Rückkehr nach Sunset Cove - Ella Thompson - E-Book
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Rückkehr nach Sunset Cove E-Book

Ella Thompson

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Beschreibung

Wenn der Horizont weit ist und der Ozean rau, ist es Zeit, Geheimnisse zu lüften!

Wie aus dem Nichts bricht Niclas Hunters Welt zusammen. Gerade noch war er ein erfolgreicher Staatsanwalt, doch seine Konkurrentin Gillian Mulhare brachte ihn mit einer sorgsam eingefädelten Intrige zu Fall. Um der Belagerung durch die Presse zu entkommen, flüchtet Niclas nach Cape Cod, wo er im Familiensitz Sunset Cove zur Ruhe kommen will. Doch statt das Haus wie erwartet leerstehend vorzufinden, ertappt er eine mysteriöse Einbrecherin – unter der Dusche. Von der ersten Sekunde an fühlt sich Niclas zu der jungen Frau hingezogen, wie er es noch nie zuvor erlebt hat. Doch wer ist die schöne Unbekannte und was führt sie im Schilde?

Aufwändig und liebevoll gestaltete Ausgabe mit farbigen Karten und Innenklappen!

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Seitenzahl: 514

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Buch

Wie aus dem Nichts bricht Niclas Hunters Welt zusammen. Gerade noch war er ein erfolgreicher Staatsanwalt, doch nach einer Nacht mit einer ­attraktiven Frau steht er vor den Trümmern seines Lebens. Nachdem seine machthungrige Konkurrentin Gillian Mulhare es auf legalem Weg nicht schaffte, ihn auszustechen, brachte sie Niclas mit einer sorgsam eingefädelten Intrige zu Fall. Um dem darauffolgenden Skandal und der Belagerung durch die Presse zu entkommen, flüchtet Niclas nach Cape Cod, wo er im Familiensitz Sunset Cove zur Ruhe kommen will. Doch statt das Haus wie erwartet leerstehend vorzufinden, ertappt er eine ­mysteriöse Einbrecherin – unter der Dusche. Und nicht einmal die schlechten Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit können verhindern, dass sich Niclas von der ersten Sekunde an so stark zu der jungen Frau hingezogen fühlt, wie er es noch nie zuvor erlebt hat. Doch wer ist die schöne Unbekannte, und was führt sie im Schilde?

Die Au­torin

Ella Thompson, geboren 1976, verbringt nach Möglichkeit jeden Sommer an der Ostküste der USA. Ihre persönlichen Lieblingsorte sind die malerischen New-England-Küstenstädtchen, wo sie gerne die Biere regionaler Brauereien testet. Und an den endlosen Stränden von Cape Cod genießt sie die Sonnenuntergänge über dem Atlantik – am liebsten mit einer Hundenase an ihrer Seite, die sich in den Wind reckt.

ELLA THOMPSON

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SUNSET COVE

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Originalausgabe 02/2019Copyright © 2019 by Ella ThompsonCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Neumarkter Str. 28, 81673 München Bigstock (belander, CaptureLight, SvetlanaR, bioraven, Artenex, Anna Om), Shutterstock (StevanZZ, Nisachon Poompuang) ISBN 978-3-641-23407-2V002
www.heyne.de

Ein einziger Verrat kann dein Leben vernichten – wenn du es zulässt.

Prolog

Es hatte eine Zeit gegeben, da war das Überqueren des träge dahinfließenden Cape Cod Canal für Niclas Hunter der Inbegriff von Glück gewesen. Die Sommer seiner Jugend hatte er auf der Halbinsel verbracht. Ferien, Familienausflüge. Und später Segeltörns und Männerwochenenden mit seinen Collegekumpels. Früher war das Cape untrennbar mit guter Laune, dem Geruch nach Sonnencreme, salzigem Wind und kaltem Bier verbunden gewesen. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag vor elf Jahren, der alles verändert und das ohnehin sehr fragile Geflecht seiner Familie zerschmettert hatte.

Seitdem war Cape Cod nicht mehr, was es zuvor gewesen war. Sunset Cove hatte seine Unschuld verloren. Die Hunters hatten der Wahrheit, vor der sie in Boston leicht die Augen verschließen konnten, ins Gesicht sehen müssen. Niclas war nur noch selten auf die Halbinsel zurückgekehrt. Bei keinem dieser Besuche beflügelte ihn mehr diese Mischung aus Vorfreude und Freiheit, wenn er seinen Wagen auf die Sagamore Bridge lenkte. Auch heute nicht.

Seine rechte Hand umklammerte das Lenkrad, während er sich mit der linken die brennenden Augen rieb. Müdigkeit und abgrundtiefe Erschöpfung waren die einzigen Emotionen, zu denen er im Moment fähig war. Unter normalen Umständen würde er begeistert Fotos von dem dramatisch rot und lila leuchtenden Himmel und den schwarz dahinjagenden Wolken schießen. Er würde sich mit seinen Freunden zu einem Barbecue treffen. Zum Strand hinuntergehen, sich von den Böen treiben lassen und ein Sturmbier trinken.

Dieses Mal kam er nicht auf die Halbinsel, um zu feiern oder ein entspanntes Wochenende zu verbringen. Er war auf der Flucht. Vor seinem Job, der ihm mit einem Riesenknall um die Ohren geflogen war. Vor den hämischen Kommentaren und schadenfrohen Blicken seiner Kollegen und vermeintlichen Freunde. Nicht zuletzt vor der Presse – und irgendwie auch vor sich selbst, seiner Dummheit und seinem Versagen. Und vor der nagenden Angst, dass diese Dummheit einen Menschen das ­Leben kosten könnte. Dass eine junge Frau starb, weil durch sein Verhalten ein Mörder, der hinter Gitter gehörte, frei herumlief.

Er ließ Dennis und Eastham hinter sich und bog vor dem National Seashore auf die einsame Schotterstraße ab, die ihn nach Sunset Cove führte. Über den dunklen Himmel zuckten die ersten Blitze. Eine wunderbare Ergänzung zu seiner Stimmung. Niclas hatte nach der unwahrscheinlichsten aller Möglichkeiten gegriffen: sich im Sommerhaus zu verstecken. Hier konnte er in Ruhe seine Wunden lecken. Sunset Cove war jahrelang in seinem Bewusstsein so weit nach hinten gerückt, dass er es zunächst gar nicht als Rückzugsort betrachtet hatte. Und genau deshalb war es ein perfekter Unterschlupf.

Niclas stellte seinen Wagen vor den Garagen ab und stieg die großzügigen Stufen zur zweiflügligen Eingangstür von Sunset Cove hinauf. Er tippte den Code ein, atmete tief durch, stieß die schwere Eichentür auf – und blieb wie angewurzelt stehen. Anstatt dunklen Geistern und schmerzhaften Erinnerungen zu begegnen, erblickte er einen Hund. Einen großen Labrador, der breitbeinig mitten im lichtdurchfluteten Foyer stand. Er knurrte nicht, und doch erweckte er den Eindruck, dass er das Haus, wenn nötig, gegen Niclas verteidigen würde. Aus dem oberen Stockwerk drangen gedämpfte Geräusche. Niclas war sich sicher gewesen, niemanden aus seiner Familie in Sunset Cove anzutreffen. Er legte seine Hand dafür ins Feuer, dass seine Mutter keinen Schritt über die Schwelle des Strandhauses setzen würde. Sein Bruder Andrew war viel zu sehr damit beschäftigt, in einer Bostoner Klinik Leben zu retten, um hier rauszufahren. Damit blieb einzig sein Vater, der regelmäßig herkam. Aus Gründen, über die Niclas nicht nachdenken wollte. Deshalb hatte er die Assistentin seines alten Herrn vor der Fahrt angerufen. Es gab schließlich Dinge, bei denen man seine Eltern nicht ertappen wollte. Ihm war versichert worden, dass Theodor Hunter gerade dabei war, einen spektakulären Finanzdeal abzuschließen.

