das Dezernat, oder genauer: Ich hatte es abgelehnt. Der einzige einigermaßen zweckmäßige Platz für den Hafen wäre eben dort, in der südlichsten Ecke der Bucht, im Schutz des Wissower Hakens, das heißt, auf Warnowschem Terrain gewesen. Ich habe freilich nur die Kuratel über das Vermögen meiner Schwester –

Ich weiß, ich weiß, unterbrach ihn der Präsident, alte preußische Ehrenhaftigkeit, die bis zur Skrupulosität geht. Graf Golm und Genossen sind weniger skrupulös.

Um so schlimmer für sie, sagte der General.

Die Herren wandten sich und traten an ein junges Mädchen heran, das, auf einer geschützten Stelle an der Kajütenwand sitzend, sich die Zeit, so gut es gehen wollte, bald mit Lesen, bald mit Zeichnen in einem kleinen Album vertrieb.

Du möchtest gewiß oben bleiben, Else? sagte der General.

Wollen die Herren in die Kajüte? antwortete das junge Mädchen, von ihrem Buch aufblickend, ich finde es unten schrecklich, aber freilich, es ist Ihnen gewiß zu rauh, Herr Präsident!

Es ist in der Tat auffallend rauh, erwiderte der Präsident, den Kragen seines Überrocks in die Höhe schlagend und einen Blick nach dem Himmel werfend. Ich glaube, wir haben noch vor Sonnenuntergang Regen. Sie sollten wirklich mit uns kommen, gnädiges Fräulein! Meinen Sie nicht, Herr General?

Else ist wetterfest, erwiderte der General lächelnd; – aber einen Schal oder dergleichen könntest du doch umnehmen. Darf ich dir etwas holen?

Danke, Papa! Ich habe hier noch alles Mögliche, sagte Else, auf ihre zusammengerollten Plaids und Tücher deutend. Ich will mich schon schützen, wenn's not tut – au revoir!

Sie verneigte sich anmutig gegen den Präsidenten, winkte dem Vater freundlich mit den Augen und griff wieder nach ihrem Buch, während die Herren um die Ecke herum auf den schmalen Gang zwischen der Kajütenwand und der Brüstung einbogen.

Sie las ein paar Minuten, blickte dann wieder auf und verfolgte die Rauchwolke, die aus dem Schlot in dicken, schwarzgrauen, durcheinanderwirbelnden Ballen, ebenso wie zuvor, sich über das Schiff wälzte. Auch der Mann am Ruder stand noch auf derselben Stelle, wie zuvor, ließ, wie zuvor, das Rad bald nach rechts, bald nach links laufen und hielt es dann wieder unbeweglich in den rauhen Händen. Und richtig, da war auch wieder der Herr, der mit so unermüdlicher Ausdauer das Verdeck vom Steuer bis zum Bugspriet und wieder vom Bugspriet bis zum Steuer hinauf und hinab schritt und dabei eine Sicherheit der Bewegung zeigte, die Else im Laufe des Tages wiederholt nachzuahmen versucht hatte, allerdings nur mit zweifelhaftem Erfolge.

Sonst hatte er, meinte Else, nicht viel, was ihn besonders ausgezeichnet hätte. Und Else sagte sich, daß sie den Mann in einer größeren Gesellschaft schwerlich beachtet, sicherlich nicht beobachtet, vielleicht nicht einmal gesehen haben würde und daß, wenn sie ihn heute im Laufe des Tages zahllose Male angesehen und recht eigentlich studiert hatte, dies doch nur in dem Umstande seinen Grund haben konnte, daß nicht gar viel zu sehen, zu beobachten und zu studieren gewesen war.

Ihr Skizzenbuch, in dem sie eben blätterte, bewies es. Das sollte ein Stück Hafen von Stettin sein – es gehört viel Phantasie dazu, um daraus klug zu werden, meinte Else. – Dies hier ist besser herausgekommen: die flachen Wiesen, die Kühe, die Leuchtbake, dahinter glattes Wasser mit ein paar Segeln; abermals ein Wiesenstreifen – endlich in der Ferne das Meer. – Auch der Mann am Steuer ist nicht übel: Er hat still genug gehalten. – Aber der Unermüdliche ist schrecklich mißraten: die reine Karikatur! Das kommt davon, wenn man immer in Bewegung ist! Endlich! Nur fünf Minuten, Herr So und So! Das kann wirklich gut werden – die Stellung ist vortrefflich!

Else hielt das Buch in einiger Entfernung, um ihre Skizze als Bild zu sehen: Sie war höchlichst zufrieden. – Da sieht man, daß ich doch etwas zustande bringen kann, wenn ich mit Liebe arbeite, sagte sie bei sich und notierte unter das Bild: Der Unermüdliche. Mit Liebe. 26. August 72. E. v. W.

Während die junge Dame so eifrig die Züge und die Gestalt des jungen Mannes auf das Papier zu bringen suchte, hatte auch ihr Bild vor seiner Seele gestanden. Und da war es ganz dasselbe, ob er die Augen schloß oder offen hielt: Er sah sie immer gleich deutlich und immer gleich anmutig und entzückend: Jetzt in dem Moment bei der Abfahrt von Stettin, als der Vater sie dem Herrn Präsidenten vorstellte und sie sich so zierlich verneigte; – dann, wie sie mit den beiden Herren frühstückte und so fröhlich lachte und das Glas an den Mund führte; – und wie sie oben auf dem Laufbrette neben dem Kapitän stand und der Wind die Kleider so fest an die schlanke Gestalt drückte und den grauen Schleier wie eine Flagge hinter ihr her peitschte. – Es war ganz erstaunlich, wie sich ihr Bild in der kurzen Zeit so fest in seine Seele geprägt, aber dann hatte er ja nun auch wieder einmal über ein Jahr nichts als Himmel über sich und Wasser unter sich gesehen. Da war's am Ende begreiflich, wenn das erste anmutig-schöne Mädchen, das er nach so langer Entbehrung erblickte, ihm einen so großen, so herzerquickenden Eindruck machte!

Und überdies, sprach der junge Mann bei sich, sind wir in drei Stunden in Sundin, und dann – ade! ade! auf Nimmerwiedersehen! Aber was fällt denn denen ein? Ihr wollt doch nicht bei dem Wasserstand über den Ostersand?

Er hatte sich mit diesen letzten Worten zu dem Mann am Steuer gewandt.

Ja, Kapitän, dat is so 'ne Sak, erwiderte der Mann, den Tabak aus einer Backe in die andere schiebend. Mi dücht ok, wie sull'n mir Stüerbord hollen; aber de Kaptän meint ja –

Der junge Mann wartete das Ende der Rede nicht ab. Er hatte in früheren Jahren dieselbe Fahrt wiederholt gemacht. Er hatte die Stelle, auf die sie loshielten, erst vor wenigen Tagen passiert und war erschrocken gewesen, da, wo früher eine Tiefe von fünfzehn Fuß gestanden, nur noch zwölf Fuß zu finden. Heute, nachdem der scharfe Westwind wieder so viel Wasser seewärts getrieben, konnten hier keine zehn Fuß mehr sein, und der Dampfer hatte acht Fuß Tiefgang! Und dabei keine Verminderung der Fahrgeschwindigkeit, kein Loten, keine einzige der gebotenen Vorsichtsmaßregeln! – War der Kapitän toll?

Der junge Mann lief an Else mit einer Eilfertigkeit vorüber, und seine Augen hatten, als sie über sie hinstreiften, einen so eigentümlichen Ausdruck, daß sie sich unwillkürlich erhob und ihm nachblickte. Im nächsten Moment schon war er auf dem Laufbrett neben dem alten rundlichen Kapitän, auf den er lange und lebhaft, ja zuletzt, wie es schien, heftig einsprach, während er mit der Hand wiederholt nach einer bestimmten Stelle in die Richtung, in der das Schiff fuhr, deutete.

