"Nur MEIN Bestes?" - Gabriele Helbig - E-Book

"Nur MEIN Bestes?" E-Book

Gabriele Helbig

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Beschreibung

Die verwitwete Lehrerin Kerstin Heller wird von ihrer Freundin Barbara und durch Facebook wieder ins aktive Leben gestupst. Das bereitet ihr viele nette Kontakte aber auch schmerzhafte Erfahrungen. Sie droht in kriminellen Machenschaften und emotionalen Stürmen unterzugehen. Kein Krimi, kein Liebesroman, sondern die Geschichte einer tapferen Frau, erzählt mit einem Lächeln im Auge.

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„Nur MEIN Bestes?“

„Das bekommst DU nicht!“

GESAMTAUSGABE

von

Gabriele Helbig

Impressum

Cover: Karsten Sturm – Chichili agency

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-682-6

MOBI ISBN 978-3-95865-683-3

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden

Kurzinhalt

Die verwitwete Lehrerin Kerstin Heller wird von ihrer Freundin Barbara und durch Facebook wieder ins aktive Leben gestupst. Das bereitet ihr viele nette Kontakte aber auch schmerzhafte Erfahrungen. Sie droht in kriminellen Machenschaften und emotionalen Stürmen unterzugehen.

Kein Krimi, kein Liebesroman, sondern die Geschichte einer tapferen Frau, erzählt mit einem Lächeln im Auge.

Kapitel 1

Kerstins linker Ellenbogen war nass und wurde zunehmend kälter. Sie bemerkte es, tat aber nichts dagegen. Dabei hätte sie nur die Scheibe hochfahren lassen müssen. Aber Kerstin war völlig fertig. Am Ende nach einem Tag in der Schule, der sie an ihrer Berufswahl zweifeln ließ. Der Unterricht war ja in Ordnung. Ihre Schüler waren besser als ihr Ruf. Aber die Eltern! Dass sie so viele Stunden ihres Lebens mit Elterngesprächen verbringen würde, war mit irdischem Lohn eigentlich gar nicht wieder gut zu machen.

Sie hatte die Klasse abgeschlossen, war durch den Regen zum Auto gerannt und fuhr seit einer halben Stunde in die falsche Richtung. Ihr war einfach danach durch die nasse, graue Stadt zu fahren. Als ihr Telefon klingelte, hatte die Fahr-Therapie schon angeschlagen. Kerstin sah, dass ihre Freundin Barbara anrief, und antwortete wieder gut gelaunt:

„He, Babsi, warum bist du noch nicht im Bett? Die Tagesschau ist doch bestimmt schon vorbei.“

„Nenn mich nicht Babsi, sonst lade ich dich nicht ein mitzukommen.“ Barbara war so schnell nicht aus dem Konzept zu bringen.

„Einladen, nee, egal wozu. Ich hatte gerade mordsmäßig schlechte Laune. So schlecht, dass ich literweise Benzin verbrannt habe, bis ich mich wieder eingekriegt habe. Ich will jetzt bloß noch nach Hause.“

„Lass mich doch erst mal sagen, was ich vorhabe. Das wirkt so ähnlich wie Benzinverbrennen, ist nur viel lustiger.“

„Nun sag schon, jetzt bin ich neugierig.“ Kerstin wechselte die Spur. Sie wollte an der nächsten Ausfahrt der Stadtautobahn den Rückweg antreten.

„Wir beide machen einen Clubabend. Ganz cool, ganz entspannt. Vielleicht mal tanzen, aber muss nicht sein, wenn du keine Lust hast. Einfach nur mit einem Cocktail rumsitzen, Leute gucken und lästern. Klingt zu gut, um wahr zu sein, stimmt’s?“

Kerstin lachte. „Ich und Club, nee, das ist keine gute Idee. Du weißt doch, dass ich da so hinpasse wie ein Priester in den Puff.“

„Wer sagt denn, dass Priester nicht in den Puff passen?“ Barbara ließ nicht locker. „Sei kein Frosch! Ich hab da so eine Lust drauf, und alleine geh ich nicht. Lass mich nicht hängen. Ich brauch das heute.“ Ihr Ton wurde zunehmend ernster und Kerstin bekam einen Schreck. Barbara hatte mit ihrer Schokoladen-Boutique alles riskiert und bislang nur rote Zahlen geschrieben. Wenn ihre Freundin sie brauchte, würde sie mehr tun als nur einen Abend in einem schrecklichen Club zu verbringen.

