Ocean View Avenue – Wo deine Träume wahr werden - Ella Thompson - E-Book

Ocean View Avenue – Wo deine Träume wahr werden E-Book

Ella Thompson

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Beschreibung

Willkommen in der Ocean View Avenue – wo die Liebe ein Zuhause findet

Harper McNally würde alles für ihre Familie tun. Vor zehn Jahren ist sie mit ihrer Schwester Brooke aus dem gewalttätigen Elternhaus in Kansas geflohen. Gemeinsam ziehen sie seitdem Brookes Tochter Reeva in der Sicherheit des kleinen Inselstädtchens Jamestown in Rhode Island groß. In dem gemütlichen Viertel mit den bunten Häusern an der Ocean View Avenue verläuft Harpers Leben endlich in geordneten Bahnen. Wäre da nicht ihr Chef, Blake Marshall, der ihr Herz stolpern lässt, sie aber nicht mal wahrzunehmen scheint. Bis er sie zu einem Wochenende auf die Ranch seiner Familie einlädt. Was Harper jedoch nicht ahnt: Blake hat sich geschworen, nie wieder einer Frau zu vertrauen.

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Seitenzahl: 593

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DASBUCH

Harper stand unter Schock. Was, zur Hölle, hatte Blake in Jamestown verloren? Falsch! Die Frage musste lauten: Was hatte Blake Marshall in ihrem Leben hier in der Ocean View Avenue verloren? Sie wusste, warum er hier aufgetaucht war. Weil er seinen Willen nicht bekommen hatte. Sie hatte das Wochenende mit ihrer Schwester und Nichte nicht für ein Arbeitswochenende mit ihm opfern wollen.

»Euer Ausflug klingt nach einer tollen Idee. Aber ich brauche Sie an diesem Wochenende wirklich dringend«, begann er.

Bingo. Harper kannte ihn einfach viel zu gut. Diese Hartnäckigkeit machte ihn zu einem fantastischen Geschäftsmann. Aber es machte ihn auch zu einem verdammt schlechten Boss einer persönlichen Assistentin, die ihm zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren einen Wunsch abgeschlagen hatte. Es war schlimm genug, von dem Mann aus ihrem Büro zu träumen. Sie musste nicht noch zusätzlich Bilder sammeln, auf denen er auf ihrer Veranda stand.

»Wie wäre es, wenn wir beides verbinden?«, stellte er die Frage, mit der sie allerdings nicht gerechnet hatte.

DIEAUTORIN

Hinter dem Pseudonym Ella Thompson verbirgt sich die SPIEGEL-Bestsellerautorin Jana Lukas. Nach Möglichkeit verbringt sie jeden Sommer an der Ostküste der USA. Ihre persönlichen Lieblingsorte sind die malerischen New-England-Küstenstädtchen. An den endlosen Stränden genießt sie die Sonnenuntergänge über dem Atlantik – am liebsten mit einer Hundenase an ihrer Seite, die sich in den Wind reckt.

ELLA THOMPSON

OCEAN VIEW AVENUE

WO DEINE TRÄUME WAHR WERDEN

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 02/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Diana Mantel

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

unter Verwendung von Getty Images (Peter Unger),

FinePic®, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30360-0V002

Hope

PROLOG

VOR ZEHN JAHREN

Hazelton, Kansas, war noch nie ein besonders einladender Ort gewesen. Doch in dieser Nacht war er an Hoffnungslosigkeit nicht zu überbieten. Trostlos und grau hatte sich die Dämmerung über die weiten Felder gelegt, die sich in endlosen Bögen bis zum Horizont erstreckten – und weit darüber hinaus.

Harper McNally schloss für einen Moment die Augen und wartete darauf, dass sich ihr wild schlagendes Herz beruhigte. Stattdessen nahm der Rhythmus, in dem es gegen ihre Rippen hämmerte, immer weiter zu. Doch ihr blieb keine Zeit mehr. Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass sie keine Sekunde länger warten konnte. Sie schulterte ihren Rucksack und hängte sich die Tasche mit ihrem alten, batterieschwachen Laptop um. Auf Zehenspitzen schlich sie aus ihrem Zimmer, löschte das Licht und zog in Zeitlupe die Tür in dem Wissen ins Schloss, dass sie vielleicht nie wieder hierher zurückkehren würde.

Ihre Finger klammerten sich um das Treppengeländer, das die Hände ihrer Familie über Jahrzehnte hinweg glatt geschliffen hatten. Neben ihr hingen die verstaubten Bilderrahmen, die sie und ihre Schwester bei ihren Purity Balls zeigten. In weißen gerüschten Kleidern, mit hübschen Hochsteckfrisuren, die so gar nicht zu ihren Kindergesichtern passen wollten. Neben sich ihren triumphierend blickenden Vater in seinem geliehenen Smoking. Harper hielt sich an der Wand, um auf dem Weg ins Erdgeschoss so wenig Geräusche wie möglich auf dem altersschwachen Holz zu verursachen. Machte einen großen Schritt über die Stufe, die am lautesten knarrte.

Benji stand am Fuß der Treppe und sah ihr winselnd entgegen. Harpers Herz zog sich zusammen. Zwölf Jahre hatte der Golden Retriever sie durch ihr Leben begleitet. Aber sie würde sich von ihm verabschieden müssen – so wie sie sich auch vom Rest verabschieden musste.

Als sie das Erdgeschoss erreichte, klebte ihr Hoodie an ihrem Rücken. Schweiß kribbelte an ihrem Haaransatz. Für einen weiteren Moment hielt sie den Atem an. Der Fernseher im Wohnzimmer war laut genug, um Benjis Winseln zu schlucken. Harper spähte vorsichtig um die Ecke und sah die Füße ihres Vaters, auf seinem Fernsehsessel hochgelegt. Er war eingeschlafen. Wie immer um diese Uhrzeit.

Harper kniete sich hin und legte dem Hund die Hände um den Nacken. »Pass gut auf dich auf«, flüsterte sie, bevor sie sich wieder aufrichtete und die Träne, die sie nicht hatte zurückhalten können, von ihrer Wange wischte. Dankbar, dass ihr Vater die Angeln der Haustür erst vor ein paar Tagen geölt hatte, zog sie sie auf und schob sich langsam durch den Spalt der Fliegengittertür. Benjis Winseln wurde lauter, und sie hielt abermals den Atem an, aber der Hund bellte nicht. Ihr Vater schlief weiter.

So schnell es die Dunkelheit zuließ, lief sie auf die Rückseite des Ranchhauses und kroch zwischen die Büsche. Ihr Herzschlag hatte gerade erst begonnen, sich zu beruhigen, als das Fenster im Zimmer ihrer Schwester Brooke hochgeschoben wurde und eine Reisetasche mit einem leisen Plopp auf dem sonnenharten Boden aufschlug. Brooke setzte sich aufs Fensterbrett, hangelte sich zum Rosenspalier hinüber und kletterte so behände hinunter, dass Harper gar nicht daran denken wollte, wie oft sie sich schon auf diese Weise aus dem Haus geschlichen hatte. Harper hätte sich nie auf diese wacklige Rankhilfe getraut, selbst wenn ihr jemals der Sinn danach gestanden hätte, nachts unbemerkt ihr Zuhause zu verlassen. Nicht einmal heute hatte sie sich selbst davon überzeugen können. Es gab nur eine Sache, der sie sich sicher gewesen war: Brooke würde abhauen. So schnell wie möglich. Und Harper würde für sie da sein. So wie sie es ihr ganzes bisheriges Leben gewesen war. So wie ihre Mutter es sich wünschen würde.

Sie wartete, bis Brooke unten ankam und ihre Tasche schulterte, bevor sie sich zwischen den Büschen erhob.

»Harp!« Ihre Schwester gab einen erschrockenen Laut von sich. »Was um Himmels willen tust du hier?«, zischte sie.

Selbst in dem schwachen Licht, das aus dem Wohnzimmer des Ranchhauses nach draußen strahlte, konnte Harper das zugeschwollene Auge ihrer Schwester sehen. Die dunklen Schatten der Blutergüsse auf ihrer Wange. Sie griff nach Brookes Hand und drückte sie. »Ich lass dich nicht allein gehen«, flüsterte sie. Brooke war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. »Ohne dich bleibe ich nicht hier.«

1

JETZT

Harper erwachte im Morgengrauen. Einen Augenblick blieb sie liegen und lauschte auf die Stille. Im McNally-Haus war es oft laut. Auf eine fröhliche, ausgelassene Art. Ruhige Augenblicke waren selten, aber Harper liebte das Chaos, die Lautstärke. Kraft schöpfte sie jedoch aus den stillen Momenten – die nichts Bedrohliches an sich hatten, sondern Glück und Zufriedenheit ausstrahlten. Besonders an einem Tag wie diesem.

Sie schob die Decke zur Seite und stand auf. Barfuß ging sie ins Erdgeschoss hinunter. Der Holzboden unter ihren Füßen war so kalt, dass sich ihre Zehen krümmten, aber der Kaffee war schon durchgelaufen und verbreitete seinen behaglichen Duft im Haus. Neben der Maschine auf dem Küchentresen stand bereits ihre Lieblingstasse, die über und über mit bunten Blumen bedruckt war und in die die gute Kaffeefee bereits einen Schluck Milch gekippt hatte. Sie goss sich Kaffee ein und inhalierte das Aroma, das bereits half, ihre Sinne zu schärfen. Dann schlüpfte sie in ihre Crocs, zog den Hoodie über, den sie am vergangenen Abend über die Sofalehne gehängt hatte, und trat aus dem Haus.

Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich und blieb einen Moment auf der kleinen Veranda stehen. Sie atmete die kalte, salzige Luft tief ein und ließ den Blick über die Blumenkästen schweifen, die ihre Schwester erst vor ein paar Tagen mit Taglilien, Tulpen, italienischem Lungenkraut und Narzissen bepflanzt hatte, die sich dem rauen Küstenfrühling ebenso störrisch entgegenreckten wie Brooke den Herausforderungen des Lebens.

Harper nippte an ihrem Kaffee und betrachtete den wolkenlosen Himmel, das einzelne Fischerboot, das lautlos am Horizont entlangtuckerte, und die Küstenlinie Newports dahinter. Ihr Hund Lucky raste glücklich über den menschenleeren Strand und jagte Möwen. Doch Harpers Blick blieb an der einsamen Gestalt hängen, die am Wasser stand und in die Ferne sah. In Crocs, Pyjamahosen und einem Hoodie, wie sie selbst.

Den Kaffee in der Hand, stieg Harper die drei Stufen von der Veranda hinunter, durchquerte den schmalen Vorgarten und ging über die Strandpromenade, die ihr Zuhause von der Narragansett Bay trennte, auf den breiten Sandstreifen. »Hey«, sagte sie leise, als sie neben Brooke trat, die so nah am Wasser stand, dass die sanften Wellen nur Zentimeter vor ihren Füßen ausrollten.

»Hey.« Ihre Schwester warf ihr einen Seitenblick zu, der Harper völlig ausreichte, um sie zu lesen. Und um zu wissen, was in ihr vorging. Brooke fühlte sich genauso wie sie selbst. Aufgewühlt und unruhig, wie sie es am Morgen dieses Jahrestages schon immer gewesen waren.

Im Laufe der nächsten Stunden würde sich das ändern. Am Abend würden sie lachen, feiern und dankbar sein. Aber im Morgengrauen fühlte sich Harper wie eine Betrügerin. Eine Hochstaplerin, die das Leben, in das sie gerutscht war, gar nicht verdient hatte. Mit so viel Glück. Mit so vielen freundlichen, hilfsbereiten Menschen, die ihnen über die Jahre unter die Arme gegriffen hatten.

Lucky kam angerannt und warf ihnen seinen leuchtend roten Ball vor die Füße. Mit einer Miene, in der ein breites Hundegrinsen prangte, sah er zu ihnen auf. Brooke bückte sich nach dem Ball. »Ich fühle mich, als ob gleich jemand um die Ecke kommt und sagt: Ätsch! Das war alles nur eine Show! Das ist nicht euer Haus. Das ist nicht euer Leben. Verschwindet zurück nach Kansas, wo ihr hingehört.« Sie schleuderte den Ball im hohen Bogen davon, und Lucky rannte ihm mit einem begeisterten Bellen nach.

Harper warf einen Blick zu ihrem hübschen kleinen Haus zurück und seufzte. Dann legte sie ihrer Schwester den Arm um die Schultern. »Ich weiß genau, was du meinst«, sagte sie leise. »Aber wenn es tatsächlich jemand wagen sollte, um die Ecke zu kommen und uns nach Kansas zurückschicken zu wollen, würden wir kämpfen. Wie wir es schon immer getan haben.«

Brooke lehnte ihren Kopf an Harpers Schulter. »Zehn Jahre. Ich kann es noch gar nicht glauben, dass wir schon so lange hier sind. Und ich bin so glücklich, dass wir unseren Platz ausgerechnet auf dieser Insel gefunden haben. Und ein Zuhause für Reeva.«

»Den besten Platz, den man sich wünschen kann«, stimmte Harper ihr leise zu, als die Sonne sich über das Wasser erhob, das um diese Tageszeit wie ein blank polierter Spiegel vor ihnen lag. Erste sanfte Lichtstrahlen tauchten die Pell Bridge, die die Bucht zwischen Jamestown und Newport überspannte, in zarte Rosa- und Orangetöne. Die Schwestern standen nebeneinander und sahen dem friedlichen, stillen Schauspiel zu, teilten sich den Kaffee, den Harper mitgebracht hatte, und warfen noch ein paarmal den Ball für Lucky.

»Na komm«, sagte Brooke schließlich. »Reeva hat beschlossen, uns zur Feier des Tages Frühstück zu machen. Das sollten wir lieber nicht unbeaufsichtigt lassen.«

Harper lachte leise. »Erst einmal müssen wir sie aus dem Bett bekommen.«

Zurück im Haus wischten sie Lucky den Sand aus dem Fell und von den Pfoten. Dann machte sich Brooke auf den Weg, um Reeva davon zu überzeugen, das Bett zu verlassen. Schließlich hatte sie groß angekündigt, das Frühstück zuzubereiten. Harper zog sich in ihr Zimmer zurück, um zu duschen und sich für ihren Arbeitstag anzuziehen. Sie hatte nicht vor, ihre Nichte bei den Frühstücksvorbereitungen zu stören. Ihr in die Quere zu kommen, während sie sich in der Küche austobte, war keine gute Idee. Mit ihren neun Jahren war Reeva keine besonders talentierte Köchin, dafür aber äußerst entschlossen – und in der Lage, den Raum innerhalb von Minuten ins Chaos zu stürzen.

Stattdessen setzte sich Harper in ihren Lesesessel vor dem Bücherregal, das Brooke aus leeren Weinkisten für sie gebaut hatte und das sich über die gesamte Wand erstreckte, und überflog auf dem Handy ihre Mails. Erst der Duft nach Pfannkuchen und gebratenem Speck lockte sie aus ihrem Zimmer.

Reeva stand in die viel zu große Schürze ihrer Mutter gewickelt am Herd und buk Pfannkuchen. Zumindest mit dem Anteil des Teigs, den sie nicht auf die Arbeitsplatte gekleckert hatte, während Brooke den Frühstückstisch deckte. Beide blickten auf, als sie Harper auf der Treppe bemerkten, rümpften die Nasen und stießen dann einen Seufzer aus, der sie selbst dann eindeutig als Mutter und Tochter identifizierte, wenn man die äußerlichen Ähnlichkeiten übersehen hätte.

Harper setzte ein Lächeln auf und wappnete sich für das Gespräch, das vor ihr lag. Und das sie schon viel zu oft geführt hatte. Wobei sich Diskussionen dieser Art in der letzten Zeit zu häufen schienen.

Reeva ließ den Blick noch einmal über Harpers nicht besonders vorteilhaften grauen Hosenanzug von der Stange gleiten, für den sie sich an diesem Morgen entschieden hatte und der sich nicht besonders von den anderen Modellen in ihrem Schrank unterschied. »Deine ›Uniform‹ sieht echt uncool aus«, teilte sie ihr mit der Weisheit einer Neunjährigen mit.

Brooke legte Servietten mit Schneemännern, die aus der Winterzeit übrig geblieben waren, neben die Teller und schüttelte den Kopf. »Wann hörst du endlich auf, dich so zu verkleiden?«, fragte sie zum gefühlt tausendsten Mal.

»Das riecht fantastisch«, sagte Harper, ohne auf die Bemerkungen ihrer Schwester und Nichte einzugehen. Einzig Lucky hatte kein Problem mit ihrem Outfit – und ihrem Auftreten. Er riss seinen Blick, mit dem er versucht hatte, die Speckstreifen zu hypnotisieren, vom Küchentresen los und kam zu ihr herüber, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen.

Als sie sich wieder aufrichtete, kam Brooke mit einer frisch gefüllten Tasse Kaffee zu ihr herüber, drückte sie ihr in die Hand und umarmte sie. »Du weißt, dass wir das nicht sagen, um an dir herumzukritisieren, aber es ist wirklich an der Zeit, mit dieser Kostümierung aufzuhören.« Als sie sich wieder von Harper löste, strich sie ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr, die es geschafft hatte, sich aus dem strengen Haarknoten zu lösen.

Harper zwang sich zu einem Lächeln. »Sicher«, sagte sie und schluckte. Natürlich hatte ihre Schwester recht. Auf ihre Art. Nach zehn Jahren bei Marshall Construction und fast eineinhalb Jahren als persönliche Assistentin von Blake Marshall könnte sie sich etwas anders kleiden. Anders auftreten. Aber auch wenn Brooke einen guten Job in der Schreinerei hatte und ihr eigenes Unternehmen Smells like Wood, in dem sie alte Möbel wieder auf Vordermann brachte, gut lief, war Harpers Job bei Marshall Construction schon immer ihre sichere Bank gewesen. Er hatte sie durch die Zeit rund um Reevas Geburt gebracht. Brooke den Highschool-Abschluss und diverse College-Kurse ermöglicht. Er zahlte ihre Krankenversicherung und half, den Ausbildungs-Fonds ihrer Nichte zu füllen. Wenn es dazu nötig war, in günstigen Kostümen von der Stange zur Arbeit zu gehen, die keine Details über ihren Körper verrieten, statt sich herauszuputzen, oder die Haare in strengen Knoten zu tragen und ihre Kontaktlinsen durch ein billiges Brillengestell zu ersetzen, dann würde sie das tun. Denn Blake Marshall bezahlte sie verdammt gut dafür, dass sie sein Leben organisierte und ansonsten unsichtbar war. Für die Kunden der Firma – und für ihn. Es war natürlich kein gesundes Arbeitsklima, ständig zu versuchen, nicht aufzufallen. Ganz besonders, wenn das eigene dumme Herz immer ein bisschen schneller schlug, wenn ihr Boss den Raum betrat. Die Umstände waren nicht optimal. Aber Harpers Schwester wusste genauso gut wie sie selbst, dass dieser Job die Basis für das wundervolle, sichere Leben war, das sie führten.

