Platt Land - Friedrich Spielhagen - E-Book

Platt Land E-Book

Friedrich Spielhagen

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Beschreibung

Ein kriminalistisch angehauchter Roman aus dem Norddeutschland der 1840er Jahre. Jede Menge skurriler Gestalten bevölkern eine fesselnde Geschichte. Friedrich Spielhagens Werke sind stark geprägt von seiner Liebe zum Meer, die er in seiner Zeit in Stralsund entwickelte.

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Seitenzahl: 872

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Platt Land

Friedrich Spielhagen

Inhalt:

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Platt Land

Erstes Buch

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Zweites Buch

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Drittes Buch

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Viertes Buch

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Fünftes Buch

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Sechstes Buch

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Platt Land, F. Spielhagen

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636401

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Friedrich Spielhagen – Biografie und Bibliografie

Romanschriftsteller, geb. 24. Febr. 1829 in Magdeburg als Sohn eines preußischen Regierungsrates, verbrachte sein Jugend in Stralsund (ein großer Teil seiner späteren Romane spielt an diesem Teile der Ostseeküste und auf der Insel Rügen), absolvierte hier das Gymnasium, studierte von 1847 an anfangs die Rechte, dann Philologie und Philosophie in Berlin, Bonn und Greifswald, war einige Zeit als Lehrer tätig, widmete sich aber bald ausschließlich der Literatur. Neben Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, von denen wir die »Amerikanischen Gedichte« (Leipz. 1856, 3. Aufl. 1871) nennen, veröffentlichte er schon in Leipzig die Novelle »Klara Vere« (Hannov. 1857) und das Idyll »Auf der Düne« (das. 1858), die jedoch nur geringe Beachtung fanden. Eine um so glänzendere Aufnahme fand der erste größere Roman Spielhagens: »Problematische Naturen« (Berl. 1860, 4 Bde.; 22. Aufl., Leipz. 1900), mit seiner abschließenden Fortsetzung: »Durch Nacht zum Licht« (Berl. 1861, 4 Bde.). Dieser Roman gehörte durch Lebendigkeit des Kolorits und eine in den meisten Partien künstlerisch ansprechende Darstellung zu den besten deutschen Romanen seiner Zeit. S. war inzwischen 1859 von Leipzig nach Hannover und Ende 1862 nach Berlin übergesiedelt, wo er kurze Zeit die »Deutsche Wochenschrift« und das Dunckersche »Sonntagsblatt« redigierte. Auch von der Herausgabe von Westermanns »Illustrierten deutschen Monatsheften«, die er 1878 übernommen, trat er 1884 wieder zurück. Sein zweiter großer Roman: »Die von Hohenstein« (Berl. 1863, 4 Bde.), der die revolutionäre Bewegung von 1848 zum Hintergrund hatte, eröffnete eine Reihe von Romanen, welche die Bewegungen der Zeit zu spiegeln unternahmen. War hierdurch ein gewisses Übergewicht des tendenziösen Elements gegenüber dem poetischen unvermeidlich, und standen die Romane: »In Reih' und Glied« (Berl. 1866, 5 Bde.) und »Allzeit voran!« (das. 1872, 3 Bde.) wie die Novelle »Ultimo« (Leipz. 1873) allzu stark unter der Herrschaft momentan in der preußischen Hauptstadt herrschender Interessen, so erwiesen andre freiere Schöpfungen den Gehalt, die Lebensfülle und die künstlerische Gewandtheit des Verfassers. Neben der Novelle »In der zwölften Stunde« (Berl. 1862), den unbedeutenderen: »Röschen vom Hofe« (Leipz. 1864), »Unter Tannen« (Berl. 1867), »Die Dorfkokette« (Schwerin 1868), »Deutsche Pioniere« (Berl. 1870), »Das Skelett im Hause« (Leipz. 1878) und den Reiseskizzen: »Von Neapel bis Syrakus« (das. 1878) schuf S., unabhängiger von den momentanen Tagesereignissen oder sie nur in ihren großen, allgemein empfundenen Wirkungen auf das deutsche Leben darstellend, die Romane: »Hammer und Amboß« (Schwer. 1868, 5 Bde.), »Was die Schwalbe sang« (Leipz. 1872, 2 Bde.) und »Sturmflut« (das. 1876, 3 Bde.), ein Werk, worin der Dichter, besonders im ersten und letzten Teile, auf der vollen Höhe seiner Darstellungskunst steht, und worin er in glücklicher Symbolik das Elementarereignis der Ostseesturmflut mit der wirtschaftlichen Sturmflut 1873 im Zusammenhange erzählt; den Roman »Platt Land« (das. 1878, 3 Bde.), die seine, nur etwas allzusehr zugespitzte Novelle »Quisisana« (das. 1879) sowie die Romane: »Angela« (das. 1881, 2 Bde.), »Uhlenhans« (das. 1884, 2 Bde.), »An der Heilquelle« (das. 1885), »Was will das werden« (das. 1886, 3 Bde.), »Noblesse oblige« (das. 1888), »Ein neuer Pharao« (das. 1889), »Sonntagskind« (das. 1893, 3 Bde.), »Susi« (Stuttg. 1895), »Zum Zeitvertreib« (Leipz. 1897), »Faustulus« (das. 1898), »Opfer« (das. 1900), »Frei geboren« (das. 1900), »Stumme des Himmels« (1903). Eine Abnahme der dichterischen Kraft Spielhagens ist seit der »Sturmflut« nicht zu verkennen; seine Darstellungsweise geriet immer mehr in den Stil des in sich selbst eingesponnenen Reflektierens, statt des einfach konkreten Gestaltens. Auch kam S. über den Standpunkt des liberalen Achtundvierzigers und des Liberalen aus der Konfliktszeit nicht mehr recht hinaus, und der große Meister der Zeitschilderung verstand nicht mehr den »neuen Pharao«. Nur in den kleineren Werken: »Deutsche Pioniere« und »Noblesse oblige«, streifte S. vorübergehend das Gebiet des historischen Romans. Mit dem nach einer eignen Novelle (Berl. 1868) bearbeiteten und an mehreren Theatern erfolgreich aufgeführten Schauspiel »Hans und Grete« (das. 1876) wendete er sich auch der Bühne zu. Größern Erfolg hatte das Schauspiel »Liebe für Liebe« (Leipz. 1875), in dem die Kritik neben novellistischen Episoden einen wahrhaft dramatischen Kern anerkannte. Außerdem brachte er die Schauspiele: »Gerettet« (Leipz. 1884), »Die Philosophin« (das. 1887) und »In eiserner Zeit«, Trauerspiel (das. 1891). Von S. erschienen ferner: »Vermischte Schriften« (Berl. 1863–68, 2 Bde.), »Aus meinem Skizzenbuch« (Leipz. 1874), »Skizzen, Geschichten und Gedichte« (das. 1881), »Beiträge zur Theorie und Technik des Romans« (das. 1883), »Aus meiner Studienmappe« (Berl. 1891), »Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik« (Leipz. 1898), »Am Wege«, vermischte Schriften (das. 1903) und eine Sammlung seiner formschönen »Gedichte« (das. 1892) und »Neuen Gedichte« (das. 1899). Die letzte Ausgabe seiner »Sämtlichen Romane«, die alle zahlreiche Auflagen erlebten, erschien in 29 Bänden (Leipz. 1896 ff.). S. schrieb auch seine Selbstbiographie: »Finder und Erfinder, Erinnerungen aus meinem Leben« (Leipz. 1890, 2 Bde.), die aber wesentlich nur die innere und äußere Entstehungsgeschichte seiner »Problematischen Naturen« erzählt. Vgl. Karpeles, Friedrich S. (Leipz. 1889), und die Festschrift zu Spielhagens 70. Geburtstag: »Friedrich S.« (das. 1899).

Platt Land

Erstes Buch

Erstes Kapitel.

Der Wagen hielt, und Gerhard erwachte.

Er hatte in der dumpfen Schwüle des engen Gefährtes so fest geschlafen, und jetzt war die sonnige Stille um ihn nur wie ein hellerer Traum. Erst ein langer Blick durch das offene Fenster zur Rechten auf den Roggen, dessen hohe Halme sich nicht fortbewegten, und zur Linken auf die verkrüppelte Weide, die ebensowenig von der Stelle rückte, brachte ihn vollends zum Bewußtsein. Eilfertig griff er nach Hut und Stock und Tasche, die vor ihm auf dem Rücksitz lagen, öffnete den Schlag und sprang hinaus, nicht wenig verwundert, als er sich nach einer flüchtigen Umschau mitten zwischen den Feldern fand.

"Ich dachte, wir wären in Kantzow?"

"Sind wir auch", erwiderte der Postillion.

Der Mann hatte es auf hochdeutsch gesagt, so daß ihn Gerhard nicht mißverstanden haben konnte; und da, neben der Weide, war ja auch ein schmalerer Weg, der von der Landstraße in ziemlich gerader Richtung durch eine mächtige Weizenbreite auf ein paar kleinere Gehöfte zuführte, welche in ziemlich bedeutender Entfernung zerstreut am Rande des Waldes lagen.

"Das ist also Kantzow?" fragte er.

"I bewahre", sagte der Postillion, "das sind man die Büdners".

"Was sind Büdners?"

"Büdners sind – Büdners", sagte der Postillion.

"Freilich! aber ich soll diesen Weg gehen?"