Mit einer langsamen Bewegung, um den Hund nicht zu reizen, zog Niclas sein Handy aus der Tasche. Sein Bruder war immer über jede Kleinigkeit informiert. Hey, Drew. Haben wir im Moment einen Gast in Sunset Cove, von dem ich nichts weiß? tippte er und schickte die Nachricht ab.

Es dauerte keine drei Sekunden, bis das Handy in seiner Hand vibrierte. »Ist das dein Ernst?«, ertönte die Stimme seines Bruders an seinem Ohr. Andrew klang sauer. Stinksauer. »Ich versuche seit gestern, dich zu erreichen. Genau wie der alte Mann und Mom. Jake hat es versucht …«

»Ja, und eine Million andere Leute auch«, unterbrach Niclas ihn. Der Hund legte den Kopf schief und betrachtete ihn neugierig. »Hör mal, wenn du mich anbrüllen willst, verschieben wir das lieber auf später. Ich stehe im Foyer von Sunset Cove und bin ganz offensichtlich nicht allein.«

Andrew schwieg einen Moment. Wahrscheinlich überlegte er. »Meines Wissens hast du das Haus ganz für dich. Der alte Herr steckt mitten in Firmenverhandlungen. Wer außer ihm würde schon freiwillig auf die Halbinsel fahren?«

Der Labrador ließ sein Hinterteil entspannt auf die italienischen Fliesen sinken und schlug einmal mit dem Schwanz auf den Boden. Er schien zu grinsen.

»Hier ist jemand.« Niclas trat endlich über die Schwelle. Er schnappte sich einen Golfschläger aus der Tasche, die hinter der Tür lehnte, und ging auf die Treppe zu. »Jemand duscht.«

»Ein Einbrecher, der duscht?«, erwiderte Andrew. »Sei bloß vorsichtig. Soll ich die Cops oder die Sicherheitsfirma anrufen?«

»Nein. Ich kümmere mich schon darum. Ich lege jetzt auf.«

»Wenn ich in zehn Minuten nichts von dir gehört habe, kontaktiere ich die Polizei. Also ruf mich an!«

Niclas drückte das Gespräch weg. Die Aufforderung seines Bruders bezog sich nicht nur auf den Einbrecher, das war ihm klar. Er seufzte innerlich, steckte das Handy ein und warf dem Hund noch einen wachsamen Blick zu. Er schien tatsächlich harmlos zu sein. Also ließ Niclas ihn links liegen und schlich nach oben. Die Geräusche kamen eindeutig aus dem Badezimmer rechts von der Treppe. Er hielt kurz inne. Die Tür war nur angelehnt, aber er konnte niemanden sehen. Er schloss seine Hände fest um den Golfschläger und stieß die Tür mit einer so heftigen Bewegung auf, dass sie gegen die Wand prallte.

Mit einem erschrockenen Laut fuhr der Eindringling ­her­um. Niclas blinzelte. Hinter der Wand aus Glas stand eine Frau. Er konnte ihre große, schmale Gestalt deutlich erkennen. Langsam ließ er den Golfschläger sinken. Auch wenn das Wasser ihre Silhouette verschwimmen ließ, war er sich sicher, ihr noch nie begegnet zu sein. Das musste nichts heißen. Sie konnte eine der Geliebten seines Vaters sein. »Verdammt noch mal, wer sind Sie? Und was haben Sie in diesem Haus verloren?«

1

»Einen Moment.« Die Frau drehte sich um und stellte die Dusche ab. Niclas bekam ihre Kehrseite zu sehen. Ihr Haar war lang. Es reichte ihr fast bis zum Ansatz eines wirklich bemerkenswerten Hinterns. Da die Haare nass waren, konnte er ihre Farbe nicht genau bestimmen.

Unvermittelt drehte sich die Frau wieder um und ertappte ihn, wie er sie anstarrte. Peinlich berührt ließ er seinen Blick durch das Bad schweifen. Er griff nach einem Handtuch und warf es ihr zu, als sie aus der Dusche trat. Mit der linken Hand fing sie es auf und wickelte sich darin ein. Sie blickte ihn hochmütig mit ihren bernsteinfarbenen Augen an und reckte stolz das Kinn.

Um ihr zu zeigen, dass er sich von ihrer Arroganz nicht beeindrucken ließ, lehnte er sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und zog die Augenbrauen hoch. »Ich frage Sie noch einmal: Was tun Sie hier?«

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.« Sie war wirklich frech.

»Sind Sie eine der Affären meines Vaters?«, fragte er geradeheraus.

Sie hob ihr Kinn noch höher. »Nein.«

»Was haben Sie dann hier verloren?«

Die Unbekannte schwieg.

Niclas wartete einen Moment, ob sie sich zu einer Erklärung herabließ. Als sie nichts sagte, zuckte er mit den Schultern. »Da mir kein Grund einfällt, der Sie berechtigen könnte, sich hier aufzuhalten, rufe ich jetzt die Polizei und lasse sie das klären.«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in ihren Augen auf, das ihn an blanke Panik erinnerte. »Kein Problem.« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin schon weg. Kein Grund, einen großen Wirbel zu veranstalten. Geben Sie mir zwei Minuten.«

Niclas atmete den Duft nach Kokos ein, der in der feuchten Luft des Badezimmers hing, und bemühte sich, die Frau nicht anzustarren. Irgendetwas hatte sie an sich. Er hatte keine Ahnung, wieso er nicht einfach die Cops rief. »Zwei Minuten«, gestand er ihr zu. Bestimmt brauchte sie zehn Mal so lange. »Ich warte unten auf Sie.« Er kehrte ins Erdgeschoss zurück und räumte den Golfschläger weg. Der gut gelaunte und tatsächlich ziemlich harmlose Hund gesellte sich zu ihm und schnüffelte an seinem Hosenbein. Niclas kraulte ihn hinter den Ohren und ging ins Wohnzimmer, um sich einen Whiskey einzuschenken. Die Anwesenheit dieser mysteriösen Fremden stellte ihn vor ein Rätsel. Einen Augenblick überlegte er, ob sie eine Reporterin war, die ihm aufgelauert hatte. Er schüttelte den Gedanken ab. Auf die Idee, dass er sich in Sunset Cove versteckte, kam wirklich niemand.

Die Unbekannte hielt Wort. Sie tauchte zweieinhalb Minuten später in zerschlissenen Jeans und einer roten Kapuzenjacke auf. Ihr nasses Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing und feuchte Flecken auf ihrer Kleidung hinterließ. Der Wind rüttelte an den Fenstern. Es war stürmisch, und die Wolken rasten immer schneller auf das Festland zu. Die Frau blickte an ihm vorbei durchs Fenster, straffte die Schultern und wandte sich zur Tür. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Haus. Der Hund sah Niclas ein letztes Mal an und folgte ihr.

Was für eine surreale Begegnung! Niclas kippte den Whiskey hinunter und schenkte sich einen zweiten ein, den er mit auf die Terrasse nahm. Die Böe, die ihn erfasste, riss ihn beinahe von den Füßen. Doch der scharfe Wind tat gut. Er verhinderte zumindest, dass Niclas im Stehen einschlief. Einen Moment überlegte er, sein klingelndes Handy zu ignorieren. Andrews Anruf war seit dem Vortag der erste, den er angenommen hatte. Wahrscheinlich war es auch jetzt sein Bruder. Der keine Ruhe geben würde, bis er ihn erreichte. Oder ihm tatsächlich noch die Cops auf den Hals hetzte. »Hey«, meldete er sich.

»Nic, alles in Ordnung bei dir?« Jetzt hörte Andrew sich nicht mehr wütend an. In seine Stimme hatte sich ein sorgenvoller Unterton gemischt.

»Ja. Alles klar.« Niclas versuchte, so fröhlich wie möglich zu klingen, auch wenn er Andrew nicht täuschen konnte.