»Frühstück ist fertig«, riss Reeva sie aus ihren Gedanken. Sie balancierte die Pfannkuchen zum Esstisch, den Brooke wie die meisten anderen Möbel im Haus selbst geschreinert hatte und der aus einer längs aus einem dicken Walnussstamm gesägten Platte bestand, die noch immer die unebenen Kanten des einstigen Baumes aufwies. Reeva stellte den Teller ab und hüpfte noch einmal zur Kücheninsel zurück, um den gebratenen Speck zu holen. In ihrem Pyjama, der über und über mit bunten Einhörnern bedruckt war, und den vom Schlaf völlig zerzausten blonden Haaren, sah sie einfach wundervoll aus. Ein glückliches neunjähriges Mädchen. Stolz überflutete Harper wie eine Welle. Stolz, dass sie so ein fantastisches Mädchen großgezogen hatten.

Mit vor Aufregung geröteten Wangen wartete Reeva, bis Harper und Brooke sich gesetzt hatten. Dann platzte sie mit ihrem »Happy Hope Day!« heraus.

»Happy Hope Day«, erwiderten die Schwestern und mussten lachen.

»Auf uns«, ergänzte Brooke und hob ihre Kaffeetasse zum Toast.

»Los, probiert die Pancakes«, forderte Reeva sie auf und schob den Teller ein wenig weiter in die Mitte des Tisches.

Harper legte einen auf ihren Teller und goss Ahornsirup darüber, bevor sie ein Stück abschnitt und sich in den Mund schob. Hope – Hoffnung – war es gewesen, was sie empfunden hatten, als sie erst in Newport und später in Jamestown gestrandet waren. Ein Tag, der sich ziemlich nach Schicksal angefühlt hatte – und den sie seitdem feierten. »Die schmecken fantastisch. Vielen Dank, dass du Frühstück gemacht hast«, lobte Harper ihre Nichte und zog dann ihr Handy aus der Tasche, weil es den Signalton einer eingehenden Nachricht von sich gab.

»Nicht dein Ernst«, kommentierte Brooke und verdrehte, genau wie Reeva, die Augen. »Handys haben am Frühstückstisch nichts verloren.«

»Ist das der Lord of Late Nights?«, wollte Harpers Nichte wissen. Sie benutzte den Spitznamen, den Brooke und sie Blake verpasst hatten, weil er Harper ihrer Meinung nach an den meisten Abenden viel zu lange in seiner Firma versklavte. »Was will er denn?«

»Hmm.« Harper überflog die kurze Nachricht. Blake Marshall brauchte die Edge on Hudson-Unterlagen sofort, wenn er in einer Stunde ins Büro kam. Was bedeutete, dass sie in einer halben Stunde in der Firma sein musste, um alles herauszusuchen, damit sie es ihm pünktlich auf den Schreibtisch legen konnte. »Mist«, murmelte sie und schlang in Rekordgeschwindigkeit den Rest ihres Pancakes hinunter. »Ich muss leider los und noch ein paar Dinge erledigen.«

Brooke runzelte die Stirn. »Der Lord of Late Nights beordert dich in die Firma?«

»Tut mir wirklich leid«, murmelte Harper, als sie sich erhob, um ihren Teller in die Spülmaschine zu stellen.

»Wie lange soll das noch so weitergehen?«, hörte sie ihre Schwester in ihrem Rücken sagen. »Du springst, wenn dieser Kerl mit dem Finger schnippt. Und du ziehst diese albernen Klamotten an.« Sie wies mit der Kaffeetasse in der Hand auf Harpers schlecht sitzende Kostümjacke, als sie sich wieder umdrehte. »Nicht einmal an unserem Hope Day lässt er dich morgens in Ruhe.«

»Er konnte ja nicht wissen, dass wir heute gemütlich zusammen frühstücken wollten«, verteidigte Harper ihren Boss ganz automatisch. Wie sie es ihrer Familie gegenüber seit Jahren tat.

»Und warum ist das so?« Jetzt stand auch Brooke auf. »Weil er nichts über dich weiß. Weil er dich nicht einmal wahrnimmt. Weil du mit der Wand verschmilzt, während du ihn heimlich anhimmelst.«

Harper erstarrte. Ihr Blick glitt von der Falte zwischen den Brauen ihrer Schwester zum neugierigen Blick, mit dem ihre Nichte zwischen ihnen hin und her sah. Sie spürte, wie Hitze an ihrem Hals nach oben kroch und in ihre Wangen stieg.

Brooke hob die Hände in einer entschuldigenden Geste, legte den Kopf in den Nacken und atmete langsam aus. »Entschuldige. Das war gemein«, sagte sie, als sie die Hände wieder senkte und Harper in eine feste Umarmung zog. »Ich wünsche mir einfach nur, dass du endlich darüber nachdenkst, diesen Kerl hinter dir zu lassen. Einen Mann, der dich nicht einmal wahrnimmt, obwohl er ohne dich gar nicht lebensfähig scheint.«

»Er ist lebensfähig«, murmelte Harper in den Stoff des Hoodies, den ihre Schwester trug. Und dafür, dass er sie nicht wahrnahm, war Harper selbst verantwortlich. »Es ist nun mal meine Pflicht als seine persönliche Assistentin, seinen Alltag zu organisieren.«

Brooke ließ Harper wieder los. »Aber du weißt, dass du diesen Job nicht länger machen musst«, begann sie mit der alten Leier.

Harper schüttelte den Kopf. Brooke hatte ihr in den letzten Monaten in den Ohren gelegen, endlich zu kündigen, weil sie ihr Job und der Mann, für den sie arbeitete, nicht glücklich machten. Aber sie war noch nicht bereit gewesen, sich das selbst einzugestehen. Sie hatten die Gehaltsschecks so viele Jahre lang gebraucht, sich von Lohnauszahlung zu Lohnauszahlung gehangelt.

»Wir brauchen das nicht mehr«, erinnerte Brooke sie daran, dass sie nicht mehr allein für die Sicherheit ihrer kleinen Familie verantwortlich war.

Aber es war eben schwer, die Verantwortung und die Sorge um seine Liebsten einfach so zur Seite zu schieben.

* * *

»Ich habe meine Assistentin schon gebeten, mir die Edge on Hudson-Unterlagen rauszusuchen.« Blake Marshall klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und richtete seinen Krawattenknoten mit einem kritischen Blick in den bodentiefen Spiegel in seinem Bad. »Sobald ich im Büro bin, gehe ich die Liste durch, die der Bauinspektor geschickt hat. Aber ich erwarte nicht, dass es Probleme gibt.« Er nahm das Handy wieder in die Hand, verließ das Bad und griff nach dem inzwischen nur noch lauwarmen Kaffeebecher auf dem Küchentresen.

»Ich habe keine Ahnung, warum die ufernahen Terrassen plötzlich falsche Maße haben sollen«, schimpfte Ian, sein Projektleiter in Sleepy Hollow.

»Wer weiß, was für eine Laus dem Inspektor über die Leber gelaufen ist. Die Abmessungen sind absolut korrekt.« Blake trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und kippte den Rest in den Ausguss. »Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast, Ian. Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach er.

Blake verabschiedete sich und beendete das Gespräch. Er zog seine Anzugjacke an und schob sein Handy in die Messenger Bag, die zwar nicht zu seinem Outfit passte, auf die er aber trotzdem nicht verzichtete. Im Laufe des Morgens hatte er bereits fünf Meilen auf seinem Laufband zurückgelegt, die Online-Ausgabe der New York Times gelesen, einen Smoothie hinuntergewürgt und den größten Teil seiner Mails gelesen. Einen Moment dachte er darüber nach, sich einen frischen Kaffee aufzubrühen, aber ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass es höchste Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Also hängte er sich die Tasche über die Schulter und zog die Tür seines Lofts hinter sich zu.

Auf dem kurzen Fußweg in das große Backsteingebäude am Hafen, das den Firmensitz von Marshall Construction beherbergte, führte Blake weitere Telefonate, erteilte Aufträge und machte sich gedankliche Notizen, die er an seine Assistentin weitergeben würde, sobald er im Büro war. Er hätte gern die morgendliche Kühle genossen, durch die die ersten warmen Sonnenstrahlen schnitten. Das Meer aus Narzissen, das die Stadt in jedem Frühjahr überschwemmte. Das Kreischen der hungrigen Möwen und die auf dem Wasser schaukelnden Fischerboote. Aber statt sich auf eine der Bänke an der Uferpromenade zu setzen und für einen Moment durchzuatmen, nahm er bereits das nächste Telefonat an. Trotzdem konnte er sich einen sehnsüchtigen Blick in Richtung der Segelboote, die in der Bucht ankerten, nicht verkneifen. Es wurde höchste Zeit, dass er sich ein Wochenende Zeit nahm und mit seinen Kumpels auf einen Törn ging. Zum ersten Mal nach dem Winter unter der Pell Bridge hindurchfahren, die Newport mit Jamestown verband, die Segel zu setzen und auf den Atlantik hinauszugleiten. Er musste unbedingt daran denken, Harper zu bitten, ihm im Kalender ein paar Tage freizuschaufeln und den Trip mit seinen Kumpels zu organisieren.