„Warum sagst du das nicht gleich? Natürlich bin ich dabei, wenn du mich brauchst, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber umziehen will ich mich doch. So wie ich aussehe, möchte ich nicht ausgehen. Nicht mal in ein dunkles Kino.“

„Danke, Kerstin. Kannst du mich abholen, wenn du dich aufgebretzelt hast?“

„Klar, mache ich. Dann kannst du auch zwei Cocktails trinken, oder vier.“

„Du bist frech, aber danke. Bis dann!“

Kerstin war während der letzten Minuten am Innsbrucker Platz ab- und wieder in Richtung Norden aufgefahren. Sie hielt sich nicht mehr genau an die Achtzig-Stundenkilometer-Begrenzung. Auch das Fenster war oben. Sie war wieder fit und ganz bei der Sache. Hoffentlich würde Barbara nicht das Handtuch werfen. Es müsste doch eine Marktlücke für sie geben?

Kater Paulchen begrüßte Kerstin mit vorwurfsvollem Blick. Er ging in seine Plüschhöhle und beobachtete jede Bewegung seiner Dosenöffnerin. Kerstin redete versöhnend auf ihn ein. Sie öffnete dabei eine Dose seiner Lieblingsmarke und beeilte sich sie ihm zu servieren. Dann machte sie das Wasser frisch und säuberte das Katzenklo. Für sich selbst brauchte sie nicht viel Zeit. Eine schwarze Hose und ein rot-schwarz gemustertes Oberteil, passender Schmuck und fix die Haare durchgekämmt. Ein Blick in den Spiegel veranlasste sie, sich doch noch einen Hauch Make-up und Lidschatten zu spendieren, etwas Lippenstift und fertig. Sie rief Barbara an. „Mach dich bereit, ich bin in zehn Minuten vor deiner Tür.“

Sie ging zu Paulchen, kraulte ihn. „Ich bleibe nicht lange, sei nicht traurig. Morgen können wir ausschlafen und ein bisschen schmusen. Tschüss, mein Süßer!“

Barbara hatte Recht. Es war eine gute Idee. Kerstin wäre sonst wie immer zu Hause geblieben, hätte ein wenig ferngesehen, ein wenig Knabberzeug in sich versenkt und Paulchen gekrault. Aber nun saß sie in der Burger Bar. Sie hatte Barbara von den Problemen mit den überehrgeizigen Eltern erzählt, die von den Lehrern erwarteten, ihren Kindern durch Bestnoten den Zugang zu begehrten Studienfächern zu ermöglichen.

„Eigentlich müsste jedem Lehrer ein Rechtsanwalt an die Seite gestellt werden, den ganzen Tag. Sogar die Schüler drohen schon mit Klagen, wenn sie merken, dass ihre Noten rutschen. Ich habe im Geiste manchmal bereits eine Schere im Kopf stecken, wenn ich ein neues Thema anfange. Das kann es doch nicht sein!.“

Barbara hörte mitfühlend zu. „Die Eltern wissen eben, dass im Zweifel die Inhalte egal sind, die ihre Kinder lernen. Es kommt letztlich auf die Durchschnittsnote im Abi an. Krass gesagt, wenn einer sehr gut in Erdkunde, Musik und Deutsch ist, kann er Zahnarzt werden. Du würdest für deine Kinder doch auch alles tun, um ihnen zu einer erfolgreichen Karriere zu verhelfen?“

„Das glaube ich nicht. Ich denke, wenn ich Kinder hätte, hätte ich mehr Freude daran, sie zu ganzheitlich denkenden und verantwortlich entscheidenden Menschen zu erziehen und unterrichten zu lassen. Das ist es auch, was ich immer wieder versuche, in meinen Klassen durchzusetzen. Und das ist es, was die Eltern mir vorwerfen. Ich soll den Lehrstoff durchziehen und so lange üben, bis die Noten stimmen. Der große Zusammenhang stört bloß dabei. Darum ging es heute wieder. Ich war so sauer, du kannst es dir nicht vorstellen.“