"I bewahre!"

Der Postillion war unterdessen mit der Schweppe seiner Peitsche fertig geworden, die ihm, während er auf dem Bocke nicht minder fest schlief wie sein einziger Passagier im Wagen, unter das Rad gekommen war. Nun wies er mit dem Stiele über die Decke nach rückwärts; und Gerhard, sich um den Wagen herumbewegend, sah weit abseits von der Straße, in grüner Umgebung von Baum und Busch, die Gebäude und Dächer eines großen Hofes.

"Da werde ich wieder zurück müssen", sagte er.

"Man ein lüttes Ending", erwiderte der Postillion; "man bis zu der zweiten Weide, da geht der Weg ab; Sie können gar nicht fehlen".

"Warum haben Sie aber nicht dort gehalten?" rief Gerhard.

"Ja, das sagen Sie wohl!" erwiderte der Postillion.

Gerhard mußte über die unverwüstliche Ruhe des Burschen lachen und gab mit gutem Herzen sein reichliches Trinkgeld, das jener so gelassen in die Tasche steckte, als habe er's vollauf verdient.

Man muß sich eben an die Art dieser Menschen gewöhnen, sprach Gerhard bei sich, dem Wagen nachblickend, der sich bereits wieder in schläfriger Langsamkeit die Straße hinaufbewegte; – Büdners sind Büdners – sehr instruktiv! sagen wir: Außenbauern! – Nun, ich bin ja gekommen, um andere Menschen, eine andere Natur, eine andere Wirtschaftsweise kennenzulernen; ich denke, es soll mich nicht gereuen. Wie eigen dies ist! eigen und in seiner Weise auch schön! Hier in der Heimat der Platt redenden Menschen ist man wirklich auf dem platten Lande!

Durch die Seele des jungen Mannes zog das Bild seiner bergigen, wälderreichen thüringischen Heimat; aber nur in dämmernden Umrissen und weichen Farben, die zu verzittern schienen vor dem machtvollen Licht, welches die tiefstehende Sonne, der er jetzt den Rücken wandte, über die Kornfelder strahlte. Unermeßlich, wie das Meer, breiteten sie sich vor ihm nach Osten, in der Richtung der Straße, die er gekommen war; wie Inseln erschienen die weit verstreuten Höfe, die hier und dort aus der gelben Fläche auftauchten; und die dunkleren Linien bedeutender Forste, die von Norden und Süden bald näher herantraten, bald in die Ferne zurückwichen, wirkten nur wie Streifen in gleichmäßiger Höhe an der See hinstreichender Ufer. In der ungeheuren Runde war, außer ein paar Kälbern und Füllen, die Gerhards scharfes Auge in einer entfernten Koppel entdeckte, kein lebendes Geschöpf zu erblicken , unsichtbar trillerten, hoch oben in dem strahlenden Äther verloren, die Lerchen; unsichtbar zirpten die Grillen an den beiden Wegseiten in dem mannshohen Korn. Von Zeit zu Zeit nickten ein paar Halme hinüber und herüber in einem Lufthauch, den die heiße Wange des Wanderers nicht spürte; dann wieder stand alles unbeweglich, wie im Zauberschlaf, eingesponnen von der roten Abendglut, die mit jedem Moment ihr zitterndes Netz dichter über die Landschaft wob.

Gerhard war stehengeblieben und hatte eine und die andere Ähre gepflückt, die Körner prüfend. Der Weizen war prachtvoll; aber der Roggen ließ zu wünschen, wenigstens entsprach die Frucht weder in Gewicht noch Größe den mächtigen Halmen; Gerhard meinte, daß auf solchem Boden bei sorgfältigerer Kultur eine reichere Ernte erzielt werden müßte. Der Weizen mochte noch ein paar Wochen stehen, aber der Roggen war reif, zum Teil überreif; Gerhard wunderte sich, daß man ihn noch nicht geschnitten, und wie man es anfangen werde, in der nur noch gegebenen kurzen Frist diese ungeheuren Massen zu bewältigen. Auch hatte er unterwegs, obwohl es Sonntag war, an mehreren Stellen lange Reihen von Mähern und Binderinnen bemerkt; er hätte im Interesse seines künftigen Prinzipals gewünscht, auch in diesem Eden eine solche hochnötige Tätigkeit entfaltet zu sehen auf Kosten selbst der Sabbatruhe, die freilich wunderbar zu diesem Landschaftsbilde stimmte.

Über seinen Untersuchungen hatte er ein Gefährt nicht beachtet, das auf der Landstraße ihm entgegengekommen war und jetzt, wenige hundert Schritte von ihm, an der von dem Postillion bezeichneten Weide in den zum Gutshofe fahrenden Weg einlenkte. Soweit er über den Roggen, der sich dazwischenschob, sehen konnte, war es derselbe offene zweisitzige Jagdwagen mit denselben großen Braunen, der vor dem Gasthofe der letzten Station dicht neben der Post gehalten hatte. Es fiel ihm etwas schwer auf die Seele, ob dies vielleicht ein Wagen sei, den Herr Zempin ihm entgegengeschickt; aber er hatte durchaus nicht auf eine derartige Aufmerksamkeit gerechnet, und jedenfalls fühlte er sich außer Schuld, wenn er von ihr keinen Gebrauch gemacht. War er doch, bevor er in den Postwagen stieg, sogar an das Gefährt herangetreten und hatte dem blauberockten Kutscher ein Kompliment über die Schönheit der prächtigen Tiere gemacht. Der Mann hatte ihn mit offenem Munde, ohne ein Wort zu erwidern, angestarrt, wie Gerhard vermutete, weil er sein thüringisches Hochdeutsch nicht verstand; aber je offenkundiger er dem Manne ein Fremder erschien, um so sicherer würde er sich doch seines Auftrages entledigt haben, hätte er einen solchen gehabt.

Der Wagen fuhr immer in derselben Entfernung vor ihm her auf den Hof zu und verschwand jetzt hinter ein paar Gebäuden an einer Stelle, wo auch Gerhard einige Minuten später anlangte, um zwischen zwei, die niedrige, mit Schlingkraut und Disteln überwucherte Umfassungsmauer kaum überragenden Steinpfeilern den Hof zu betreten.

Während der junge Mann auf dem schlecht gehaltenen, mit zertretenem Stroh und vertrocknetem Dünger stellenweis reichlich bestreuten Damm langsam dahinschritt, schweiften seine verständnisvollen, wißbegierigen Blicke überall umher. Zu den Kornbreiten, die er eben erst durchwandert, gehörte solch breiter und weiter Hof. Der Hof von Vacha dort oben in den lieben Heimatbergen hätte hier zehnmal reichlichen Platz gefunden, und die sämtlichen Wirtschaftsgebäude desselben waren zusammen kaum so groß, wie die eine Scheune da zur Linken unter ihrem ungeheueren, gleich einer braunen, moosübersponnenen Bergeshalde anfragenden Strohdach. Nur daß bei ihm zu Hause die Regierung längst keine Strohdächer mehr duldete, die freilich hier bei den großen Entfernungen der einzelnen Gebäude voneinander weniger gefährlich sein mochten. Gerhard wunderte sich auch nicht länger, daß die Einfahrt in den Hof durch kein Tor verschlossen gewesen war: Tor und Umfassungsmauern wären bei diesen Dimensionen unzweckmäßig gewesen und hätten den Charakter der alten Behaglichkeit und des ungetrübten Friedens, den alles atmete, unschön gestört.

Behaglichkeit und Frieden! Wie behaglich standen und lagen und putzten sich die stattlichen Enten, die sich hier in dem Schatten eines hohen Reisighaufens zusammendrängten, an dem Rande eines kleinen grünen Tümpels, der irgendwie mit dem Düngerhofe in Verbindung zu stehen und in einem ausgemauerten, halb verschütteten, überwachsenen Graben irgendwo seinen Ausfluß zu haben schien! Wie behaglich kratzten und scharrten die zahllosen Hühner auf den trockenen Höhen und nassen Tiefen des eingekoppelten großen Düngerhofes vor dem mächtigen Viehhause, durch dessen weit geöffnete Türen eben nur noch die Ansätze der Futtergänge sichtbar wurden, während das Innere im Dunkel verdämmerte! Wie friedlich klang das Zirpen der Schwalben, die einzeln und in Scharen durch die blaue Luft hinüber und herüber schossen! das Girren und Gurten der Tauben, die überall die Strohdächer bevölkerten und sich jetzt in ein paar gewaltigen Schwärmen erhoben, aufgescheucht vielleicht durch einen nur ihren scharfen Augen sichtbaren Punkt hoch oben in dem glanzerfüllten Äther!

Enten, Hühner und Tauben und ein prächtiger Pfau, der nickend vor ihm hertrabte, und ein Storch, welcher sich eben auf den First einer Scheune niederließ und, den langen Schnabel in die Höhe reckend, zu klappern begann, waren denn auch die einzigen lebenden Wesen, die sich blicken ließen. Sonst lag der gewaltige Hof in seiner sonnigen Stille da, als wäre er unbewohnt. Selbst der Jagdwagen war verschwunden, den Gerhard, als er den Hof betrat, noch in einer entfernten Ecke hatte anhalten sehen; kein Mensch ließ sich blicken, den er hätte ansprechen können.