Der Firmensitz von Marshall Construction befand sich in einem alten Warenhaus mit riesigen, für die Stadt typischen Bogenfenstern, in dem im neunzehnten Jahrhundert Schätze gelagert worden waren, bevor sie ihren Weg aus Rhode Island über den Ozean nach Europa gefunden hatten. Blakes Großvater hatte es vor über siebzig Jahren gekauft und zum Herzen des Familienunternehmens gemacht. Blake mochte sein helles, modernes Büro in Providence. Aber dieses Gebäude, in dem er praktisch aufgewachsen war und wo er das Geschäft des Bauunternehmers von der Pike auf gelernt hatte, hatte sich schon immer wie der Ort angefühlt, an den er gehörte. Er nickte einem der Buchhalter zu, der sein Fahrrad neben dem Gebäude anschloss, bevor dieser gleich in einem der oberen Stockwerke verschwinden würde, und lächelte der Empfangsdame Nancy zu, die gerade ein Telefonat entgegennahm und die Lippen zu einem tonlosen Hallo formte.

Seine Schritte klackten auf den alten Fliesen im Schachbrettmuster, die den Boden des Foyers bedeckten. Vorbei an dem Firmenlogo, das ein regionaler Künstler direkt auf die Wand gemalt hatte.

»Morgen«, grüßte er seine Assistentin, die wie immer an ihrem Arbeitsplatz vor seinem Büro saß, im Vorbeigehen, und warf einen Blick auf die nächste E-Mail, die auf seinem Handy aufploppte. Dieses Bauprojekt in Sleepy Hollow und dieser verdammte Bauinspektor gingen ihm langsam aber sicher gewaltig auf die Nerven.

»Guten Morgen, Blake«, hörte er Harper antworten. Er zog die Tür seines Büros hinter sich zu und griff nach dem Kaffee, der auf seinem Schreibtisch stand, wie jeden Morgen. Noch bevor er seine Messenger Bag abnahm, trank er den ersten, heißen Schluck und biss in einen der beiden Oreos, die ebenfalls jeden Morgen auf der Untertasse lagen. Harper legte sie dorthin, weil sie seine Lieblingskekse waren. Und weil ihr Zucker den nicht besonders geschmackvollen morgendlichen grünen Smoothie wenigstens ein bisschen ausglich.

Er warf sein Handy auf die gläserne Schreibtischoberfläche, hängte seine Tasche an den Kleiderhaken hinter der Tür und sein Jackett daneben. Dann ließ er sich auf seinen Schreibtischsessel fallen und griff nach den Unterlagen, die Harper für ihn bereitgelegt hatte. In der richtigen Reihenfolge. So wie er es mochte.

Sein Büro lag im hinteren Teil des Gebäudes. Große Fenster in den rauen Ziegelwänden ließen den Raum hell wirken und erlaubten ihm, den Blick über das gleiche Hafenpanorama schweifen zu lassen, das ihn auch auf seinem Weg hierher begleitet hatte. Von seinem Schreibtisch aus konnte er die Boote mit ihren aufgestapelten Hummerfallen auslaufen sehen, erblickte die Autos, die über den hohen Bogen der Brücke huschten. Blake atmete tief durch, trank noch einen Schluck Kaffee und wandte seine Aufmerksamkeit dann weg von der Aussicht den Problemen des Edge on Hudson-Projekts zu.

Erst ein Klopfen an der Tür ließ ihn wieder aufblicken. »Ja, bitte«, rief er.

Harper öffnete die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen. »Ihr Vater hatte heute Morgen seinen Check-up beim Kardiologen«, erinnerte sie Blake an den Termin. Er warf einen Blick auf die Uhr seines Computerbildschirms. Es war schon fast Mittag. Der Vormittag war an ihm vorbeigeglitten, ohne dass er es gemerkt hatte. »Soll ich Sie mit Ihrer Mutter verbinden?«, wollte seine Assistentin wissen.

»Ja, Harper, machen Sie das.« Dankbar, sich blind auf sie verlassen zu können, lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück, während sie nickte, einen Schritt zurücktrat und die Tür leise schloss. In den eineinhalb Jahren, die Harper für ihn arbeitete, hatte sie Blake noch nie enttäuscht. Und auch wenn er sich im ersten Moment gegen den Gedanken einer Assistentin gewehrt hatte, war er inzwischen verdammt dankbar dafür. Der Herzinfarkt, der seinen Vater (und damit natürlich auch den Rest der Familie) völlig unerwartet getroffen und daran erinnert hatte, wie endlich das Leben sein konnte, hatte Spuren hinterlassen. Und jede Menge Verantwortung auf Blakes Schultern geladen. Verantwortung, der er unbedingt gerecht werden wollte. Die aber manchmal dafür sorgte, dass er die Details aus den Augen verlor, die an die Peripherie seiner Gedanken rutschten. Harper hatte glücklicherweise immer alles im Blick.

Sein Telefon gab das Signal von sich, dass seine Assistentin die Verbindung zu seiner Mutter hergestellt hatte. »Hi, Mom«, sagte er, als er abgehoben hatte. »Wie geht es Dad?«

2

VOR ZEHN JAHREN

Harpers Herz hämmerte so hart und schnell gegen ihren Brustkorb, dass sie befürchtete, es würde demnächst ihre Rippen zertrümmern. Sie versuchte, tief durchzuatmen, als sie ihren Blick über das alte Backsteingebäude an der America’s Cup Avenue schweifen ließ, in dessen riesigen Bogenfenstern sich die helle Mittagssonne spiegelte, brachte aber nur ein atemloses Japsen zustande. Wenn sie es nicht bald schaffte, ihre Angst und Nervosität unter Kontrolle zu bringen, würde sie ohnmächtig werden. Hier draußen. Auf dem Gehweg. Neben den Narzissen, die hier überall blühten. Inmitten der Touristen, die an Newports Hafen entlangschlenderten, bevor sie zu einer der Austern-Happy-Hours in ein Restaurant oder eine Bar einfallen würden. Ohne Sauerstoff in ihren Lungen würde sie einfach umkippen. Ohne den Job zu bekommen. Das durfte sie nicht zulassen. Sie brauchte diese Arbeit. Viel zu sehr, um sich auch nur irgendeine Emotion zu erlauben. Langsam senkte sie den Blick auf den gepflasterten Gehweg und machte den ersten Schritt in Richtung des Firmengebäudes von Marshall Construction.

Das Jackett ihres Hosenanzuges zwickte unter den Armen. Er war etwas zu klein. Oder sie zu fett, wie ihr Vater sie hin und wieder hatte wissen lassen, wenn er sie überhaupt einmal wahrgenommen hatte. Denn eines hatte sie in den sieben Jahren seit dem Tod ihrer Mutter perfektioniert: sich unsichtbar zu machen. Und das, obwohl sie mit ihrer großen, zu kräftigen Statur, den braunen Haaren und Augen wie eine Kopie ihres Vaters aussah. Harper achtete darauf, nie aufzufallen. Sie war ruhig, effizient und es gewohnt, sich im Hintergrund zu halten. Denn das war schon immer das beste Mittel gewesen, sich vor Charles McNallys Wutausbrüchen zu schützen. Wer unsichtbar war, konnte nicht angebrüllt oder geschlagen werden.

Aber das hier war anders. Die Zeitarbeitsfirma, bei der sich Harper beworben hatte, hatte ein Vorstellungsgespräch für einen Buchhalterjob für sie arrangiert. Wenn Marshall Construction sie einstellte, hätten Brooke und sie Geld für Lebensmittel. Vor allem Harpers Schwester musste endlich vernünftig essen. Sie mussten die Ultraschalluntersuchungen bezahlen. Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel kaufen. Und sie brauchten, verdammt noch mal, eine bessere Wohnung als das Rattenloch, in dem sie zurzeit hausten. Eine Wohnung, in der ein Baby aufwachsen konnte.

Harper schob die große, schwere Eingangstür des Gebäudes auf. Sie hatte sich um ein professionelles Auftreten bemüht. Ihr nicht besonders schönes Brillengestell ließ sich nicht ändern, aber ihre Haare hatte sie zu einem strengen Knoten zusammengefasst, der hoffentlich ebenso professionell wirkte. Der Hosenanzug hatte sie im Thrift Store nur drei ihrer letzten wertvollen Dollar gekostet, und er saß nicht perfekt. Aber sie hatte es zumindest versucht.