Ein sonderbares Gefühl von Ängstlichkeit, das sie auf der ganzen Fahrt nicht empfunden, überkam Else.

Gleichgültig konnte der Umstand nicht sein, der den so heiter-ruhigen Mann in solche Aufregung versetzte! Und jetzt stand auch bei ihr fest, was sie schon ein paarmal vermutet: daß er ein Seemann sei, und dann ohne Zweifel ein tüchtiger, der unbedingt recht hatte, mochte der alte, dicke Kapitän auch noch so phlegmatisch in dieselbe Richtung deuten und dann durch das Fernglas sehen und wieder mit den Achseln zucken, während der andere jetzt das Treppchen vom Laufbrett auf das Verdeck hinunterstürmte und gerade auf sie zukam, als wollte er sie anreden.

Aber er tat es nicht, trotzdem, als er an ihr vorübereilte, seine Blicke ihren Blicken begegnet waren und er unzweifelhaft die stumme Frage in ihren Augen und auf ihren Lippen gelesen hatte; denn er stutzte für einen Moment und – wahrhaftig! Da kehrte er wieder um und war jetzt dicht hinter ihr!

Mein gnädiges Fräulein –

Ihr Herz klopfte, als ob es zerspringen sollte; sie wandte sich.

Mein gnädiges Fräulein, wiederholte er. Es ist wohl nicht recht, Sie zu erschrecken, vielleicht ohne Grund. Aber unmöglich ist es nicht, – ich halte es sogar für wahrscheinlich, daß wir binnen fünf Minuten auflaufen; ich meine, auf den Grund geraten –

Um Gottes willen! rief Else.

Ich denke, es soll nicht schlimm werden, fuhr der junge Mann fort, wenn der Kapitän – so! Wir haben jetzt nur noch halben Dampf die halbe Geschwindigkeit, mein gnädiges Fräulein; aber er müßte Konterdampf geben, und wahrscheinlich ist auch das schon zu spät.

Kann man ihn nicht zwingen?

An Bord seines Schiffes ist der Kapitän souverän, erwiderte der junge Mann, trotz seines Unmuts lächelnd. Ich selbst bin Seemann und würde mir in einem ähnlichen Falle ebensowenig eine Einrede gefallen lassen. Von wirklicher Gefahr ist keine Rede. Die Küste liegt vor uns, und die See ist verhältnismäßig ruhig, ich wollte nur nicht, daß Sie der Augenblick überraschte – verzeihen Sie meine Dreistigkeit!

Er hatte sich noch einmal verbeugt und entfernte sich dann schnell, als wollte er sich weiteren Fragen entziehen. – Von Gefahr ist keine Rede, murmelte Else; schade, ich hätte mich gern von ihm retten lassen. – Aber der Vater muß es wissen. Den Herrn Präsidenten sollte man freilich vorbereiten, er braucht es nötiger als ich.

Sie wandte sich nach der Kajüte, aber schon hatte der langsamere Gang des Schiffes, der in der letzten halben Minute noch mehr verlangsamt war, die Aufmerksamkeit der dort versammelten Passagiere erregt. Der Vater und der Präsident kamen bereits die Treppe herauf

Was gibt es? rief der General.

Wir können doch unmöglich schon in Prora sein? sagte der Präsident.

In dem Moment wurden alle wie von einem elektrischen Schlage durchzuckt, indem zugleich ein eigentümlich dumpfer knirschenden Ton das Ohr widerwärtig berührte. Der Kiel war über die Sandbank gestreift, ohne sich festzurennen. Ein schrilles Signal, ein paar Sekunden lang lautlose Stille, dann ein mächtiges Erbeben durch den ganzen Bau des Schiffes unter der gewaltigen Anstrengung der mit Konterdampf arbeitenden Schraube. Aber was vor ein paar Minuten noch die Gefahr beseitigt haben würde, war jetzt zu spät. Das Schiff mußte rückwärts über dieselbe Sandbank, die es vorhin nur kaum noch überwunden hatte. Eine größere Welle hatte, abrollend, das Hinterteil noch ein paar Zoll tiefer gedrückt. Die Schraube arbeitete unermüdlich, das Schiff neigte sich ein wenig auf die Seite. Aber es kam nicht mehr aus der Stelle.

Ein Rennen und Laufen und Schreien, das plötzlich von überall her vernommen wurde, das sonderbar unheimliche Sichneigen des Schiffes – alles bewies zur Genüge, daß die Voraussage des »Unermüdlichen« eingetroffen und der Dampfer aufgelaufen war.

*

Alle Anstrengungen, das Schiff abzubringen, hatten sich als vergeblich erwiesen, ja, man durfte von Glück sagen, daß bei der gefährlichen Arbeit, die man ihr zumutete, die Schraube nicht gebrochen war. Auch war die Senkung des Rumpfes nach der Seite nicht weiter gegangen; und wenn die Nacht nicht stürmisch wurde, mochte man ruhig so liegen bleiben bis zum nächsten Morgen, wo ja dann ein vorübersegelndes Fahrzeug die Passagiere aufnehmen und weiter befördern werde, falls man wirklich bis dahin nicht wieder flott geworden sein sollte, was übrigens jeden Augenblick geschehen könne.

So sagte der Kapitän, den das Unglück, das er durch seinen Eigensinn herbeigeführt, nicht aus seiner Ruhe zu bringen vermochte.

Der Mann ist betrunken oder verrückt, sagte der Präsident, als der Kapitän seinen breiten Rücken gewandt hatte und wieder auf seinen Posten gegangen war. – Es ist eine Sünde und Schande, daß ein solcher Mann ein Schiff, und wenn es auch nur ein Schlepper ist, kommandieren darf Aber ich werde die strengste Untersuchung einleiten, und er soll exemplarisch bestraft werden.

Der Präsident bebte vor Zorn und Angst und Kälte an dem langen, hagern Leibe, der General zuckte die Achseln. – Das ist alles ganz schön und gut, lieber Herr Präsident, sagte er, nur daß es ein wenig zu spät kommt und uns nicht aus der üblen Lage hilft. Ich mische mich grundsätzlich nicht in Dinge, die ich nicht verstehe, aber ich wollte, wir hätten jemand an Bord, der einen Rat geben könnte. An die Schiffsleute darf man sich nicht wenden, das hieße, die Subordination untergraben – was willst du, Else?

Wende dich doch einmal an den Herrn! sagte Else.

An welchen Herrn?

Der dort; er ist Seemann. Er kann dir sicher den besten Rat geben.

Des Generals scharfes Auge heftete sich auf die ihm bezeichnete Person. Ah, der! sagte er; – sieht wirklich danach aus –

Nicht wahr? sagte Else. Und er hatte mir schon vorher gesagt, daß wir auflaufen würden.

Gehört natürlich nicht zum Schiff?

Bewahre! Das heißt: Ich glaube – sprich doch einmal mit ihm!

Der General ging auf den »Unermüdlichen« zu.

Mein Herr, ich höre, Sie sind Seemann?

Zu dienen.

Steuermann?

Kauffahrerkapitän – Reinhold Schmidt.

Mein Name ist General von Werben. – Sie würden mich verbinden, Herr Kapitän, wenn Sie mir über unsere Situation eine technisch-sachgemäße Aufklärung geben wollten – natürlich privatim und in aller Diskretion. Ich möchte Sie nicht veranlassen, gegen einen Kameraden auszusagen oder gar dazu beizutragen, seine Autorität zu erschüttern, die wir möglicherweise noch sehr nötig brauchen werden. Ist der Kapitän nach Ihrer Ansicht an unserem Unfalle schuld?