Freilich, den Weg zum Herrenhause zu finden, bedurfte er keines Führers. Es ragte mit seinem steilen, hier und da etwas schadhaften, von Giebelfenstern durchbrochenen Ziegeldache und mit einem Teile seines oberen Stockwerkes stattlich genug über einem Boskett von Bäumen und Büschen, wodurch es in seiner ganzen Länge von dem Wirtschaftshofe geschieden wurde. Rechts und links um das Boskett schwangen sich breitere, kiesbestreute, von frischen Räderspuren durchfurchte Wege, ein wenig aufsteigend zu einer Art von Rampe vor der Front des Hauses, das jetzt sichtbar wurde. In demselben Augenblicke aber erhob sich ein zottiger Neufundländer in der Nähe der Haustür von einer zerrissenen Bastmatte und schlug mit dumpfem, warnendem Bellen an, worauf denn sofort, wie aus der Erde gewachsen, eine ganze Meute von Hühnerhunden, Teckeln, Bracken und Windspielen laut wurde und sich dem Fremdling entgegenstürzte, der ruhig stehenblieb, wartend, bis die erste Aufregung der Tiere sich gelegt haben würde. Das dauerte denn auch nicht lange. Die lärmende Gesellschaft mochte finden, daß dieser hier nicht als Feind sich nahte; und als der Neufundländer, der es gar nicht so bös gemeint hatte, um Entschuldigung bittend seine Schnauze in die Hand des Fremden schob und sich schier behaglich den krausen Pelz streicheln ließ, war das gute Einvernehmen allerseits hergestellt: Gerhard sah zu seiner Genugtuung nur noch beschämt gesenkte Ohren, treuherzig blickende Augen und gastfreundlich wedelnde Schweife, während er, inmitten seiner neuen Freunde, nach der weit offenen Haustür schritt, auf dessen Schwelle der Neufundländer, der vorangetrabt war, sich wieder umwendend den Fremden aufzufordern schien, ohne Bedenken einzutreten.

Aber Gerhard zögerte. Er hatte sich keineswegs eingebildet, daß die Ankunft eines einfachen Volontärs in Herrn Zempins Hause und Familie als ein Ereignis angesehen würde; aber hier auf der Schwelle wäre er doch gern von einer freundlichen Menschenstimme begrüßt worden; und die sonderbare Stille, die sich von dem sonnigen Hofe in das schattige Haus fortpflanzte, fiel ihm schier beängstigend auf das Herz. Von dem nicht eben hohen, aber weiten, an den Wänden hier und da mit vergilbten, braun eingerahmten Jagdbildern dekorierten und mit wenigen eisernen Gartenmöbeln ausgestatteten Flur führte ein halbes Dutzend Türen nach rechts und links und nach hinten in das Innere des Hauses. Eine und die andere war nur angelehnt, ein paar standen offen; Gerhard mußte fürchten, einen indiskreten Blick in eines der Gemächer zu werfen, die allerdings wohl in diesem Moment von ihren Bewohnern verlassen waren. Das Bellen der Hunde war sicherlich laut genug gewesen, die Aufmerksamkeit jemandes zu erregen, der sich in der Nähe befand.

So stand er denn nach ein paar zögernden Schritten ratlos und erschrak fast, als er, sich auf ein unbestimmtes Geräusch, das er hinter sich vernommen, umwendend, anstatt des Neufundländers einen Menschen erblickte.

Es war ein alter Mann, dessen wohlgenährter Leib in einen langen blauen, fadenscheinigen Überrock mit altertümlich hohem Kragen geknöpft war, aus dem der große, platte, mit schlichtem, bereits ergrautem Haar spärlich bedeckte Kopf nur zur Hälfte hervorragte. Das dicke Gesicht mit den verschwommenen Zügen war vor acht oder vierzehn Tagen vielleicht rasiert gewesen, jetzt hatte es einen Überzug wie von Mehl, und aus dem dicken, verschwommenen, mehligen Gesicht blinzelten unter dicken Lidern ein Paar verschwommener grauer Augen.

Gerhard hatte in seiner ersten Überraschung vollauf Zeit, diese Beobachtungen zu machen, denn der alte Mann, den er kaum hatte eintreten hören, blieb unbeweglich, als hätte er bereits minutenlang dagestanden und ebensolange den Fremden, der ihn, der Himmel weiß warum, nicht gesehen, mit dem unbestimmten Lächeln auf dem unbestimmten Gesicht bewillkommnet.

"Ich habe die Ehre?" sagte Gerhard, sich höflich verbeugend.

"Vadder Deep", sagte der alte Mann.

Die Stimme war dick und mehlig und unbestimmt, gerade wie das unaufhörlich lächelnde Gesicht; Gerhard nahm an, daß der alte Mann seinen Namen genannt, obgleich er in die größte Verlegenheit gekommen wäre, wenn er ihn hätte wiederholen sollen.

"Mein Name ist Gerhard von Vacha", sagte er, "ich habe wohl das Vergnügen, ein Mitglied der Familie –"

Er machte eine kleine Pause, der Bestätigung oder Ablehnung seiner Vermutung harrend, sah sich aber in dieser Hoffnung getäuscht: das Lächeln auf dem mehligen Gesicht war so unbestimmt wie vorher.

,"Oder doch Genossen dieses Hauses vor mir zu sehen", fuhr er auf gut Glück fort; "– und so sind Sie wohl von meiner Persönlichkeit hinreichend unterrichtet, und daß mein Kommen auf heute festgesetzt. Wenigstens war es so zwischen mir und meinem Freund Stude verabredet, der im Namen des Herrn Zempin die Korrespondenz mit mir geführt hat."

Wieder machte Gerhard eine erwartungsvolle Pause – der alte Mann lächelte. Gerhard wurde die Situation ein wenig unheimlich. Hatte er es mit einem Blödsinnigen zu tun? wer war dieser sonderbare alte Herr? oder gehörte er gar nicht zur Herrschaft? war es ein alter, stumpf gewordener Diener, den man das Gnadenbrot im Hause gab? Die Kleidung war freilich so wenig herrschaftlich als dienerlich; aber Gerhard neigte doch mehr zu der letzteren Vermutung, als der Mann ihm jetzt, trotz seines Sträubens, die kleine Reisetasche abnahm, welche er noch immer in der Hand hielt, und, ohne ein Wort zu sprechen, sich nach dem Hintergrunde des Hausflurs bewegte, dort den Flügel einer großen Tür öffnete und ihn mit einem kaum veränderten Lächeln aufforderte, die Treppe, die jetzt sichtbar wurde, hinaufzusteigen.

Gerhard folgte, heimlich seinen Jugendfreund verwünschend, der in seinen Schilderungen der Situation auf Kantzow und der Aufzählung und Beschreibung der Glieder der Familie Zempin augenscheinlich wieder mit gewohnter Flüchtigkeit zu Werke gegangen war, und der vor allem die kleine Aufmerksamkeit hätte haben können, den Freund, wenn nicht bereits auf der letzten Station, so doch wenigstens bei dem Eintritt in das Haus zu bewillkommnen und ihm so die Verlegenheit zu ersparen, in der er sich jetzt befand.

"Ich nehme an, Freund Stude hat mit der Familie einen Ausflug gemacht", sagte er, als er mit dem schweigsamen Alten über den oberen Flur schritt, welcher, ebenso weit, aber höher, luftiger als der untere und ähnlich wie er mit Jagdbildern ausstaffiert, seine Fenster nach dem Gutshof hatte.

Der Alte wandte das mehlige Gesicht halb um und lächelte.

Der Mensch ist positiv blödsinnig, dachte Gerhard,

Immer voranschreitend mit einem schlurfenden, unsicheren Gang, der genau mit seiner ganzen übrigen Erscheinung harmonierte, führte ihn der alte Mann nun in ein Zimmer, nach dessen Bestimmung Gerhard nicht zu fragen brauchte. Seine vorausgesandten Koffer und sonstigen Sachen standen sorgfältig neben- und aufeinander gestellt an der einen Wand; an der anderen, der Tür gegenüber, das mit einer weißen, von der Decke herabhängenden Gardine verkleidete Bett – reinlich und schicklich, wenn auch nicht eben glänzend, geradeso wie die übrige Ausstattung an Schränken, Stühlen und Tischen – alles in allem ein Zimmer, von dem Gerhard wohnlich angemutet wurde, und das jetzt, als der alte Mann die grauen Rouleau in die Höhe zog und der Abendschein durch die vergilbten, mit wildem Wein fast übersponnenen Scheiben der beiden Fenster rötlich hereinfiel, noch ein ganz besonderes, trauliches, ja poetisches Ansehen bekam. Gerhard mochte sich nicht enthalten, dieser seiner Empfindung Ausdruck zu geben und dem Alten, der eine stumme, aber genaue Inspektion des Bettes, des Nachttisches und der übrigen Einrichtung beendet hatte, in freundlichen Worten für seine Sorgsamkeit zu danken. Er wollte eben noch einen letzten Versuch machen, herauszubringen, wann er sich Hoffnung machen dürfe, Herrn Zempin und seine Familie begrüßen zu können, als der Alte, seiner Frage, wie es schien, zuvorkommend, etwas Unbestimmtes murmelte, wovon Gerhard nur die Worte: nachsehen – Damen – Garten – wenigstens mit einiger Deutlichkeit verstand, und dann mit genau demselben unbestimmten Lächeln in den unbestimmten Zügen zum Zimmer hinausschlurfte.

