Uhlenhans - Friedrich Spielhagen - E-Book

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Friedrich Spielhagen

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Beschreibung

Ein Provinzroman aus der Gegend um Rügen. Friedrich Spielhagens Werke sind stark geprägt von seiner Liebe zum Meer, die er in seiner Zeit in Stralsund entwickelte.

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Seitenzahl: 720

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Uhlenhans

Friedrich Spielhagen

Inhalt:

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Uhlenhans

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Dreißigstes Kapitel.

Einunddreißigstes Kapitel.

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Dreiunddreißigstes Kapitel.

Vierunddreißigstes Kapitel.

Fünfunddreißigstes Kapitel.

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Siebenunddreißigstes Kapitel.

Achtunddreißigstes Kapitel.

Neununddreißigstes Kapitel.

Vierzigstes Kapitel.

Einundvierzigstes Kapitel.

Zweiundvierzigstes Kapitel.

Dreiundvierzigstes Kapitel.

Vierundvierzigstes Kapitel.

Fünfundvierzigstes Kapitel.

Sechsundvierzigstes Kapitel.

Siebenundvierzigstes Kapitel.

Achtundvierzigstes Kapitel.

Uhlenhans, F. Spielhagen

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636456

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Romanschriftsteller, geb. 24. Febr. 1829 in Magdeburg als Sohn eines preußischen Regierungsrates, verbrachte sein Jugend in Stralsund (ein großer Teil seiner späteren Romane spielt an diesem Teile der Ostseeküste und auf der Insel Rügen), absolvierte hier das Gymnasium, studierte von 1847 an anfangs die Rechte, dann Philologie und Philosophie in Berlin, Bonn und Greifswald, war einige Zeit als Lehrer tätig, widmete sich aber bald ausschließlich der Literatur. Neben Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, von denen wir die »Amerikanischen Gedichte« (Leipz. 1856, 3. Aufl. 1871) nennen, veröffentlichte er schon in Leipzig die Novelle »Klara Vere« (Hannov. 1857) und das Idyll »Auf der Düne« (das. 1858), die jedoch nur geringe Beachtung fanden. Eine um so glänzendere Aufnahme fand der erste größere Roman Spielhagens: »Problematische Naturen« (Berl. 1860, 4 Bde.; 22. Aufl., Leipz. 1900), mit seiner abschließenden Fortsetzung: »Durch Nacht zum Licht« (Berl. 1861, 4 Bde.). Dieser Roman gehörte durch Lebendigkeit des Kolorits und eine in den meisten Partien künstlerisch ansprechende Darstellung zu den besten deutschen Romanen seiner Zeit. S. war inzwischen 1859 von Leipzig nach Hannover und Ende 1862 nach Berlin übergesiedelt, wo er kurze Zeit die »Deutsche Wochenschrift« und das Dunckersche »Sonntagsblatt« redigierte. Auch von der Herausgabe von Westermanns »Illustrierten deutschen Monatsheften«, die er 1878 übernommen, trat er 1884 wieder zurück. Sein zweiter großer Roman: »Die von Hohenstein« (Berl. 1863, 4 Bde.), der die revolutionäre Bewegung von 1848 zum Hintergrund hatte, eröffnete eine Reihe von Romanen, welche die Bewegungen der Zeit zu spiegeln unternahmen. War hierdurch ein gewisses Übergewicht des tendenziösen Elements gegenüber dem poetischen unvermeidlich, und standen die Romane: »In Reih' und Glied« (Berl. 1866, 5 Bde.) und »Allzeit voran!« (das. 1872, 3 Bde.) wie die Novelle »Ultimo« (Leipz. 1873) allzu stark unter der Herrschaft momentan in der preußischen Hauptstadt herrschender Interessen, so erwiesen andre freiere Schöpfungen den Gehalt, die Lebensfülle und die künstlerische Gewandtheit des Verfassers. Neben der Novelle »In der zwölften Stunde« (Berl. 1862), den unbedeutenderen: »Röschen vom Hofe« (Leipz. 1864), »Unter Tannen« (Berl. 1867), »Die Dorfkokette« (Schwerin 1868), »Deutsche Pioniere« (Berl. 1870), »Das Skelett im Hause« (Leipz. 1878) und den Reiseskizzen: »Von Neapel bis Syrakus« (das. 1878) schuf S., unabhängiger von den momentanen Tagesereignissen oder sie nur in ihren großen, allgemein empfundenen Wirkungen auf das deutsche Leben darstellend, die Romane: »Hammer und Amboß« (Schwer. 1868, 5 Bde.), »Was die Schwalbe sang« (Leipz. 1872, 2 Bde.) und »Sturmflut« (das. 1876, 3 Bde.), ein Werk, worin der Dichter, besonders im ersten und letzten Teile, auf der vollen Höhe seiner Darstellungskunst steht, und worin er in glücklicher Symbolik das Elementarereignis der Ostseesturmflut mit der wirtschaftlichen Sturmflut 1873 im Zusammenhange erzählt; den Roman »Platt Land« (das. 1878, 3 Bde.), die seine, nur etwas allzusehr zugespitzte Novelle »Quisisana« (das. 1879) sowie die Romane: »Angela« (das. 1881, 2 Bde.), »Uhlenhans« (das. 1884, 2 Bde.), »An der Heilquelle« (das. 1885), »Was will das werden« (das. 1886, 3 Bde.), »Noblesse oblige« (das. 1888), »Ein neuer Pharao« (das. 1889), »Sonntagskind« (das. 1893, 3 Bde.), »Susi« (Stuttg. 1895), »Zum Zeitvertreib« (Leipz. 1897), »Faustulus« (das. 1898), »Opfer« (das. 1900), »Frei geboren« (das. 1900), »Stumme des Himmels« (1903). Eine Abnahme der dichterischen Kraft Spielhagens ist seit der »Sturmflut« nicht zu verkennen; seine Darstellungsweise geriet immer mehr in den Stil des in sich selbst eingesponnenen Reflektierens, statt des einfach konkreten Gestaltens. Auch kam S. über den Standpunkt des liberalen Achtundvierzigers und des Liberalen aus der Konfliktszeit nicht mehr recht hinaus, und der große Meister der Zeitschilderung verstand nicht mehr den »neuen Pharao«. Nur in den kleineren Werken: »Deutsche Pioniere« und »Noblesse oblige«, streifte S. vorübergehend das Gebiet des historischen Romans. Mit dem nach einer eignen Novelle (Berl. 1868) bearbeiteten und an mehreren Theatern erfolgreich aufgeführten Schauspiel »Hans und Grete« (das. 1876) wendete er sich auch der Bühne zu. Größern Erfolg hatte das Schauspiel »Liebe für Liebe« (Leipz. 1875), in dem die Kritik neben novellistischen Episoden einen wahrhaft dramatischen Kern anerkannte. Außerdem brachte er die Schauspiele: »Gerettet« (Leipz. 1884), »Die Philosophin« (das. 1887) und »In eiserner Zeit«, Trauerspiel (das. 1891). Von S. erschienen ferner: »Vermischte Schriften« (Berl. 1863–68, 2 Bde.), »Aus meinem Skizzenbuch« (Leipz. 1874), »Skizzen, Geschichten und Gedichte« (das. 1881), »Beiträge zur Theorie und Technik des Romans« (das. 1883), »Aus meiner Studienmappe« (Berl. 1891), »Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik« (Leipz. 1898), »Am Wege«, vermischte Schriften (das. 1903) und eine Sammlung seiner formschönen »Gedichte« (das. 1892) und »Neuen Gedichte« (das. 1899). Die letzte Ausgabe seiner »Sämtlichen Romane«, die alle zahlreiche Auflagen erlebten, erschien in 29 Bänden (Leipz. 1896 ff.). S. schrieb auch seine Selbstbiographie: »Finder und Erfinder, Erinnerungen aus meinem Leben« (Leipz. 1890, 2 Bde.), die aber wesentlich nur die innere und äußere Entstehungsgeschichte seiner »Problematischen Naturen« erzählt. Vgl. Karpeles, Friedrich S. (Leipz. 1889), und die Festschrift zu Spielhagens 70. Geburtstag: »Friedrich S.« (das. 1899).

Uhlenhans

Erstes Kapitel.

Hans hatte, da ihn der Heimweg gerade durch Prora geführt, in dem Stalle des Gasthofes "zum König von Preußen"die frisch milchende Kuh angesehen, die er gestern hereingeschickt; den herzlichen Dank der jungen Frau verlegen abgelehnt; in der Wirtsstube von dem neuen Doppelbier, das ihm Clas Wenhak aufgenötigt, nur eben genippt, und war nun mit demselben zur Thür hinaus getreten, wo der Hausknecht sein Pferd am Zügel hielt.

Clas Wenhak schob den Mann beiseite: er selbst wollte dem Herrn Baron beim Aufsteigen behilflich sein. Der hatte bereits den Fuß im Bügel, zog ihn aber wieder zurück. Ueber den kleinen offenen Platz kam sehr schnell ein Jagdwägelchen heran gerasselt, in dessen zweitem Sitz, in die Ecke gelehnt, Fürst Prora saß und sich jetzt, als er des Barons gewahr wurde, schnell aufrichtete, dem Kutscher ein Wort zurufend.