Ja und nein, Herr General. Nein, denn die Seekarten, nach denen wir uns vorschriftsmäßig richten müssen, rechnen diese Stelle zum Fahrwasser. Die Karten hatten auch recht, bis vor wenigen Jahren. Seitdem haben hier starke Versandungen stattgefunden; überdies ist der Wasserstand infolge des seit Wochen herrschenden Westwindes fortwährend gesunken, Vorsichtigere vermeiden deshalb diese Stelle. Ich für mein Teil würde sie vermieden haben.

Gut! Und was halten Sie von der Situation? Sind wir in Gefahr? Oder können wir in Gefahr kommen?

Ich glaube, nein. Das Schiff liegt fast gleichmäßig auf, und auf schierem glatten Sand. Es kann, wenn sonst nichts dazwischen kommt, sehr lange so liegen.

Wir sollten also von der Erlaubnis des Kapitäns, das Schiff zu verlassen, Gebrauch machen?

Da die Überfahrt leicht und vollkommen gefahrlos, so kann ich zum mindesten nicht abraten. Dann aber müßte es geschehen, solange es noch hinreichend hell ist, am besten sofort.

Und Sie? Sie würden bleiben – selbstverständlich?

Selbstverständlich, Herr General.

Ich danke Ihnen.

Der General griff mit einer leichten Neigung des Kopfes an seine Mütze. Reinhold nahm mit einem kurzen Griff die seine ab, die Neigung durch eine straffe Verbeugung erwidernd.

Nun? fragte Else, als der Vater wieder zu ihr trat.

Der Mann muß Soldat gewesen sein, erwiderte der General.

Das heißt? fragte der Präsident.

Das heißt: Ich wünschte von meinen Offizieren immer so klare, sachgemäße Rapporte zu bekommen. Die Sache ist also die –

Er wiederholte, was er soeben von Reinhold in Erfahrung gebracht, und schloß damit, daß er beim Kapitän die sofortige Ausschiffung der Passagiere, die dazu geneigt seien, befürworten werde. – Ich für mein Teil gedenke mich dieser Unbequemlichkeit, die noch dazu unnötig sein dürfte, nicht zu unterziehen; es wäre denn, daß Else –

Ich, Papa! rief Else, ich denke nicht daran!

Der Präsident war in großer Verlegenheit. Er hatte freilich erst heute morgen bei der Abfahrt von Stettin eine sehr oberflächliche frühere persönliche Bekanntschaft mit dem General von Werben erneuert, aber jetzt, nachdem er den ganzen Tag mit ihm verplaudert und sich als Ritter der jungen Dame bei zahllosen Gelegenheiten bewährt, konnte er doch wohl nicht anders, als mit einem Zucken der Lippen, das ein Lächeln sein sollte, erklären: Er wolle, wie bisher die Annehmlichkeiten, so nun auch die Unannehmlichkeiten der Reise mit den Herrschaften teilen; das preußische Ministerium werde sich schlimmsten Falls über den Verlust eines Regierungspräsidenten zu trösten wissen.

Else hatte längst gesehen, wie unbehaglich dem Präsidenten das Verbleiben auf dem Schiffe war, aber der Papa hatte sich einmal für das Bleiben entschieden. Es würde ganz vergeblich sein, ihn nun noch nachträglich zum Fortgehen zu bestimmen.

Reinhold war, seitdem er zuletzt mit ihrem Vater gesprochen, verschwunden und auch jetzt nicht auf dem Hinterdeck. So ging sie denn nach vorn, und da saß er auf einer großen Kiste und blickte durch ein Taschenteleskop nach dem Lande, so eifrig, daß sie in seine unmittelbare Nähe gekommen war, bevor er sie bemerkte. Er sprang eilig auf die Füße und wandte sich zu ihr.

Ich habe eine Bitte an Sie, sagte Else, ohne die Augen zu senken.

Und ich wollte eben eine an Sie richten, erwiderte er, ich wollte Sie bitten, daß Sie sich ebenfalls ans Land setzen lassen. Wir sind in einer Stunde flott; aber die Nacht wird stürmisch, und wir werden, sobald wir den Wissower Haken – er deutete auf das Vorgebirge – passiert haben, vor Anker gehen müssen. Das ist im besten Falle eine wenig angenehme Situation, im schlimmen Falle eine sehr unangenehme. Ich möchte Sie vor der einen und vor der anderen bewahrt wissen.

Ich danke Ihnen, sagte Else. Und nun bedarf es meiner Bitte nicht mehr. Und sie sagte Reinhold, weshalb sie gekommen.

Das trifft sich ja vortrefflich, rief er, aber es ist kein Moment zu verlieren. Ich will sogleich mit Ihrem Herrn Vater sprechen. Wir müssen unverzüglich fort.

Wir?

Ich werde Sie mit Ihrer Erlaubnis selbst ans Land bringen.

Ich danke Ihnen, sagte Else noch einmal mit einem tiefen Atemzuge. – Sie hatte ihm die Hand gereicht; er hielt die kleine, zarte Hand in der seinen.

Sie hatte ihm ihre Hand entzogen und eilte davon, dem Vater entgegen, der sich bereits über ihr langes Ausbleiben gewundert hatte und jetzt sie zu suchen kam.

Im Begriff, ihr zu folgen, sah Reinhold zu seinen Füßen einen kleinen blaugrauen Handschuh liegen. Sie konnte ihn eben erst abgestreift haben.

Er bückte sich schnell, hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche.

Den bekommt sie nicht wieder, sagte er bei sich.

*

Reinhold hatte recht gehabt: Es war kein Moment zu verlieren gewesen. Während das kleine Boot, dessen Steuer er führte, die schäumenden Wogen durchschnitt, überzog sich der Himmel immer mehr mit schwarzem Gewölk, das bald auch die letzte Spur der Abendhelle im Westen auszulöschen drohte.

Ich fürchte, wir sind aus dem Regen in die Traufe gekommen, sagte der Präsident kläglich.

Es ist ein Trost für mich, daß wir die Veranlassung nicht gewesen sind, erwiderte der General nicht ohne einige Schärfe in dem Ton seiner kräftigen Stimme.

Ei, gewiß nicht, sicher nicht! bestätigte der Präsident; mea maxima culpa! Meine eigenste Schuld, gnädiges Fräulein. Aber, gestehen Sie: Trostlos ist die Situation, ganz verzweifelt trostlos!

Ich weiß nicht, erwiderte Else, ich finde das alles wunderschön.

Nun, da gratuliere ich von ganzem Herzen, sagte der Präsident, mir für mein Teil wäre ein Kaminfeuer, ein Hühnerflügel und eine halbe Bouteille St. Julien lieber. Aber, wenn es schon ein Trost, Leidensgefährten zu haben, so ist es ein doppelter, zu wissen, daß, was der traurigen Weisheit des einen als sehr reelles Leid, der jugendlichen Phantasie des andern als ein romantisches Abenteuer erscheint.

Der Präsident hatte, während er spotten wollte, das rechte Wort getroffen. Elsen kam das Ganze wie ein romantisches Abenteuer vor, an dem sie eine aufrichtige, herzliche Freude empfand. – Der stattliche Seemann mit den helleuchtenden blauen Augen hatte gesagt, es sei keine Gefahr. Er mußte es wissen. Weshalb sollte sie sich also fürchten? Und wurde trotzdem die Sache gefährlich werden, so war er der Mann, das Rechte im rechten Moment zu treffen und der Gefahr zu begegnen.