Das ist ein wunderlicher alter Kauz, dachte Gerhard; – nicht sehr einnehmend und ein wenig stark vermausert, aber doch nach dem Rechten sehend mit seinen blinzelnden Augen, und was seine Schweigsamkeit betrifft, das ist hier wohl des Landes so der Brauch: mich soll nur wundern, ob mein redseliger Freund auch verstummt ist unter diesen Stummen – was ist denn das?

Aus dem Garten, in dessen grüne Räume er beim Eintreten in das Zimmer einen flüchtigen Blick geworfen, klang es herauf wie Mädchenlachen und eilfertige Rufe junger männlicher Kehlen – erst aus der Ferne und jetzt näher und vielfältiger und so deutlich, daß es keine Täuschung gewesen sein konnte; ja, der Lauscher oben glaubte einzelne Worte zu unterscheiden: "hier! – nein! – ja! – wo ist nun wieder Fräulein Maggie? – Maggie! Maggie!"

"Gott sei Dank!" murmelte Gerhard.

Der Zauber war gebrochen und in der erfreulichsten Weise. Es gab in dieser stillen, sonnigen Öde wirklich Menschen, die lachen und schwatzen konnten, unter anderen ein Fräulein, das Maggie hieß, und das man sehr oft rufen mußte, bevor es kam. Gehörte sie zur Familie? gehörte sie zur Gesellschaft? denn eine Gesellschaft war es doch wohl, die da unten ihr lustiges Wesen trieb!

Gerhard konnte sich nicht sogleich von dem Stande der Dinge überzeugen: als die ersten Töne an sein Ohr schlugen, hatte er mit dem Kopf in der Waschschüssel gesteckt. Endlich war er so weit, daß er in die Nähe des Fensters treten und seine Neugier befriedigen durfte, ohne daß er hätte fürchten müssen, selbst gesehen zu werden. Wenn er auch vorhin das Fenster geöffnet, so gewährte das darüberweg hangende Ranken- und Blättergewirr hinreichenden Schutz, machte es aber freilich dem Beobachter unmöglich, mehr als flüchtige Einzelheiten wahrzunehmen: helle Damenkleider, die sich hin und her bewegten auf einem großen Rasenplatze, welcher bis an das Haus reichen mochte und hinten durch Buschwerk begrenzt wurde – zwischendurch eine und die andere eilfertige männliche Gestalt, ebenfalls in lichten Zeugen – ein bunter Reif, der emporgeschleudert wurde – wohl nur versuchsweise, denn die ganze Schar lief gleichzeitig nach dem herabfallenden, und eine männliche Stimme erklärte wiederholt, daß "man ohne Fräulein Maggie nicht anfangen dürfe".

Dann links, seitwärts von dem Rasenplatze, auf einem kiesüberstreuten Wege, durch eine Lücke in den Blättern, wie in einem festen Rahmen sah Gerhard einen Kinderwagen, den eine Magd schob und an den jetzt eine Dame herantrat, um sich mit dem Kinde, während der Wagen stand, zu schaffen zu machen. Gerhard blickte nach dieser Gruppe mit besonderer Aufmerksamkeit. Er wußte, daß Herr Zempin seit nicht allzulanger Zeit zum zweitenmal verheiratet war; die Sorgfalt, mit der die Dame die Kissen ordnete und sich dann, den unsichtbaren Schatz, der sehr vernehmlich schrie, beruhigend und liebkosend, noch tiefer beugte, ließ unschwer die junge Mutter und die Dame vom Hause erkennen.

Leider wandte sie dem Beobachter den Rücken, und so konnte er nur mit Sicherheit feststellen, daß Frau Zempin groß und schlank war, ihr in dem Abendschein glänzendes dunkles Haar in Flechten zusammengesteckt trug, und ihr Kopf auf einem Halse ruhte, welcher, vielleicht nur infolge der Beleuchtung und des Gegensatzes zu der dunkeln Kleidung und dem dunkelglänzenden Haar, seltsam weiß und zart erschien, als sie jetzt neben dem Wägelchen, das sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, langsam dahinschreitend zwischen den Büschen verschwand.

Gerhard hatte bereits vorhin auf alle Fälle einen Anzug, wie er für eine ländliche Gesellschaft passen mochte, aus dem Koffer genommen. Er beeilte sich jetzt, mit seiner Toilette fertig zu werden und knüpfte eben noch vor dem kleinen Spiegel – in Hemdsärmeln – an seiner Krawatte, als ein zugleich rascher und schwerer Schritt über den Vorflur kam. Es blieb ihm noch gerade Zeit, in seinen Rock zu schlüpfen, da wurde auch schon mit einem kurzen Klopfen, das wie Hammerschlag dröhnte, an die Türe gepocht.

So konnte nur der Herr des Hauses pochen.

Zweites Kapitel.

"Gut Heil in Kantzow!"

Die Stimme des Herrn Zempin war breit und mächtig wie seine Gestalt, die im Hereintreten fast den Rahmen der Tür ausgefüllt hatte; und Gerhard fühlte seine Hand in der ihm dargereichten verschwinden, während er, der sich doch seiner guten Mittelgröße bewußt war, verwundert zu dem Riesen ausschaute.

"Gut Heil! und mögen Sie recht lange bei mir bleiben!" fuhr die Donnerstimme fort – "ich wollte, ich dürfte sagen: für immer! Sie werden diesen egoistischen Wunsch begreiflich finden, bevor Sie noch acht Tage in Kantzow älter geworden sind."

Herr Zempin hatte Gerhards Hand, die er schier zerdrückt, losgelassen und sich mitten im Zimmer auf einen Stuhl gesetzt; der Stuhl krachte, als wollte er unter der Last zusammenbrechen. Herr Zempin achtete dessen so wenig wie des Umstandes, daß der Stuhl noch mit Gerhards Kleidungsstücken bedeckt gewesen war, die nun zum Teil herunterfielen. Seine eigene Kleidung stand allerdings mit der Unordnung, die er angerichtet, nicht im Widerspruch: eine Art von weiter, einst grau-grün gewesener, jetzt ins Gelbliche verschossener Joppe, deren braune Hornknöpfe zum Teil abgesprungen waren – ein frisches, aber zerknittertes und mit Rotweinflecken arg betupftes Hemd, das sich, von keiner Weste eingeschränkt, aus den trägerlosen Beinkleidern von gelbem Nanking ungebührlich hoch aufbauschte, die obere Brust und den herkulischen Hals zwischen dem weit zurückgeschlagenen Kragen nackt lassend. Die großen Füße, an denen die blauzwirnenen Strümpfe ungebührlich tief hinabglitten, staken in gestickten, sehr abgetragenen und sehr ausgetretenen Morgenschuhen. Um den mächtigen Kopf starrte das dunkelblonde, krause Haar nach allen Seiten wie eine Mähne, und der buschige Bart, der, um den ausdrucksvollen Mund rasiert, an den vollen Wangen herab unter dem massiven Kinn zusammenlief, machte die Ähnlichkeit vollkommen.

"Ein Löwe von einem Menschen!" sprach Gerhard bei sich, seinerseits einen Stuhl herbeitragend und Herrn Zempin gegenüber Platz nehmend.

"Ich danke Ihnen von Herzen für einen so herzlichen Empfang", sagte er; "und wenn redlicher Wille und Fleiß Ihnen genügen, so weiß ich, daß Sie Ihr großmütiges Vertrauen an keinen Unwürdigen verschwendet haben."

Der Riese schüttelte das buschige Haupt.

"Was reden Sie von Großmut!" rief er; "ich sage Ihnen: Ihr Kommen ist für mich ein Fest. Sie wissen nicht, Sie können nicht wissen, was es heißt: jahraus jahrein unter Menschen zu leben, denen man – nicht ein Barbar erscheint – zu einer so klassischen Anschauung schwingen sie sich nicht auf – aber ein Sonderling und halb verrückt, nur weil sie uns nicht verstehen, nur weil sie keine Ahnung haben, was in Kopf und Herz von unsereinem vorgeht."

Da Gerhard selbst keineswegs sicher war, Herrn Zempins Gedanken und Empfindungen in diesem Moment richtig zu verstehen, so begnügte er sich damit, ihn mit achtungsvoller Aufmerksamkeit weiter anzublicken, wobei er denn die Bemerkung machte, daß die lebhaften, dunkelblauen Augen des Mannes durch tiefe Säcke einigermaßen entstellt wurden. Übrigens blieb ihm auch kaum die Zeit für eine Antwort, und Herr Zempin schien keine erwartet zu haben, sondern fuhr mit erhöhtem Eifer fort:

"Ich sage von unsereinem, denn wenn Sie auch so viel jünger sind, als ich, und noch ein Knabe waren, als das große Ereignis eintrat, von dem unsere Ära datiert, so haben Sie doch mit den Vorzügen Ihrer Abstammung von einem alten Kulturvolk, Ihrer adeligen Geburt, Ihrer Schul- und Universitätsbildung immerdar in dem Lichte der Sonne gelebt, die, nachdem sie einmal aufgeglüht, nie wieder untergehen kann: im Lichte der Julisonne!"

Herr Zempin deutete mit weit ausgestrecktem Arm nach dem Fenster, durch dessen Laubgitter die eben untergehende Julisonne rote Strahlen in das Zimmer sandte, Gerhard gerade in die Augen. Er war im Begriff gewesen, ein wenig seitwärts zu rücken, blieb nun aber ruhig sitzen im Gefühl des Komisch-Unschicklichen, das eine derartige Bewegung in diesem Moment gehabt haben würde.