»Was war denn los? Wer ist in das Haus eingebrochen? Wir sollten auf jeden Fall die Polizei rufen. Schon wegen der Versicherung und so weiter.«

Niclas sah wieder das Gesicht der Fremden vor sich, spürte ihren gehetzten Blick, als er die Cops erwähnte. Es spielte keine Rolle mehr. Sie war verschwunden. Gleich morgen früh würde er den Türcode ändern. Seinem Bruder würde er nichts von dieser Begegnung erzählen. Wahrscheinlich war sie eines der Flittchen ihres Vaters, ein wunder Punkt in der Familie, der besonders Andrew zu schaffen machte. »Die Dusche war eingeschaltet. Wahrscheinlich hat die Putzfrau vergessen, sie abzustellen. Es ist wirklich alles in Ordnung.«

»Gut. Dann können wir jetzt darüber reden, was gestern passiert ist«, sagte Andrew gepresst.

»Eigentlich würde ich lieber einfach auf der Terrasse sitzen, auf den Ozean starren und mich betrinken.« Das war nicht gelogen.

»Ich weiß jetzt, wo du steckst. Du wirst mir also entweder sagen, was im Gerichtssaal passiert ist, oder ich setze mich ins Auto und komme nach Cape Cod, damit du es mir persönlich erzählen kannst«, erwiderte Andrew. Er verstand sich verdammt gut darauf, den großen Bruder raushängen zu lassen.

Niclas wusste, das war keine Drohung, sondern ein Versprechen. Er wollte nicht darüber reden, aber sein Bruder ließ ihm keine Wahl. »Was weißt du über die Sache?«

»Das, was den reißerischen Medien zu entnehmen war.« Andrew seufzte. »Du hast deine Nachrichten nicht abgehört oder gelesen. Du hast dich nicht bei Mom und Dad gemeldet. Glaub mir, der alte Herr sitzt in seinem Glasturm und spuckt Feuer«, fasste er die aktuelle Familienstimmung zusammen. »Ich war gestern Abend bei dir zu Hause, aber die Presse hatte dein Haus belagert, und es brannte kein Licht.«

»Ich saß im Dunkeln«, musste Niclas zugeben.

»Hast du dich inzwischen bei Mom oder Dad gemeldet?«

»Nein.« Niclas kippte seinen Whiskey hinunter, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und goss sich weitere zwei Fingerbreit in den Kristalltumbler. »Es wäre mir sehr recht, wenn du ihnen nicht sagen würdest, dass ich in Sunset Cove bin.« Ein Gespräch mit seinem Vater war das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte. Er hatte die Anrufe und E-Mails aus dem Hunter Building nicht umsonst ignoriert. Dass er auf ganzer Linie gescheitert war, wusste Niclas selbst. Er war nicht scharf darauf, sich von seinem Vater vorhalten zu lassen, dass er sich nicht dermaßen in die Scheiße geritten hätte – wobei Theodor Hunter dieses Wort mit Sicherheit nicht benutzen würde –, wenn er BWL studiert hätte und ins Familienunternehmen eingestiegen wäre. Genauso wenig wollte er das Lallen und Jammern seiner Mutter hören, dass sein Verhalten sie zum Gespött ihrer gehässigen Freundinnen gemacht habe, die sich das Maul über sie zerreißen würden. Er schob die Gedanken an seine verkorksten Eltern beiseite.

»Keine Sorge, ich verrate dich nicht. Aber ruf sie an, okay?«, bat Andrew. »Zumindest Mom macht sich Sorgen um dich.«

Wer es glaubte.

Da er nicht antwortete, fuhr Andrew fort: »Wirst du mir jetzt verraten, was gestern los war?«

Das Ganze ließ sich ziemlich einfach zusammenfassen. »Ich bin daran schuld, dass eines der schlimmsten Monster, die Boston jemals gesehen hat, frei herumläuft.« Wieder leerte er das Glas in einem Zug und goss nach. »Ich habe es versaut. Und zwar auf ganzer Linie. Ich bin in die Falle einer Frau getappt wie ein blutiger Anfänger. Wenn noch ein Mädchen in Murray Bralvers’ Fänge gerät, kann ich niemanden dafür verantwortlich machen außer mich selbst. Das lässt sich nicht beschönigen, Drew.«

»Du wirst einen Weg finden. Du wirst das wieder hinbiegen.«

»Gerade du solltest das besser wissen.« Niclas schaffte es nicht, den zynischen Unterton aus seiner Stimme zu verbannen. Sein Bruder, ein Arzt, wusste, dass es nicht immer gut ging. Dass man nicht jeden retten konnte.

Andrew seufzte noch einmal. »Und wie geht es jetzt weiter? Du versteckst dich ausgerechnet in Sunset Cove?«

»Warum nicht? Ich brauche wirklich Abstand. Ich muss nachdenken. Überlegen, wie es weitergehen soll. Der alte Kasten steht sowieso leer. Niemand wird mich hier vermuten.« Niclas räusperte sich. »Dad … Er wird doch nicht hier auftauchen, oder?«

»Nein.« Andrew bestätigte, was Niclas bereits in Erfahrung gebracht hatte. »Momentan bleibt er offenbar lieber in der Stadt. Er zieht gerade irgendeinen riesigen Deal an Land und lebt praktisch in seinem Büro.« Obwohl Andrew ihren Vater und seine Neigung zu blutjungen, hohlköpfigen Assistentinnen verabscheute, wusste er verdammt gut über sein Treiben Bescheid. »Ich versteh dich, okay? Bleib in Sunset Cove. Sammele dich, finde zu dir, und schmiede einen Plan. Du wirst deinen Ruf wiederherstellen und dieses Schwein, Bralvers, zur Strecke bringen. Wenn das einer hinbekommt, dann du. Bis dahin – versuch, nicht durchzudrehen in der alten Hütte. Und kipp dir ordentlich was von dem teuren Whiskey hinter die Binde.«

Niclas blickte auf das Glas in seiner Hand. »Das werde ich.«

Andrew verabschiedete sich von ihm, und Niclas schob das Handy wieder in die Tasche. Aus dem Augenwinkel nahm er einen roten Fleck wahr, der seine Aufmerksamkeit erregte. Die Frau schlich also immer noch um das Haus. Den Hund an ihrer Seite, kletterte sie die Stufen zum Strand hinunter. Was zum Henker …? Hatte sie einen Schlafsack unter dem Arm? Niclas blinzelte in sein Glas. Begann er zu halluzinieren? Egal. Er schenkte sich nach. Sich zu betrinken war eindeutig das Beste, was er heute noch tun konnte. Der Sturm fegte über ihn hinweg, riss an seiner Kleidung und seinen Haaren. Einen der spektakulären Sonnenuntergänge, denen die Bucht ihren Namen verdankte, würde es heute nicht geben. Niclas musste sich mit dem düsteren Zwielicht zufriedengeben, was ihm nichts ausmachte. Die Dunkelheit spiegelte sein Inneres wider. Er lehnte sich gegen das Geländer und ließ den Whiskey durch seine Kehle rinnen. Der Wind brannte in seinen Augen.

Er wollte die Frau nicht mit seinen Blicken verfolgen, wollte sie nicht beobachten. Doch er wurde magisch von dem roten Fleck am Strand angezogen. Sie hatte sich in ihren Schlafsack gewickelt. Die Hand auf dem Rücken des Hundes starrte sie auf den Atlantik hinaus. Was trieb sie da unten? Er wollte nicht darüber nachdenken. Er leerte sein Glas und schenkte sich erneut ein. Langsam setzte das Summen in seinem Kopf ein. Taubheit breitete sich in seinen Gliedern aus. Der erste Schritt in Richtung Vergessen.