Der Wagen hielt.

Hans war an das Gefährt heran getreten. Der Fürst streckte ihm lebhaft die Hand entgegen.

Guten Abend, lieber Baron! Was führt Sie so spät hierher?

Geschäfte, Durchlaucht –

Ich frage nur, weil ich mich selbst verspätet habe. Sie sind doch auch heute auf dem Zauberfeste in Griebenitz?

Nein, Durchlaucht.

Nein? Aber vor einer halben Stunde, als ich durch Griebenitz fuhr – der Graf stand am Thor, das mit dicken Eichenguirlanden geschmückt wurde, und wetterte in seiner lauten Weise auf die ungeschickten Leute ein – er sagte mir, daß Ihre Großeltern kommen würden und Fräulen Hertha – und dabei zwinkerte er so listig mit den Augen und klopfte dem langen Axel, der gerade heran trat, so derb auf die Schulter – freilich, wenn Sie weg bleiben – der Chef der Familie – hm – hm – sagen Sie, lieber Hans, sind Sie wirklich sicher, daß Sie nicht kommen?

Der Fürst hatte sich bei diesen Worten über den Rand des Sitzes gebeugt und spähte dem jungen Manne in das Gesicht, dessen dunkle Farbe sich vertiefte.

Nun, nun, sagte der Fürst, nichts für ungut, lieber Baron; ich möchte um alles nicht indiskret sein. Hm, hm! Ich darf es doch der Fürstin sagen? Ich meine, daß Sie nicht kommen? Vielleicht bleibt sie dann selbst zu Hause – und ich auch – denn im Grunde wollten wir nur hin, weil wir mit Sicherheit annehmen zu dürfen glaubten – aber ich halte Sie zu lange auf. Also auf Wiedersehen und zwar baldiges! Ich habe ein paar wichtige Dinge mit Ihnen zu besprechen – in unserer Waldangelegenheit – wir müssen doch endlich einmal zum Abschluß kommen, und – wie gesagt, recht bald! Wollen Sie zu mir oder soll ich – gut! Sie haben mehr zu thun als ich – übermorgen – ich fahre dann nach Jagdschloß und spreche bei Ihnen vor – um elf Uhr? Schön! Adieu, lieber Baron! A revoir! Fort!

Der Fürst schüttelte dem jungen Manne nochmals die Hand, das Wägelchen rasselte weiter; Hans wendete sich, trat an das Pferd, das Clas Wenhak noch immer hielt, legte die Hand in die Zügel, saß aber nicht auf, sondern blieb so stehen, regungslos, den Blick vor sich nieder gesenkt. Clas Wenhak, der hinter dem Pferde, von dem Fürsten kaum gesehen, jedenfalls nicht beachtet, so ziemlich alles gehört und in der bewußten Angelegenheit besser Bescheid zu wissen glaubte, als der Fürst selbst, hätte für sein Leben gern den Diskurs in seiner Weise fortgesetzt, wagte es aber nicht und sagte statt dessen, um doch etwas zu sagen:

Ich habe noch vergessen, Herr Baron: Es war heute Morgen ein expresser Brief da für den Herrn Baron – aus Sundin. Wenn ich gewußt hätte, daß der Herr Baron doch herein kämen, hätte ich ihn hier behalten. So habe ich ihn vorhin dem alten Nimmo auf die Seele gebunden, er solle gleich über Neuen-Prohnitz gehen, da wird ihn dann der Herr Baron jedenfalls beim Nachhausekommen finden. Jetzt reitet der Herr Baron doch wohl erst nach Alten-Prohnitz über die Wiesen?

Der Baron hatte flüchtig aufgeblickt, aber starrte sofort wieder vor sich nieder, und Clas Wenhak war gar nicht sicher, daß derselbe gehört, was er gesagt; er fuhr daher auf gut Glück fort:

Er war gewiß von Livonius – wegen des Weizens – das heißt, es war nicht Livonius seine Handschrift, und das Siegel war es auch nicht; aber da ich weiß, daß Livonius es mit dem Weizen so eilig hat – na ja, wenn der Herr Baron verkauft, thun es die anderen Herren auch, sie warten nur darauf; nun schlecht ist der Preis nicht, indessen –

Jetzt aber hatte der Baron entschieden nicht hingehört; Clas Wenhak warf auf seine Frau, die eben still in die Thür getreten war, um zu sehen, warum der Baron noch immer nicht fort sei, einen bezeichnenden Blick, den er nit einer Grimasse begleitete. Die Frau wehrte mit Gegenblick und Miene ab und bewegte die Lippen, was sich ihr Mann in: "Schweig' doch still, Clas!"übersetzte.

Auch hatte Clas wirklich den Mut verloren, weiter ein Wort zu sagen. So standen die drei, der Baron mit gesenkten Augen, die beiden Wirtsleute, sich stumm einander anblickend, während über den stillen Platz eine Krähenschar von den abendlichen Feldern herein nach den großen Eichen des fürstlichen Parkes schwingte. Das Pferd schnellte den Kopf empor und scharrte. Der Baron zuckte ein wenig zusammen, gerade wie jemand, der aus einem schweren Schlafe jäh geweckt wird, hob den Fuß in den Bügel und saß auf; Clas ließ die Zügel los, das Tier bewegte sich vorwärts; des Barons Blick irrte über die beiden jungen Wirtsleute, er faßte an die Mütze, schien aber vergessen zu haben, daß er hatte grüßen wollen, denn er lüftete – ganz gegen seine sonstige höfliche Gewohnheit – die Mütze nicht, sondern zog sie nur tiefer in die Stirn, ritt langsam über den Platz davon und war dann, um die Ecke des fürstlichen Pädagogiums links in die Parkstraße einbiegend, den nachschauenden Blicken der Wirtsleute entschwunden. Clas wendete sich zu seiner Frau.

Na, Lieschen, was sagst Du nun? Heute war er wieder richtig närrisch; sollte er doch wohl noch einmal – und er rieb mit der Spitze des Zeigefingers die Stirn.

Du sollst nicht so von unserem Herrn sprechen, erwiderte Lieschen mit großer Lebhaftigkeit.

Unserem Herrn? Der Fürst ist unser Herr! sagte Clas, die Hände in die Hosentaschen steckend und sich gegen den Thürpfosten lehnend.

Weil wir ihm die Pacht zahlen? Ja, aber wer hat uns so weit gebracht, daß wir sie zahlen können? Ohne unsern Herrn Baron wäre ich noch heute bei mein' Mutting in Sundin.

Clas wiegte sich, leise pfeifend, auf den Hacken.

Du solltest Dich schämen, Clas! sagte Lieschen.

Clas lächelte überlegen und pfiff noch lauter.

Ja, richtig schämen! Wenn unser Herr Baron hier ist, dann weißt Du gar nicht, was Du anstellen sollst vor aller Lieb' und Freundlichkeit, und er ist kaum zum Haus heraus, so machst Du Deine Witze über ihn. Und das heute, wo er wieder so gut gegen uns gewesen ist.

Die alte Kuh! sagte Clas, und schlug das linke Bein über das rechte. Er hat ja noch genug.

Darum braucht er sie uns doch nicht zu geben, und bloß, weil der Doktor sagt, es würde wohl mit meinem Stillen man schwach sein. Andere thäten es nicht, das kann ich Dir sagen.

Dafür hat Deine Tante auch seinen Bruder gestillt, sagte Clas, zur Abwechslung das rechte Bein über das linke schlagend.

Das ist was Rechtes, um fünfundzwanzig Jahre dafür dankbar zu sein.

Deine Tante sagt ja doch immer, er habe ihn lieb gehabt wie seinen Augapfel.

Und wenn er ihn noch lieber gehabt hätte, was haben wir denn dazu gethan?

Du bist doch Deiner Tante ihre Nichte.

Clas, Clas, Du versündigst Dich mit Deinen gottlosen Redensarten, und zu dieser Zeit, wo wir Gottes Hilfe so nötig brauchen.

Lieschen hatte schon die letzten Worte schluchzend gesprochen; jetzt fing sie wirklich an zu weinen.

Na, Lieschen, sagte Clas, die Beine auseinander schlagend, ich hab' das ja gar nicht so bös gemeint. Du weißt doch, ich red' so was so hin und denk' mir nichts dabei. Laß gut sein, Lieschen, ich erzähle Dir auch was. Du, Lieschen, ich weiß ganz gut, warum unser Herr Baron vorhin so närrisch war. Durchlaucht und er sprachen über Fräulein Hertha und den jungen Herrn aus Griebenitz – von der Verlobung, weißt Du, Lieschen.

Was Du sagst, Clas!