„Doch, ich kenne dich ja. Aber du lässt dich schon nicht unterkriegen. Wenn du von etwas überzeugt bist, kämpfst du es durch. Du bist für mich auch das lebende gute Beispiel. Wenn ich aufgeben will, denke ich an Kerstin und dann geht es irgendwie weiter. Bis jetzt jedenfalls.“

„Entschuldige, Barbara. Wir reden hier über meine Luxusprobleme und du musst um deine wirtschaftliche Existenz kämpfen. Kann ich dir irgendwie helfen? Ich habe das Geld von Olivers Lebensversicherung noch nicht angerührt. Ich habe es dir schon so oft angeboten, du hast immer abgewinkt. Aber ich meine es immer noch ganz ernst. Wenn du es brauchst, ist es für dich da.“

„Danke, das ist so lieb von dir. Wenn ich wirklich gar nicht mehr weiter weiß, werde ich zu dir kommen. Ganz bestimmt. Aber auch erst dann. Du weißt ja, dass ich einen ziemlichen Stolz habe und es allein schaffen will.“

Es gab einen Silberstreif am geschäftlichen Horizont der Schoko-Boutique. Barbara hatte sich von einem Bekannten eine Homepage gestalten lassen, die sie sehr gelungen fand.

„Stell dir vor, ich soll sie nicht gleich bezahlen. Erst wenn die ersten Kunden über die neue Seite gekommen sind und ordentliche Umsätze gebracht haben, soll ich ihn um eine Rechnung angehen. Weißt du, was solche Seiten kosten?“

„Nein, aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.“

Kerstin war glücklich, dass Barbara so begeistert und optimistisch war.

„Nichts Brauchbares unter 800 Euro, und ich habe das einfach so bekommen. Das heißt nicht einfach so, ich habe ihn mit den leckersten Pralinen gefüttert, während wir das Konzept besprochen haben.“ Barbara grinste zufrieden. „Und er kann gern immer mal eine Abschlagzahlung in Form von Schokolade abholen.“

„Ach was, scheint ja ein ganz Süßer zu sein,“ neckte Kerstin die Freundin zwinkernd. „Kenne ich ihn? Ist es was Ernstes?“

„Nee, der ist einfach ein netter Mensch. Er hat gehört, dass ich so vor mich hinwurschtele und bekam wohl Mitleid. Er ist ein Freund von Oliver gewesen, daher kennst du ihn auch. Manfred, der Mann von Monika.“

„Klar kenne ich Manfred, aber dass du Kontakt zu ihm hast, erstaunt mich. Ich bin für den Freundeskreis von damals unsichtbar geworden.“

„Ach Kerstin, die wussten damals alle nicht, wie sie mit dir umgehen sollten. Du warst die erste Witwe in unserer Generation. Und eigentlich waren es alles Olivers Freunde, du bist quasi die Reingeschmeckte gewesen.“

„Ja, das kann ich ja alles irgendwie verstehen, obwohl ich es sehr blöd finde. Und ich war damals auch sehr traurig, dass plötzlich alle weggetaucht sind. Aber wieso bist du da so integriert, dass Manfred dir eine Homepage bastelt und weder Geld noch dich dafür will?“

„Das hat sich so ergeben, weil ich bei Facebook meine ganzen Kontakte aus den alten Adressverzeichnissen gesucht und teilweise auch gefunden habe.“

Der Barkeeper stellte eine Schale Knabbergebäck vor die beiden Frauen. „"Nochmals das Gleiche?", fragte er. Kerstin winkte ab, bestellte aber für ihre Freundin noch einen Champagner-Cocktail.

„Du und Facebook? Bist du dafür nicht zu alt?“

„Sag mal Kerstin, was hast du denn für komische Vorstellungen von Facebook?“

„Naja, das machen meine Schüler in jeder freien Minute – und auch in jeder unfreien, wenn ich nicht aufpasse. Ist doch total irrelevantes Zeug, was da ausgetauscht wird. Wo du gerade bist, wen du gerade nervst, was dich im Moment anödet, was gerade total süß ist und so weiter. Da kann ich mir dich gar nicht dazwischen vorstellen.“