Harpers Blick glitt über das wunderschöne Schachbrettmuster des Bodens in der Eingangshalle. Sie hob den Blick und betrachtete für einen Moment ein Wandbild, das wie ein Firmenwappen aussah: Eine der typischen Newport-Mansions, vor der ein Mann stand, der den linken Stiefel auf das Blatt eines Spatens gestellt hatte und in der rechten Hand einen Hammer hielt. Ohne den Blick von dem Bild abzuwenden, das ein Indiz dafür war, wie lange es diese Firma schon gab und an was für Palästen die Marshalls mitgebaut hatten, wandte sie sich in Richtung des Empfangstresens – und prallte gegen ein Hindernis.

Oder besser gesagt: einen Mann. Einen, der sich sofort bückte, um die Bewerbungsunterlagen aufzuheben, die sie vor Schreck hatte fallen lassen, noch bevor sie selbst sich hinknien konnte, um sie einzusammeln.

Lächelnd richtete er sich mit Harpers Mappe und den Blättern, die herausgefallen waren, wieder auf. »Miss McNally«, grüßte er sie mit einem Blick auf den Namen auf ihrem Lebenslauf in seiner Hand. Eine dunkle Locke fiel ihm in die Stirn, und sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter – und ein ganzer Schwarm Schmetterlinge setzte in Harpers Bauch zum Line Dance an.

Sie streckte die linke Hand nach ihrer Bewerbungsmappe aus und presste die rechte auf ihren verrücktspielenden Magen. Was passierte hier gerade? Drehte sie durch vor Aufregung wegen ihrer Bewerbung?

»Viel Glück für Ihr Vorstellungsgespräch«, sagte er freundlich, schenkte ihr noch einmal dieses umwerfende Lächeln und wandte sich zum Gehen.

Harper sah ihm nach, bis er mit wenigen langen Schritten die Eingangstür erreichte, sie aufschob und in der Mittagssonne verschwand. Sein Verhalten war nichts anderes gewesen als eine respektvolle, höfliche Geste. Nichts, was sie gewohnt war. Trotzdem … ihre Reaktion war völlig unangemessen. Sie hatte sich nicht einmal für ihre Ungeschicklichkeit entschuldigt oder sich für das Aufheben ihrer Bewerbung bedankt. Stattdessen hatte sie stumm auf die Muskeln gestarrt, die sich unter den Ärmeln seines Poloshirts mit dem Firmenlogo wölbten. Auf seinen Hintern in diesen abgetragenen Jeans. Auf diese Locke. Und … dieses Lächeln, von dem ihr ganz schwindlig wurde. Selbst jetzt noch, wo sie längst wieder allein im Foyer stand. Nur beobachtet von der Empfangsdame hinter ihrem Tresen.

Mit wackligen Knien setzte Harper sich wieder in Bewegung. Sie war hier, um sich einen Job zu angeln. Damit Brooke und sie eine Zukunft hatten. Aber die Gefühle, die in diesem Moment begannen, sich in ihr einzunisten, das Kribbeln ihrer Haut, wo seine Finger ihre berührt hatten, und die Hitze, die ihr in die Wangen stieg, all das kannte sie nur aus den Romanen, die sie ständig las. Reaktionen, von denen sie nicht gedacht hätte, dass sie auch in der realen Welt existierten.

Harper McNally hatte noch nie einen Grund gehabt, sich über die Liebe auf den ersten Blick Gedanken zu machen. Und doch war sie offenbar gerade von ihr erwischt worden. Auf dem Weg zum wichtigsten Vorstellungsgespräch ihres Lebens. »Danke Cupido«, murmelte sie, bevor sie sich zu einem freundlichen, offenen Lächeln zwang, das hoffentlich von ihren feuerroten Wangen ablenkte.

Zwei Tage später erfuhr Harper, dass sie den Job bekommen hatte. Brooke und sie konnten dadurch über ein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen verfügen, und Harpers Schwester konnte aufhören, zehn Stunden am Tag bei Walmart Einkaufstüten zu packen.

Darüber hinaus begriff Harper in den nächsten Tagen, dass Liebe einen ganz schwindlig machen konnte. Und dass es furchtbar schmerzte, wenn einem das Herz brach. Denn als sie zu arbeiten begann, fand sie schnell heraus, dass der attraktive, nette Fremde aus dem Foyer niemand Geringeres als Blake Marshall war. Der Juniorchef, der irgendwann über das Bau-Imperium herrschen würde und der mit einer wunderschönen, schillernden Architektin namens Melody liiert war. Dem Büroklatsch zufolge würden die beiden sich bald verloben.

Blake Marshall war ein Mann, der sich maximal dazu eignete, ihn aus der Ferne anzuschmachten. Zu Harpers Erleichterung verbrachte er den größten Teil seiner Zeit in seinem Architekturbüro in Providence und ließ sich nur selten im Firmensitz in Newport blicken.

Aber jedes Mal, wenn Harper ihn in dem alten Backsteingebäude sah, schlug ihr Herz ein wenig schneller.

JETZT

Harper hatte sich im Ellie’s in Providence häuslich eingerichtet und einen der Tische am Fenster in ihr mobiles Büro verwandelt. Sie liebte das Café im Stadtzentrum, das nach den alten Sepiafotografien an seinen Wänden früher einmal Amerikas großartigste Apotheke gewesen war. Nachmittags hatte sie Blake nach Providence begleitet, ihm in den Geschäftsräumen, die Marshall Construction hier unterhielt, bei einigen Meetings assistiert und sich anschließend mit ihrem Laptop ins Ellie’s zurückgezogen, während er einige Geschäftspartner zum Essen traf. Zeit, die sie damit verbringen konnte, weitere Mails abzuarbeiten und Blakes Leben zu organisieren.

Ihr Handy vibrierte neben ihr lautlos auf dem Tisch. Harper warf einen Blick auf das Display und erkannte den Namen ihrer besten Freundin Naya. Mit einem »Hey« nahm sie das Gespräch an. »Was gibt’s?«

»Das wollte ich dich fragen.« Naya klang, als sei sie zu Fuß unterwegs. »Brooke hat gesagt, dass du nach Providence gefahren bist. Ausgerechnet heute.«

Harper ließ den Blick über die weiß glänzenden Metrofliesen und die schwarzen Tafeln mit den Tagesangeboten des Cafés gleiten und bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. Ihre Schwester und sie kamen aus dem Mittleren Westen. Sie wussten, was es bedeutete, große Entfernungen zurückzulegen. Deswegen musste sie sich immer das Lachen verkneifen, wenn Naya so tat, als wäre Providence eine halbe Weltreise von Newport und Jamestown entfernt. Dabei gab es im kleinsten Bundesstaat der USA überhaupt keine weiten Strecken. Von Providence würde sie nur eine halbe Stunde nach Hause brauchen.

»Du wirst doch heute Abend auf der Hope-Day-Party sein?«, hakte Naya nach, als Harper nicht gleich antwortete. »Oder hält der Lord of Late Nights dich wieder als Geisel?«

Nun verdrehte Harper doch die Augen. »Ihr sollt aufhören, Blake so zu nennen. Er ist mein Boss. Und natürlich werde ich da sein. Ich verpasse doch nicht das Fest, das ich mir selbst ausgedacht habe.« Sie meinte es so, wie sie es sagte, und doch machte sich das schlechte Gewissen in ihr breit. So sehr sie sich auch wünschte, mit ihren Freunden und Nachbarn auf diesen besonderen Tag anzustoßen, so sicher war sie sich, dass sie zumindest zu spät kommen würde. »Nur für den Fall, dass ich es nicht ganz pünktlich schaffen sollte, fangt ihr einfach schon mal ohne mich an. Und Ray soll mit seiner Rede bitte nicht auf mich warten.« Brookes Chef war ein begnadeter Schreiner und gerissener Pokerspieler. Aber seine Reden waren grauenvoll.

Naya lachte. »Du drückst dich doch nicht etwa?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich habe hier wirklich noch ein bisschen was zu tun.« Und vor allem musste sie warten, bis Blake so weit war. »Aber ich komme so schnell wie möglich. Versprochen.«

»Okay. Dann bis später.« Naya beendete das Gespräch, und Harper legte das Handy langsam auf den Tisch zurück.

Sie klappte den Laptop zu und betrachtete, statt weiterzuarbeiten, das bunte Treiben vor dem Providence Performing Arts Center auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Harper hasste es, ihre Familie und ihre Freunde zu enttäuschen – und das Verhalten ihres Chefs machte sie auch nicht gerade glücklich. An diesem Morgen war er wieder an ihr vorbeigelaufen. Ihr Herz zog sich jedes Mal zusammen, wenn ihr bewusst wurde, dass er sie überhaupt nicht wahrnahm. Nicht ansah. Nicht sah. Sie wurde gut dafür bezahlt, unsichtbar zu sein. Als sie bei ihrem ersten Treffen vor zehn Jahren mit Blake zusammengestoßen war, hatte ein Blitz ihr Herz getroffen. Sie hatte sich wirklich Hals über Kopf in einen Fremden verliebt. Natürlich war dieses Gefühl im Laufe der Jahre verblasst, war einer harmlosen Schwärmerei für einen unerreichbaren Mann gewichen, die höchstens ihre Schwester dazu brachte, sie hin und wieder mit ihrer kleinen Schwäche für den Chef aufzuziehen. Doch als sie vor eineinhalb Jahren angefangen hatte, als Assistentin für Blake zu arbeiten, waren ihre Gefühle komplett durcheinandergewirbelt worden. Nicht weil Blake ein attraktiver intelligenter Mann war. Sondern weil die Hingabe an seine Familie einfach … anbetungswürdig war. Er hatte so viel seines eigenen Lebens aufgegeben, um nach dem Herzinfarkt seines Vaters einzuspringen. Harper wusste, dass er einfach alles für seine Familie tun würde. Genau wie sie selbst. Die Liebe zu denen, die einem am nächsten standen, ließ sich mit nichts aufwiegen. Aber das schnelle Klopfen ihres Herzens, wenn sie ihn wieder einmal liebevoll mit seinem Vater sprechen hörte oder wenn er seiner Mutter irgendeine Pflicht abnahm, war schon lange nicht mehr vereinbar mit dem Gefühl, unsichtbar für ihn zu sein. Natürlich hatte sie sich das selbst eingebrockt. Dennoch war Blakes Nähe immer schwerer zu ertragen. Wenn sie die Lachfältchen in seinen Augen bei einem Telefonat mit seinem Neffen wahrnahm, während er einfach durch sie hindurchblickte.