Lieschen ließ schnell die Schürze von den tropfenden Augen und blickte ihren Mann neugierig an. Clas lächelte schlau, zog die Hände aus den Taschen, trat zu Lieschen an den andern Thürpfosten, legte ihr – es war kein Mensch auf dem Platze, der sie hätte sehen können – den Arm um die Schulter und sagte:

Durchlaucht fragte ihn, ob er heute nach Griebenitz komme, und der Baron antwortete: Nein, und dann fragte Durchlaucht, ob er das auch gewiß wisse? und dabei lachte er so, als wenn er sagen wollte: Sie kommen ja doch!

Er kommt aber nicht, sagte Lieschen eifrig.

Weil Deine Tante es nicht will?

Ach, was hat Tante zu wollen! Er selbst will nichts davon wissen, daß Fräulein Hertha den jungen Grafen heiratet.

Ja, will er sie denn selbst heiraten?

Lieschen lachte herzlich. Ei, sagte sie, der heiratet ja wohl nie, obgleich es jammerschade drum ist, so ein guter Herr und so ein schöner Herr – ja, ja, Clas. Wenn Du Dich auch drüber ärgerst. Na, und jung genug ist er doch noch mit seinen dreißig Jahren.

Ja, wen will sie denn aber? fragte Clas. Doch unmöglich den Baron Gustav; der kommt nicht wieder.

Ich glaube es auch nicht, sagte Lieschen, traurig den Kopf schüttelnd; es ist nun zu lange her – über ein Jahr, daß er nicht geschrieben hat. Und er soll zuletzt nach Griechenland gegangen sein, wo sie ja wohl gegen die Türken kämpfen und einander die Hälse abschneiden.

Laß sie, sagte Clas. und ich gehe jede Wette darauf ein, sie heiratet den Grafen doch. I, Lieschen, sie hat ja nicht einen blanken Dreier im Vermögen, und so eine großmächtige Partie kommt ihr im ganzen Leben nicht wieder. Willst Du wetten, Lieschen?

Nein, Clas, auf einen Menschen sein Unglück wett' ich nicht.

Unglück, dummer Schnack! Wo soll sie denn hin, wenn die alten Herrschaften gestorben sind, was alle Tage geschehen kann? Und allein kann sie doch nicht auf Alten-Prohnitz bleiben – na, was bedeutet denn das?

Von der Parkallee, rechts her von der Sundiner Seite, waren Posthorntöne erklungen.

Extrapost! sagte Clas. Das ist schön, und alle Mähren draußen!

Vielleicht bleiben sie hier, sagte Lieschen.

Im Juni? Vor Juli kommt kein Mensch.

Oder fahren weiter nach Griebenitz; die halbe Stunde werden die Mähren ja noch laufen können.

Das ist 'ne Donnerwettergeschicht'! sagte Clas in großer Aufregung, seine Mütze abnehmend und in dem kurzgeschornen Haar krauend; das kann mir die Posthalterei kosten! Wenn ich doch man die beiden Braunen –

Die Extrapost – ein richtiger Postwagen mit Karl Meinks von Neuenfähr alten, steifbeinigen Schimmeln – bog um die Ecke und kam über den Platz auf den Gasthof zu. Clas wollte ins Haus hinein, Lieschen hielt ihn an der Jacke fest.

So, sagte sie, ich soll wohl allein vor dem Riß stehen, in meinem Zustand? Wenn sie weiter wollen, läuft Jochen zum Schlächter Damitz, er leiht uns schon seine Füchse, aber Du sollst sehen, sie bleiben hier.

Sind denn die Zimmer oben – Das ist meine Sach'! Clas, bist Du denn ganz dämlich? Hilf lieber den Herrschaften heraus.

Clas hatte nach der Fremdenglocke in der Hausthür gegriffen und läutete mit aller Macht, trotzdem außer ihm und Lieschen und dem Knechte Jochen, der im Hofe das Postsignal gehört hatte und bereits gelaufen kam, kein Mensch im Hause war, den das Läuten hätte herbeirufen können. So ließ denn Clas den Griff los und stolperte die fünf Stufen hinab an den Schlag der Postkutsche, als diese eben auf dem holperigen Pflaster stillhielt, während Lieschen sich schnell die Haubenbänder zurechtzupfte und ein paarmal über die Schürze strich, damit die fremden Herrschaften wenigstens nicht auf den ersten Blick sehen sollten, wie es um sie stand.

Clas, der inzwischen vergebens an der eingeklemmten Wagenthür gerüttelt, wäre beinahe zu Boden gestürzt, da die Thür plötzlich von innen mit einem kräftigen Fußstoße aufgesprengt wurde und zugleich ein Herr, ohne den heruntergelassenen Tritt zu berühren, heraus sprang. Der Herr wendete sich sofort wieder und sprach – in einer wildfremden Sprache – in den Wagen hinein, worauf alsbald der Kopf einer Person in dem Rahmen der Thür erschien, von dem der verblüffte Clas nicht zu sagen gewußt hätte, ob derselbe auf den Schultern eines Mannes oder einer Frau säße: ein mit scharlachrotem Tuche und dicken, schon ergrauenden Flechten bedeckter Kopf, aus dem ein Paar kohlschwarze Augen unter dichten, kohlschwarzen Brauen auf Clas herabglühten – nur einen Moment, denn alsbald hatte sich die seltsame Person umgedreht und kam jetzt hinterrücks aus dem Wagen geklettert. Und selbst jetzt wäre Clas über das Geschlecht im Zweifel geblieben, da der lange faltenreiche, weißliche, mit breiten Borten besetzte Mantel, welcher die lange, hagere Gestalt umfloß – mehr konnte Clas in seiner Verwirrung nicht unterscheiden – eben so gut einem Manne wie einer Frau gehören mochte, wenn die Person nicht in ihren Armen ein über und über eingewickeltes Etwas getragen hätte, das denn doch offenbar nichts anderes war, als ein ganz junges Kind. Lieschen mußte das auch sofort herausgebracht haben. Sie kam, so schnell sie konnte, die Stufen herab und wollte der Frau, die außerdem noch ein großes Bündel an einem Arme hängen hatte, das Kind abnehmen, was jene aber mit einem zornigen Blicke und einer heftigen Gebärde verweigerte. Darüber hatte Lieschen die Dame nicht bemerkt, die unterdessen hinter ihrem Rücken von dem Herrn aus dem Wagen gehoben war und nun plötzlich, sich leicht auf den Arm des Herrn lehnend, wie aus der Erde gewachsen vor ihr stand. Oder wenigstens hätte Lieschen, wäre jene wirklich aus der Erde gewachsen, kaum erstaunter, ja erschrockener sein können. So etwas Schönes hatte sie nie gesehen: die war ja wohl noch schöner als Fräulein Hertha. Lieschen vergaß ihren Knix zu machen und sah unwillkürlich auf ihren Clas, dem es nicht anders zu ergehen schien, wie ihr, denn er stand ebenfalls, ohne sich zu regen, mit halboffenem Munde, bis ein Lächeln der Dame und ein helles Lachen des Herrn, der die junge Dame am Arme hielt und ein paar halblaute Worte, welche sie beide in der fremden Sprache wechselten, die Wirtsleute an ihre Pflichten erinnerten. Lieschen holte schnell den vergessenen Knix nach, Clas machte mit abgezogener Mütze seinen besten Diener, und beiden fiel ordentlich ein Stein vom Herzen, als der Herr in ganz verständlichem Deutsch, das allerdings etwas fremdländisch klang, sagte, er wünsche ein paar Zimmer angewiesen zu bekommen, und die Sachen sollten alle aus dem Wagen genommen und herein gebracht werden. Damit wendete er sich und begann mit seiner Dame die Stufen hinauf zu steigen, gefolgt von der seltsamen finster blickenden Alten, welche das Kind trug, während Clas an ihnen vorbei und voraus sprang, den Herrschaften den Weg in den oberen Stock zu zeigen, und Lieschen den Zug schloß, nachdem sie noch Geistesgegenwart genug gehabt hatte, Jochen zuzuraunen, er solle laufen was er könne, Stine und Mine, die hinten im Garten Wäsche aufhingen, zu rufen, und die Dirnen sollten auch laufen was sie könnten.

Zweites Kapitel.