Barbara guckte plötzlich ernst und sagte: „Ja, und dann passiert auch mal so was: Was machst du gerade? Pleite gehen. Warum? Weil keiner meinen Laden kennt und ich kein Geld für Werbung habe. Und auf einmal sind da ein halbes Dutzend Menschen, die nicht nur schlaue Vorschläge machen, sondern einer kommt und macht dir `ne Homepage. Ein anderer bietet dir an, Flyer in seinem Wartezimmer auszulegen. Eine völlig Unbekannte, die einen der netten Helfer kennt und dessen Angebot gelesen hat, bestellt für ein Familientreffen fünf Kilo Pralinen. Das ist auch Facebook. Mir hat es unglaublich Auftrieb gegeben, auch wenn ich vorhin mal wieder nur schwarz sehen konnte.“

„Im ernst, meinst du, es hilft dir wirklich weiter? Fünf Kilo ist ja prima, aber auf Dauer brauchst du mehr.“

„Du hast es richtig drauf, Kerstin. Da war ich ganz entspannt und guter Dinge, und du erinnerst mich, dass ich nach wie vor am Abgrund stehe. Das kannst du nur wieder gut machen, wenn du jetzt mit mir tanzt, bis uns beiden schwarz vor Augen wird.“

„Nee, tanzen tu ich nicht. Ich habe mit Oliver das letzte Mal getanzt, ich kann das gar nicht mehr.“

„Keine Ausrede, ich habe etwas gut bei dir. Komm, und dann darfst du nach Hause.“

„Na gut, versprochen? Ich bin nämlich allmählich ziemlich kaputt.“

Kerstin ließ sich nach nebenan auf die Tanzfläche im Kaffee Burger ziehen. Die Live-Musik war inzwischen von einer DJane abgelöst worden. Zu ihrer eigenen Verblüffung konnte Kerstin doch noch tanzen. Und zwar gar nicht so schlecht. Mit stampfenden Füßen, bis in die Fingerspitzen zuckenden Armen und lockeren Halsmuskeln warf sie sich in den Tanz. Ihre Augen strahlten und die Haare begannen, an der Stirn zu kleben. Barbara war begeistert über sich selbst, dass sie diese Verwandlung bewirkt hatte. Auch sie tanzte ausgelassen und fühlte sich jung wie beim Abi-Ball.

„Mir tun alle Gräten weh,“ Kerstin schüttelte nacheinander ihre Beine aus.

„Warte nur bis morgen, Du wirst nicht mal aus dem Bett krauchen können.“ Barbara schien der Gedanke außerordentlich zu gefallen, so fröhlich schaute sie bei dieser Prophezeiung. „Ich aber auch nicht.“

Die beiden Frauen verließen den Club. Kerstin war die Fahrerin, daher ging es zunächst zu Barbaras Wohnung.

„Komm doch noch rauf, morgen kannst Du keine Treppe mehr steigen.“

„Na gut, aber nicht so lange. Mein Schönheitsschlaf, du weißt schon.“ Kerstin wirkte gar nicht müde.

„Setz Dich mal an den Computer und guck mein Facebook-Profil an. Hier, siehst Du? Alles hübsch übersichtlich. Ich mach uns einen Kakao.“

Kerstin war neugierig. Natürlich kannte sie Facebook. Natürlich redete sie, wie auch alle Kolleginnen, schlecht darüber. Sie hatte es auch oft genug gesehen, wenn ihre Schüler die Notebooks nicht schnell genug zugeklappt hatten. Einmal hatte sie in der Klasse sogar darüber diskutieren lassen, auf Englisch, damit der Lerneffekt nicht zu kurz kam. Sie hatte dabei sicher am meisten gelernt. Nämlich dass es unglaublich viel Zeit vernichtet, sich permanent vernetzt durchs Leben zu bewegen. Das hört ja auch nicht auf, wenn das Notebook zugeklappt oder der Akku leer ist. Nein, die Smartphones können nahtlos übernehmen. Sogar mit der Funktion, dass Freunde in der Nähe aufgestöbert werden, die vielleicht im Schuhladen nebenan die Verkäuferinnen terrorisieren oder in der Eisdiele um die Ecke den dritten Becher vernichten. Sie müssen nur alle ihre smarten Handys einschalten und es zulassen, gefunden zu werden. Da permanent Nachrichten eingehen, Kontakte gemeldet werden und angerufen wird, ist so ein freier Nachmittag schneller vergangen als gedacht. Für so banale Dinge wie Hausaufgaben ist da natürlich keine Zeit übrig.