Und da stand sie nun, ein paar Schritte abseits von den beratschlagenden Männern, in ihren Regenmantel gehüllt, im Vollgefühl eines Glückes, wie sie es nie empfunden zu haben glaubte. – War es denn nicht auch wunderbar schön! Vor ihr das graue, wühlende, donnernde, unendliche Meer, über dem die schwarze Nacht drohend heraufzog, rechts und links in unabsehbarer Linie die weißlich schäumende Brandung! Sie selbst umrauscht von dem herrlichen feuchten Wind, der ihr um die Ohren knatterte und in ihren Gewändern wühlte und ihr einzelne Schaumflocken in das Gesicht trieb! Hinter ihr die gespenstisch-kahlen Dünen, auf denen, noch eben gegen den etwas helleren westlichen Himmel erkennbar, die langen Strandgräser nickten und winkten – wohin? Weiter in das lustige, prächtige Abenteuer, das ja noch lange nicht zu Ende war, nicht zu Ende sein konnte, nicht zu Ende sein durfte! – Es wäre jammerschade gewesen.

Die Herren traten an sie heran. – Wir haben beschlossen, Else, sagte der General, eine Expedition über die Dünen in das Land hinein zu machen.

Wenn wir uns in den Dünen nicht verirren, seufzte der Präsident.

Dafür bürgt uns die Ortskenntnis des Herrn Kapitäns, sagte der General.

Auf keinen Fall können wir hier die Nacht zubringen, rief der General. Willst du meinen Arm, Else?

Danke, Papa! Ich komme schon hinauf.

Und Else sprang die Düne hinauf, Reinhold nach, der, vorauseilend, bereits den Kamm erreicht hatte, während der Vater und der Präsident langsamer folgten und die beiden Diener mit den Sachen den Zug schlossen.

Seltsam genug ist es, sagte der General, daß der Unfall uns gerade an dieser Stelle der Küste treffen mußte. Ist es doch wahrhaftig, als sollten wir für unsere Opposition abgestraft werden; und wahrhaftig, wenn meine Ansicht, daß ein Kriegshafen uns hier nichts nützen kann, auch nicht erschüttert ist, so erscheint mir jetzt, nachdem wir hier selber beinahe Schiffbruch gelitten, ein Hafen denn doch –

Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen! rief der Präsident, – das mag der Himmel wissen! Und wenn ich an den gründlichen Schnupfen denke, den mir diese nächtliche Promenade in dem abscheulich nassen Sande zuziehen wird, und daß ich statt dessen jetzt in einem bequemen Coupé sitzen und heute nacht in meinem Bette schlafen könnte – so bereue ich jedes Wort, das ich gegen die Eisenbahn gesprochen und mich darüber mit unsern sämtlichen Magnaten überworfen habe, nicht zum wenigsten mit Graf Golm, dessen Freundschaft uns gerade jetzt sehr gelegen käme.

Wie das? fragte der General.

Schloß Golm liegt nach meiner Rechnung höchstens eine Meile von hier landeinwärts. Das Jagdschlößchen auf dem Golmberg –

Ich erinnere mich, fiel der General ein, der zweite höhere Ufervorsprung nach Norden – rechts von uns. Wir können bis dahin kaum eine halbe Meile haben.

*

Der Wald hatte sich aufgetan. In der Mitte des freien Platzes vor ihnen lag ein stattliches, mit Türmen, wie es schien, flankiertes Gebäude, dessen Fenster vielfach erleuchtet waren – ein hellerleuchtetes Schloß mitten im Walde – Diener mit Fackeln vor dem Portale – in der altertümlichen Halle mit den sonderbar verschnörkelten Säulen, so ganz, wie es in einem Abenteuer sein mußte. –

Else schüttelte der behäbigen Frau von Strummin die Hand und dankte ihr für ihre Bemühungen und küßte die hübsche kleine Marie mit den schelmischen grauen Augen und bat um die Erlaubnis, sie auch »Miete« oder »Mieting« nennen zu dürfen, wie die Mutter, die eben das Zimmer verlassen hatte. Mieting erwiderte die Umarmung mit größtem Feuer; ob sie das fremde Fräulein »Du« nennen dürfe? Dann schwatze es sich noch einmal so gut!

Die bereitwillig gegebene und mit einem Kuß besiegelte Erlaubnis versetzte das übermütige Wesen in das größte Entzücken. – Du darfst nun gar nicht mehr weg, rief sie, – oder doch höchstens, um wiederzukommen, noch in diesem Herbst! Mich heiratet er ja doch nicht; ich habe nichts, und er hat nichts, trotz seines großen Majorats, und wenn wir die Eisenbahn und den Hafen nicht zustande bringen, machen wir hier alle bankrott, sagt mein Papa. Und dein Papa und der Präsident haben ja wohl die ganze Sache in der Hand, erzählte mein Papa, als wir herüberfuhren, und wenn du ihn dann heiratest, versteht es sich von selbst, daß dein Papa die Konzession gibt – so heißt es ja wohl?

Ich weiß es wirklich nicht, erwiderte Else. Ich weiß nur, daß wir ganz arm sind und daß du meinetwegen deinen Grafen immer heiraten kannst.

Ich tät's schon gern, sagte das kleine Fräulein ernsthaft, aber ich bin ihm auch nicht hübsch genug mit meiner kleinen unbedeutenden Figur und meinem Stumpfnäschen. Ich werde einmal einen reichen Bürgerlichen heiraten, dem unser alter Adel imponiert – denn die Strummins sind so alt wie die Insel, weißt du – einen Herrn Schulze oder Müller oder Schmidt. Wie heißt denn der Hauptmann, der mit euch gekommen ist?

Schmidt – Reinhold Schmidt!

Nein, du spaßt!

Wahrhaftig nicht, aber er ist kein Hauptmann.

Kein Hauptmann? Was denn?

Ein Schiffskapitän.

Von der Marine?

Einfacher Schiffskapitän.

Schade! Er ist ein so hübscher Mann! Ich hatte schon auf ihn für mich gerechnet! Aber ein einfacher Schiffskapitän!

Frau von Strummin kam in das Zimmer, die jungen Damen zur Abendtafel zu geleiten. Mieting stürzte der Mutter entgegen, ihr die große Entdeckung mitzuteilen. – Es ist alles bereits geordnet, erwiderte die Mutter, der Graf hat bei Ihrem Herrn Vater und bei dem Herrn Präsidenten angefragt, ob sie den Kapitän in die Gesellschaft gezogen wünschten. Die beiden Herren haben sich dafür ausgesprochen, und so wird er auch bei Tisch erscheinen. Er scheint ja auch soweit ein ganz anständiger Mann, schloß Frau von Strummin.

Ich bin wirklich neugierig, sagte Mieting.

Else sagte nichts. Aber als sie, auf den Korridor tretend, dem Vater begegnete, der eben aus seinem Zimmer kam, flüsterte sie ihm zu: Ich danke dir!

Man muß gute Miene zum bösen Spiel machen, erwiderte der General in demselben Ton.

Else war ein wenig verwundert. Sie hatte nicht geglaubt, daß er die Etikettenfrage, die er in ihrem Sinne entschieden, so ernsthaft nehmen würde.

Glücklicherweise für Reinhold selbst war ihm auch nicht einmal der Verdacht der Möglichkeit gekommen, sein Erscheinen oder Nichterscheinen bei Tische könne von seiten der Gesellschaft allen Ernstes debattiert werden.

Wer einmal A sagt, muß auch B sagen, sprach er bei sich, während er mit Hilfe der Sachen, die er in dem Reisesack vom Bord des Schiffes auf alle Fälle mitgenommen, seinen Anzug, so gut es gehen wollte, in Ordnung brachte; – und nun zum Kuckuck die böse Laune! Habe ich mich in meiner Dummheit auf den Sand gerannt, so werde ich auch wieder flott werden. Den Kopf hängen zu lassen oder gar zu verlieren, hieße, die Dummheit nicht wieder gutmachen, hieße, sie nur noch vergrößern; und sie ist gerade hinreichend groß. Wo sind denn aber nur die Schuhe?