Eine Viertelstunde später war Clas in der Honoratioren-Stube rechter Hand eifrig beschäftigt, einen kleinen Tisch herzurichten für das Abendbrot seines vornehmen Gastes, der unten zu speisen gewünscht hatte, während Lieschen oben für die Frauen und das Kind sorgte. Daß der Herr vornehm sei – unbändig vornehm, war für Clas eine ausgemachte Sache, nachdem sein kluges Lieschen, welchem er auf der Treppe im Vorüberhuschen die Entdeckung zugeraunt, mit bedeutungsvollem Kopfnicken – für lange Reden war keine Zeit – beigestimmt hatte. Woher der Herr kam, wußte Clas zwar nicht, aber von weither war er gewiß, und wer von so weit kam, mußte schon ein großer Herr sein. Nur ein solcher konnte auch auf die Frage, wieviel Zimmer er brauche, gar nicht antworten, dafür aber sogleich die heraufgebrachten Sachen durch den ganzen obern Stock – durch alle vier Zimmer – verteilen lassen, wenn freilich die Sachen selbst nur aus zwei, und nicht einmal großen Koffern und einem halben Dutzend Bündeln bestanden, die in bunte Tücher geschlagen waren, und aus deren einem, als es auf der Treppe aufging, seltsame fremdländische Kleidungsstücke und sonstiger wunderlicher Kram herausgefallen waren. Aber da, von wo die herkamen, mußte das wohl auch bei vornehmen Herrschaften so sein. Von wo sie nur kamen? Gott sei Dank, sah der Herr nicht bloß aus wie ein Christenmensch, sondern sprach auch wie ein Christenmensch, das heißt, wenn die Russen wirkliche Christen waren – Clas konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Jedenfalls schien es ihm sehr wahrscheinlich, daß es Russen seien. Er selbst hatte freilich noch keine gesehen, aber in den Brandenburger Hof in Sundin kamen öfters welche, und er erinnerte sich gehört zu haben, daß die Russen alle Sprachen der Welt sprächen und fürchterlich viel Geld hätten.

Clas setzte den Teller, an welchem er wischte, eilig nieder, er hatte hinter sich die Thür gehen hören, der Herr war herein getreten. Clas eilte ihm entgegen. Das Abendessen werde gleich fertig sein, der Herr würde freilich fürlieb nehmen müssen; es sei noch etwas früh im Jahre, der Herr sozusagen der erste Gast – Badegast, meine er. Was die anderen wären – die Herrschaften aus Grünwald und Sundin oder Rostock – kämen erst im Juli. Im vorigen Jahre – dem zweiten nach Herrichtung des Bades – seien schon sechzig dagewesen, zwanzig mehr als das erste Jahr; es könnten in diesem leicht hundert werden – habe Durchlaucht selbst gesagt. Durchlaucht thäte alles, um dem neuen Bade aufzuhelfen – ob es dem Herrn jetzt gefällig sei?

Clas hatte die Schüssel, die ihm Stine bis an die Thür entgegen gebracht, auf den Tisch gesetzt; der Herr, der unterdessen am offenen Fenster gestanden und hinaus geblickt hatte, wendete sich, nahm aber nicht Platz, sondern ging an dem gedeckten Tische vorbei bis an die Wand gegenüber und schien aufmerksam die beiden Lithographien zu betrachten, welche dort hingen, und von denen Clas sofort berichtete, daß sie Se. Durchlaucht und Ihre Durchlaucht die Frau Fürstin Prora darstellten, und im Jahre 1815, also nun schon vor zwanzig Jahren, in Paris von einem sehr berühmten Maler gemalt seien: die richtigen Bilder nämlich, die im Schlosse hingen, in Lebensgröße, und von allen Herrschaften sehr bewundert würden.

Während Clas so erzählte, war der Fremde abermals an das Fenster getreten, bog sich weit hinaus, schüttelte, sich aufrichtend, den Kopf, that ein paar Schritte nach der Thür, als wollte er das Zimmer verlassen, blieb plötzlich stehen, kam zurück und setzte sich an den Tisch, zur großen Beruhigung von Clas, der bereits den aufgeschnittenen Kälberbraten mit einem Teller zugedeckt hatte, ihn vor dem völligen Kaltwerden zu bewahren.

Der Herr nahm rasch ein paar Bissen, leerte das Glas, welches ihm Clas mit seinem besten Rotwein gefüllt, auf einen Zug, und ebenso ein zweites, das er sich selbst eingeschenkt, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, griff dann wieder zu Messer und Gabel und begann abermals zu essen, diesmal mit, wie es Clas schien, vortrefflichem Appetit. Darüber verschwand eine Düsterheit, die bis dahin auf seinem Gesicht gelegen hatte. Und war es das, oder fand Clas erst jetzt die Ruhe, sich seinen Gast genauer anzusehen – derselbe schien ihm um ein Beträchtliches jünger als vorhin im Hut und dem langen grauen Staubmantel, ja eigentlich noch sehr jung, ganz im Verhältnisse zu der Frau Gemahlin, der man gar nicht zutrauen konnte, daß sie bereits ein Kind habe. Dabei blitzten die blauen Augen, wenn er gelegentlich von dem Teller aufsah, und ein oder zweimal lachte er zu etwas, das Clas gesagt, kurz und hell – Clas hatte alle Angst und Scheu verloren und ließ, da es ja dem fremden Herrn sichtbaren Spaß machte, seiner Zunge freien Lauf. Bereits hatte er die Verhältnisse der fürstlichen Familie eingehend erörtert und dabei, um dem Gaste zu imponieren, aus den hundert Gütern, die der Fürst auf der Insel besaß, zweihundert gemacht, wozu der Herr – Clas wußte nicht weshalb – wieder in seiner eigentümlichen Weise gelacht hatte. Jetzt war er auf seine eigenen Verhältnisse zu sprechen gekommen: daß er erst seit einem Jahre – nach dem Tode des alten Nimmo, des Bruders vom Landbriefträger – den Gasthof und die Posthalterei übernommen habe – in Pacht von dem Fürsten, dem der ganze Grund und Boden von Prora gehöre – und freilich nicht hätte übernehmen können, wenn er, der aus Sundin sei, nicht eine Frau hätte, die, obgleich auch eine Sundinerin, doch eigentlich von der Insel stammte und unter anderen Verwandten in Bergen und Garz eine verwitwete Tante habe, welche auf einem der Nachbarsgüter hier herum seit vielen Jahren die Wirtschaft führe. Die Tante sei bei der Herrschaft sehr gut angeschrieben, und so habe die Herrschaft ihr – der Tante oder eigentlich ihm – Clas Wenhak – das Geld geliehen, das er, um sein Lieschen freien zu können, und zur Uebernahme des Gasthofes und der Posthalterei hier in Prora gebraucht. Aber er bitte um Entschuldigung, daß er so viel von Dingen spreche, die den gnädigen Herrn freilich nicht interessieren könnten.

Diese letzte Bemerkung aber machte Clas Wenhak, weil der Herr, der bis dahin augenscheinlich aufmerksam zugehört hatte, seit einer Minute oder so erst leise, dann deutlichere Zeichen von Ungeduld an den Tag gelegt, sich über die Stirn fuhr, scharf nach dem offenen Fenster sah und jetzt den Stuhl zurück schob, als ob er sich erheben wollte. Aber er that es nicht, rückte wieder an den Tisch, schenkte sich ein Glas voll, that einen großen Schluck und sagte:

Im Gegenteile; es interessiert mich sehr. Bitte, erzählen Sie weiter! Das muß ja wirklich eine gute Herrschaft sein, und überdies muß Ihre Tante da einen tüchtigen Stein im Brett haben. Lassen Sie nur den Käse – ich esse nichts mehr. Aber geben Sie mal die andere Flasche her – ja, und holen Sie sich auch ein Glas! Keine Umstände!

Clas war über die große Ehre, die ihm der vornehme fremde Herr anthat, ordentlich rot geworden; hatte aber natürlich einem so bestimmt ausgesprochenen Befehle Folge geleistet und saß jetzt auf der Kante des Stuhles seinem Gaste gegenüber, der ihm sogleich das Glas bis an den Rand füllte.

So! Und wie heißt die Herrschaft, bei der Ihre Tante ist? Oder sagten Sie es schon?

Trotz seiner Verwirrung und Verlegenheit war es Clas aufgefallen, wie schnell und ohne sich einmal zu besinnen oder gar stecken zu bleiben, der Herr deutsch gesprochen. Es fuhr ihm durch den Sinn, ob derselbe am Ende gar kein Ausländer sei und nur eben eine Ausländerin zur Frau habe. Aber er hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen: die blitzenden Augen waren so fest auf ihn geheftet; der Herr war nicht gewohnt, lange auf Antwort zu warten, noch dazu von jemandem, dem er so große Ehre anthat.

Baron von Prohn, sagte er, aus Alten-Prohnitz – eine Viertelmeile von hier, es gehört auch noch ein Vorwerk dazu, Neuen-Prohnitz, auf dem halben Wege zwischen hier und dem Gute, das an der See liegt. Der Herr Baron wohnt auf dem Vorwerk.

Wie kommt das? fragte der Gast, ich meine, weshalb wohnt der Herr Baron nicht auf dem Gute selbst?

Das hat er den alten Herrschaften überlassen, das heißt zum Wohnen; denn ihm gehört alles bis auf den letzten Scheunenriegel – von seiner seligen Frau Mutter Seiten her, insofern, als diese ihm das Geld hinterließ, mit dem er wenigstens Alten- und Neuen-Prohnitz zurück kaufen konnte von den fünfzehn, Lieschen sagt zwanzig Gütern, welche die Prohns vordem hier besessen haben.

Die alten Herrschaften, sagten Sie? Wie ist das möglich, wenn die Mutter bereits gestorben?