Herr Zempin indessen hatte an nichts weniger, als an die wirkliche Sonne draußen gedacht und mit der energischen Geste nur seine Rede begleitet. Denn jetzt streckte er, wie vorhin den rechten, so den linken Arm aus und rief:

"Der heiligen Sonne des Juli vom Jahre dreißig! Mir hat sie geschienen! vierzehn Jahre sind's nun, und doch ist mir, als wär's gestern gewesen, denn ich habe sie flammen sehen auf den Zinnen des Louvre, des Palais royal mit diesen meinen Augen! und mit diesen meinen Händen habe ich die Barrikaden, wenn nicht bauen – leider! leider! ich war ein paar Tage zu spät von Heidelberg gekommen! – so doch abtragen helfen, damit ein freies Volk zu seinen Tempeln wallen könne, Gott zu danken für den glorreichen Sieg. Denn ich glaube an einen Gott, Herr von Vacha! Wer solcher Tage gewürdigt – Tage, in denen der Baal der Tyrannei von seinem Piedestal der Lüge und Heuchelei gestürzt wird, wie ein tönern Gebild des Aberglaubens und der Pfafferei, der er ist – muß an einen Gott der Freiheit und Gerechtigkeit glauben! muß, Herr von Vacha, muß!"

"Ich glaube an ihn", sagte Gerhard.

"Das ist es ja, warum ich ›wir‹ und ›uns‹ sage", rief Herr Zempin; "und warum ich überzeugt bin, daß wir uns verstehen werden – was sage ich: verstehen bereits jetzt, nachdem wir kaum zehn Worte miteinander gewechselt. Denn das ist die wahre Freimaurerei der Bildung, die wahre Demagogie, die keiner äußeren Zeichen bedarf, aber doch vom Eingeweihten zum Eingeweihten in Zeichen spricht, nach welchen das Luchsauge eines Metternich vergeblich spürt. Mögen sie unser herrliches Hambacher Fest beschnödeln und verfluchen; mögen sie das Hambacher Schloß zehnmal in eine Marburg umtaufen, ich sage: Hambach ist überall, wo auch nur zwei vereinigt sind im Namen der wahren Dreieinigkeit und Dreiherrlichkeit: im Namen der Freiheit, der Gleichheit und Brüderlichkeit!"

Die gewaltige Stimme des riesenhaften Mannes bebte, die Säcke unter den Augen traten noch stärker hervor, die Augen selbst schimmerten in feuchtem Glanz. Gerhard konnte und mochte seine Bewegung nicht verhehlen. Es war ja eine wunderliche Situation, in die er so ohne alle Vorbereitung geraten: in diesem Hause, das er vor einer Viertelstunde betreten, in diesem Zimmer, in dem er sich kaum noch umgeblickt, gegenüber dem Herrn des Hauses, den er, der ihn zum erstenmal sah, und der doch mit ihm, dem so viel Jüngeren, dem Untergebenen, sprach wie mit einem vertrautesten Freunde und Gleichberechtigten – sie beide hier sitzend – wie auf der Bühne, dachte Gerhard – während vom Garten die Rufe und das Lachen der Spielenden durch das offene Fenster hell in die sonnige Stille des Zimmers hereinschallte; – Gerhard empfand dies alles vollkommen deutlich, und doch war die Wärme, mit der er jetzt Herrn Zempin die Hand reichte, keine erheuchelte, und es kam ihm vom Herzen, als er mit ebenfalls bebender Stimme Herrn Zempin nochmals seines Dankes versicherte, und daß er es als einen Hochgewinn seines Lebens im voraus begrüße, sich die Freundschaft eines Mannes zu erringen, zu dem er gekommen sei wie der lehrbedürftige und lerneifrige Schüler zu dem anerkannten, verehrten Meister.

Herr Zempin schüttelte das Löwenhaupt; aber das Lächeln, das seine vollen Lippen umspielte, hatte durchaus nichts Abweisendes.

"Ja, ja", rief er; "ich darf wohl – sans me vanter – behaupten, daß ich mich meiner Künste nicht zu schämen brauche; daß ich ein bißchen mehr von der Sache verstehe wie Krethi und Plethi. Aber ›das Beste, was du wissen kannst‹... nun Ihnen, – Ihnen darf ich es nicht nur – Ihnen werde ich es sagen; und ich hoffe zuversichtlich zu unser beider Gewinn, denn: docendo discimus! In den Augen der anderen freilich, da bin ich, was Sie ebenfalls sein werden, und ich glaube Sie darauf vorbereiten zu müssen, da bin, da bleibe ich ein Studierter, das heißt: ein unpraktischer Mensch, der trotz seiner Bücherweisheit, oder vielmehr gerade dieser wegen, nicht den Hund vom Ofen locken, geschweige denn ein Roggenfeld rationell bestellen kann. ›Rationell‹ – sprechen Sie das Wort nicht aus, lieber Herr von Vacha, in Gegenwart eines unserer Nachbarn! oder Sie bringen sich von vornherein um das bißchen Kredit, das man Ihnen – als einem lateinischen Landmann – allenfalls gönnen möchte! ›Rationell‹ wirtschaften nur Faselanten und Charlatans; was ein ordentlicher, in der Wolle gefärbter pommerscher Landmann ist, der treibt's, wie's sein Vater und vordem sein Großvater trieb; und freilich, ›wie man's treibt, so geht's!‹ Und fragen Sie mich: wie es geht? so muß ich leider sagen: bergunter geht's. Bergunter mit unserem vielgepriesenen pommerschen Wohlstand! bergunter, wie die Lawine, die, wenn sie einmal ins Gleiten gekommen, keine Macht der Erde aufzuhalten vermag in ihrem verderblichen Gang talwärts, wo sie dann zwischen öden Felsen jämmerlich zerschellt."

Herr Zempin fuhr sich mit der Hand über die Stirn in das buschige Haar und starrte vor sich nieder, hob dann aber gleich wieder die Augen und sagte:

"Doch dies sind trübe und betrübende Dinge, von denen Sie noch mehr erfahren werden, als Ihnen lieb sein wird, und mit denen ich Sie in der ersten Stunde unseres Beisammenseins billig verschonen sollte. Und der Lärm, den das junge Volk da unten treibt, erinnert mich, daß ich Sie hier freventlich für mich allein in Anspruch nehme, während die Gesellschaft die gerechtesten Ansprüche an Sie hat, wie Sie an die Gesellschaft."

Herr Zempin hatte die letzten Worte mit einem Lächeln und einer Bewegung des mächtigen Hauptes und einer Handbewegung nach dem Fenster hin begleitet, indem er sich gleichzeitig erhob. In seinem Mienenspiel, in seinen Gesten, in der Haltung war ein ritterlicher Anstand, mit dem der grotesk saloppe Anzug auf das sonderbarste kontrastierte. Und als Gerhard, der sich ebenfalls erhoben, nun wie vorhin zu ihm ausschaute, sah er, was ihm in der ersten Überraschung entgangen, daß – eine etwas allzugroße Fülle vielleicht abgerechnet – der Riese mit seinen etwa vierzig Jahren noch immer als ein auffallend schöner Mann gelten mußte, der in seiner Jugendblüte gewiß bezaubernd gewesen war.

Mich soll nur wundern, ob er dich in diesem Aufzug zur Gesellschaft begleiten wird, dachte Gerhard, während sie jetzt die Treppe hinabschritten, wobei jede Stufe unter den Pantoffeln des Riesen erkrachte; und er fühlte sich ordentlich erleichtert, als Herr Zempin, nachdem sie auf den unteren Flur gelangt, stehenblieb und ernsthaft sagte: ›Ich muß Sie für ein paar Minuten um Entschuldigung bitten, bis ich ein wenig Toilette gemacht. Die Wahrheit zu gestehen: man hatte mich aus meinem Nachmittagsschlaf geweckt, und in der Freude, Sie begrüßen zu dürfen – nun, unter Hausgenossen nimmt man das nicht so genau – Stude soll Sie in den Garten geleiten; ich komme sofort nach; wo steckt denn eigentlich der Stude? Es ist mir sehr lieb, daß unsere erste Entrevue unter vier Augen war – es spricht sich da immer besser und freier; aber es wäre seine Pflicht gewesen, mich zu Ihnen zu geleiten. Wo haben Sie ihn verlassen?"

"Ich habe ihn noch nicht gesehen", erwiderte Gerhard.

"Noch nicht gesehen? wie ist das möglich? noch gar nicht gesehen?"

"In Wahrheit, nein."

"Aber wie ist das möglich? er hat Sie doch von Radebas abgeholt?"

Gerhard hatte sich bereits im stillen gewundert, daß der Freund, der doch mittlerweile wohl von seiner Ankunft unterrichtet war, noch immer nicht zum Vorschein gekommen. Der Zusammenhang wurde ihm mit einem Schlage klar: Herr Zempin hatte ihm Stude bis Radebas – der letzten Station – entgegengeschickt; der Wagen, der dort vor dem Gasthofe neben dem Posthause gehalten und hernach vor ihm her auf den Hof gefahren, war Herrn Zempins Wagen gewesen; Stude hatte das Zusammentreffen mit ihm verfehlt, oder – was bei der ihm bekannten Leichtlebigkeit des Freundes nicht zu den Unmöglichkeiten gehörte – den ihm gewordenen Auftrag gar nicht ausgeführt.