Er hatte im letzten Augenblick an Bord die Schuhe, die er getragen, mit einem Paar großer Wasserstiefel vertauscht. Sie hatten ihm unterwegs im Spülwasser und Regen, im nassen Sande des Strandes und auf dem Wege die besten Dienste geleistet – aber jetzt! Wo waren die Schuhe? Jedenfalls nicht in dem Reisesack, in den er sie geworfen zu haben glaubte und aus dem sie nicht hervorkommen wollten, trotzdem er zuletzt in seiner Verzweiflung alles herausgewühlt und um sich geschleudert. Er mußte hier oben in der lächerlichsten Gefangenschaft bleiben oder unten vor den Herrschaften erscheinen in dem abgeschmacktesten Anzug: Wasserstiefeln und schwarzem Frack! Vor den Augen des Präsidenten, dessen lange, hagere Gestalt vom Scheitel des kleinen feinen Kopfes bis zu den Lackstiefeln, die er sogar an Bord getragen, das Bild peinlichster Akkuratesse war! Vor dem strammen, in seinen Interimsrock fest eingeknöpften General! Vor dem Grafen, der so schon einige Neigung zu haben schien, ihn gesellschaftlich nicht für voll anzusehen! Vor den Damen! – Vor ihr! Vor ihren lachlustigen braunen Augen! – Nun wohl, wenn ich der Tor gewesen, dem Winke dieser Augen zu folgen – so soll dies meine Strafe sein, so will ich jetzt Buße tun: in schwarzem Frack und Wasserstiefeln!

*

Hat man den Herrn Kapitän nicht gerufen? fragte der Graf den Hausmeister.

Zu Befehl, Herr Graf, vor einer Viertelstunde.

So wollen wir nicht länger warten. Die Höflichkeit der Könige scheint nicht auch die der Schiffskapitäne zu sein. Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein?

Er bot Elsen den Arm. Zögernd legte sie die Fingerspitzen hinein. Sie hätte dem Kapitän gern die Verlegenheit erspart, die Gesellschaft schon bei Tisch zu finden. Aber schon hatte der Vater Mietings Mutter, der galante Präsident Mieting selbst den Arm geboten. Die drei Paare bewegten sich nach der Tafel, welche zwischen ihnen und der Tür hergerichtet war, als die Tür sich öffnete und die wunderliche Gestalt eines bärtigen Mannes in Frack und hohen Wasserstiefeln erschien, in der Else zu ihrem Schrecken den Kapitän erkannte. Aber im nächsten Augenblick mußte sie lächeln, wie die andern. Mieting ließ den Arm des Präsidenten los und stürzte in eine Ecke des Saales, um das konvulsivische Gelächter, in das sie bei dem unerwarteten Anblick ausgebrochen war, hinter ihrem Taschentuche zu verstecken.

Ich bitte um Entschuldigung, sagte Reinhold, aber die Eile, mit der wir heute von Schiffe aufbrachen, ist, wie ich leider erst jetzt bemerkte, einer strengen Auswahl meiner Garderobe nicht günstig gewesen.

Ich finde den Anzug sehr kleidsam, sagte Else mit einer verzweifelten Anstrengung, ihren Ernst wieder zu gewinnen, und mit einem strafenden Blick auf Mieting, die zwar aus ihrer Ecke hervorgekommen war, aber noch immer nicht wagte, das Tuch von dem Gesicht zu nehmen.

Das ist viel mehr, als ich irgend gehofft habe, sagte Reinhold.

Man hatte an der Tafel Platz genommen. Reinhold dem Grafen gerade und Elsen schräg gegenüber, während er zu seiner Linken Fräulein Mieting, zu seiner Rechten Herrn von Strummin hatte, einen breitschultrigen Herrn mit einem breiten roten Gesicht, dessen unterer Teil von einem breiten roten Bart bedeckt war und dessen breite laute Stimme Reinhold um so unbequemer war, als sie fortwährend in das leise lustige Geplauder der jungen Dame zu seiner Linken hineinschallte. Das gutmütige Kind fand, was sie gleich beim ersten Blick gesehen zu haben glaubte: daß der Kapitän mit seinen großen, hellen, blauen Augen, seiner braunen Gesichtsfarbe und seinem krausen braunen Vollbart ein hübscher, ein sehr hübscher Mann sei. Der Kapitän hatte so viel Geschichten zu erzählen! Und er erzählte so schlicht und treuherzig! – Du glaubst nicht, Else, wie interessant das ist! – rief sie über den Tisch herüber: Ich würde ihm die ganze Nacht zuhören!

Das gute Kind ist in ihrem Geschmack nicht eben wählerisch, sagte der Graf zu Elsen.

Das tut mir leid, sagte Else. Sie hat mich eben, wie Sie hören, zu ihrer Freundin erwählt.

Das ist etwas anderes, sagte der Graf.

Ihm gegenüber schrie Herr von Strummin dem General, der nur widerwillig zuzuhören schien, seine Ansichten über die Eisenbahn und den Kriegshafen ins Ohr. Er für sein Teil hatte sich vorgenommen, dies heikle Thema während der Tafel nicht zu berühren, jetzt war ihm jedes Thema recht.

Verzeihe, lieber Freund, sagte er, seine Stimme erhebend, ich habe da so einiges von dem gehört, was du dem Herrn General über unser Lieblingsprojekt mitteilst. Du sagst immer »wir« und »uns«, aber du weißt, daß unsere Ansichten in wesentlichen Punkten divergieren. Ich möchte dich daher, wenn du schon einmal von der Sache sprechen mußt, bitten, es nur in deinem Namen zu tun.

Ho, ho! rief Herr von Strummin, worin divergieren wir denn groß? Darin, daß ich auf Strummin ebensogut einen Bahnhof haben will wie du auf Golm!

Aber wir können doch nicht alle einen Bahnhof haben, sagte der Graf mit mitleidigem Achselzucken.

Natürlich wollen wir unseren Vorteil dabei haben – welcher vernünftige Mensch wollte das nicht – aber der steht dann doch in zweiter Linie: erst der Staat, dann das übrige. So halte wenigstens ich es, und so hält es hier der General.

Gewiß halte ich es so, sagte der General, aber wie komme gerade ich zu der Ehre?

Weil niemand durch die Ausführung des Projektes mehr gewinnen würde als Ihre Frau Schwester, oder wer immer Warnow, Gristow und Damerow einmal besitzen wird.

Ich werde nie einen Fußbreit von den Gütern besitzen, sagte der General, die Augenbrauen zusammenziehend. Ja, ich bekenne mich offen als den entschiedensten Gegner Ihres Projektes! Ich halte es für strategisch nutzlos, und ich halte es für technisch unausführbar.

Zwei Gründe, von denen jeder einzeln, wenn er zutrifft, zerschmetternd sein würde, erwiderte der Graf, ironisch lächelnd. Hinsichtlich des ersten beuge ich mich selbstverständlich einer solchen Autorität, obgleich wir ja nicht immer einen Krieg mit dem seeuntüchtigen Frankreich, sondern gelegentlich auch mit dem seetüchtigen Rußland haben könnten und uns dann ein Hafen mit der Front nach dem Feinde sehr nötig sein dürfte. Aber die Ausführbarkeit, Herr General, da glaube ich in aller Untertänigkeit ein Wort mitsprechen zu dürfen in meiner amphibischen Eigenschaft als wasseranwohnender Landedelmann. Unser Sand, so sehr er auch, zu unserm eigenen und unseres Herrn Präsidenten Leidwesen, die Wegebauten erschwert, ist ein vortreffliches Material für einen Eisenbahndamm und wird sich auch als ein guter Baugrund für die Fundamente unserer Hafenmauern erweisen.

Bis auf die Stellen, wo wir wieder zu Pfahlbauern werden müßten, sagte der Präsident, der um des Generals willen nicht länger schweigen durfte.