Die alten Herrschaften sind die Großeltern, das heißt, eigentlich nur die Frau Großmutter, die in zweiter Ehe den Herrn Kammerherrn, Excellenz Lindblad, gefreit hat. Der Herr Kammerherr ist eigentlich aus Schweden und bis zum Jahre 1815, wo wir hier preußisch wurden, als schwedischer Gesandter in Paris und sonst weit herum in der Welt gewesen.

Wie gut Sie Bescheid wissen! Es ist ordentlich eine Freude, Ihnen zuzuhören. Schenken Sie sich doch wieder ein und, bitte, auch mir! Der Vater von dem Herrn Baron ist also ebenfalls tot?

Der Herr hatte sich in seinen Stuhl zurück gelehnt und spielte an seinen Zähnen mit einem goldenen Zahnstocher, den er einem kleinen Etui aus der Westentasche entnommen. Die Zähne waren so glatt und weiß, daß sie in dem Abendlichte, das jetzt rötlich durch das offene Fenster gerade auf den Tisch fiel, richtig schimmerten. Clas meinte, er habe nicht leicht einen schöneren Herrn gesehen und gewiß keinen, mit dem es sich so gut plaudere. Der könnte einem die Seele aus dem Leibe fragen, und man würde nichts dagegen haben.

Jawohl, erwiderte er, schon lange tot, seit fünfundzwanzig Jahren. Ich weiß das alles ganz genau, denn wenn mein Lieschen und ihre Tante zusammen sind, sprechen sie von nichts anderm. Was aber die gnädige Frau war, und meine Tante hatten ganz zu derselben Zeit, sechs oder acht Wochen vorher, ein Kind gehabt. Da konnte denn meine Tante, deren Kind nur ein paar Tage gelebt, das von der gnädigen Frau an sich nehmen, als sich die gnädige Frau, die ein bißchen sehr schwächlich war, vor Schrecken über den Tod von dem gnädigen Herrn hinlegte und starb. Der Herr Baron, der übrigens auch sonst ein wilder Herr gewesen ist, hatte sich nämlich auf der Hetzjagd das Genick gebrochen, und sie brachten ihn getragen, gerade als die gnädige Frau das erste Mal wieder ausging.

Der Herr saß noch immer in dem Stuhle zurück gelehnt, aber spielte nicht mehr mit dem Zahnstocher. Er hatte die Augen geschlossen und zuckte jetzt, wie Clas schwieg, ordentlich zusammen.

Das ist ja eine traurige Geschichte, sagte er, aber interessiert mich – wirklich – sehr – fahren Sie fort! Das Kind, das damals seine Mutter verlor, ist jetzt der Herr Baron, von dem Sie vorhin sprachen?

Nein, Herr –

Clas machte eine kleine Pause, um dem Fremden Gelegenheit zu geben, seinen Namen und Titel einfließen zu lassen, und fuhr, da derselbe nur die Augen wie fragend gegen ihn aufschlug, etwas betreten fort:

Der jetzige Herr Baron ist der ältere, der damals schon ein fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein muß, denn er wird jetzt dreißig oder da herum sein: Baron Hans.

Und der ist so gut, sagen Sie?

Ja, Herr, echt gut, das muß ihm sein Feind lassen; er hat aber keinen, denn er thut keinem Menschen etwas zuleide, und einem Tiere erst recht nicht. Und gar Lieschen und ich – na, ich erzähle dem Herrn schon, wie er sich unserer angenommen hat, trotzdem er uns vorher kaum gekannt, bloß um Lieschens Tante willen, und Lieschen ginge für ihn durchs Feuer; und wenn ich 'mal ein Wort gegen ihn sage – ich meine es gar nicht so – bloß, um sie ein bißchen zu necken; aber Gnade mir Gott, wenn ich ihn, daß sie's hörte, so nennen wollte, wie ihn doch jeder Mensch nennt, wenn er von ihm spricht.

Nun, und wie nennt ihn jeder Mensch?

Clas warf einen Blick über die Schulter nach der Thür und fuhr in leiserem Tone fort:

Sie nennen ihn Uhlenhans, das ist nämlich Plattdeutsch und heißt soviel wie Eulenhans, weil er nur ein Auge hat, das heißt, er hat ja wohl zwei, bloß daß er nur auf dem einen sehen kann und das andere nicht erst zu schließen braucht wie eine Eule, wenn sie sich die Welt mit einem Auge besehen will. So sagen welche. Andere sagen, weil er so scheu ist wie eine Eule und gar nicht so wie die anderen Herren, was die Adeligen sind, und auch genug von den Bürgerlichen, sondern immer allein und in sich verloren und still, und manche sagen, es ist hier oben nicht ganz richtig bei ihm. Aber das ist nur ein dummer Schnack, er ist ganz hell wach, sagt Lieschen, und ich glaube es auch; zum wenigsten, was so wirtschaften heißt, das versteht er aus dem Grunde, hat's aber auch nötig. Denn was die Prohns sind, die haben ihr Lebtag nicht viel getaugt, gerade so wie der jüngere Herr Baron, sein Bruder Gustav, der –

Clas konnte seinen Satz nicht beenden. Durch das Fenster kam das Geräusch von Pferdehufen und dem Rasseln eines Wagens. Der Herr war mit einem Sprunge von dem Tische auf und an dem Fenster, wohin ihm Clas folgte. Eine große, geschlossene, mit vier Pferden bespannte Chaise, der ein Vorreiter voraus trabte, fuhr sehr schnell quer über den Platz und war nach wenigen Augenblicken auf der entgegengesetzten Seite, wo es in das offene Feld hinein ging, verschwunden.

Das ist Durchlaucht, sagte Clas geheimnisvoll, und Ihre Durchlaucht müssen mit in der Chaise gewesen sein; Durchlaucht selbst fährt immer nur zweispännig und in offenem Wagen, auch in Gesellschaft.

Wo ist heute Gesellschaft?

Der Herr war am Fenster stehen geblieben. Clas hatte die dunkle Empfindung, daß die Frage in dem Munde des Fremden ein wenig sonderbar sei; aber freilich, weshalb sollte der Herr, dem es ja so viel Vergnügen machte, sich von ihm erzählen zu lassen, nicht auch danach fragen? Und das war eine so schöne Gelegenheit, dem Herrn zu zeigen, wie gut er in den Häusern und Familien der vornehmen Herrschaften hier herum Bescheid wußte.

Beim Herrn Grafen Grieben auf Griebenitz, antwortete er. Das heißt, der Herr Graf hat noch viele andere Güter hier auf Rügen und drüben bei uns in Pommern und Mecklenburg. Es sind auch schon ein paar Herrschaften von dort heute Nachmittag hier durchgekommen, und sonst ist ja wohl von hier unser ganzer Adel da. Es soll nämlich heute Verlöbnis sein auf Griebenitz, sagen sie, von dem einzigen Sohne, dem jungen Grafen Axel mit Fräulein Hertha –

Mit wem?

Der Herr hatte es, indem er sich jäh umwendete, sehr laut gerufen; Clas meinte, weil er ihn, der eben mit den Tellern arg geklappert, nicht richtig verstanden habe. So trug er denn das Geschirr vorsichtig nach dem Anrichtetisch und sagte:

Mit Fräulein Hertha von Prohn – unserem Fräulein, wie mein Lieschen sagt – die auch auf Prohnitz lebt. Sie ist aber nicht aus dem Hause, sondern eine arme Verwandte, so etwas wie Kousine von Baron Hans, die Tochter von einem Rittmeister von Prohn in Sundin. Das heißt der Rittmeister ist nun schon vierzehn Jahre oder so tot. Er hat nicht viel getaugt, sagen die Leute; aber die Frau Rittmeister soll echt gut gewesen sein – zu gut, sagt unsre Tante, die mit ihr hernach in Prohnitz zusammen gelebt hat, als die Frau Rittmeister nach dem Tode von dem Herrn Rittmeister dorthin gezogen ist als Gesellschafterin von den alten Herrschaften; und es sei eine Sünd' und Schand' gewesen, sagt meine Tante, wie die alten Excellenzen sie gequält hätten – richtig zu Tode. Na, sie ist denn auch nach ein paar Jahren gestorben und liegt hier auf dem Kirchhofe in Prora begraben. Baron Hans hat ihr einen schönen Grabstein setzen lassen, als er an das Regiment kam.

Clas war mit dem Zusammenräumen der Sachen fertig und trat zurück an den Tisch zu seinem Gaste, der bereits wieder Platz genommen hatte und sich eben ein Glas einschenkte. Dabei klirrte die Flasche ein paarmal heftig gegen das Glas, und der Rotwein floß auf das Tischtuch, ohne daß der Herr es zu merken schien.

Und das junge Fräulein will sich heute mit dem Herrn Grafen verloben?