Während Gerhard, was ihm so blitzschnell durch den Kopf ging, in einen möglichst unbefangenen Ausdruck brachte, stand Herr Zempin da, mit dem etwas gesenkten buschigen Haupt und den niederwärts blickenden funkelnden Augen einem Löwen ähnlicher als je zuvor; und eine Löwenstimme war es, die jetzt in tiefen, wie Donner rollenden, das stille Haus vom Giebel bis zum Grunde erfüllenden Tönen rief: "Vadder Deep! Vadder Deep!"

Als wäre er aus den gescheuerten, mit weißem, zertretenem Sand bestreuten Dielen herausgewachsen, trat jener alte Mann, der Gerhard vorhin empfangen, von hintenher zu ihnen heran und blickte, den großen Kopf etwas seitwärts auf den hohen, abgeschabten Kragen senkend, mit seinem unbestimmten Lächeln zu dem Zornigen auf. Der aber schrie auf ihn ein:

"Habe ich dir nicht gesagt und noch ganz besonders auf die Seele gebunden, daß du den Stude zur rechten Zeit mit dem Wagen wegschicken solltest? Nun scheint der Stude gar nicht einmal mitgefahren zu sein, und der Esel von Jochen hat sich nicht in Radebas gemeldet, trotzdem Herr von Vacha hier ihn noch speziell angeredet, und ist leer zurückgekommen, während Herr von Vacha mit der Post bis hierher sich hat rumpeln lassen müssen. Da sollte man doch gleich des Teufels werden!"

Der alte Mann murmelte mit seiner mehligen Stimme etwas auf plattdeutsch, wovon Gerhard nur so viel zu verstehen glaubte, daß Stude im Moment der Abfahrt nicht zu finden gewesen sei und der Wagen, wenn der Anschluß an die Post erreicht werden sollte, nicht länger habe warten können.

"So hättest du den Jochen wenigstens gehörig instruieren müssen", schrie Herr Zempin; "du weißt doch, daß man mit dem Kerl die Wände einrennen kann. Aber die Sache ist, es ist auf dich ebensowenig Verlaß wie auf die anderen, und man darf sich nicht eine Viertelstunde hinlegen, ohne daß alles quer geht."

Gerhard, dem diese Szene um so peinlicher war, als es sich dabei um ihn handelte, nahm alle Schuld auf sich. Warum habe er den Kutscher nicht direkt gefragt! er hätte sich doch denken können, daß Herrn Zempins Gastfreundschaft nicht erst auf der Schwelle seines Hauses beginne!

"Natürlich weiß, oder wenigstens wünscht ein Mann wie Sie dergleichen Ungehörigkeiten zu entschuldigen", rief Herr Zempin; "aber ungehörig bleibt ungehörig, und wenn Sie erst einmal bei uns zu Hause sind, werden Sie's bald satt bekommen, diese Mohren weiß waschen zu wollen."

Gerhard konnte sich eines Lächelns nicht erwehren: der alte Mann, auf den doch diese Worte in erster Linie zielten, und der, als ginge ihn die Sache nicht im mindesten an, mit dem halb blödsinnigen Lächeln auf dem mehligen Gesichte dastand und mit den dicken Lidern über den verschwommenen Augen blinkte – sah einem Mohren gar zu wenig ähnlich!

Er versuchte nochmals, der Angelegenheit eine harmlose, womöglich heitere Wendung zu geben; aber der einmal erregte Zorn des Riesen war so leicht nicht zu beschwichtigen.

"Glauben Sie mir", rief er, "ich lasse oft, vielleicht nur zu oft fünf gerade sein; aber in gewissen Dingen darf man nicht mit mir spaßen; und wer da meiner bestimmten Order zuwiderhandelt, tut es auf seine Rechnung und Gefahr. Mit Freund Stude werde ich hernach ein ernstes Wort sprechen, und der Jochen soll sogleich seinen Denkzettel bekommen. Wo –"

"Auf dem Hofe", sagte der alte Mann; "er putzt das Sielenzeug."

"Bitte, kommen Sie mit mir, Herr von Vacha!" rief Herr Zempin.

Er eilte zum Hause hinaus und nun an der Front hin mit gewaltigen Schritten, die bepantoffelten Füße kaum vom Boden hebend, umschwärmt von den Hunden, gefolgt von Gerhard und dem Alten. Gerhard wäre gern zurückgeblieben; aber das hätte, der bestimmten Aufforderung Zempins gegenüber, wie eine Unhöflichkeit ausgesehen. Über den dämischen Alten! Warum mußte er den sonst so schweigsamen Mund so zur Unzeit auftun? Hatte er das Ungewitter von seinem verstäubten Haupte auf den Kutscher ablenken wollen? vermutlich: er war mit seiner Denunziation so schnell bei der Hand gewesen! Sollte der alte Blaurock so harmlos gar nicht sein? oder in dem Hause eine bedeutendere Stellung einnehmen? Schien ihn doch Herr Zempin für alles verantwortlich zu machen, selbst für das Tun und Lassen des Hauslehrers! Aber wenn er ein Anverwandter war: ein Onkel, Vetter, oder auch nur etwas wie Oberinspektor, Hausmeister oder dergleichen, so würde sich Herr Zempin wohl die Mühe genommen haben, ihm eine so einflußreiche Persönlichkeit vorzustellen!

Gerhard wollte durch eine direkte Frage an den Alten seiner Ungewißheit ein Ende machen, als er durch einen lauten zornigen Ruf Herrn Zempins erschreckt wurde. Er eilte um die letzten Büsche des Bosketts, hinter denen die gigantische Gestalt eben verschwunden war, und sah zu seiner großen Freude, daß es sich nicht, wie er gefürchtet, um den Kutscher handelte.

Herr Zempin stand da, eifrig in die Höhe deutend, wo eine große Flucht Tauben, zu einer dichten Wolke zusammengedrängt, mit rasender Schnelligkeit sich in kleinen und immer kleineren Kreisen drehte. Über der herumwirbelnden, im Abendschein blitzenden Wolke hing ein großer Falke – die mächtigen, weitgespannten Schwingen nur so viel regend, um stets über dem Mittelpunkt des Kreises zu bleiben.

"Eine Flinte! meine Büchse!" schrie Herr Zempin.

Vor dem Donner der Löwenstimme, die von dem schrillen, unisonen Warnruf sämtlicher Hähne, dem ängstlichen Quaken der Erpel, dem mißtönenden Gekreisch des Pfaues und dem wütenden Gebell der Hunde begleitet wurde, schien selbst der Falke zu erschrecken. Er stieg langsam; die Taubenschar mochte glauben, dem Feinde entwischen zu können. Sie schoß geradeaus seitwärts; aber eine weiße, am äußersten Rande, mochte das Kommando nicht verstanden haben oder das Manöver nicht ausführen können; sie blieb ein wenig zurück, mit ängstlichem Flügelschlag bemüht, die kleine Entfernung, die sie von dem großen Haufen trennte, einzubringen. Es war zu spät; der Falke stieß schneller, als ein Stein fällt, herab; im nächsten Moment schon stürmte er, nun die Schwingen mächtig regend, die Beute in den Fängen, davon und war alsbald hinter dem Dache des Pferdestalles verschwunden.

"Hätte ich nur eine Büchse gehabt!" schrie Herr Zempin, dem Räuber mit der Faust nachdrohend; – "ich hätte dir den Spaß versalzen! Er stand keine hundertfünfzig Fuß hoch; ich schieße auf zweihundert einer Taube auf dem Dache den Kopf glatt vom Rumpfe weg und pariere auf jeden Schuß. Wollt ihr die Mäuler halten! man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen!"

Er schleuderte einen der ihn umbellenden Hunde mit dem Fuße weg, daß das mehr vor Schreck als vor Schmerz aufheulende Tier weit durch die Luft flog; aber noch weiter flog der Pantoffel von dem schleudernden Fuß, dem Alten entgegen, der jetzt mit der Büchse vom Hause her um das Boskett kam und sich bückte, den Pantoffel aufzuheben.

"Laß nur liegen, Vadder Deep", schrie Herr Zempin, "und trag die Büchse wieder fort! Sie sind à quatre épingles, Herr von Vacha; Sie brauchen nicht zurück ins Haus; dort links am Hause hin durch ein Pförtchen in der Hecke rechts! Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen."

Mit der Hand winkend, den einen Fuß im Pantoffel, den anderen nur bestrumpft, schritt er davon, im Vorübergehen in den zweiten Pantoffel fahrend, den der Alte bereits zurechtgestellt; ohne den Kopf zu wenden, auf den hinter ihm Herschlurfenden einscheltend mit einer Stimme, die mit Rücksicht vielleicht auf den neuen Hausgenossen gemäßigt schien wie Donner, der in der Ferne grollt.

Drittes Kapitel

Die Meute hatte sich über den Hof zerstreut oder war dem Herrn gefolgt; nur der alte Neufundländer war zurückgeblieben und blickte, die buschige Rute sanft bewegend, zu Gerhard auf. Gerhard mußte lachen. Sah es doch gerade aus, als wollte das gute, verständige Tier den Fremden um Entschuldigung bitten, wenn die Menschen sich hier ein wenig wunderlich gebärdeten!