*

Der Wind fuhr durch Marie McMillans Haare. Sandkörnchen fegten durch die Luft und bohrten sich in ihre Haut wie feine Nadelspitzen. Die Wetterwarnungen, die bereits den ganzen Tag in Endlosschleife im Radio wiederholt wurden, hatten sich bewahrheitet. Ein tropisches Tiefdruckgebiet wälzte sich nach Norden und würde noch in dieser Nacht in Massachusetts und Maine auf die Küste treffen. Die Wetterfrösche befürchteten, dass sich der Sturm zu einem Hurrikan auswachsen könnte. Marie hatte ein solches Unwetter zwar noch nie erlebt, konnte sich das aber bei den dunkelgrauen Wolken, die über einen unheimlich orange-lila leuchtenden Horizont auf sie zujagten, durchaus vorstellen. Es würde ungemütlich werden auf Cape Cod. Binnen Minuten verschwand die Welt um sie herum in einem Wirbel aus Grau und Schwarz. Nur die gelegentlichen Blitze, die grell am Horizont aufflammten, tauchten ihre Umgebung für einen Augenblick in stroboskopisch gleißendes Licht. So, als wolle das Unwetter ihr die Realität überdeutlich vor Augen führen, weil sie ansonsten nicht bereit war, sie zu erkennen. Dabei war sich Marie der Wirklichkeit um sich herum mehr als bewusst. Sie spürte den schneidenden Wind, der durch ihre Kleider und Haare fuhr, fühlte den feuchten Sand, in den sie ihre rechte Hand gegraben hatte. Sie fror erbärmlich. Lange konnte sie hier nicht mehr sitzen bleiben. Der Regen würde sicher jeden Moment über sie hereinbrechen.

Ihr Handy vibrierte. Marie zog es aus der Tasche ihrer Kapuzenjacke und klickte sich durch die beiden Nachrichten. Holly Clark lud sie zum Essen ein. Vermutlich wollte sie Marie vor dem Wetter schützen. Sie hatte mit Sicherheit von dem kleinen Zwischenfall Wind bekommen, der vor zwei Tagen ihr Leben aus der Bahn katapultiert hatte. Holly bekam alles mit, was auf der Halbinsel geschah. Doch Marie brauchte ihre Hilfe nicht. Sie hatte eine Lösung gefunden. Ihre Lösung. Sie musste die Vorstellung von einer Nacht an einem gemütlichen, warmen Platz wie Sunset Cove begraben. Aber sie ging keiner Herausforderung aus dem Weg, und waren die Steine, die ihr in den Weg gelegt wurden, auch noch so groß.

Die zweite SMS informierte sie darüber, dass ihre Tante Annerose versucht hatte, sie zu erreichen, und eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte.

»Marie, mein Schatz. Die Wettermeldungen an der Ostküste haben es bis ins deutsche Fernsehen geschafft. Dieser Hurrikan hält genau auf Cape Cod zu. Du bist doch in Sicherheit, oder? Bitte sag mir Bescheid, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche.« Mit einem Kussgeräusch endete die Nachricht. Marie nahm das Handy vom Ohr und starrte einen langen Augenblick auf das Display. Ihr Daumen schwebte über der Taste mit dem grünen Telefon. Sie sehnte sich danach, Annerose einfach anzurufen. Deutsch zu reden. Wenigstens für einen Augenblick ein Stück Heimat zu spüren.

Sams Wimmern holte sie in die Wirklichkeit zurück. Marie lockerte ihre verspannten Schultern und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was für eine dämliche Idee! Sie würde kein für sie nahezu unbezahlbares Ferngespräch führen. Entschlossen öffnete sie das Nachrichtenfenster und ließ ihre Tante mit wenigen, sorgsam gewählten Worten wissen, dass alles in bester Ordnung war. Mit ein paar getippten beruhigenden Sätzen log es sich besser als in einem Gespräch mit dem einzigen Menschen, der sie wirklich kannte und sich nicht von ihr hinters Licht führen lassen würde.

Sam zitterte wie Espenlaub, obwohl sie ihre Hand beruhigend auf seinen Hals gelegt hatte. Er war ein Angsthase. »Nicht mehr lange«, murmelte sie. Marie hatte noch keinen Herbststurm auf der Halbinsel erlebt. Die Erzählungen der Einheimischen und die Aufregung der Radiomoderatoren machten unmissverständlich klar, dass es ungemütlich werden würde. Sich in Sunset Cove einzunisten hatte sie für eine gute Idee gehalten. Das Strandhaus befand sich an einem besonders einsamen Küstenabschnitt hinter ­Eastham. Der Leuchtturm am Sunset Point, der Klippe, die die Bucht begrenzte, gehörte bereits zum National Sea­shore. Genau solch einen Ort brauchte sie. Er lag abseits der ­anderen ­Ferienhäuser an der Grenze zum Naturschutzgebiet, wo es nichts als Kiefernwald gab. Auf dem Cape fand man kaum einen abgelegeneren Flecken. Marie hatte ihren Wagen hinter der großen Doppelgarage versteckt und war mit ihrem Rucksack über der Schulter und Sam zu dem großen Haus mit den zwei Giebeln gegangen. Die für die Halbinsel ­typischen, im Laufe der Jahrzehnte verblichenen Zedernschindeln, weißen Sprossenfenster und dunkelgrauen Fensterläden waren das Einzige, was die Vorderfront von Sunset Cove mit den Häusern dieser Gegend gemein hatte. An der linken Stirn des Gebäudes erhob sich ein Turm, dessen unterer Teil ein helles Maleratelier und eine Bibliothek beherbergte. Darüber lag nur noch ein riesiges, luxuriöses Schlafzimmer, das von einem Witwen-Ausguck mit einem strahlend weißen Geländer gekrönt wurde. Die rechte Hausseite bestand aus einem fantastischen Wintergarten voller exotischer Pflanzen, um die sie sich einmal pro Woche ­kümmerte.

Ihre Hände hatten gezittert, als sie die drei großzügigen Stufen zur Eingangstür des Hauses hinaufgestiegen war, unentschlossen, ob sie es wirklich wagen sollte. Dann straffte sie sich. Sie war eine verurteilte Straftäterin. Warum sollte sie sich nicht wie eine verhalten? Menschen, die sich solche Sommerhäuser leisten konnten, waren nicht unschuldig an dem, was ihr zugestoßen war. Ihre Gier hatte einen erheblichen Beitrag zu Maries Untergang geleistet. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über den kleinen Höcker auf ihrem Nasenrücken. Er würde sie bei jedem Blick in den Spiegel an die Vergangenheit erinnern.

Als sie das helle Foyer betreten hatte, war sie sich noch sicher gewesen, dass die Besitzer kein großes Interesse mehr an dem Strandhaus hatten. Wie ein Kinderspielzeug, das, in eine Kiste geräumt, zu einer vagen Erinnerung verblasste. Seit einem halben Jahr arbeitete Marie auf der Halbinsel, kümmerte sich um die Außenanlagen und den Wintergarten von Sunset Cove. Außer dem wöchentlichen Putzdienst, dem Poolboy und ihr interessierte sich niemand für das Anwesen. Die Besitzer kannte sie nur von den geschmackvoll gerahmten Fotos, die überall verteilt herumstanden. Sie hatten sich den ganzen Sommer über nicht ein einziges Mal blicken lassen, und Marie war sich sicher gewesen, dass sie nicht gerade dann auftauchten, wenn einer der heftigsten Stürme des Jahres über das Land fegte.

Sam schob seinen Kopf unter ihrem Arm hindurch und kuschelte sich an sie. »Nur noch einen Moment«, versprach sie ihm. Einen Moment, den sie hinauszögerte, so lange sie konnte. Das war dumm. Wenn ihre Kleider so nass wurden wie ihre Haare vom Duschen, stünde ihr eine äußerst unangenehme Nacht bevor. Aber sie musste ja sowieso in ihrem engen Pick-up übernachten. Sie würde entweder überhaupt keinen Schlaf finden oder von Albträumen geplagt werden. Nur noch einen Augenblick hier sitzen bleiben. Gleich würde sie aufstehen, ihre Sachen zusammensammeln und sich mit Sam in ihren Wagen zurückziehen.

2

Eine Hand, die sich wie aus dem Nichts schwer auf ihre Schulter legte, ließ Marie herumfahren. Ihr erschrockener Schrei wurde von einer Sturmböe davongetragen. Ihr Puls raste. Der Typ, der sie in Sunset Cove ertappt hatte, stand auf unsicheren Beinen hinter ihr, in der Hand noch immer ein halb volles Whiskeyglas. Er hatte sie bereits zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde zu Tode erschreckt. Dabei war es normalerweise nicht ihre Art, sich von irgendetwas oder irgendjemandem überrumpeln zu lassen.