Die vorher so frische helle Stimme hatte einen sonderbaren dumpfen Klang, den Clas kannte. Er mochte getrost drei Flaschen auf die Rechnung setzen, auch wenn es nicht zu einer dritten kam. Guten Mutes nahm er seinen Platz dem Herrn gegenüber ein und sagte:

Ob sie will? Darüber ließe sich viel reden. Einige sagen ja, andere sagen nein, zum Beispiel unsere Tante, die es freilich am besten wissen sollte, da sie das gnädige Fräulein schon als kleines vierjähriges Kind gekannt hat. Aber unsere Tante ist Partei in der Sach', nämlich, weil sie ja die Amme von dem zweiten jungen Herrn Baron Gustav – sie haben ihn immer den tollen Gustav genannt – gewesen ist, und wenn man sich so ausdrücken darf, Mutterstelle an ihm vertreten hat. Nun ist aber zwischen dem Baron Gustav und dem gnädigen Fräulein vom ersten Anfang an eine Liebschaft gewesen, bis der Herr Baron, der mittlerweile Offizier geworden war und in Grünwald bei den Jägern stand, so viel Schulden gemacht hatte, daß er fort mußte. Das heißt, Baron Hans hat hernach alles bezahlt, obgleich es eine greulich große Summe gewesen sein soll; aber für den Augenblick stand die Sache doch wohl schlimm für den jungen Herrn und item, er mußte fort – auf Reisen. – Na, und nun ist er schon drei Jahre auf Reisen und hat auch im Anfang ab und zu geschrieben, aber jetzt seit länger als einem Jahr gar nicht mehr, daß man nicht weiß, ob er noch lebt oder tot ist. Da kann es ja kein vernünftiger Mensch dem gnädigen Fräulein verdenken, wenn sie den jungen Grafen freien will, der, wenn er ins Majorat kommt, beinahe so reich wird wie unsere Durchlaucht; und sie selbst hat keinen roten Schilling und lebt wie die alten Excellenzen aus Baron Hans' seiner Tasche. Aber da hat justement die Eul' gesessen, wie der alte Nimmo sagt. Nämlich, der Baron Hans will es nicht, das heißt, er sagt es nicht, denn viel Reden ist nicht seine Sach'; aber die alten Excellenzen und das gnädige Fräulein wissen recht gut, daß er es nicht will, sagt unsere Tante, und sagt mein Lieschen; und ich sag' es auch, nachdem ich vor einer halben Stunde mit diesen meinen Ohren gehört habe –

Und nun erzählte Clas, obgleich er eigentlich überzeugt war, daß der Herr für sein Teil nicht mehr hörte, was er sagte, oder doch gewiß nicht mehr ordentlich zuhörte – denn derselbe saß gerade wie vorhin, den Kopf aufgestützt und atmete manchmal schwer – wie Baron Hans vorhin mit Durchlaucht vor seiner Thür zusammengetroffen, und wie Se. Durchlaucht gefragt, ob Baron Hans heute nach Griebenitz in die Gesellschaft fahren werde? und Baron Hans geantwortet, er würde es nicht thun; und dann auch gleich auf den Weg nach Alten-Prohnitz geritten sei, wie er jeden Sonnabend thue, um die Leute auszuzahlen. Das würde denn wohl so ein Stündchen dauern; dann sei es für die Gesellschaft zu spät. Und heute gar könne er gewiß nicht wieder vom Hause fort, da er dort – in Neuen-Prohnitz – einen Brief vorfinden würde vom Konsul Livonius, dem großen Kornhändler in Sundin; und Konsul Livonius müsse es höllisch eilig haben, denn der Brief sei expreß gewesen – hierzulande gingen auch die expressen Briefe nicht eilig; und der alte Livonius würde sich schön den kahlen Schädel kratzen, wenn er wüßte, daß Baron Hans seinen expressen Schreibebrief bis zur Stunde noch nicht gelesen habe.

Clas hatte das letzte bereits am Schanktisch gesprochen, die dritte Flasche zwischen den Knieen, vorsichtig den Pfropfen herausziehend, damit der Gast nicht aus seinem Halbschlaf aufgestört werde. Aber der Pfropfen saß sehr fest; Clas mußte bei aller Vorsicht seine ganze Kraft aufwenden; es gab einen lauten Knall. Das war dumm – dachte Clas, denn in demselben Momente hörte er, wie hinter ihm der Herr vom Tisch aufsprang, im nächsten Augenblicke fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter.

Können Sie mir ein Pferd schaffen? oder einen Wagen? gleichviel – nur schnell – nach Neuen-Prohnitz – sofort!

Clas hätte beinahe die aufgepfropfte Flasche fallen lassen, aber der bisherige Schrecken war doch rein gar nichts im Vergleiche zu dem, der jetzt über ihn kam: einen Wagen nach Neuen-Prohnitz – und das Gesicht dazu – als ob Baron Hans plötzlich anstatt seiner schwarzen Augen blaue bekommen hätte – die Stimme gar –

Herr Gott des Himmels, rief Clas, Sie sind doch nicht am End' –

Ja, ja, Sie dummer Kerl, der Sie das endlich kapieren! Setzen Sie Ihren Rotspon hin und machen Sie, daß Sie in den Stall kommen. Sie haben doch Pferde.?

Ja gewiß, Herr –

Sprechen Sie meinen Namen nicht aus, oder ich schlage Ihnen den Schädel ein! Hören Sie? Auch nicht gegen Ihre Frau, bis ich zurück bin – hören Sie –

Ja, ja, Herr –

In zehn Minuten–ich will unterdessen oben Bescheid sagen. Den Menschen, der mich fährt, werde ich selber instruieren – sagen Sie nur vorläufig nach Jagdschloß – das ist auf demselben Wege – in zehn Minuten. Sind Sie noch nicht fort?

Die letzten Worte sprach er bereits auf dem Flur, wohin er Clas, ihn immer am Arme haltend, mit sich fortgezogen hatte. Jetzt sprang er, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Clas, sich den Arm reibend, an welchem er noch jeden Finger des Barons fühlte, lief nach dem Hofe, Jochen Bescheid zu sagen, daß er die Braunen, die glücklicherweise eben vom Felde gekommen waren, wieder aufschirrte, während er selbst den Holsteiner aus dem Schuppen zog. Herr Gott, Herr Gott, war das ein Mensch! Na, wenn sie ihn damals schon den tollen Gustav genannt hatten, vernünftiger war er unterdessen nicht geworden. Und die Bescherung da oben, und das gnädige Fräulein in Prohnitz! Du meines Lebens, wird das einen Aufstand geben! Und alles unter Lieschens Augen, die keine Ahnung von der Geschichte hatte, während er – er hatte es ja gleich heraus gehabt, nur so gethan, als ob – na, wart' Lieschen, du kommst mir wieder mit: schweig doch still, Clas! Du weißt ja von gar nichts, Clas! Das war ein Hauptspaß! Jochen, bist Du denn noch nicht parat!

Komm' schon! sagte Jochen.

Clas half die Braunen vor den Holsteiner bringen; und so waren denn wirklich kaum zehn Minuten vergangen, als derselbe, mit Jochen auf dem ersten Sitz, vor der Thür hielt. Baron Gustav kam heraus. Er trug jetzt einen weiten, dunklen Mantel, dessen Kragen er noch dazu in die Höhe geschlagen hatte, so daß man von seinem Gesichte, in welches er eine mit feinem schwarzen Pelz besetzte viereckige Mütze tief hinein gezogen, wenig oder nichts sehen konnte. Im Begriffe, in den Wagen zu steigen, hob er den Kopf. Ein ungeheurer Schwarm Krähen kam mit deutlich vernehmbarem Rauschen der unzähligen Flügel und vieltönigem Gekrächze in der Richtung nach dem fürstlichen Park von den Feldern her über den Platz gezogen; für den Moment war der rötliche Abendhimmel zu Häupten von der schwarzen beweglichen Wolke völlig verdunkelt; dann wurde die Wolke lichter, der Himmel war wieder klar, es kamen nur noch einzelne nachgeschwingt.

Baron Gustav hatte den Fuß vom Wagentritt genommen und, wie es wenigstens Clas schien, mit einem sonderbaren Blick zu dem Gewimmel oben aufgeschaut. Nun machte er eine Bewegung, daß Clas nicht anders meinte, als er habe sich eines andern besonnen und wolle wieder ins Haus zurück. Aber dann murmelte er etwas, wovon Clas nur "Pah! dummes Zeug!"verstand, und war mit einem Sprunge im Wagen.

Fort! und was die Mähren laufen können!

Jochen hieb kräftig auf die Braunen; der Holsteiner rasselte über das holprige Pflaster davon.

Drittes Kapitel.

Um dieselbe Zeit, als Baron Hans in schweren Gedanken aus Prora fort ritt, hielt auf der Rampe vor dem Herrenhause in Alten-Prohnitz der Wagen, welcher die Excellenzen und Fräulein Hertha nach Griebenitz zu dem Ballfest bringen sollte. Krischan auf dem hohen Bock klatschte ungeduldig mit der langen Peitsche; Wilhelm, der an der Brüstung der Rampe lehnte, sagte: Das hilft Dir nichts, Krischan, Du mußt eins ordentlich knallen.

Das hilft auch nichts, sagte Krischan.