Aber es war für Kerstin spannend zu hören, wie vielfältig die Nutzungsmöglichkeiten für ihre Schüler waren. Dass sie Referate aus Wikipedia-Versatzstücken zusammen bastelten, hatte sie natürlich schnell gemerkt. Die Schüler wiederum hatten mitgeschnitten, dass ihre Frau Heller keine Internet-Analphabetin war, und sich feinere Methoden ausdenken müssen, das Leben zu vereinfachen. Das Spiel erinnerte an Hase und Igel, bislang mit unentschiedenem Ausgang. Dachte Kerstin, denn sie hielt sich für eine ziemlich gute Anwenderin aller gängigen Programme und Plattformen. Außer Facebook, und das wollte sie jetzt in Angriff nehmen.

Barbara sah ihre Freundin versunken in das Display des Laptops. Der Kakao konnte warten, sie zog sich erst einmal die verschwitzten Kleider aus und machte sich ein wenig frisch. Kerstin saß immer noch fasziniert vor dem Bildschirm. Das reichte Barbara denn doch, sie machte die heiße Schokolade fertig und ging zurück ins Wohnzimmer.

„Bist du bereit für einen leckeren Becher? Willst du Sahne drauf? Auch einen Schwapp Amaretto?“

Kerstin blickte auf, nickte zu allen Vorschlägen der Freundin. Sie hatte rote Wangen und die Augen waren auch nicht mehr frisch, aber sie war enthusiastisch. „Was man da alles so erfährt, ist ja wirklich spannend. Ich wusste bis eben gar nicht, dass du dich gegen Atomkraft, gegen Tierversuche und für Erdbebenopfer engagierst.“

„Stimmt, über solche Themen reden wir nie, wenn wir telefonieren oder uns treffen. Komisch. Aber wenn du dir einen Facebook-Account einrichtest, können wir ja auf diese Weise übereinander auf dem Laufenden bleiben. Noch ein Vorteil, an den ich noch nie gedacht habe.“

Barbara reichte Kerstin den Becher. Der Kakao duftete, verstärkt durch das Mandelaroma des Likörs. Auf dem Sahnehäubchen schaukelten noch Schokospäne. Kerstin nahm einen Schluck. „Köstlich, einfach köstlich. Du solltest damit Geld verdienen.“

„Ja, ja, immer aufs Böse.“ Barbara war nicht wirklich sauer. „Wenn ich Kakao in dieser Qualität ins Sortiment nehme, muss ich mindestens vier Euro dafür verlangen. Das bezahlt in meiner Gegend niemand. Leider.“

Die Frauen tranken ihre heiße Schokolade mit deutlichem Genuss. Beide hatten Sahnebärte, als sie die Neige geleert hatten.

„Bleib so, ich mach gleich ein Foto für Dein Profil.“ Barbara drückte den Auslöser, bevor Kerstin die Hände vor das Gesicht bringen konnte. „Guck mal, total süß, im wahrsten Sinne des Wortes!“

„Meinst Du wirklich, ich soll das machen? Was passiert, wenn meine Schüler mich finden? Wenn ihre Eltern reingucken und feststellen, dass ich mich für die falschen Sachen starkmache oder komische Freunde habe?“ Kerstin guckte schon wieder ängstlicher. Schließlich war sie Beamtin. Facebook war zwar als solches nicht ehrenrührig, aber die Gesellschaft, in die man sich da begab, doch sehr wenig übersichtlich. Tummelten sich da nicht Pädophile auf der Suche nach arglosen Kindern? Waren da nicht Internetbetrüger auf Beute aus?

Barbara wurde allmählich müde. Das Hin und Her ihrer Freundin war ihr nichts Neues. Jetzt ging es ihr aber auf die Nerven. Sie war nach der Woche in ihrem Schokoladenladen erschöpft, hatte Sorgen wegen zurückgehender Umsätze, war vom Tanzen schlapp – und dann fing Kerstin da an, wo sie sie vor Stunden abgeholt hatte.