Die Diskussion mit ihrer Schwester kam ihr wieder in den Sinn. Vielleicht hatte Brooke ja doch recht, und es wurde Zeit, sich nach einem neuen Job umzusehen. Sie wurde noch in diesem Jahr dreißig. Womöglich war es an der Zeit, ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen.

Harper klappte den Laptop wieder auf und rief eine Jobbörse auf, um sie nach Stellenangeboten für persönliche Assistentinnen oder sonst irgendetwas, das zu einem BWL-Abschluss passte, zu durchforsten.

Weit war sie noch nicht gekommen, als eine Nachricht von Blake auf ihrem Display aufploppte: Können Sie einen Tisch für zwei imThe Mooringfür morgen Abend reservieren?

Harper schloss die Augen und wartete, bis ihr Herz, das sich in einem solchen Moment immer schmerzhaft zusammenzog, normal weiterschlug. The Mooring war Blakes bevorzugtes Restaurant, um Frauen auszuführen. War er mit Lydia verabredet, die er den Winter über ein paarmal getroffen hatte? Oder hatte er bereits eine neue oberflächliche Affäre begonnen? Fragen, die ihr überhaupt nicht zustanden. Selbstverständlich, schrieb sie zurück und ballte ihre Hände zu Fäusten, als ihr bewusst wurde, dass ihre Finger zitterten. Dann wechselte sie wieder zur Jobbörse. Es war wirklich nicht richtig, für einen Mann zu arbeiten, sich jeden Tag zu verstellen und selbst dafür zu sorgen, dass er sie nicht wahrnahm und sich gleichzeitig mit Gefühlen herumzuschlagen, die in einer Arbeitsbeziehung nichts verloren hatten. Schon gar nicht, wenn sie den Chef betrafen.

* * *

Die Dunkelheit brach bereits über Newport herein, als Blake und Harper nach einem Besprechungsmarathon endlich in den Firmensitz zurückkehrten. Er hatte seiner Assistentin die ganze Fahrt über die Informationen und Ideen diktiert, die er aus dem Geschäftsessen mitgenommen hatte. Diese Besprechung hatte viel zu lange gedauert, aber sie war nützlich gewesen, und jetzt war er bei einigen Projekten einen Schritt weiter.

»Haben Sie die Reservierung im Mooring gemacht?«, fragte Blake, als er den Fuß vom Gas nahm und den Jaguar vor Marshall Construction ausrollen ließ.

»Selbstverständlich.« Harper klappte ihren Laptop zu, den sie auf ihren Knien balanciert hatte, um seine Gedanken zu notieren. »Neunzehn Uhr. Ein Tisch für zwei Personen.«

»Danke.« Blake wartete, bis sie ihren Sicherheitsgurt gelöst hatte und die Beifahrertür aufschob. »Bis morgen.«

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.« Sie warf die Tür hinter sich zu und ging auf das Gebäude zu, in dem um diese Uhrzeit nicht mehr viele Lichter brannten.

Blake wartete, bis Harper die Firma betrat, bevor er wieder anfuhr. Er wusste, dass sie jetzt noch alles, was vom heutigen Tage zu tun übrig geblieben war, erledigen und den nächsten Arbeitstag vorbereiten würde. Für einen Moment beschlich ihn das schlechte Gewissen, weil sie jetzt noch all diese Pflichten zu erfüllen hatte. Andererseits fuhr er jetzt zwar zu seinen Eltern, aber spätestens nach dem Familienessen, wenn er in seinem Loft zurück war, würde er sich ebenfalls wieder an seinen Schreibtisch setzen. Einen schönen Abend hätte er ihr trotzdem wünschen können. Er hatte es versäumt. Was unter anderem daran lag, dass seine Gedanken nicht nur mit der Firma, sondern auch von Lydia okkupiert waren. Seit Melody ihn vor eineinhalb Jahren verlassen hatte, stand ihm nicht mehr der Sinn nach ernsthaften Beziehungen. Schon gar nicht bei dem Arbeitspensum, das der Herzinfarkt seines Vaters für ihn mit sich gebracht hatte. Er hatte gedacht, diesen Punkt unmissverständlich klargemacht zu haben, bevor er etwas mit Lydia angefangen hatte. Doch nach ein paar unverbindlichen Treffen begann sie plötzlich zu klammern und ihn mit Nachrichten zu bombardieren. Grund genug, sie morgen ein letztes Mal auszuführen und die Beziehung zu beenden. Seiner Erfahrung nach musste man weniger damit rechnen, eine Szene gemacht zu bekommen, wenn man sich in einem solchen Moment in der Öffentlichkeit befand. Er hasste es, dass sie sich verletzt fühlen würde. Lydia war eine schöne und intelligente Gesellschaft gewesen. Humorvoll und sportlich. Aber er hatte ihr immer gesagt, dass er nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung war. Jetzt wollte sie plötzlich doch mehr, und das würde er ihr nicht geben können.

Er lenkte seinen Wagen aus dem Stadtzentrum hinaus und die Bellevue Avenue hinunter, vorbei an all den prachtvollen Anwesen, die das Gilded Age – das goldene Zeitalter und den Reichtum vergangener Jahrhunderte – symbolisierten, und an denen auch Blakes Vorfahren mitgebaut hatten.

Verglichen mit diesen Prachtbauten wirkte das Haus, in dem er aufgewachsen war, schon fast gewöhnlich. Es stand am Ende der Avenue stolz über den Klippen. Weiß, mit einer beeindruckenden Veranda, umlaufenden Balkonen im ersten Stock, einem Erker an der Stirnseite und einer Terrasse im zweiten Stock, die einen Teil des Daches ersetzte. Ein riesiger Wintergarten hatte sich schon vor Jahrzehnten zum zwanglosen Familiensalon entwickelt, in dem meistens irgendein Marshall anzutreffen war.

Blake drückte die Fernbedienung für das schmiedeeiserne Tor, das lautlos aufschwang, und folgte der gewundenen Auffahrt. Die Lichter im Erdgeschoss des Hauses strahlten warm in die Nacht hinaus. Ein deutlicher Kontrast zum eisigen Wind, der an ihm riss, sobald er aus seinem Wagen gestiegen war. Ohne den Schutz der Bucht, in der das Stadtzentrum lag, tobten die Naturgewalten um ihn herum, und der Wind peitschte die Brandung gegen das Cliff unter ihm.

Mit schnellen Schritten lief Blake zum Haus hinüber. Seine Mutter öffnete die Tür bereits, bevor er sie erreicht hatte. Im hellen Licht hinter ihr konnte er ihre Gesichtszüge im ersten Moment nicht richtig erkennen, doch als er nah genug war, sah er das Lächeln und den entspannten Ausdruck in ihren Augen. Sie hatte ihn also am Telefon nicht beruhigen wollen: Die Untersuchung seines Vaters war tatsächlich gut verlaufen. Zum ersten Mal an diesem Tag spürte er, wie etwas von dem Druck abfiel, der sich in dem Moment auf seine Schultern gesetzt hatte, in dem er am Morgen die Augen geöffnet hatte. »Hallo, Mom«, sagte er und ließ sich in eine feste Umarmung ziehen.

»Komm rein, mein Junge.« Mirinda Marshall, Doktorin der Kunstgeschichte, eine stolze und aufrechte Frau, der in den vergangenen eineinhalb Jahren ein Teil ihrer Stärke durch die Sorge um ihren Mann genommen worden war, trat einen Schritt zur Seite, um ihn in das warme Foyer zu lassen. »Das Essen wird gleich serviert«, sagte sie und ging ihm voraus in Richtung des Wintergartens. Blake fand, dass sie sogar aufrechter ging. Leichtfüßiger als noch vor Wochen.

Er folgte ihr und begrüßte seinen Vater, der neben dem flackernden Kamin saß, und strich dann dem Familienlabrador Sammy über den Kopf, der es sich zu seinen Füßen gemütlich gemacht hatte. Richard Marshall war noch immer schmal und wirkte in dem wuchtigen Lehnsessel kleiner als der überlebensgroße Visionär, der er immer gewesen war. Verletzlicher und endlich. Aber er hatte sich berappelt. Was er seinem eisernen Willen – und vermutlich dem seiner Frau – zu verdanken hatte. Er war wieder da. Nicht mehr ganz so wie früher. Aber auf eine Art, die ihn immer noch Ehemann, Familienvater und Grandpa sein ließ, wenn auch nicht mehr Chef von Marshall Construction. Blake war sich sicher, dass das Wissen, sein Vermächtnis bei seinem Sohn in sicheren Händen zu sehen, Richard geholfen hatte loszulassen. Er übernahm, unterstützt von seiner Assistentin Marla, nur noch wenige Aufgaben, die er von zu Hause aus erledigen konnte, und würde nie wieder in die Firma zurückkehren.