»Sie sind immer noch auf dem Grundstück.« Er sprach laut, damit sie ihn über den pfeifenden Wind hinweg verstehen konnte.

Marie schüttelte seine Hand ab. Sie mochte es nicht, wenn Fremde sie berührten. »Keine Sorge. Ich bin gleich weg.«

Er hob den Blick zum Himmel. »Das Unwetter geht jeden Moment los.«

Mann, ist der schlau, dachte sie sarkastisch. »Dann sollten Sie hineingehen.« Allmählich verlor sie die Geduld. Was wollte dieser angetrunkene Idiot am Strand? Er würde über einen angespülten Ast stolpern und sich das Genick brechen.

»Und Sie?«

»Ich bin gleich weg«, wiederholte sie. Sie musste sich eingestehen, dass sein Blick trotz des offensichtlichen Whiskeykonsums verdammt scharf und fokussiert war, als er sie fixierte. Er ließ sich nicht für dumm verkaufen.

»Sind Sie obdachlos oder so was?«

Maries Körper spannte sich an, wie immer, wenn sie in Verteidigungshaltung ging. Es war ein Reflex. Antrainiert in vier Jahren in der Hölle. Sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Von diesem Mann ging keine Gefahr aus. Er war ein reicher Blödmann, der auf seinem Grundstück den wichtigtuerischen Hausherrn spielte. »Ich ziehe lediglich die freie Natur dem Eingesperrtsein in einem Apartment vor«, fasste sie mit grimmiger Miene ihre aktuelle Situation zusammen.

Schwankend beugte er sich zu ihr herunter. Fast hätte sie die Hand gehoben und ihn gestützt. »Sie haben also keine Ahnung, wo Sie heute Nacht schlafen sollen.« Er richtete sich wieder auf und strich sich die Haare zurück. Ein sinnloses Unterfangen. Der Wind wehte sie ihm sofort wieder ins Gesicht. »Kommen Sie mit.«

»Wie bitte?«

»Nun kommen Sie schon, bevor wir beide völlig durchnässt sind.« Er wies zum Sunset Cove. Der Whiskey in seinem Glas schwappte bedenklich. »Sie können heute Nacht eines der Gästezimmer haben.«

Das brachte Maries Blut zum Kochen. Wie konnte er es wagen! Sie war gern draußen. Sie saß gern am Strand. Dass sie seit zwei Tagen am Meer schlief, war allein ihre Entscheidung. Und es ging ihn nicht das Geringste an. »Ich brauche Ihre Almosen nicht.«

»Ach nein? Bevor ich kam, schienen Sie sich im Haus ganz wohl gefühlt zu haben.«

Marie ließ ihren Blick über den schwarzen Horizont gleiten. Seine Bemerkung bedurfte keiner Antwort.

»Ich habe keine Lust, länger hier herumzustehen. Sie kommen jetzt mit, damit ich mir keine Sorgen machen muss, oder ich rufe die Polizei.«

Maries Widerstand wich Resignation. Er hatte begriffen, wie er ihr drohen konnte. Daran trug sie selbst die Schuld. Als er sie unter der Dusche überraschte, hatte sie ihre Angst für einen Moment zugelassen. Er war scharfsinnig und hatte es gemerkt. Erstaunlich, dass er immer noch damit spielte, so betrunken, wie er war.

Er hatte recht. Sie wollte nichts mit den Cops zu tun haben. Bei ihrem Umzug auf die Halbinsel hatte sie sich beim Sheriff vorstellen müssen. Jede zweite Woche meldete sie sich in seinem Büro, weil das zu ihren Auflagen gehörte. Eines war sicher: Der Polizeichef konnte sie nicht ausstehen. Wie für jeden anderen Straftäter hatte er auch für sie nur Verachtung übrig. Mit Freuden würde er ihr einen Tritt verpassen, der ihren Hintern in null Komma nichts zurück in den Knast beförderte.

Trotzig hob sie ihr Kinn. Ihr Stolz wollte noch nicht klein beigeben. Natürlich nicht. Er war das letzte bisschen Stärke, das ihr geblieben war. »Haben Sie keine Angst, im Schlaf von mir umgebracht oder ausgeraubt zu werden?«

Er durchbohrte sie mit einem Blick, der sagte: Verarsch mich nicht, Mädchen. Die Härchen an ihren Armen richteten sich auf. Er hatte sie in der Hand. Wenn er sie wegen des Einbruchs ins Strandhaus anzeigte … Den Gedanken wollte sie nicht zu Ende denken. Sie bezwang ihren Stolz und richtete sich auf. »Also gut.«

Mit ihrem Schlafsack unter dem Arm und Sam neben sich begleitete sie ihn zum Haus zurück. Der Sturm schob sie die großen Steintreppen hinauf, die auf halber Höhe in stabile Holzplanken übergingen. Die Terrassentür stand noch immer offen. Wahrscheinlich hatte sich inzwischen jede Menge Sand auf dem hübschen Fußboden gesammelt. Sorgfältig klopfte sie ihre Schuhe und Kleidung ab und fuhr mit den Fingern durch Sams Fell.

Auf die Geste des Mannes hin betrat sie Sunset Covezum zweiten Mal an diesem Tag.

»Sie haben die freie Wahl. Suchen Sie sich einfach ein Zimmer aus, das Ihnen zusagt.«

Marie schüttelte den Kopf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber hierbleiben.«

»Auf dem Sofa? Wie Sie meinen.« Ohne ein weiteres Wort schnappte er sich die halb volle Whiskeyflasche, die auf dem Couchtisch stand, und verschwand.

Eigentlich hatte sie keine Ahnung, wer dieser Typ war. Sein jüngeres Gesicht war auf vielen der im Haus verteilten Fotos zu sehen. Vermutlich war er der wohlhabende Familienspross, der Spielchen spielte, weil ihn sein privilegiertes, elitäres Leben zu Tode langweilte.

Sie umarmte Sam. »Heute Nacht haben wir es trocken und warm. Wir können uns das Unwetter von hier drin ansehen. Wie findest du das?« Der Hund antwortete, indem er zweimal mit dem Schwanz auf den Boden klopfte und über ihr Handgelenk leckte.

Marie sah sich um. Der Raum, den die Hunters wahrscheinlich schlicht Wohnzimmer nannten, war riesig. Er umfasste zusammen mit der Küche den gesamten Bereich des rechten Giebels und ging seitlich nahtlos in den Wintergarten über. Über dem Wohnzimmer befanden sich keine weiteren Räume. Sie konnte den Blick bis zur mit weißem Holz verkleideten Dachkonstruktion heben, wo ein großer, weiß lackierter Kronleuchter hing. Bei den Ausmaßen wirkte dieses Ungetüm tatsächlich zierlich. Auf der linken Seite hinter den großen, bequem wirkenden Sofas befand sich ein gemauerter Kamin. Wie es sich wohl anfühlte, vor einem gemütlichen Feuer zu sitzen und den Kapriolen zuzuschauen, die das Wetter draußen machte?

Marie wählte die Couch vor der riesigen Fensterfront und nahm eine der edlen Kaschmirdecken von der Lehne. Wahrscheinlich war sie von einem angesagten Inneneinrichter kunstvoll drapiert und noch nie benutzt worden. Sie löschte das Licht und lauschte dem Regen, der inzwischen mit Macht gegen die Fenster schlug, und den Böen, die das Haus in unregelmäßigen Abständen erschütterten. Seit sie das Haus der Hunters vor einem halben Jahr zum ersten Mal betreten hatte, um sich um den Wintergarten zu kümmern, faszinierte sie der Ausblick durch die Glasfront, die das Wohnzimmer vom Meer trennte. Die Aussicht war atemberaubend. Man hatte einen unbeschreiblichen Blick über die gesamte Bucht, die Klippe und den alten Leuchtturm. Hier stand man nicht wie ein Beobachter am Fenster und schaute hinaus. Sunset Cove vermittelte seinen Gästen den Eindruck, ein Teil der Szenerie zu sein. Marie fühlte sich hier weniger eingesperrt als in anderen Häusern – oder dem Apartment, das bis vor Kurzem ihr Zuhause gewesen war. Einzig aus diesem Grund hatte sie den Ort gewählt, als Schutz vor dem Unwetter. Allerdings war sie nicht allein, sondern verbrachte die Nacht unter demselben Dach mit einem betrunkenen Unbekannten.