„Willst du nun, dass ich dir eine Facebook-Seite einrichten helfe oder nicht? Du kannst ja das Foto weglassen, deinen Namen abkürzen oder sonst was. Aber wenn du dich finden lassen willst, macht es keinen Sinn, dich so zu verstecken, dass keiner deiner Freunde weiß, wer du bist.“

Kerstin nickte. Das leuchtete ihr ein. Und sie hatte ja auch nichts zu verbergen. Ihr wohl geordnetes, leicht langweiliges Dasein bot keinen Anlass zu Beschwerden wegen nicht beamtengerechten Verhaltens. Und sie konnte das Profil jederzeit löschen, wenn es brenzlig zu werden drohte. „Okay, danke, es wäre lieb von dir, wenn du mir hilfst. Du bist ja doch der alte Hase in den sozialen Netzwerken.“

Barbara fühlte sich ein wenig wie die Missionarin, die in einem entfernten Volksstamm die erste Seele gerettet hat. Das hieß, sie fühlte sich gemischt: Einerseits gratulierte sie sich dazu, so überzeugend gewesen zu sein, dass ihre skeptische Freundin nun der Facebook-Gemeinde beitreten wollte, andererseits fühlte sie sich etwas gedrückt von der Verantwortung. Falls irgendetwas schief gehen sollte, egal was, würde ihre Freundin sie dafür verantwortlich machen.

Die Freundschaft mit Kerstin war uralt. Seit der Grundschule waren sie mal mehr mal weniger befreundet. Wenn das zu Ende ginge, würde es ein großes Loch in ihr soziales Leben reißen. Aber was sollte schon so schief gehen? Also setzte sie sich vor den Laptop und ging auf die fb-Homepage , um für die Freundin einen neuen Account bei Facebook einzurichten.

***

„Andreas, hast du schon jemanden gefunden? Du bist jetzt schon mindestens eine Stunde bei Facebook unterwegs. Das hat doch Zeit. Bitte hilf mir mit den Kisten.“

„Nein, die Kisten haben Zeit, Corinna. Wir müssen dringend noch einige Kontakte auftun, wenn wir unseren Zeitplan einhalten wollen.“

Andreas Merker ließ seine Freundin nicht gern allein mit den Umzugskisten hantieren. Aber er bekam langsam kalte Füße bei der Vorstellung, bisher nur eine einzige Frau als Ziel seiner Bemühungen in Berlin gefunden zu haben. Die Stadt war riesig groß, jedenfalls im Vergleich zu den süddeutschen Städtchen, in denen er und Corinna bis letzte Woche ihr Unwesen getrieben hatten. Süddeutschland war überhaupt eine gute Gegend. Hoffentlich war es kein Fehler, in die Hauptstadt gezogen zu sein. Die Menschen in kleineren Städten scheuten vielleicht mehr davor zurück die Polizei zu informieren, wenn sie um Teile ihres Vermögens gebracht wurden.

„Was heißt ’Wir müssen uns kümmern'? Du hättest dir wirklich schon früher Berliner Kontakte beschaffen können. Das Internet funktioniert sogar in Freiberg am Neckar. Ich habe schließlich auch drei vielversprechende Männer von dort aus aufgetan. Und ich bin sicher, wenn du nicht so viel Zeit mit den beiden Damen verbracht hättest, müsstest du jetzt nicht hinterher hecheln.“

„Du hast ja Recht, aber ich bin sicher, die letzten Stunden, die ich bei den beiden jeweils investiert habe, waren keine vergeudete Zeit. Vielleicht hätten sie mich sonst doch noch angezeigt. So ist es ihnen eher peinlich, dass sie auf mich reingefallen sind. Und irgendwie finden sie mich immer noch charmant, da bin ich mir sicher.“

„Ist mir egal, es ist, wie es ist. Komm bitte rüber und hilf. Der Laden sieht immer noch nicht sehr nach einem Maklerbüro aus.“ Corinna Schulz war eine Perfektionistin. Die Kulisse musste stimmen. Andreas würde als Makler firmieren, sie als potenzielle Hundemoden-Salon Besitzerin.

Den Salon würden hoffentlich die Männer finanzieren, die sie seit einigen Wochen auf Facebook warmhielt. In Freiberg war es ein Hutladen gewesen, in Ravensburg eine Geschenke-Boutique, in Passau ein Souvenirgeschäft. Andreas war überall als Makler aufgetreten. Er war so gut darin, dass er manchmal einen echten Deal landete. Er erhielt dann außerdem noch eine Provision vom Makler, dem er das Geschäft vermittelte.