Blake hatte nicht damit gerechnet, so früh in die Fußstapfen zu treten, die immer größer geworden waren, seit sein Ur-Ur-Großvater als kleiner Handwerker das Wagnis des Baus eines Herrenhauses in Newport eingegangen war. Jetzt lastete das Unternehmen auf Blakes Schultern. Und er würde dafür sorgen, dass weder sein Vater noch sonst jemand in seiner Familie sich Sorgen machen musste.

VOR EINEINHALB JAHREN

Blake saß auf der Treppe des mehr als baufälligen Hauses, das Melody immer nur die Addams Family-Burg nannte. Seine Finger strichen über die Wurzelspitze einer Kastanie, die die Betonstufen an einer Stelle einfach gesprengt hatte, bevor Wind und Regen kleine Brösel daraus gemacht hatten.

Er blickte auf, als die Tür des lila gestrichenen Hauses auf der anderen Straßenseite geöffnet wurde, und Elena Masters auf den Absatz ihrer leuchtend blau gestrichenen Treppen trat. In beiden Händen einen Kaffeebecher blickte sie zu ihm herüber, bevor sie die Stufen herunterstieg und über die Straße direkt auf ihn zuhielt.

Ohne etwas zu sagen, reichte sie ihm einen der Becher und setzte sich neben ihn.

»Danke.« Blake warf ihr einen Seitenblick zu. Elena war die erste Nachbarin gewesen, die er kennengelernt hatte, als er das Haus gekauft hatte. Federal Hill war dafür bekannt, ein Stadtteil von Providence mit einer besonders herzlichen, freundschaftlichen Nachbarschaft zu sein, was für ihn einer der Gründe gewesen war, hierherzuziehen. Elena verkörperte genau das. Sie war etwa im Alter seiner Eltern und trug die Haare zu einem lockeren Knoten zusammengefasst, wie es auch seine Mutter immer tat, wenn sie zu Hause war. Hier hörten die Gemeinsamkeiten allerdings schon auf. Alles an Elena war bunt. Von den wippenden Ohrringen über ihre geringelte Leggings bis zu dem weiten, weißen Männerhemd und den pinkfarbenen Crocs, die beide von Farbklecksen übersät waren. Wahrscheinlich war sie gerade in ihrem Atelier gewesen und hatte gemalt, als sie ihn entdeckt hatte.

Elena seufzte und rieb über einen kleinen blauen Farbklecks auf ihrem Unterarm, bevor sie einen Schluck Kaffee trank und die Tasse dann neben sich auf den rissigen Beton stellte. »Ich hatte gehofft, Sie würden diesem alten Kasten wieder neues Leben einhauchen«, sagte sie mit einem Blick auf das Zu-verkaufen-Schild, das der Makler an diesem Morgen im Vorgarten aufgestellt hatte.

»Ja, das hatte ich auch gehofft.« Momente wie dieser waren seine Vision gewesen. Mit seinen Parks und Straßen voller Bäume, den alten Häusern voller Charme, war Federal Hill das kommende Viertel. Aber das war nicht der Grund gewesen, aus dem er das alte Spukhaus mit den Türmchen und Erkern, dem Zuckerbäckerstuck und dem schwarzen Anstrich gekauft hatte. Er hatte sich hier gesehen. Morgens auf dieser Treppe. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand, so wie jetzt. Ein Hund, der im Vorgarten spielte. Nachbarn, die vorbeiliefen, grüßten oder so wie Elena von der gegenüberliegenden Straßenseite auf einen kleinen Plausch herüberkamen. Er hatte seine Kinder hier aufwachsen sehen wollen. Hatte sich vorgestellt, sonntags durch das Viertel zu spazieren, Bagels zu essen oder einen Cappuccino in einem der Cafés am Broadway zu trinken, die so winzig waren, dass man die Treppen der Nachbarhäuser einfach als Café-Möbel mitbenutzte. Blake war nicht nur dem Charme und den Möglichkeiten erlegen, die das Haus bot, das er gekauft hatte – er hatte sich in Federal Hill verliebt. In die gemischte Nachbarschaft. Leute wie Elena, die schon ihr Leben lang hier lebten. Junge Familien und Studenten, die an der Brown studierten und hier zur Untermiete wohnten. »Mein Vater hatte vor ein paar Wochen einen Herzinfarkt.«

»Mein Lieber.« Elena griff nach seiner Hand und drückte sie. »Das tut mir leid. Wie geht es ihm?«

Blake zuckte die Schultern und trank einen Schluck Kaffee. »Einigermaßen, im Moment. Er ist in der Reha. Und ich … ich muss mich um meine Familie kümmern. Und um die Firma. Das funktioniert nicht, solange ich in Providence lebe. Ich muss also nicht nur dieses Haus verkaufen«, das er niemals nach seinen Vorstellungen würde aus- und umbauen können, »ich muss zurück nach Newport.«

»Uhh.« Elena zog die Augenbrauen hoch. »Zurück in Ihr altes Kinderzimmer?«

Damit brachte sie Blake zum Lachen. »Zum Glück nicht.« Er hatte mit seinen Kumpels schon vor Jahren das Loft in einem der alten Warenhäuser am Brickmarket Place ausgebaut, weil ihm klar gewesen war, dass er irgendwann zurückkommen würde, um die Firma zu übernehmen. Nur nicht jetzt. Und nicht so.

»Newport ist eine gute halbe Stunde entfernt«, erinnerte die Nachbarin ihn daran, dass es genug Leute gab, die diese Strecke täglich pendelten.

»Ich habe es versucht, Elena. Aber zwischen den Büros pendeln funktioniert nicht. Ich muss dort sein, wo die Entscheidungen getroffen werden. Und das ist nun mal nicht das Architekten-Atelier in Providence, sondern der Firmensitz in Newport.«

»Das ist wirklich schade, mein Lieber.« Elena legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich hoffe, dass Ihr Vater schnell wieder auf die Beine kommt.« Sie wandte den Kopf zu dem großen, fast hundertfünfzig Jahre alten Haus hinter sich. »Und diesem Schätzchen wünsche ich, dass es einen Käufer findet, der es mit dem gleichen Blick betrachtet wie Sie.« Sie sah Blake wieder an und schenkte ihm ein Lächeln, das ihre Augen in einem Hauch Wehmut glitzern ließ. »Ein solches Haus loszulassen ist ein bisschen, wie seine große Liebe zu verlieren«, sagte sie leise.

Blake schluckte. Elena hatte recht. Und die Addams Family-Burg war nicht die einzige große Liebe, die er gerade verloren hatte.

JETZT

Blake hörte Stimmen aus dem Foyer und drehte sich in dem Moment um, in dem sein Bruder Oliver und seine Schwester Phoebe in den Raum stürmten. Wie meistens lagen sie sich wegen irgendetwas in den Haaren, obwohl seine Schwester bereits dreißig war und Oliver achtundzwanzig.

»Woher willst du denn Ahnung haben, wie eine Hochzeitstorte aussehen muss?«, wollte Phoebe gerade wissen. »Du hast bei Hochzeitstorten doch bisher höchstens darauf geachtet, wie sie schmecken.«

»Du weißt überhaupt nicht, von was ich eine Ahnung habe.« Oliver drehte seiner Schwester den Rücken zu und schenkte ihnen ein breites Lächeln. »Hey, Paps.« Er umarmte Richard, der sich aus seinem Sessel erhoben hatte. »Und hallo, großer Bruder.« Er schlug Blake auf die Schulter, ehe er sich vor Sammy auf den Boden fallen ließ. Was Sammy dazu brachte, sich sofort auf den Rücken zu drehen, damit Oliver ihm den Bauch kraulen konnte. Die beiden liebten es, sich so zu begrüßen.

Phoebe umarmte erst ihren Dad und dann Blake. »Er glaubt immer, er hat recht.« Sie blickte in Richtung ihres jüngeren Bruders. »Und er muss immer das letzte Wort haben.«

Richard seufzte und zwinkerte Phoebe zu. »Die gleichen Sätze haben wir schon von euch gehört, als du fünf Jahre alt warst und ihr darüber gezankt habt, wessen Laufrad schneller war.«

»Pff.« Phoebe hakte sich bei Richard unter. »Mit fünf hatte ich längst ein Fahrrad und war schneller als der Wind.«

»Ein Fahrrad mit Stützrädern«, korrigierte Oliver sie und rappelte sich vom Boden auf.

»Ich habe nichts dagegen, dass ihr euch streitet«, sagte ihre Mutter, die gefolgt von der Haushälterin, Mrs. Wells, den Wintergarten betrat. »Aber bitte bei Tisch. Wir wären so weit.«

»Was gibt es denn?« Oliver ließ sich auf seinen Platz neben Phoebe fallen, was definitiv dafür sorgen würde, dass sie sich den Rest des Abends weiterkabbelten.