Es wurde höchste Zeit, darüber nachzudenken, wie sie auf dem Cape überwintern konnte. Wenn sie bereits bei ihrem ersten Einbruch erwischt wurde, war es mit ihren kriminellen Fähigkeiten offenbar nicht weit her. Hoffentlich fand sie schnell ein neues Zuhause. Sam kletterte auf das Sofa und quetschte sich in ihre Kniekehlen. Mit einem zufriedenen Schnaufen legte er seinen Kopf auf Maries Hüfte. Automatisch streichelte sie ihn zwischen seinen Ohren und vergrub ihre Finger in seinem weichen Fell. Den Gedanken an eine zukünftige Bleibe schob sie entschlossen beiseite. Darüber konnte sie morgen noch nachdenken. Sie starrte durch die Glasfront und beobachtete die von Blitzen erhellten Naturgewalten. Die Welt da draußen glich dem Sturm in ihrem Inneren. Ihr Bauch sagte ihr, dass die Begegnung mit diesem Mann, von dem sie nicht einmal den Namen wusste, nicht ohne Folgen bleiben würde. Vier Jahre Staatsgefängnis hatten sie gelehrt, solch ein Gefühl niemals zu ignorieren.

*

Niclas zog sich in das Zimmer zurück, in dem er die Sommer verbracht hatte, solange er denken konnte. Er griff nach der Fernbedienung, die auf der Kommode neben der Tür lag, und schaltete den Fernseher ein. Das gespenstige Flackern war neben dem gelben Kreis der Nachttischlampe die einzige Lichtquelle in dem ansonsten dunklen Zimmer. Er stellte den Ton ab und suchte nach einem Nachrichtensender. Wie vermutet starrte ihm sein Spiegelbild vom Bildschirm entgegen. Die glatt rasierte, selbstbewusst grinsende Version seines Selbst, die noch vor Kurzem durch Boston stolziert war. Perfekter Haarschnitt. Makellos sitzender Anzug. Wann war das gewesen? Letzte Woche? Es kam ihm vor, als läge ein komplettes Leben zwischen diesem Tag und dem Jetzt.

Niclas ließ sich an der Wand hinuntergleiten und zog die Knie an. Sein Kopf dröhnte. Erschöpft rieb er sich mit den Händen über das Gesicht. Einen Tag war das her. Erst gestern war seine Welt aus den Fugen geraten – oder besser gesagt: implodiert.

3

Niclas’ Kopf schien zu zerspringen. Er schlug die Augen auf und schloss sie sofort stöhnend wieder. Wo war er? Seine Bartstoppeln verursachten einen unangenehmen Kratzton, als er sich über das Gesicht fuhr. Erneut öffnete er langsam die Augen, kämpfte gegen die Helligkeit. Sunset Cove. Er erinnerte sich an seine Flucht aus Boston. Spontan hatte er sich dazu entschieden, sich im Strandhaus zu verstecken, weil ihn dort niemand suchen würde. Er hatte in der vergangenen Nacht vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, und wurde jetzt mit zu viel Licht bestraft, das durch die großen Fenster in das Zimmer fiel.

Vorsichtig wandte er den Kopf zum Nachttisch, vorbei an einem leeren Whiskeyglas und einer fast leeren Flasche des Lieblingsscotchs seines Vaters. Die Leuchtziffern des Weckers verschwammen vor seinen Augen. Er blinzelte, um seinen Blick zu justieren. Fast zwölf Uhr mittags.

»Fantastisch«, brummte er. Er hatte sich tatsächlich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken. Verglichen mit vorgestern, als er überhaupt kein Auge zubekommen hatte, war er in der vergangenen Nacht in einen geradezu komatösen Schlaf gefallen.

Vergessen. Das war alles, was er wollte. Der Whiskey hatte ihm geholfen, sein Gehirn abzuschalten. Wenigstens für ein paar Stunden. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass er verdammte Kopfschmerzen und das dringende Bedürfnis nach einer Tasse Kaffee hatte.

Entschlossen rollte er sich aus dem Bett. Jeder Schritt löste ein kleines Erdbeben in seinem Kopf aus. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Er bewegte sich so, wie er sich in den vergangenen Tagen gefühlt hatte: wie ein geprügelter Hund. Er machte die Kaffeemaschine an, wartete ungeduldig und trug die Tasse Kaffee mit zitternder Hand in das Bad, das an sein Zimmer grenzte. Es gab kein Gesetz, das besagte, dass man nicht gleichzeitig duschen und Kaffee trinken konnte.

Nachdem er sich rasiert und seine Zähne geputzt hatte, fühlte er sich ein wenig menschlicher. Er schlüpfte in Jeans und einen Kapuzenpulli und trat mit seiner zweiten Tasse Kaffee auf die Terrasse. Der Himmel war von einem hellen Grau überzogen, aber die Luft klar und frisch. Niclas atmete tief ein. Die Ebbe hatte den Blick auf das Seegras freigegeben, das um diese Jahreszeit gelblich in der leichten Brise wogte. Der Jacuzzi auf dem hinteren Teil der Veranda war mit einer Plane abgedeckt. Sie war mit Ästen und Blättern übersät. Im Pool, eingepasst in den Hang fünf Meter unterhalb der Terrasse, schwamm ebenfalls jede Menge Grünzeug. Es erinnerte an das Treibgut am Strand, das sich mit Fetzen von Seetang mischte. Weitere Zeichen, dass in der vergangenen Nacht ein Unwetter über das Cape gezogen war, gab es nicht.

Niclas sah zum Leuchtturm hinüber, der still und majestätisch über der Klippe thronte, bevor sein Blick auf einen flachen Stein am Strand fiel, der aus dem Sand hervorlugte. Er strich sich über die Stirn und wartete darauf, dass die Kopfschmerzen allmählich nachließen. Der Whiskey hatte ihm einen seltsamen Traum beschert. Bruchstückhaft erinnerte er sich an eine Amazone, die in das Strandhaus eingebrochen war, um zu duschen. Der Traum war so realistisch gewesen, dass sich Niclas unwillkürlich zum Wohnzimmer umdrehte. Nichts deutete auf einen Übernachtungsgast hin. Wahrscheinlich wurde er langsam verrückt. Vom Alkohol sollte er in nächster Zeit jedenfalls die Finger lassen. Er half sowieso nicht bei der Lösung seiner Probleme.

Sein Handy klingelte, und er zuckte zusammen. Durch die abrupte Bewegung schwappte die Hälfte seines Kaffees über. »Verdammte Scheiße«, fluchte er, stellte die Tasse auf das Geländer und wischte seine Hand an der Jeans ab. Mit der anderen fischte er das Telefon aus der Tasche. Andrew.

»Hey, Bruder. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«

Niclas setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe, die zum Strand führte. Wieder fiel sein Blick auf diese bestimmte Stelle im Sand. Seine Gedanken wanderten zu der Amazone. »Wahrscheinlich habe ich den Whiskeyvorrat unseres alten Herrn erheblich dezimiert.«

»Das geschieht ihm recht.« Niclas gegenüber machte Andrew selten einen Hehl aus der Abneigung ihrem Vater gegenüber. »Sonst keine weiteren Zwischenfälle nach dem Ding mit der laufenden Dusche?«

Verdammt. Die Dusche. Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Die Amazone war kein Traum gewesen. Er hatte sie im Bad vorgefunden und für eine der Mätressen seines Vaters gehalten. Allerdings hatte sie sich als Obdachlose entpuppt. Niclas nahm seine Kaffeetasse vom Geländer und trank einen großen Schluck, damit sein Gehirn endlich in Gang kam. Er würde Andrew nichts davon erzählen, dass er sie im Haus hatte schlafen lassen. Sein Bruder würde ihn auf der Stelle wegen Unzurechnungsfähigkeit einweisen lassen.