„Andreas, hast du eigentlich schon Prospekte und Briefpapier mit dem neuen Namen drucken lassen?“

„Ja, die müssten spätestens Montag geliefert werden. Ich mache jetzt den Computer aus, zufrieden?“

„Wird auch Zeit. Die Regale sind furchtbar schwer. Wir müssen sie so stellen, dass es so aussieht, als wäre dahinter noch ein Arbeitsplatz für eine Schreibkraft.“ Corinna hatte alles im Griff, Andreas tat wie ihm geheißen. Damit war er immer gut gefahren.

Das Ladenbüro nahm Gestalt an. Einige Pläne hatten sie immer dabei, die sich an den Wänden gut machten. Er hatte von ImmoScout schon etliche lokale Objekte ausgedruckt, die eine ganze Wand bedecken konnten. Manche waren mit einem Aufkleber „verkauft“ versehen. Inzwischen hatten sie Erfahrung und konnten ein neues Büro so aussehen lassen, als wäre es schon etabliert. Sein neuer Nachname für die Hauptstadt gefiel ihm außerordentlich, die Vornamen hatten sie immer behalten. Andreas von Briesetal, das klang seriös aber nicht übertrieben. Mit Corinnas Wahl war er nicht so glücklich, van Zoldern war ihm zu holländisch. Und da fürchtete er das eine oder andere Vorurteil aber die Namen hatten sie nun einmal so beschlossen, jetzt war es zu spät.

***

Kerstin genoss das Wochenende. Sie sah mit Freude, dass das Wetter nicht besonders verlockend war. Also durfte sie ohne schlechtes Gewissen zu Hause bleiben und vor sich hin schlampern. Das Frühstück war wieder ein Highlight. Ihre Angewohnheit, nach dem Land zu kochen, in dem ihre derzeitige Lektüre spielte, konnte mal wieder voll ausgekostet werden. Das schottische Breakfast war doch einzigartig: Schleimig-schlotziger Haferbrei mit Wasser und Salz gekocht, danach Toast mit bitterer Orangenmarmelade und viel schwarzem Tee, dann ein Rührei und dazu ein geräucherter Hering.

Den Whisky, der eigentlich an dieser Stelle dazugehörte, verkniff sie sich. In Preußen trank man nicht schon am Morgen schieren Schnaps. Sie musste ja auch nicht raus aufs Moor und Schafe zusammentreiben oder Torf stechen. Und sie wollte einen klaren Kopf behalten, um sich erstmals bei Facebook umzusehen. Paulchen sah ihre Vorbereitungen und legte sich auf den Tisch neben den Laptop, auf die Seite, wo die heiße Luft direkt an seinen Rücken geblasen wurde.

Freunde finden. So einfach ist das. Jedenfalls im virtuellen Leben. Kerstin dachte an die vielen Gelegenheiten ihres realen Lebens, wo sie versucht hatte, Kontakte in Freundschaften zu verwandeln. Es waren viele nette Bekanntschaften – auch dauerhafte – daraus geworden. Aber Freunde? Die konnte sie an einer Hand abzählen.

Nach Olivers Flugzeugabsturz hatten sich viele nie wieder gemeldet. Es gab ja auch keine Trauerfeier, nach der seine Freunde sich ihrer hätten annehmen können. Keine Leiche, kein Sarg, keine Kränze. Kerstin dachte nicht gern an die Wochen und Monate nach der Nachricht, dass ihr Mann beim Absturz im Nordaustralischen Küstengebiet ums Leben gekommen war. Diese Reise sollte ihre letzte große Unternehmung sein, bevor sie eine richtige Familie gründen wollten. Oliver hatte sie überzeugt, nicht gleich nach der großen Südamerika-Tour im Jahr davor zu versuchen, schwanger zu werden. Wenigstens einen großen Trip sollten sie noch unternehmen. Denn mit Kind 20 Stunden im Flugzeug sitzen, wäre der Horror für alle Beteiligten. Das hatte Kerstin eingesehen und sich auch sehr auf Australien gefreut.