»Brokkoli«, sagte ihre Mutter zum Entsetzen aller Anwesenden und warf ihrem Mann einen herausfordernden Blick zu.

Blake sah amüsiert dabei zu, wie Richard versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen. Denn ihm war, wie jedem anderen am Tisch, klar, dass seine Gesundheit der Grund für dieses Hass-Gemüse der Familie Marshall war.

»Keine Sorge«, beruhigte Mrs. Wells sie mit einem gutmütigen Zwinkern. Ihr runzliges Gesicht leuchtete belustigt auf. »Es gibt auch noch gebratene Jakobsmuscheln. Damit lässt sich der Brokkoli auf jeden Fall ein bisschen veredeln.«

»Brokkoli lässt sich mit nichts veredeln«, moserte Oliver. »Wusstet ihr, dass nicht mal die Bakterien, die für die Zersetzung von Pflanzen zuständig sind, Brokkoli mögen? Das ist wie radioaktiver Müll. Das Zeug verrottet nicht. Egal wie viele Millionen Jahre vergehen.«

»Erinnere mich dran, dass ich nicht mehr erlaube, dass du meinem Sohn Gutenachtgeschichten erzählst«, konnte Phoebe sich nicht verkneifen. »Deine Fantasie verdirbt einen unschuldigen Neunjährigen nur.«

Mirinda setzte sich an das Kopfende des Tisches und funkelte die Streithähne an, während Richard sich an das andere Ende setzte. »Mir ist es egal, wie die Halbwertszeit eines Brokkoli ist«, erklärte sie. »Er ist gut für euren Vater, also steht er auf dem Speiseplan.«

»Und wir werden uns nicht weiter beschweren und ihn einfach essen«, versuchte Blake den Frieden am Tisch wiederherzustellen. Er setzte sich seinen Geschwistern gegenüber hin und bemühte sich, nicht zusammenzuzucken, als Mrs. Wells ihm eine ordentliche Portion des verhassten Grünzeugs auf den Teller schaufelte.

Es tat verdammt gut, hier zu sitzen, seinen Geschwistern beim Streiten zuzuhören oder selbst Opfer ihrer Sticheleien zu werden. Die liebevollen Blicke zu sehen, die seine Eltern austauschten. Bei grauenvollem Gemüse und fantastischen Muscheln. Begleitet von der leisen klassischen Musik im Hintergrund, dem Heulen des Windes, der über die Klippen fegte und an den Fensterläden rüttelte, und Sammys Schnarchen vor dem Kamin. Viel zu lange hatte es diese Art von Familienzusammenkünften nicht gegeben, viel zu lange hatten sie gefürchtet, nie wieder mit ihrem Vater hier zu sitzen. Blake schob den größten Teil des Brokkoli zur Seite und ließ sich von Mrs. Wells noch ein paar Muscheln auf den Teller schmuggeln. Er erzählte seinem Vater von den Fortschritten, die das Edge on Hudson-Projekt machte, lauschte ein paar Geschichten seiner Mutter aus der Uni und wurde gezwungenermaßen Zeuge einer hysterischen Sprachnachricht, die Olivers Verlobte Lacey ihm schickte – und in der es um die Hochzeitstorte ging.

Phoebe verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit einem Blick in den Augen zurück, der das höchste Maß an Selbstzufriedenheit ausdrückte. Diesmal hatte sie recht behalten.

Blake konnte nicht anders, als laut zu lachen.

Später am Abend, als Blake in seinem Loft über seinen Projekten brütete, fiel es ihm trotz der Stille um ihn herum schwer, sich zu konzentrieren. Er stand auf und ging mit seinem halb leeren Bier zum Fenster hinüber. Obwohl es erst April war, war das holprige Pflaster der Gassen unter ihm bevölkert. Die Menschen unterhielten sich, lachten, feierten.

Blake rieb sich mit der Faust über den Brustkorb. Ein bisschen fühlte er sich, als blicke er von außen auf das Leben. Wie ein Zuschauer durch eine Glaskugel.

3

Der Abend hatte sich bereits über die Bucht gelegt, als Harper in die Ocean View Avenue einbog. Am Strand flackerten ein paar Lagerfeuer. Auch wenn im April ein verdammt kalter Wind vom Atlantik in den Rhode Island Sound pfiff, waren die Teenager nicht mehr in den Häusern zu halten, sobald sich der Frühling ankündigte.

Der Eisstand, den Dexter Simpson an der Promenade betrieb, war verwaist, genau wie der Tisch daneben, an dem er in jeder freien Minute mit Neele Chapman, der das Piece of Heaven gehörte, und Ray Wilson, Brookes Boss in der Schreinerei, pokerte. Wenn die drei nicht hier herumlungerten, gab es eigentlich nur einen Ort, an dem sie im Moment sein konnten. Harper ließ ihren Toyota hinter dem rostigen Jeep ihrer Freundin Naya ausrollen, die für diesen Abend extra von Newport herübergefahren war, und blickte zu ihrem hell erleuchteten Zuhause hinüber. Sie konnte die Musik und das Lachen ihrer Nachbarn und Freunde bis hierher hören. Die Poker-Gang, die jeder in Jamestown Die Drei nannte, saß mit Sicherheit in Harpers Wohnzimmer und versuchte, die Gäste der Hope-Day-Party zu einem kleinen Spielchen zu verführen.

Der Sand, den der Wind wie eine zarte Schicht Puderzucker über den Asphalt gefegt hatte, knirschte unter Harpers Schuhen, als sie ausstieg und einen Moment vor dem Haus stehen blieb. Die meisten der Leute, die für den Lärmpegel im Haus und im Garten dahinter verantwortlich waren, wohnten in ihrem Viertel und brauchten nicht mehr als zwei Minuten, um nach Hause zu kommen. Mit der Hope-Day-Party feierten Harper und Brooke nicht nur den Start in ihr neues Leben. Es war auch ein Dankeschön an ihre Freunde und Nachbarn, die ihnen geholfen hatten, hier Fuß zu fassen. Die sie unterstützt hatten, ohne jemals Fragen zu stellen. Die sie akzeptiert hatten. An diesem Tag vor zehn Jahren, als sie mit einem heruntergekommenen Schrank im Gepäck in Jamestown aufgetaucht waren. Brooke und sie hatten nie viel über ihre Vergangenheit erzählt, aber das war auch nicht nötig gewesen. In Jamestown sahen die Menschen, wenn Hilfe gebraucht wurde. Und packten an, ohne zu zögern. Die Party war Brookes und ihre Art, ihnen etwas zurückzugeben – und das jetzt schon seit vielen Jahren, in denen diese Party für viele ihrer Nachbarn zu einer festen Konstante geworden war.

Harper atmete tief durch. Die Feier war wichtig, und sie wollte mit ihren Freunden anstoßen. Trotzdem zögerte sie einen Moment. Der Tag mit Blake war anstrengend gewesen. Ihn zu vergessen und ihre Arbeit auszublenden, fiel ihr schwer. Genau wie die Gedanken, die sie sich in letzter Zeit so oft um ihren Job machte. Für einen Moment wünschte sie sich, allein in ihrem Zimmer zu sitzen, ein Buch aufzuschlagen und alles …

»Willst du da Wurzeln schlagen, Mädchen?«

Harper zuckte zusammen, als die kratzige, leise Stimme aus der Dämmerung wehte. »Grandma Wilson.« Sie presste die Hand auf ihre Rippen, hinter denen ihr Herz erschrocken gestolpert war. »Ich habe Sie gar nicht gesehen. Was machen Sie denn hier draußen in der Kälte?« Eilig durchquerte sie den handtuchgroßen Vorgarten und stieg die Stufen zur Veranda hinauf, auf der die alte Dame in einem der Schaukelstühle saß. Beruhigt stellte Harper fest, dass sie sich in eine Decke gehüllt hatte.

»Bah, Kälte.« Marbel Wilson gab einen abfälligen Ton von sich. »Ich kenne die Frühlingsnächte in der Bucht seit meiner Geburt. Bin nie woanders gewesen.«

Harper biss sich auf die Innenseite der Wange, um nicht zu lachen. Offenbar waren sie beim Lieblingsthema der alten Dame angelangt. Als diese vor ein paar Monaten ihren hundertsten Geburtstag gefeiert hatte, waren ihr die Leute mit der Frage, wie sie so alt geworden war, auf die Nerven gegangen. Doch dann hatte sie ein Spiel daraus gemacht und sich die skurrilsten Anti-Aging-Methoden ausgedacht, die sie mit Begeisterung unter die Leute brachte. Seitdem bestand sie darauf, nach ihrem Alter gefragt zu werden. »Ist das der Grund, aus dem Sie hundert geworden sind, Grandma Wilson? Weil Sie so gut mit der Kälte im Frühling in Jamestown umgehen können?«, fragte Harper deshalb gehorsam.

»Pff.« Marbel winkte ab, aber Harper konnte im Zwielicht sehen, wie ihre Augen funkelten. Dann beugte sie sich vor, als wolle sie Harper ein Geheimnis verraten. »Ich habe mir jeden Morgen einen Kiesel vom Strand geholt und ihn eine Stunde lang gelutscht, um die Mineralien und alles, was das Meer daran hinterlassen hat, aufzunehmen.«