Es mögen dergleichen Stellen vorkommen, rief der Graf, der trotz des empörenden Widerspruchs von seiten der beiden Herren jetzt wenigstens die Genugtuung hatte, daß jede weitere Unterhaltung am Tisch verstummt war und er für den Augenblick allein sprach: Ich gebe es zu. Aber was würde damit anders bewiesen sein, als daß der Hafenbau ein paar Monate oder Jahre länger dauert und ein paar Hunderttausende, meinetwegen ein paar Millionen mehr kostet? Und was wollen die bei einem Werke sagen, das, wenn es einmal vollendet, ein unüberwindliches Bollwerk ist gegen jeden Feind, der von Osten droht? –

Bis auf einen! sagte Reinhold.

Der Graf hatte gar nicht daran gedacht, daß der Mensch sich ebenfalls in die Unterhaltung mischen könnte. Eine zornige Röte stieg ihm in die Stirn. Er warf einen finsteren Blick auf den neuen Widersacher und fragte in scharfem, wegwerfendem Ton:

Und der wäre?

Eine Sturmflut! erwiderte Reinhold.

Wir hierzulande sind der Stürme und der Fluten zu gewohnt, um uns vor den einen oder den andern zu fürchten, sagte der Graf, sich zur Ruhe zwingend.

Ich weiß es, erwiderte Reinhold, ich spreche aber auch nicht von den gewöhnlichen atmosphärischen und maritimen Ausgleichungen und Störungen, sondern von einem Ereignis, das nach meiner Überzeugung seit Jahren vorbereitet ist und nur auf die gelegentliche Ursache wartet, die nicht ausbleiben wird, um mit einer Gewalt hereinzubrechen, von der die kühnste Phantasie sich wohl keine Vorstellung machen kann.

Sind wir noch im Gebiet der Wirklichkeit oder bereits im Reiche der Phantasie? fragte der Graf.

Wir sind in dem Bereiche der Möglichkeit, erwiderte Reinhold, jener Möglichkeit, von der ein Blick auf die Karte uns belehrt, daß sie einmal oder mehrere Male bereits eine Wirklichkeit gewesen und nach menschlicher Berechnung in nicht allzulanger Zeit wieder eine solche werden wird.

Sie machen uns äußerst neugierig, sagte der Graf.

Er hatte es ironisch gesagt, aber er hatte nur der Stimmung der Gesellschaft den richtigen Ausdruck gegeben. Aller Augen hatten sich auf Reinhold gerichtet.

Ich fürchte, die Damen mit diesen Dingen zu langweilen, sagte Reinhold.

Nicht im mindesten, sagte Else.

Ich schwärme für alles, was mit dem Meere zusammenhängt, rief Mieting mit einem schelmischen Blick zu Elsen hinüber.

Sie würden mich in der Tat verbinden, sagte der Präsident.

Bitte fortzufahren! sagte der General.

Ich will mich möglichst kurz fassen, sagte Reinhold, seine Blicke bald auf den General, bald auf den Präsidenten richtend, als ob er nur für diese spräche: Die Ostsee scheint, nachdem sie einmal unter Revolutionen ungeheuerster Art entstanden war, eine Welt für sich zu sein. Sie hat keine Ebbe und Flut, ihr Salzgehalt ist viel geringer als der der Nordsee und nimmt nach Osten immer mehr ab, so daß die Fauna und Flora –

Was ist das? fragte Mieting.

Die Tier- und Pflanzenwelt, mein gnädiges Fräulein, des finnischen Meerbusens fast einen Süßseecharakter hat. Nichtsdestoweniger findet, wie ja denn auch sichtbar die Verbindung noch besteht, eine beständige Wechselwirkung zwischen dem Binnenmeere und dem Weltmeere statt: ein Zufluß und Abfluß von diesem in jenes, von jenem in dieses, unter der höchst komplizierten Zusammenwirkung und Mitwirkung der verschiedensten Ursachen, deren eine ich hervorheben muß, weil sie es gerade ist, von der ich spreche. Es ist die Regelmäßigkeit der von West nach Ost, von Ost nach West wehenden Winde, die das Ab- und Zuströmen des Wassers in seinen unterseeischen Kanälen, freundschaftlich gleichsam, auf der Oberfläche begleiten und befördern. Der Schiffer rechnete auf diese Winde fast mit der Sicherheit, mit der man auf das Eintreten ein für allemal feststehender Naturerscheinungen rechnet, und er durfte es, denn seit Menschengedenken war keine wesentliche Veränderung eingetreten, bis vor einigen Jahren plötzlich der Ostwind, der in der zweiten Hälfte des August einzutreten und bis in die Mitte des Oktober zu wehen pflegte, ausblieb und nicht wiedergekommen ist.

Nun? Und die Folge davon? fragte der Präsident, der mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte.

Die Folge davon, Herr Präsident, ist, daß sich in der Ostsee im Laufe dieser Jahre ganz ungeheure Wassermassen angesammelt haben, die wir um so weniger bemerken, als sie sich ja selbstverständlich nach allen Seiten gleichmäßig auszubreiten streben, der Hauptdruck aber nach Osten in immer gesteigerter Proportion stattfindet, so daß im Frühling des vorigen Jahres bei Nystad in Süd-Finnland vier Fuß über dem gewöhnlichen Wasserstand normiert waren, bei Wasa, zwei Grad nördlicher, bereits sechs Fuß und bei Tornev in dem nördlichsten Ausläufer des Bottnischen Busens sogar acht. Das allmähliche Steigen und die fast ausnahmslos hohen Ufer haben die Bewohner jener Gegenden einigermaßen gegen die größten Kalamitäten geschützt. Für uns aber, die wir fast ebenso ausnahmslos flache Ufer haben, wird ein plötzlicher Rückstau dieses jahrelang ununterbrochen nach Osten drängenden Stromes furchtbar werden. Der Rückstau muß aber bei einem starken Nordost- und Oststurm, besonders wenn er tagelang anhält, eintreten. Die von der Gewalt des Sturmes nach Westen gedrückten Fluten werden vergebens durch die schmalen Straßen der Belte und des Sundes in das Kattegat und Skagerrack einen Ausweg in den Ozean zu finden suchen und wie ein gehetztes Raubtier in die Hürde, sich über unsere Küsten stürzend, meilenweit in das Land hineinwälzend, niederreißend, was ihrer blinden Wut sich engegenstemmt, Äcker und Wiesen mit Sand und Geröll bedeckend, eine Verwüstung anrichten, von der noch Enkel und Enkelkinder schaudernd erzählen werden.

Während Reinhold so sprach, war dem Grafen nicht entgangen, daß der Präsident und der General sich wiederholt verständnisvolle, bestätigende Blicke zugeworfen, daß Herrn von Strummins breites Gesicht vor Erstaunen und Schrecken ordentlich in die Länge gegangen war und – was ihn vor allem ärgerte – die Damen mit einer Aufmerksamkeit zuhörten, als handelte es sich um eine Ballgeschichte. Er wollte dem Menschen wenigstens nicht das letzte Wort lassen.

Aber diese famose Sturmflut ist denn doch im besten – ich meine für Sie günstigsten – Falle eine Hypothese! rief er.

Nur für die, die nicht von ihrer Notwendigkeit überzeugt sind, wie ich es bin, erwiderte Reinhold.

Nun gut, sagte der Graf. Ich will einmal annehmen, daß der Herr mit seiner Überzeugung nicht isoliert dasteht. Ja, noch mehr, daß er recht hat, daß die Sturmflut heute oder morgen oder irgend einmal kommen wird: So scheint es doch, daß sie nicht alle Tage, daß sie nur in Jahrhunderten einmal kommt, – nun, meine Herren, ich habe den tiefsten Respekt vor der weit in die Zukunft ausschauenden Fürsorge unserer Behörden, aber dergleichen jahrhundertelange Perspektiven dürften denn doch auch der fürsorglichsten unabsehbar dünken, sie jedenfalls nicht bestimmen, zu unterlassen, was der nächste Augenblick erheischt.