Dann müssen wir eben warten, sagte Wilhelm.

Ja, sagte Krischan, das müssen wir.

Krischan klatschte leise weiter; Wilhelm hatte sich auf die Brüstung gesetzt und baumelte mit den Beinen.

Krischan, sagte er, hast Du Dich aber heute schön gemacht!

Du ja auch, sagte Krischan.

Wilhelm nahm seinen Hut ab und schob die große Kokarde mehr nach vorn.

Na, Krischan, sagte er, wunderschön sehen mir beide nicht aus: er könnte uns wohl ein paar neue Monturen spendieren.

Für unsere Alten sind sie noch lange gut, sagte Krischan.

Für die Alten! Aber unser Fräulein! Du Krischan, glaubst Du, daß was d'raus wird?

Wie soll ich das wissen, sagte Krischan. Glaubst Du denn?

Wilhelm schüttelte den Kopf.

Nein, Krischan, sagte er, ich glaub' nicht. Gestern waren sie ja wieder den ganzen Abend da. Die alten Herrschaften spielten mit unsern Alten Boston, und was der junge Herr Graf ist, der saß daneben wie Butter an der Sonne, und guckte zu und schieläugte zwischendurch nach unserm Fräulein, die an dem andern Tische saß und eine Häkelei oder so was zwischen den Fingern hatte. Und dann blinzelte der alte Herr Graf dem jungen zu, er sollte doch zu ihr gehen. Der that es denn ja wohl und wollte mit ihr eine Unterhaltung anfangen – reden kann er ja, das muß ihm sein Feind lassen – aber weit kam er doch nicht; sie lachte ihm immer justement ins Gesicht, und dann stand sie auf und ging hinaus.

Nun wird mir das aber zu arg, sagte Krischan.

Er holte mit der Peitsche aus und knallte, daß die beiden Braunen zusammenschraken, der Hofhund wütend zu bellen begann, und eine mächtige Flucht Tauben, die sich auf dem nahen Scheunendache im Abendschein sonnte, mit klappernden Flügeln sich hob und über den Hof zu kreisen begann. Ein Fenster in dem Mittelbaue des oberen Stockes, gerade über der Rampe, wurde aufgestoßen, ein weißer Kopf fuhr heraus und eine zitternde Stimme rief ärgerlich:

Lass' Sie doch den abscheulich Spektakel, Sie dumme Kerl!

Das Fenster klirrte wieder zu. Da hast Du Deinen Senf, sagte Wilhelm. Der alte, schwedische Aff'! sagte Krischan. Und beide lachten.

Der Kammerherr, nachdem er das Fenster zugeworfen, drohte noch mit der geballten Faust, trotzdem man die Geste von unten so wenig sehen, wie seine durch die Lippen gezischten Worte hören konnte: "La vile canaille! les brutes, les – bah! la bêtise de se facher! ça agace les nerfs et – dérange le costume!«

Er war vor einen der hohen Spiegel zwischen den Fenstern getreten und kräuselte, sich nahe an das Glas beugend, an ein paar Löckchen seiner weißen Perücke über der Stirn; zupfte an dem vielgefalteten Jabot, den bis fast auf die Handspitzen fallenden Manschetten; stäubte mit dem großen rotseidenen Taschentuche an dem über und über mit Gold bordierten blauen Frack, den schwarzen Kniehosen; trat ein paar Schritte zurück, nahm die goldene Lorgnette vor die Augen und betrachtete lange und wohlgefällig sein Bild, indem er bald das rechte, bald das linke Bein ein wenig vorschob und die Fingerspitzen der linken Hand jetzt oben und dann wieder unten zwischen die Knöpfe der langschößigen, weißseidenen Weste steckte. Jetzt hatte er es gefunden. Er warf dem Spiegelbilde eine Kußhand zu; schritt, die Füße vorsichtig setzend, durch den Saal, weiter durch zwei daran stoßende Zimmer, klopfte an die dritte Thür, öffnete auf ein von drinnen noch eben vernehmlich kommendes Entrez! und trat ein in dem Augenblicke, als sich seine Frau vor dem Toilettenspiegel erhob, ihm entgegen zu gehen. Eine Zofe, die der alten Dame beim Ankleiden geholfen, raffte ein paar Sachen zusammen und verschwand durch eine Tapetenthür nach der entgegengesetzten Seite.

Charmant, magnifique! sagte der Kammerherr.

Er hatte die Pose angenommen, die ihm eben vor dem Spiegel so wohl gefallen.

Tournez, s'il vous plait! Vraiment ravissant, Madame!

Die alte Dame drehte sich lächelnd um sich selbst, bis sie dem Gemahl wieder das Gesicht zuwendete. Der ließ die Lorgnette fallen, wehte, wie vorhin seinem Spiegelbilde, der Gattin eine Kußhand zu, indem er dabei verliebt mit den Augen zwinkerte, worauf er eine tiefe Verbeugung machte, welche die Dame mit einem nicht minder tiefen Knix erwiderte.

Ich bin glücklich, sagte sie, ebenfalls auf französisch, daß ich meinem Herrn Gemahl noch immer ein wenig gefalle.

Noch immer! ein wenig! und mir gefallen! Madame, wenn ich nicht den Vorzug hätte, bereits Ihr Gemahl zu sein und Madame wäre frei – beim Himmel, dies wäre der Augenblick, wo ich die Kühnheit fände, um diese teure Hand anzuhalten.

Böser Schmeichler!

Ich bin keiner; ich sage zum Beispiel nicht, daß Sie vollkommen sind, oder Sie würden es doch nur sein, wenn Sie mir verstatten wollten, das Rot dieser zarten Wangen noch um eine leiseste Nüance zu erhöhen.

Ich fürchtete, da wir noch halb bei Tage ankommen –

Fürchten Sie nichts, Madame, und erlauben Sie mir; ich verstehe das besser als Ihre Kammerzofe.

Er führte die alte Dame an den Toilettentisch zurück, wo er sie wieder Platz nehmen ließ, sich der dort aufgereihten Toiletten-Gegenstände bedienend, um mit großer Geschicklichkeit die angedeutete Verschönerung auszuführen; weiter an den gebauschten Achseln des schweren, braunen Brokatkleides, an der mit einer Diamant-Agraffe befestigten weißen Straußenfeder, welche die hohe Toque übernickte, zu nesteln und endlich zu erklären, daß es jetzt nur noch an einem Salon von Königen fehle, um der Schönheit und dem Geschmacke einen würdigen Triumph zu bereiten.

Die alte Dame seufzte.

Mein lieber Freund, sagte sie, Sie sprechen von vergangenen Zeiten. Die Tage von Fontainebleau, von Trianon kommen nicht wieder, und gar heute ist mein Herz keineswegs in siegesfroher Stimmung. Im Gegenteile. Ich habe ein Vorgefühl, daß unsere Hoffnungen sich nicht erfüllen werden.

Aber das ist unmöglich, Madame, rief der alte Herr.

Und dennoch, mein Freund! Denken Sie an ihr Betragen gestern Abend – den Abend vor der Verlobung!

Es war abscheulich.

Aber nicht viel anders als sonst. Und wenn wir ehrlich sein wollen, lieber Freund: sie hat noch niemals Ja gesagt. Das Ganze ist aus dem Stadium des Wunsches auf unserer, der Erwartung, der Hoffnung auf Seite der Griebens noch niemals hinaus gekommen; noch niemals hat sie auch nur mit einem Worte ihre Zustimmung gegeben.

Aber sie hat doch auch nicht Nein gesagt.

Sie hat uns eben reden, gewähren lassen, da sie viel zu höflich ist, uns zu widersprechen.

Erlauben Sie mir die Bemerkung, Madame, daß eine derartige Höflichkeit der Teufel holen möge.

Der alte Herr hatte das mit einer Heftigkeit gesagt, die seine erkünstelte Haltung jäh durchbrach, und vor der die alte Dame sichtbar zusammenschrak.

Nein, nein, fuhr er fort, indem er mit kleinen, nervös trippelnden Schritten durch das Gemach hin und wieder zu gehen begann. Sagen Sie das nicht, ich will es nicht hören – es macht mich toll. Es wäre das Grab dreijähriger, unausgesetzter, unerhörter Anstrengungen der feinsten Diplomatie. Erinnern Sie sich, daß anfänglich der Graf, die Gräfin nichts von der Partie wissen wollten, daß ich mir hunderte Male sein unerträglich schlechtes Spiel und sein noch viel unerträglicheres Organ habe gefallen lassen, um ihn für unsere Absichten günstig zu stimmen. Und was will denn die junge Dame? Einen Prinzen von Geblüt? Sie sollte uns doch auf den Knieen danken, daß wir ihr zu einer solchen Partie verhelfen, nachdem sie ihr Herr Galan in so heilloser Weise kompromittiert hat.

Olaf, es ist mein Enkel, sagte die alte Dame bittend.