Da stand er wieder auf dem einsamen Hofe, allein, wie er ihn vor kaum einer Stunde betreten; und er sollte seinen Weg zur Gesellschaft in den Garten allein finden, wie vorhin in das Haus! War es nicht klüger zu warten, bis Herr Zempin sich um- oder vielmehr angezogen? aber das dürfte leicht länger dauern, als einige Minuten, und zu versuchen, ob er des Alten wieder habhaft werden könne, verlohnte sich wohl nicht der Mühe. Welch rätselhafte Erscheinung dieser zugeknöpfte, schweigsame Blaurock! welch fabelhafte Gestalt der halbnackte Riese, der sein Herz so offen trug wie die zottige Brust, und anstatt von Frau und Kindern und Haus und Hof zu sprechen, sich in der ersten Minute über die fernliegendsten Dinge mit wortreicher Leidenschaftlichkeit erging! Hatte er wirklich seine Absicht, den Kutscher zu strafen, über den Raubvogel vergessen, wie er es den unschuldigen Hund entgelten ließ, daß der Alte ihm die Büchse nicht schneller gebracht? Er schien sich auf seine Geschicklichkeit im Schießen nicht wenig zugute zu tun: einen Taubenkopf auf zweihundert Schritt!... Freilich mit den Händen, die wie ein Schraubstock fassen! und mit den blitzenden Augen! Welch ein Kraftmensch! ja, und welch ein Prachtmensch! als hätte die Natur ein halbes Dutzend zusammengeschmolzen, um einmal einen ganz nach ihrem Sinne zu formen! Und seine Freude bei dem Empfang war gewiß echt: der Mann kann nicht heucheln! und wie schmeichelhaft ist diese Freude für mich! da darf ich wohl, ohne mir etwas zu vergeben, über einen gelegentlichen Mangel landesüblicher Höflichkeit gelassen wegsehen; oder übt man Höflichkeit hierzulande nicht? und überläßt deinesgleichen, die Honneurs zu machen? Nun, ich werde es alsbald erfahren!

Gerhard war, immer von dem Hunde begleitet, an der Giebelseite des Hauses und dann, an der hohen, dichten Hecke hinschreitend, bis zu dem ihm bezeichneten Pförtchen gelangt. Es kostete einige Mühe, die schief in den Angeln hängende Holzgittertür zu öffnen, während der Neufundländer, der sich irgendwo durch ein Loch in der Hecke gezwängt hatte, seinen Bemühungen von der anderen Seite teilnahmvoll zuschaute, um, sobald er eingetreten, das Kunststück bei einer zweiten, nicht minder hohen und dichten Hecke zu wiederholen, die mit der ersten parallel lief. Nun verläßt mich der auch noch! dachte Gerhard.

Jene zweite Hecke mußte nach dieser Seite die Grenze des Spielplatzes bilden; wenigstens hörte der junge Mann das Lachen und Rufen der Gesellschaft jetzt aus nächster Nähe. Aber vergeblich spähte er nach einem für Menschen praktikabeln Durchgang: die Hecke war ohne Unterbrechung und blieb ohne Unterbrechung, obgleich er nun bereits in dem schmalen Gang eine ganze Strecke fortgewandert.

Schon war der fröhliche Lärm hinter ihm verstummt, und nun mündete der Gang, anstatt nach rechts in den offenen Garten, geradeaus in ein Wäldchen von halbwüchsigen Tannen und Lärchen, durch deren schlanke Baumstämme die untergehende Sonne hier und da glutrote Lichter warf. In dem dichten Nadeldach oben, durch dessen Lücken der tiefblaue Himmel hoch hereinschaute, sang eine Amsel in leisen, süßen Tönen ihr melancholisches Lied. Ein dürres Ästchen auf dem mit trockenen Nadeln bedeckten Pfad knackte unter Gerhards Fuß; die Amsel verstummte, und eine Dame, die wenige Schritte davon in einer Art von Laube, die viereckig in den Tann geschnitten war, auf einer Bank gesessen hatte, richtete sich lauschend empor, erhob sich vollends, trat aus der Laube und stand jetzt vor Gerhard.

"Verzeihung, gnädige –"

Unzweifelhaft war es dieselbe Dame, die er vorhin an dem Kinderwagen mit dem Kinde beschäftigt gesehen; er hatte sie sofort an der dunkeln Kleidung, dem reichen, braunen Haar und der schlanken Gestalt wiedererkannt; aber das war unmöglich Frau Zempin!

"Verzeihung, mein gnädiges Fräulein", verbesserte er sich, "wenn ich Ihre Einsamkeit störe. Es ist nicht ganz meine Schuld. Ich irre hier als ein Fremder in dem Garten umher und würde Ihnen wahrhaft dankbar sein für einen Fingerzeig, der mich zur Gesellschaft weist, die ich aufsuchen soll, und zu der ich nicht gelangen kann. Unterdessen verstatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen."

Er nannte seinen Namen.

Absichtlich hatte er die Ansprache ein wenig länger gemacht, um der jungen Dame Zeit zu lassen, sich von der Verwirrung zu erholen, in die sie sein plötzliches Erscheinen offenbar versetzt hatte. Ihre Blicke irrten scheu seitwärts; die zarten, im ersten Moment wie vor Schrecken bleichen Wangen waren von einem lebhaften Rot übergossen.

"Ich muß fürchten, daß Ihnen mein Name völlig fremd ins Ohr klingt", fuhr Gerhard fort; "und daß mithin eine Erläuterung –"

"Nein, nein!" sagte das junge Mädchen; "ich weiß – wir sind ja alle längst auf Ihre Ankunft – ich wundere mich nur, daß Sie so allein – haben Sie denn meinen Onkel – Tante Julie – ich sah sie freilich noch vor kurzem im Garten –"

Die Stimme klang süß und leise; und als sie jetzt plötzlich abbrach, war es wie vorhin, als die Amsel schwieg.

"Ihren Herrn Onkel habe ich bereits gesprochen", sagte Gerhard; und erzählte dann, wie er von Herrn Zempin auf das gütigste empfangen worden, und wie er sich, jedenfalls infolge seiner Ungeschicklichkeit oder Unachtsamkeit, bis in diesen abgelegenen Teil des Garten verirrt habe.

"Wie unangenehm für Sie!" sagte das junge Mädchen.

"Gar nicht", erwiderte Gerhard heiter; "ich habe sogleich ein Stück des Terrains kennengelernt, auf dem ich mich doch nun bewegen soll; und wenn ich nun bei diesen Terrainstudien, wie ich nur zu sehr fühle, einer freundlichen Führung in jeder Beziehung dringend bedürftig bin, so wüßte ich nicht, wie ich es glücklicher hätte treffen sollen."

Gerhard lüftete, wie um seinem Kompliment Nachdruck zu geben, stehenbleibend den Hut; eigentlich aber wollte er die Gelegenheit wahrnehmen, seiner Begleiterin in das Gesicht zu schauen, das er nun, da sie aus dem Halbdunkel der Tannen traten, zum ersten Male von dem Widerschein der Abendglut hell beleuchtet sah. Es war kein eigentlich schönes, ja nicht einmal regelmäßiges Gesicht; aber auf den feinen, bleichen Zügen lag ein Zauber von Anmut und Güte, der Gerhard um so inniger rührte, als selbst ihr Lächeln etwas Schwermütiges, ja Kummervolles hatte.

Sie hob, wie der junge Mann gewünscht und erwartet, die Augen – große, graublaue Augen, die so gütig und mild, aber auch so ernst und nachdenklich blickten, daß er verwirrt, ja gewissermaßen beschämt die seinen senkte: man mußte in der Tat sehr selbstbewußt sein, wenn man vor diesen Augen bestehen wollte!

Er hatte keine Antwort auf seine Frage erwartet, dennoch ängstigte ihn ihr Schweigen, als sie jetzt einen geschlängelten Pfad durch eine Wiese schritten, deren in Samen geschossenes Gras fast so hoch war, wie die niedrige Hecke links, die nach dieser Seite den Garten gegen die Felder abschloß. Jenseits der Felder im Norden zog sich der Wald in manchen Krümmungen hier überall näher, als von der Landstraße aus, aber immer noch so weit, daß er nur als einförmiger, dunkler Rahmen das Bild begrenzte. Gen Westen über dem freien Felde und über einem weit nach Süden vorspringenden Ausläufer des Forstes hing die Abendglut, jetzt nicht mehr purpurn, sondern tief safranfarben, während der Himmel über ihr grünlich schien und nur noch im Zenit seine tiefe Bläue bewahrte. In dem hohen Weizen an der Hecke warnte und lockte der Rebhahn; süßer Würzduft aus Wald und Feld und Wiese und Garten erfüllte die weiche, regungslose Luft.

"Wie schön dies ist!" sagte Gerhard.

"Es freut mich, daß Sie es finden", erwiderte das Mädchen.

"Finden Sie es denn nicht?"