Zuletzt hüstelte der Präsident in die schlanken, weißen Hände und sagte:

Sonderbar! Während der Herr Kapitän hier mit jenem vollen Tone, den nur die Überzeugung gibt, uns eine Sturmflut prophezeit, die unser liebenswürdiger Wirt, der freilich der Nächste dazu sein würde, – wie unser Fritz Reuter sagte – am liebsten in das Fabelland verweisen möchte, habe ich bei jedem Worte einer andern Sturmflut denken müssen –

Noch einer! rief Mieting.

Einer andern Sturmflut, mein liebes Fräulein, und auf einem ganz andern Gebiet. Ich brauche den Herren nicht zu sagen, auf welchem. Auch hier ist der gewöhnliche Lauf der Dinge auf die unerwartetste Weise unterbrochen worden, auch hier hat eine Aufstauung von Fluten stattgefunden, die sich in einem ungeheuren Strom – einem Goldstrom, meine Damen von Westen nach Osten ergossen haben. Auch hier prophezeien die Kundigen, daß so unnatürliche Verhältnisse nicht von Dauer sein können, daß sie die längste Zeit gedauert haben, daß ein Rückstau eintreten müsse, eine Reaktion, eine Sturmflut, die – um in dem Bilde zu bleiben, das der Sache so sonderbar entspricht, – sich, eben wie jene andere, zerstörend, vernichtend über uns stürzen und mit ihren trüben, unfruchtbaren Wassern die Stätten bedecken wird, auf denen die Menschen bereits für alle Zeiten ihr Reich und ihre Herrschaft fest gegründet zu haben glaubten.

*

Die Damen zogen sich, nachdem die Tafel aufgehoben, alsbald zurück. Frau von Strummin, die sonst um neun Uhr zu Bett zu gehen pflegte, war ernstlich müde. Mieting behauptete, es ebenfalls zu sein. Aber ihre glänzenden Augen widersprachen; und so waren denn die beiden Mädchen kaum allein, als sie erklärte, daß sie den Kapitän zum Sterben liebe.

Das ist der Mann, den ich mir immer geträumt habe, rief sie: jung, aber nicht zu jung, so daß man Respekt vor ihm haben kann; klug, aber nicht zu klug, so daß man nicht eingeschüchtert wird; brav, aber kein Prahler – und dann die schönen weißen Zähne, wenn er lacht! Und er lacht so gern und so gutmütig!

Ich unterschreibe alles, was du von ihm gesagt hast; aber bis zum Lieben – das ist doch noch ein weiter Schritt.

Sehen – lieben – das ist bei mir eines. Aber man irrt sich dabei oft – sehr oft!

Mieting begann, ihre rotblonden Haare aufzuflechten, und sagte in tragischem Tone:

Das erste Mal – es ist unendlich lange her – ich war vielleicht zwölf Jahre – liebte ich den Kandidaten meines Bruders, ich habe nämlich auch einen Bruder. Er lebt jetzt in Hinterpommern – da, wo man für möglichst wenig Geld möglichst viel Sand kaufen kann. Der Kandidat ist natürlich schon lange verheiratet und Pastor, natürlich auch in Hinterpommern, dicht bei meinem Bruder – und da habe ich ihn in diesem Winter gesehen, bei einer Kindtaufe – Gott, wie ich mich geschämt habe! Es war entsetzlich! Und wenn es noch beim erstenmal geblieben wäre! Aber dieselbe Geschichte hat mindestens schon zwanzigmal gespielt – das letzte Mal im Februar in Berlin – im Opernhause – in der ersten Loge. – Papa sagte, es sei ein Bauernfänger, aber Papa sieht überall Bauernfänger, wenn er in Berlin ist, und verleidet einem jede Stunde, zerstört einem jede Illusion – ach, und es ist doch so süß, Illusionen zu haben, wenn man siebzehn Jahre alt und darauf angewiesen ist! Schläfst du schon?

Nein, aber ich bin sehr müde; gib nur einen Kuß, und dann geh' auch zu Bett!

*

Auch die Herren waren nur noch kurze Zeit beisammen geblieben. Die von dem Grafen offerierten Zigarren fanden nur an Herrn von Strummin einen Liebhaber, da der General und der Präsident nicht rauchten, und Reinhold erklärte, für sein Teil die Güte des Grafen um so weniger noch länger in Anspruch nehmen zu wollen, als er morgen in der Frühe aufzubrechen gedenke und deshalb schon jetzt um die Erlaubnis bitte, sich dem Herrn Grafen empfehlen und für die erwiesene Gastfreundschaft danken zu dürfen. Es interessiere ihn, zu wissen, wie der Neptun die Havarie überstanden habe, und er sei sicher, das Schiff entweder noch in Wissow vor Anker zu finden oder gar schon in Ahlbeck, wohin es zurück müsse, die gestern dort ausgesetzten Passagiere abzuholen.

Der General sagte kurz, indem er Reinhold die Hand reichte: Au revoir in Berlin, Herr Leutnant! Der Präsident trat heran und flüsterte: Ich wünsche Sie noch zu sprechen!

Reinhold überlegte, auf seinem Zimmer angekommen, während er den unglückseligen Frack wieder in die Reisetasche zwängte, was die geheimnisvollen Worte des Präsidenten bedeuten möchten.

Der Präsident empfing den späten Gast mit einer Verbindlichkeit, die Reinhold um so mehr auffiel, als er sich von dem zurückhaltenden und, wie es schien, etwas hochmütigen Herrn bis dahin kaum beachtet glaubte.

Sie hatten in der Hafenfrage meine Partei zu lebhaft genommen, um nicht mit dem Herrn Grafen zusammenzustoßen, dessen Empfindlichkeit nach dieser Seite leider nur zu erklärlich ist. Sie scheuen vielleicht, um der übrigen Gesellschaft willen, eine doch mögliche Fortsetzung von Debatten, die unseren Wirt in eine so wenig gastfreundliche Aufregung versetzen, und –

Genau so verhält es sich, Herr Präsident, sagte Reinhold.

Ich dachte es mir. Sie werden also in wenigen Stunden an Bord des Neptun sein. Ich habe in meiner Koje ein Aktenstück frei liegen lassen, in dem ich unterwegs studiert: ein Memorial an den Herrn Minister über eben jene Hafenbaufrage, dann über den Zustand unserer Wasserstraßen, Lotsenverhältnisse, Küstenbeleuchtung – Verbesserungsvorschläge nach allen diesen Richtungen – und so weiter. Ich möchte die Papiere nicht gern in fremde Hände fallen lassen oder auch nur zeitweise in fremden Händen wissen. Und Sie würden mich um so mehr verbinden –

Ich danke Ihnen von Herzen für das Vertrauen, das Sie mir schenken, Herr Präsident, sagte Reinhold. Die Papiere sollen sicher in Ihre Hände gelangen –

Aber nicht, bevor Sie Einsicht genommen, fiel der Präsident schnell ein. Und das ist die Einleitung zu meiner zweiten Bitte. Sie sehen mich erstaunt an; die Sache ist einfach die: Der alte würdige Lotsenkommandeur in Wissow muß sich und will sich pensionieren lassen. Die Stelle wird zum nächsten Frühjahr, vielleicht schon im Laufe des Winters frei. Bei dem jetzigen Stand der Dinge, bei so vielen Fragen, die herzudrängen und erledigt werden müssen, ist der Posten von einer Wichtigkeit, die weit über den Einfluß ähnlicher Stellungen hinausgeht. Ich kann dem Herrn Minister für diesen Posten nur einen durchaus bewährten, intelligenten Mann in Vorschlag bringen, von dem ich weiß, daß er mich aus Überzeugung in meinen Plänen unterstützen wird. Können Sie sich nun aus jenen Papieren die Überzeugung verschaffen und daß Sie gern mit mir weiter arbeiten möchten, so würde ich mir mit Ihrer Erlaubnis verstatten, Sie dem Herrn Minister zu präsentieren.