Um so schlimmer für Sie, die Sie mit kompromittiert sind. Oder – ja, so ist es. Gestehen Sie, Madame, Sie denken weniger an die junge Dame, die ich für viel zu vernünftig halte, um nicht doch zuletzt Ja zu sagen; auch nicht an den jungen Taugenichts, der niemals oder als ein von Gott und Menschen aufgegebener Vagabund wieder kommen wird – Sie denken nur an Monseigneur, Ihren ältesten Herrn Enkel, und daß wir uns durch diese Verbindung Monseigneurs allerhöchste Ungnade zuziehen könnten.

Sagen Sie, zuziehen würden, mein Freund, erwiderte die alte Dame. Er liebt nun einmal diesen seinen einzigen Bruder; ja, wir müssen sagen, er liebt nichts auf der Welt außer ihm. Er wird, solange er kann, dem Bruder die Braut bewahren. Und er ist ihr Vormund!

Wie er der unsrige ist! rief der Kammerherr; wie er der Herr ist, von dessen Gnade wir leben! Madame, soll ich Sie denn immer wieder an das Unwürdige dieses Zustandes erinnern? Und daß wir, es koste, was es wolle, versuchen müssen, aus demselben zu entfliehen? Und daß wir es nur auf diese Weise können, indem wir ein Mädchen – eine blutarme, aus Barmherzigkeit in diesem Hause von uns aufgenommene Waise – durch eine glänzende Verbindung, die wir ihr vermitteln, zur höchsten Dankbarkeit verpflichten?

Die alte Dame schüttelte den Kopf.

Wer steht uns dafür, sagte sie, daß sie diese Dankbarkeit beweisen wird? Ich fürchte, sie ist kein dankbares Gemüt. Oder auch nur wird beweisen können? Sie wissen, die Griebens sind von einem schmutzigen Geiz, der Sohn wie der Vater. Und Sie mögen von Hans sagen, was Sie wollen, geizig ist er nicht. Er ist sehr genau, freilich, aber doch nur für seine Person; er schränkt sich auf jede Weise ein, während er uns –

Das Geld zum Fenster hinaus werfen läßt. Sprechen Sie es doch aus, Madame! Sprechen Sie es doch aus!

Der Kammerherr hatte die letzten Worte in den höchsten Tönen gekreischt; er stampfte mit dem Fuße und griff dann stöhnend mit beiden Händen nach dem gichtischen Knie. Die alte verschüchterte Dame trippelte auf ihn zu und umfaßte ihn; er wies sie unwillig zurück.

Lassen Sie, Madame! Ich muß mich auf meine alten Tage daran gewöhnen, allein zu sein, allein zu stehen.

Aber teuerster Freund! teuerster Freund! sagte die alte Dame, wir sind ja vollkommen d'accord, vollkommen! Ich will ja nichts, was Sie nicht auch wollen. Es ist ja mein höchster Wunsch, und gerade deshalb bin ich so ängstlich, so besorgt. Es wird hoffentlich heute alles nach Wunsch gehen. Die Kleine wird sich geschmeichelt fühlen durch den Glanz eines Festes, das nur ihr zu Ehren arrangiert, dessen Königin sie, sozusagen, ist. Unser junger Freund ist hinreichend von uns bearbeitet, um endlich ihr gegenüber den Mut zu finden, an dem es ihm doch wahrlich sonst nicht gebricht. Er wird das entscheidende Wort sprechen; wir werden die herrliche Gelegenheit benützen, dem Worte sofort die vollste Oeffentlichkeit zu geben. Die Sache ist dann ein Fait accompli, gegen das selbst mein Enkel nichts einzuwenden haben kann. Ein wenig Geduld, mein Freund; ein wenig von der Kunst der Diplomatie, die Sie ja so meisterlich verstehen, und Sie sollen sehen, wir bringen heute Abend eine Braut heim. Aber jetzt lassen Sie uns gehen, es ist die höchste Zeit. Hertha erwartet uns gewiß längst. Sehen Sie!

Die Zofe war eingetreten, um zu melden, daß das gnädige Fräulein fragen lasse, ob Excellenzen bereit seien? Die alte Dame ergriff den Arm ihres Gemahls, nicht um sich, sondern um ihn zu stützen, der den Schmerz im Knie noch nicht ganz überwunden hatte. Doch ließ er sich in der Gegenwart der Dienerin die Schwäche so wenig wie möglich merken, versuchte vielmehr den gewohnten tänzelnden Schritt anzunehmen, während jene vor ihnen her die Thüren öffnete. Seine üble Laune war bereits verflogen; die Anspielung auf seine diplomatische Kunst hatte auch diesmal die gewöhnliche schmeichlerische Wirkung nicht verfehlt; überdies hatte er auch für seine Gattin verborgene, dringendste Ursachen, zu wünschen, daß das eben besprochene Arrangement zustandekam. Jetzt sah er es im Geiste zustandegekommen; sah sich in dem großen Saal des Griebenitzer Schlosses, er selbst der Mittelpunkt der gratulierenden Herren, an ihrer Spitze Fürst Prora, während seine Gattin an dem andern Ende des Saales die Glückwünsche der Damen entgegen nahm. Er lächelte bei dieser schönen Illusion, drückte galant den Arm, auf den er sich stützte, und lächelte abermals, als der Druck verständnisinnig erwidert wurde.

So waren sie, durch den großen Mittelraum schreitend, beinahe bis an die auf den Flur und zur Treppe führende Thür gelangt, als diese, in dem Momente, da die voran schreitende Zofe die Hand auf den Drücker legte, von außen geöffnet wurde. In dem Rahmen der Thür, dunkel auf dem lichten Hintergrunde des von dem Abendscheine erfüllten Flurraumes, stand Hans.

Viertes Kapitel.

Das Erscheinen des Enkels, den sie oft tage-, wochenlang nicht, oder doch nur im Vorübergehen zu sehen bekamen, zu dieser Stunde erfüllte die alte Dame mit tiefem Schrecken. Sie warf einen angstvollen Blick auf ihn, einen zweiten bittenden auf ihren Gatten, als wollte sie sagen: ich ahnte es, aber ich kann nichts dafür. Der Kammerherr hüstelte verlegen, das war in der That überaus fatal. Er hatte eine ernstliche Dazwischenkunft des verhaßten Stiefenkels keineswegs mehr befürchtet, vielmehr mit Sicherheit angenommen, derselbe werde in seiner lässigen Weise den entscheidenden Moment vorübergehen lassen, um hernach vor einer vollendeten Thatsache zu stehen. War er nun doch gekommen, eine Erklärung zu provozieren? Dann mußte man sehen, wie man sich aus der Affaire zog. Das beste würde sein, alles zu leugnen. Unwiderrufliches war ja auch leider noch nicht geschehen. Hinterher würde man dann mit um so größerer Entschiedenheit das eben Abgeleugnete betreiben.

Die alten Leute hatten Zeit genug, sich das Heikle der Situation, in welche sie so unversehens geraten waren, klar zu machen. Hans stand noch immer auf der Schwelle, ohne sich zu regen. War er selbst durch das Plötzliche des Aufeinandertreffens überrascht? Fand er wieder einmal im rechten Augenblicke nicht das rechte Wort? Man mußte versuchen, diesen Augenblick möglichst abzukürzen.

Der Kammerherr ergriff den Arm der Gemahlin, indem er sie zugleich mit einem verstohlenen Druck aufforderte, ihm unbedingt zu folgen. So schritt er mit derselben auf Hans zu und sagte in scheinbar bester Laune, diesmal nicht auf französisch, sondern, wie immer, wenn er mit seinem Stiefenkel einmal sprechen mußte, in seinem noch halb schwedischen Deutsch:

Sieh da! der liebe Baronen! Kommen selbst zu sagen, daß die Wagen wartet. Ja, ja, die Damens! die Damens! Aber jetzt auch ist die höchste Zeit.

Er hatte gehofft, daß Hans aus der Thür treten und sie durchlassen werde. Aber Hans wich nicht vom Flecke, zog vielmehr die Thür hinter sich zu, verbeugte sich und forderte mit einer Handbewegung zum Bleiben auf, während ein Blick der Zofe sagte, daß sie sich entfernen möge. Der alten Dame war der Schrecken in die Glieder gefahren; sie ließ sich kraftlos auf einen der Fauteuils nieder, welche den großen, eingelegten, runden Tisch in der Mitte des Saales umstanden. Wie sie dahin gekommen, wußte sie nicht. Auch ihr Gatte fühlte plötzlich wieder das gichtische Knie und hatte sich ebenfalls gesetzt, während Hans in einiger Entfernung von ihnen, halbwegs zwischen Thür und Tisch, stehen geblieben war.

Ich bitte um Verzeihung, sagte er, wenn ich störe. Ich habe eine Nachricht erhalten – einen Brief, einen expressen Brief – der vor einer Stunde – ich war heute Morgen nach Bergen geritten zu einem Termin und seitdem nicht wieder zu Hause, – der Statthalter hat ihn eben von Neuen-Prohnitz herüber gebracht, weil er wußte, daß ich hier – von Gustav, Großmama.