Aber es kam alles anders als geplant. Nach einigen Tagen in Darwin rief Kerstins Mutter an und bat sie nach Berlin zurück zu kommen und ihr zur Seite zu stehen. Der Vater hatte einen Herzanfall erlitten. Kerstin war schon in der Luft, als sich herausstellte, dass es ein leichter Infarkt war. Als sie im Krankenhaus auch ihre beiden Geschwister sah, fürchtete sie doch das Schlimmste. Aber zum Glück waren die beiden da, um den Vater wieder nach Hause zu bringen. Oliver war in Darwin geblieben, hatte dort den Anruf entgegen genommen, dass es nicht so ernst war wie befürchtet. Er vereinbarte mit seiner Schwiegermutter, dass Kerstin so schnell wie möglich zurückfliegen sollte.

Sie wollten dann mit dem Campingwagen durch Australien fahren. Oliver hatte für die Zwischenzeit einige Ausflüge gebucht. Das kleine Flugzeug mit 12 Passagieren stürzte in einem Gebiet ab, das von Salzwasserkrokodilen wimmelte. Viele Leichen waren verstümmelt. Nur eine Frau hatte schwer verletzt überlebt. Von Oliver fand man nur die Papiere und Teile seiner Kleidung. Daher kein Sarg und keine trauernden Freunde. Kerstin war zu diesem Zeitpunkt auf dem Rückflug. Oliver holte sie nicht am Flughafen ab. Statt seiner trat ein Mann in Begleitung der Stewardess ihres Fluges auf sie zu, der sich als Mitarbeiter des deutschen Konsulats vorstellte. Er musste ihr mitteilen, was passiert war.

Kerstin konnte erst viel später trauern. Sie hatte so viel zu organisieren und zu beurkunden, dass sie wie betäubt alles Nötige tat und nur funktionierte. Sie war gut darin, zielgerichtet und konzentriert ein Problem nach dem anderen anzugehen und abzuarbeiten. Mit einer solchen Aufgabe war sie aber an ihren Grenzen angekommen. Sie war innerlich zerbrochen.

Nach außen hatte sie alles bewundernswert im Griff. Sie war sogar in der Lage, zum Schuljahresbeginn pünktlich ihre Klasse zu übernehmen. Einigen Kollegen war das unheimlich, andere waren sicher, dass sie ihren Mann nicht geliebt haben könnte. Eine besonders sensible Mitarbeiterin der Verwaltung hatte schon immer geahnt, dass Frau Heller eine ganz kalte Person wäre, die nur ihr eigenes Vorankommen interessierte. Sogar ihre eigene Familie war verwirrt von der gefassten Haltung Kerstins.

Olivers Mutter war ein weiteres Problem auf ihrer Liste. Kerstin hatte die Firmenanteile von Oliver geerbt und war nun mit Margarete Heller auch geschäftlich verbunden. Genau wie ihre eigene Mutter fragte diese immer wieder, warum die beiden denn keine Kinder bekommen hätten. Margarete weinte oft und warf ihr vor, damit ihren Sohn völlig totgemacht zu haben. Kerstin hätte immer nur ihre Karriere im Kopf und große Reisen machen wollen.

Das war so ungerecht. Es wäre Kerstins größtes Glück gewesen, Kinder zu haben. Die weiten Reisen waren Olivers Hobby.

Kerstin fühlte sich damals wie unter Wasser. Sogar wenn sie jetzt - acht Jahre später – daran dachte, bekam sie Beklemmung. Also lieber wieder zurück zu Facebook. Von Oliver und ihrer Vergangenheit wollte sie dort nichts mitteilen. Sie wollte jetzt Freunde suchen.

Freunde. Barbara war die älteste Freundin. Und sogar diese Beziehung hatte manchmal arg geknirscht. Da hatte es geholfen, dass Barbara für eine Weile aufs Land gezogen war. Bei gelegentlichen Telefonaten gerät man nicht aneinander und kleine Verletzungen können wunderbar ausheilen. Und sonst? Ihre Beziehungen zu Männern waren nie Freundschaften gewesen. Sie war eben zu vorsichtig, wollte nie alles von sich preisgeben. Vielleicht hatte das die Männer aus ihrem Leben schnell wieder vertrieben.

Freunde finden. Die Schaltfläche. Kerstin gab Namen ein, an die sie sich erinnerte. Durch die Hilfsfunktion, die ähnlich geschriebene Namen vorschlug, kam sie dabei wirklich weiter. Bis zum Mittag hatte sie einem guten Dutzend Menschen vorgeschlagen, ihre Freundschaftsanfrage zu akzeptieren.