Aber, Herr Präsident, sagte Reinhold, Sie erweisen mir ein so großes, ein so überaus schmeichelhaftes Vertrauen, einem Mann, von dem Sie doch gar nicht wissen –

Das wäre nun meine Sache, unterbrach ihn der Präsident lächelnd. Die Frage ist jetzt: Sind Sie geneigt, auf meine Proposition einzugehen? Ich erwarte, ja, ich wünsche jetzt keine Antwort. Ich bitte darum, wenn Sie mir in Sundin die Papiere wiedergeben und wir über einem Kotelett und bei einem Glase Burgunder das Nähere besprechen.

Ein Nicken mit dem feinen grauen Kopfe, ein Wink mit der schlanken weißen Hand und Reinhold war entlassen.

In Gnaden, aber doch, als ob ich bereits in seinen und der Regierung Diensten wäre, sagte Reinhold lachend, als er in seinem Zimmer auf und nieder schritt, den Vorschlag überdenkend, der ihm so unerwartet und doch wie der naturgemäße Abschluß alles dessen gekommen war, was der Tag gebracht.

Sei ehrlich! sagte Reinhold, seine Wanderung unterbrechend. Gestehe es dir, um nicht ein paar tausend Meilen zwischen sie und dich zu legen, um in ihrer Nähe zu bleiben, um die Möglichkeit zu haben, sie einmal wiederzusehen, um den Toren weiter zu spielen, den du heute gespielt hast! Denn eine Torheit ist es doch! Was kann dabei Vernünftiges herauskommen? Die adlige Generalstochter würde den sehr bürgerlichen Lotsenkommandeur mit höchst verwunderten braunen Augen ansehen, wenn er es wagen wollte, die seinen allen Ernstes zu ihr zu erheben, und für den Herrn General bin und bleibe ich der Reserve-Leutnant – ein etwas, das nicht Fisch, nicht Fleisch ist und das man sich nur im Falle der Not – und auch dann nur mit innerem Widerstreben – gefallen läßt. Ich dächte, du hättest es erfahren! Und gesetzt, das Unwahrscheinlichste würde Wirklichkeit: Du könntest dir die Liebe des schönen Mädchens, die Freundschaft des Vaters erwerben – auf welche Gesellschaft würdest du in Zukunft angewiesen sein! Würde es dich sehr freuen, dem Herrn Grafen Golm, dem Herrn von Strummin und Genossen noch recht oft zu begegnen? Aus ihren Mienen, ihren Blicken zu lesen: Was will der Mensch in unserer Mitte? Kann er nicht bei seinesgleichen bleiben? Oder denkt er wirklich, sich oder seinen demokratischen Onkel –

Reinhold mußte lachen: Onkel Ernst! – Er hatte ihn seit zehn Jahren nicht gesehen, aber wenn er ihn jetzt in Berlin so wiederfand: grollend, erbittert, unversöhnt und scheinbar unversöhnlich, wie er damals war – der alte starrköpfige Revolutionär und der alte steifnackige Soldat – eine feine Seide würden die zusammenspinnen! Und die gute Tante Rikchen mit dem kleinen ängstlichen Gesicht unter der großen weißen Haube und den kurzen trippelnden Schritten – sollte sie sich wohl mit dem schönen aristokratischen Fräulein sehr gut stellen? Und das kleine Cousinchen Ferdinande – nun sie muß mittlerweile eine große Cousine geworden sein, und wenn sie gehalten hat, was sie versprach: ein schönes Mädchen – das paßte vielleicht noch am besten, obgleich –

Aber bin ich wirklich närrisch? Was soll denn das alles? Was ist denn das alles als tollste Phantasterei, deren du dich schämen solltest, deren du dich morgen schämen wirst! Morgen? Es ist schon Morgen!

Zweites Buch

Die letzte Station, meine Herren! Darf ich um die Billetts bitten?

Reinhold reichte dem Schaffner das Billett und warf einen Blick auf den schlafenden Reisegefährten. Der aber regte sich nicht.

Mein Herr, darf ich um Ihr Billett bitten? sagte der Schaffner in lauterem Ton.

Der Schläfer richtete sich auf: Ach so! – Er griff in ein Seitentäschchen seiner grauen Joppe, gab das Geforderte, lehnte sich in seine Ecke zurück.

Pardon! ich sollte meinen, wir müßten uns schon sonst begegnet sein.

Es geht mir ebenso, erwiderte Reinhold höflich, aber mein Gedächtnis läßt mich im Stich.

Vielleicht, daß der Name nachhilft: Ottomar von Werben, Sekondeleutnant im... Regiment Nr. 19.

Ein freudiger Schreck durchzuckte Reinhold: Reserveleutnant Reinhold Schmidt. – Ich habe die Ehre gehabt, dieser Tage mit einem General Ihres Namens und seinem Fräulein Tochter auf dem Dampfer von Stettin nach Sundin zusammenzutreffen –

Waren mein Vater und meine Schwester, sagte Ottomar – in der Tat merkwürdig!

Er hatte sich wieder in die Ecke sinken lassen, aus der er sich mit höflicher Verbeugung erhoben. – Der Reserveleutnant flößt dem Gardeleutnant nur ein mäßiges Interesse ein, sprach Reinhold bei sich.

Er würde unter anderen Umständen gewiß das Gespräch, das der andere so bald abgebrochen, nicht wieder aufgenommen haben. Hier wurde es ihm nicht schwer, eine Ausnahme zu machen.

Ich hoffe, daß der Herr General und das gnädige Fräulein sich wohl befinden, begann er von neuem.

Gewiß, ohne Zweifel! sagte Ottomar, das heißt, offen gestanden – ich habe sie, als sie vorgestern abend nach Hause kamen, eigentlich nur sehr flüchtig gesprochen; seit gestern morgen auf Urlaub – zur Jagd. – A propos, wissen Sie immer noch nicht, wo wir uns getroffen haben? Es kann eigentlich nur in Orleans gewesen sein, denn das ist meines Wissens das einzige Mal, daß mein Regiment mit dem Ihrigen in unmittelbaren Kontakt gekommen –

Und in Orleans ist es gewesen! rief Reinhold, auf einer kombinierten Wache, zu der unsere beiden Regimenter die Mannschaften stellten. Und eine lustige Wache war's – dank Ihrer liebenswürdigen Gesellschaft und muntern Laune. Wie ist es möglich, daß ich mich in diesen Tagen der Sache und des Namens nicht erinnert habe! Jetzt fällt mir alles wieder ein: Es kamen hernach noch mehrere Ihrer Kameraden, ein Herr von Wallbach –

Wallbach – ganz richtig. Er fiel später vor Paris – armer Kerl! Bin sehr liiert mit der Familie – hat vielleicht das bessere Teil erwählt; verzweifelt langweiliges Dasein.

Man muß sich wieder an das Alltagsleben gewöhnen – gewiß! sagte Reinhold. – Aber Ihr Herren seid doch in Eurem Beruf geblieben – und Graf Moltke wird Euch, meine ich, nicht auf Euren Lorbeeren schlafen lassen –

Jawohl, allerdings – sagte Ottomar, – ohne Zweifel. – Sie werden länger in Berlin bleiben?

Er hatte sich nach dem Fenster gebeugt, an dem jetzt häufiger Lichter vorübertanzten.

Ein paar Wochen – vielleicht ebensoviel Monate – es kommt auf die Umstände an – Verhältnisse, die ich noch nicht zu übersehen vermag –

Pardon, wollte nicht indiskret sein. Wie war doch der Name?