"Gewiß, aber dafür ist es meine Heimat, und es wäre schlimm für mich, wenn ich die nicht liebte; kenne ich doch nichts weiter von der Welt! Dort hinüber – in der tiefsten Einbiegung, fast schon im Walde – liegt Kosenow, wo wir wohnen; Sie werden die Dächer eben noch sehen; für uns geht die Sonne immer eine Stunde früher unter. Die Weiden dort stehen auf der Grenze zwischen den beiden Gütern. Links in dem breiten Einschnitte zwischen unserem Walde, der Schwanheide, und dem Buchwalde, der Uhle – das ist Retzow; mein Vater und der Onkel bewirtschaften es gemeinschaftlich. Die Felder von Retzow schieben sich zwischen Kosenow und Kantzow herein bis an die Weiden. Rechts von den Weiden, das Kirchdorf, das ist Zarnewitz – ein Herr Sallentin wohnt da. Seine Familie ist heute hier; auch der Pastor Pahnk mit Frau und Tochter; dort – aber ich langweile Sie mit all den Namen, die Sie ja doch nicht auf einmal behalten können."

"So sagen Sie mir nur noch einen", rief Gerhard lachend; "und ich versprechen Ihnen, daß ich den ganz gewiß behalten werde!"

"Welchen?"

"Ihren eigenen."

"Ich heiße Edith."

"Ein schöner Name und ein seltener."

"Ich verdanke ihn meiner verstorbenen Mutter. Sie war vor ihrer Heirat mehrere Jahre in England gewesen – als Erzieherin – und hatte wohl die Sprache und die Namen sehr lieb gewonnen. Meine Schwester – wir sind unserer zwei Geschwister – hat einen noch weniger häufigen Namen –"

"Maggie!"

"Woher wissen Sie das?" fragte Edith erstaunt, "aber gewiß hat Ihnen Herr Stude –"

"Mein allzu leichtlebiger Freund hat mich über die Namen der Familie ebenso im dunkeln gelassen, wie über tausend andere Dinge, die zu wissen mir wünschenswert, ja notwendig waren. Nein! ich hörte nur vorhin ›Maggie‹ ein paar dutzendmal rufen in den verschiedensten Stimmen und Tonlagen, ohne übrigens die junge Dame gesehen zu haben, denn nun kam Ihr Herr Onkel, und ich mußte meinen Beobachtungsposten am Fenster aufgeben. Ich habe also richtig geraten? Gleicht Ihnen – ich meine, ist Ihnen Ihr Fräulein Schwester ähnlich?"

"Nein, o nein! Maggie – aber Sie werden sie ja sehen."

"Meine freundliche Führerin darf mich nicht so auf halbem Wege verlassen, ich finde mich sonst wahrlich in der Gesellschaft so wenig zurecht, wie hier in dem Garten. Ihr Fräulein Schwester ist Ihnen also nicht ähnlich?"

"Sie soll ganz und gar das Abbild unserer verstorbenen Mutter sein, sagen die, welche unsere Mutter gekannt haben. Wir haben von ihr beide wohl nur das dunkle Haar; aber Maggies ist dunkler. Die Mutter starb, als sie Maggie das Leben gegeben – verzeihen Sie!"

"Was, Fräulein Edith?"

"Sie haben selbst Ihre Mutter erst kürzlich verloren?"

"Vor einem Jahre – eine edle, vortreffliche Frau; ich wollte, Sie hätten sie gekannt!"

"Herr Stude hat mir – hat uns oft von ihr erzählt und von Ihrem verstorbenen Herrn Vater, dem er so viel verdankt, und daß Sie nun für alle Ihre Brüder so klug und umsichtig sorgen –"

"Da hat Ihnen der gute Stude wahrlich mehr erzählt, als er verantworten kann", sagte Gerhard lächelnd; "ich sorge für sie, indem ich hier und da mein bißchen Autorität, als der Älteste, auszuüben mich bemühe, was mir denn auch von Zeit zu Zeit so ziemlich gelingt – das ist alles."

"Sie haben Ihrer Brüder willen sogar Ihr Studium aufgegeben – Ihre ganze Karriere – und sind Landmann geworden, nur, um das väterliche Gut früher übernehmen und so den Brüdern besser forthelfen zu können, und –"

"Der Stude ist ein Schwätzer", rief Gerhard ärgerlich, "glauben Sie mir, Fräulein Edith, es ist kein wahres Wort – nein, Ihnen darf ich auch kein unwahres Wort sagen; aber meine Juristerei habe ich nur deshalb an den Nagel gehängt, weil ich Landmann mit Leib und Seele bin, und in der Tat ganz gegen meine Neigung, nur um meinem Vater den Gefallen zu tun, studiert und auch das erste Examen gemacht habe – was nebenbei gar keine Heldentat ist. Sie lächeln, Fräulein Edith?"

"Daß Sie sich so eifrig gegen einen Ruhm wehren, der mir doch so beneidenswert scheint. Sorgen zu können, wo es der Sorge bedarf; helfen zu können, wo Hilfe nötig ist; mit kluger, fester Hand die Fäden zu schlichten, die sich sonst zu einem unentwirrbaren Knäuel verschlingen; die Wolke zu bannen, die man heraufziehen sieht, dunkler und immer dunkler –"

"Aber Fräulein Edith –"

Er hatte die schlaff herabhängende Rechte des jungen Mädchens ergriffen, während sie mit der Linken, sich seitwärts neigend, ihre Augen bedeckte, aus denen die Tränen stürzten. Der zarte, jungfräuliche Busen hob und senkte sich ungestüm; der schlanke Leib erzitterte von dem Schluchzen, das sie vergeblich zu unterdrücken sich mühte.

Das war so plötzlich gekommen – aus dem Lächeln, mit dem das holde Gesicht ihm noch eben zugewandt gewesen, wie Regen aus heiterem Himmel – Gerhard war sehr betreten und zugleich auf das innigste gerührt.

"Mein Gott, was ist Ihnen?" rief er, "ich bitte, ich beschwöre Sie, sagen Sie es mir, wenn Sie es sagen können. Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen – wie dürfte ich das! – aber glauben Sie mir, ich meine es ehrlich."

Er fühlte einen leichten Druck der schlanken Finger, die sich seiner Hand entzogen. Sie trocknete die Tränen und versuchte, ihm langsam das Gesicht zuwendend, zu lächeln:

"Was müssen Sie von mir denken!"

"Ich denke", erwiderte Gerhard mit Wärme, "daß, wenn Sie weinen, Sie es nicht ohne Ursache tun, und daß, wenn Sie mich erst besser kennen und Vertrauen zu mir haben, Sie mir vielleicht einmal sagen, welches die Ursache war."

"Ich habe so großes Vertrauen zu Ihnen", sagte das junge Mädchen – und ihre schönen Augen blickten ihn groß und ruhig an – "wer gegen seine Brüder so treu und brav ist, der meint es gewiß mit allen Menschen gut – wie sollte er es nicht mit einem armen, schwachen Mädchen? Und warum ich geweint? – ich bin gewiß, Sie sind so klug, wie Sie gut sind; ich kann ja nicht verlangen, daß Sie dies – meine kindische Schwäche – vergessen sollen, aber Sie dürfen mich auch nicht weiter fragen. Sie versprechen mir das, nicht wahr?"

"Ich verspreche es Ihnen, wenn Sie mir versprechen, Ihr Verbot zurückzunehmen in dem Augenblick, wo Sie eines Freundes bedürfen, auf den Sie sich unbedingt verlassen können. Wollen Sie das – so geben Sie mir noch einmal Ihre Hand!"

Sie legte, tief atmend, ihre Hand langsam in seine ausgestreckte. Wieder ruhten ihre Blicke ineinander. Welch liebe Augen, dachte Gerhard; in liebere hast du nie geschaut! Und da zuckte es in diesen Augen wie ein Blitz, der über den Himmel fährt. In demselben Moment hatte sie ihre Hand hastig zurückgezogen und war von ihm einen Schritt weggetreten. Erschrocken wandte sich Gerhard seitwärts: da, wohin der Blitz gezuckt, stand jener alte Mann, der ihn vorhin in Empfang genommen. Hatte er schon länger da gestanden? Jedenfalls hatte ihn Gerhard nicht kommen sehen und kommen hören, gerade wie vorhin auf dem Hausflur. Es war das sicher ein Zufall; der alte Mann konnte nichts dafür; und dann, das mehlige Gesicht lächelte so dämisch, und unter den dicken Lidern blickten die verschwommenen Augen so unsicher, während die breiten, unbestimmten Lippen etwas auf plattdeutsch murmelten.

"Es ist gut", sagte Edith.

Der Alte lächelte und schlurfte lächelnd an ihnen vorüber, die Richtung einschlagend, aus der sie eben kamen, während sie ihren Weg fortsetzten, um das dichte Gebüsch herum, hinter dem der Alte hervorgetreten sein mußte.

"Sagen Sie mir um Himmels willen", rief Gerhard, sobald er sich aus der Gehörsweite des Alten glaubte, "wer ist diese sonderbare Gestalt?"

"Herr Deep."

"Aber mir deucht, ich hörte ihn von Ihrem Herrn Onkel anders nennen?"

"Wohl: Vadder Deep. Vadder ist unser plattdeutsches Vater."

"Ah so! Nun aber sagen Sie selbst, ob ich hier nicht in der Gefahr bin, aus einem Irrtum in den anderen zu fallen, aus einem Mißverständnis in das hundertste. Ich hätte den würdigen Mann unzweifelhaft bei erster Gelegenheit mit: Herr Vadderdeep angeredet! Also: ein Onkel, vermute ich, oder doch sonst ein näherer Verwandter? ich meine auch verstanden zu haben, daß er du zu Ihnen sagte?"

"Er nennt uns alle du; aber ein Verwandter ist er nicht."