Stattdessen wappnete er sich für das Unausweichliche. »Gibt es etwas Neues?«, fragte er.

»Nein.« Andrew zögerte einen Moment. »Die Presse zerreißt sich noch immer das Maul. Der Drecksack läuft frei ­herum. Aber er hat niemanden – du weißt schon.«

Ja, er wusste schon. Murray Bralvers war seit seinem Freispruch weder als Sexualstraftäter noch als Mörder aufgefallen. Niclas gab sich keinen Illusionen hin. Die Gerichtsverhandlung lag gerade einmal drei Tage zurück. Früher oder später … Bevor er sich eine weitere Tasse Kaffee genehmigte, brauchte er ein Advil. »Es wird wieder geschehen. Niemand kann ihn aufhalten.«

»Das ist nicht deine Schuld«, widersprach Andrew. »Du bist in eine Falle getappt.«

»Ja. In die älteste Falle der Welt.«

»Hör mal«, wechselte sein Bruder das Thema. »Mom hat mich angerufen. Sie ist im Moment nicht besonders gut drauf. Kannst du dich mal bei ihr melden?«, bat er ihn wie schon am Abend zuvor.

Wann war Georgina Sullivan-Hunter je gut drauf? Niclas seufzte. Er verabscheute die Schwäche ihrer Mutter genauso wie Andrew die Rücksichtslosigkeit ihres Vaters. »Ja«, presste er hervor. Wann er anrufen würde, ließ er vorsichtshalber offen.

Er hörte im Hintergrund, wie Andrews Name ausgerufen wurde. Offenbar hatte er Dienst im Krankenhaus.

»Mist, ich muss los. Ich wollte nur hören, wie du die erste Nacht rumbekommen hast. Jake kommt irgendwann in den nächsten Tagen zum Cape.«

»Ich brauche keinen Babysitter«, erwiderte Niclas ärgerlich. Sein Bruder und sein bester Freund, Jake, sorgten sich um ihn. Wie einen verletzten Helden, der jeden Moment an seinem Schicksal zu zerbrechen drohte, mussten sie ihn dennoch nicht behandeln. Besonders weil er kein Held war. Sondern das genaue Gegenteil. Er war jemand, der die Leben anderer Menschen zerstörte und keine Ahnung hatte, wie er die von ihm begangenen Fehler wieder rückgängig machen sollte.

»Er hat etwas von einer Brauerei erzählt, die vielleicht zum Verkauf steht. Sieh ihn also einfach als netten Mitbewohner. Er bleibt nur ein paar Tage. Wir hören uns.« Andrew beendete das Gespräch.

Niclas erhob sich, schlurfte in die Küche und nahm eine Schmerztablette, bevor er Kaffee nachschenkte. Langsam schlenderte er durch das Haus. Im Türrahmen zum Turmzimmer, das den besten Ausblick im Strandhaus bot, blieb er stehen. Die Geschehnisse der vergangenen Tage und das Auftauchen der Unbekannten hatten ihn so sehr beschäftigt, dass er erst in diesem Augenblick wieder an den Albtraum erinnert wurde, der mit diesem Zimmer verbunden war. Die im Wind wehenden weißen Vorhänge. Der Duft des Ozeans, der sich mit dem metallischen Geruch von Blut mischte, das unaufhaltsam auf die weißen Laken tropfte. Die Erinnerungen an den so strahlenden wie dramatischen Sommertag hinterließen eine Gänsehaut auf Niclas’ Haut. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, stieg die Treppe zum Atelier seiner Mutter hinunter und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nirgendwo fand er einen Hinweis auf die seltsame Frau. Als wäre sie nie hier gewesen. Es schien allerdings auch nicht so, als hätte sie etwas mitgehen lassen. Alles stand an seinem üblichen Platz. Gut.

Einerseits war er froh, ihr nicht noch einmal begegnet zu sein, andererseits machte sie ihn neugierig. Sie war auf irgendeine Art mit dem Gesetz in Konflikt geraten und hatte Schiss vor den Cops. Vielleicht war sie eine Illegale, überlegte er. Aus den wenigen Worten, die sie gewechselt hatten, hatte er einen leichten Akzent herausgehört, den er nicht einordnen konnte, der aber mit Sicherheit nicht amerikanisch war. Irgendetwas Europäisches vielleicht.

Es war vergeudete Zeit, darüber nachzudenken. Wenn Niclas sie auch nur ansatzweise richtig einschätzte, würde sie nicht wiederkommen.

Zurück auf der Terrasse, zog er abermals sein Handy aus der Tasche. Er hatte nicht vor, seine Mutter anzurufen. Aber ein Telefonat musste er führen. Es war längst überfällig. Er wählte und wartete, bis am anderen Ende abgehoben wurde. Eine freundliche weibliche Stimme begrüßte ihn im Büro von Daniel Benson.

»Hi, hier ist Niclas Hunter. Ist der Bezirksstaatsanwalt zu sprechen?«

»Mr. … Hunter.« Die Frau schien mehr als überrascht. »Ähm – einen Moment. Ich sehe nach, ob Mr. Benson im Haus ist.« Eine nervige Warteschleifenmusik erklang und dröhnte so lange durch sein Gehirn, dass der Kopfschmerz wieder angekurbelt wurde. Das Vorzimmer des Bezirksstaatsanwalts wusste sehr wohl, ob der Boss im Haus war. Hier ging es darum, ob Benson sich dazu herablassen würde, mit ihm zu sprechen. Er hing ewig in der Leitung und glaubte schon, gleich abgewimmelt zu werden, als sein ehemaliger Chef seinen Anruf doch noch annahm.

»Niclas, was kann ich für Sie tun?«, fragte er kühl und geschäftig.

»Hallo, Daniel.« Niclas’ Herz schlug hart gegen seinen Brustkorb. Bis jetzt hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, persönlich mit dem Bezirksstaatsanwalt zu sprechen. »Ich hatte gehofft, Ihnen erklären zu können, was geschehen ist.«

Benson schwieg einen Moment. »Haben Sie in der schriftlichen Stellungnahme, die mein Büro von Ihnen verlangt hat, gelogen?«

»Nein!« Niclas brüllte das Wort fast in sein Handy und zwang sich zur Ruhe. »Nein. Selbstverständlich nicht. Ich möchte es Ihnen einfach nur persönlich erklären.«

»Weil Sie hoffen, dass ich Sie verstehe?« Die Stimme des Bezirksstaatsanwalts schnitt durch den Äther wie ein Messer. »Weil Sie hoffen, dass ich Ihnen nachsehe, dass Sie ganz Boston in Aufruhr versetzt und meine Behörde der Lächerlichkeit preisgegeben haben?«

»Hören Sie, Daniel.« Niclas spürte, wie sich langsam, aber sicher die Verzweiflung in seine Worte schlich, die ihn erfüllte, seit im Gerichtssaal sein Universum um ihn herum zusammengestürzt war. »Es war eine Falle. Ich habe nicht …«

»Ich habe gelesen, was Sie zu dem Vorfall zu sagen hatten. Es tut mir wirklich leid, Niclas. Ich habe Sie bereits als meinen Stellvertreter gesehen. Aber das …« Sein ehemaliger Chef kniff in diesem Augenblick sicher sowohl die Augen als auch die Lippen voller Unmut zusammen. »Dass Sie einen unglaublichen Fehler begangen haben, ist schlimm genug. Ich habe allerdings nicht erwartet, dass Sie mit einer so hanebüchenen Räuberpistole aufwarten. Sie hätten zu Ihrer Verfehlung stehen sollen.«

»Ich …«, wollte Niclas ihn unterbrechen.

»Tun Sie uns beiden den Gefallen, und rufen Sie mich nicht wieder an, Niclas. Ich werde mein Vorzimmer anweisen, keine weiteren Telefonate von Ihnen durchzustellen.«

»Aber …«

Benson hatte aufgelegt.

»Scheiße!« Niclas schleuderte sein Handy quer über die Terrasse. Es prallte mit voller Wucht gegen die Zedernschindeln des Hauses und fiel in tausend Einzelteilen auf den ­Boden. Niclas fuhr sich durch die Haare und ließ sich auf die Treppe zum Strand fallen. Das Gesicht in den Händen vergraben, saß er eine gefühlte Ewigkeit still da. Er hatte gehofft, dass der Bezirksstaatsanwalt mit sich reden ließ, verstand, was passiert war. Er hatte darauf gebaut, dass sein Boss so scharfsinnig war und die Intrige durchschaute, in die er geschlittert war. Aber offenbar wirkten seine Erklärungen wie der armselige Versuch eines Irren. Niemand schenkte ihm Glauben. Niemand stand auf seiner Seite. Und da draußen lief noch immer ein irrer Mörder herum.

*

In den nächsten Tagen zog sich Niclas in die Welt von Sunset Cove zurück. Er stürzte sich nicht noch einmal in ein Besäufnis. Sich zu betrinken brachte nichts. Stattdessen lief er stundenlang am Wasser entlang, saß auf der altersschwachen Bank auf der Klippe und starrte auf das Meer hinaus. In den Nächten wälzte er sich entweder schlaflos in seinem Bett her­um, oder er hatte Albträume, in denen ihn dieser verdammte Bralvers und Niclas’ Kollegin und Konkurrentin gemeinsam verfolgten. Er suchte sich Bücher in der Bibliothek aus, die sich neben dem früheren Atelier seiner Mutter im Turm des Strandhauses befand, und versuchte, sich zu konzentrieren und zu lesen. Er kochte, weil ihn das entspannte. Weil er sich nicht über die Probleme, die in Boston auf ihn warteten, den Kopf zerbrechen wollte, mied er die Nachrichten und das Internet. Andrew ärgerte sich garantiert, weil er sich nicht bei seinen Eltern meldete.

Stattdessen entdeckte Niclas den Leuchtturm neu, der hoch auf der Klippe aufragte. Er war ewig nicht mehr hinaufgestiegen. Von oben hatte man einen perfekten Blick auf das Strandhaus, die Bucht und den Ozean. Lichtjahre schienen vergangen zu sein, seit er hier oben Pirat oder Entdecker gespielt und in seiner Fantasie die Welt erobert hatte. In der Ecke lag noch immer die Matratze, die sein Bruder und er irgendwann heraufgeschleppt hatten. Niclas tauschte das muffig riechende Polster aus und brachte ein paar Decken aus dem Haus herüber. Überall auf dem Boden fanden sich Wachsflecken ihrer früheren Beleuchtung. Niclas ­entdeckte in der Küche des Strandhauses dicke, weiße Kerzen, die sicher von einer längst vergessenen Sommerparty übrig geblieben waren. Er verteilte sie auf den Überresten der alten und schuf sich damit einen perfekten stillen Ort, an dem ihm keine Geister in die Quere kamen. Stundenlang saß er zwischen Himmel und Klippe, starrte auf das Wasser hinaus und fand ein wenig sein inneres Gleichgewicht wieder. Zwei Mal schlief er sogar in der Glaskanzel ein und erwachte erst bei Sonnenaufgang.

Wenn er unterwegs war, hoffte er, die mysteriöse Frau noch einmal zu treffen. Aber sie blieb verschwunden. Ein paar Mal hatte er geglaubt, einen roten Kapuzenpullover in einem der Gärten der Sommerhäuser zu erkennen. Einmal meinte er, sie an einer Straßenecke in Eastham gesehen zu haben. Beim näheren Hinschauen merkte er jedes Mal, dass ihm sein Gehirn einen Streich gespielt hatte.

Nach vier Tagen hatte er genug von seinem Einsiedlertum. Er wollte sich unter Menschen mischen, Stimmen hören, Unterhaltungen lauschen. Auch wenn er mit niemandem reden wollte, sehnte er sich danach, unter Menschen zu sein. Er entschied sich, in den Cape Cod Sports Club zu gehen. Sein Vater hatte eine Mitgliedschaft in dem Fitnessstudio, das so teuer und exklusiv war, dass den meisten Einheimischen nichts anderes übrig blieb, als den Reichen und Schönen beim Vorfahren auf dem Parkplatz zuzusehen.

Normalerweise war Niclas lieber in der Natur, ging joggen, wandern oder im Sommer schwimmen. Aber warum sollten die horrenden Monatsbeiträge für den Sports Club umsonst vom Konto abgebucht werden?

Er betrat den luxuriösen, dunkel getäfelten Eingangsbereich. Die Frau hinter dem Empfangstresen lächelte ihn strahlend an und akzeptierte die Mitgliedskarte seines Vaters, ohne mit der Wimper zu zucken. Im Umkleideraum schlüpfte er in seine Schwimmshorts und ging zum überdachten Pool. Er atmete die Wärme und den Chlorgeruch ein. Er war fast allein. Im Wasser schwamm nur eine einzige Frau. Sie trug einen pinkfarbenen Badeanzug auf leicht gebräunter Haut. Elegant teilten ihre Arme und Beine das Wasser in technisch perfektem Kraulstil.

Niclas stieg auf den Startblock und hechtete mit einem Kopfsprung in das kühle Wasser des fünfundzwanzig Meter langen Beckens. Er passte seine Bewegungen denen der Frau an. Sie war schnell. Nach einer halben Bahn schien sie zu merken, dass er ihr folgte, und steigerte das Tempo. Am Poolrand angekommen, wendete sie in einer Rolle und kraulte zum anderen Ende des Beckens zurück.

Nach zwei weiteren Bahnen artete das Schwimmen in einen stummen Wettkampf aus. Es tat Niclas gut, seine Muskeln zu spüren, sich nur auf seine Atmung und seine Gegnerin zu konzentrieren. Die Frau war schnell und hielt sich immer knapp eine halbe Länge vor ihm. Schließlich stieß sie sich ein letztes Mal vom Beckenrand ab und glitt bis in die Mitte des Pools. Niclas tat es ihr gleich und tauchte nach einer halben Bahn neben ihr auf.

Sie lächelte ihn an. Ihre Zähne schimmerten weiß in einem hübschen, gebräunten Gesicht. Ihre langen Wimpern hatte das Wasser zu kleinen Speerspitzen zusammengeklebt. »Toller Wettkampf.«

Niclas sah seinem Gegenüber in die Augen. »Danke, das kann ich nur zurückgeben.«

»Hier findet man selten einen ebenbürtigen Gegner«, fuhr sie fort. »Meistens habe ich den Pool ganz für mich allein.«

Sie traten Wasser. »Sind Sie regelmäßig hier?«, fragte die Frau.

»Nicht wirklich. Das ist mein erster Besuch im Sports Club.«

Eine Tür wurde geöffnet. Jemand betrat die Schwimmhalle und verließ sie wieder, aber Niclas’ Gegenüber sprach weiter und beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. »Ich schwimme montags und mittwochs immer um diese Zeit. Samstags bin ich mittags hier. Nach dem Training trinke ich an der Bar einen Smoothie. Immer.« Sie zwinkerte ihm zu. »Übrigens, ich bin Jennifer.« Sie wartete nicht ab, bis Niclas sich vorstellte, sondern schwamm rückwärts davon, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Nach drei Metern drehte sie sich um und erreichte nach ein paar eleganten Zügen den Beckenrand. Anstatt die Leiter zu benutzen, stemmte sie sich hoch und schwang die Beine aus dem Wasser. Lange Beine. Sie richtete sich auf. An Land bewegte sie sich nicht weniger graziös als im Wasser. Sie schritt zu der Liege, auf der ihr Handtuch lag, schlang es sich um den Hals und verließ das Schwimmbad, ohne Niclas noch eines Blickes zu würdigen. Sie war sich ihrer Wirkung auf Männer bewusst. Nur dass sie keine Wirkung auf ihn hatte. Da war – nichts. Es hatte Spaß gemacht, mit ihr um die Wette zu schwimmen. Aber er würde sie nicht an der Bar treffen. Würde ihr keinen Smoothie bestellen, wie er es früher getan hätte. Und ganz bestimmt würde er kein weiteres Mal hier schwimmen, während sie ihre Bahnen zog. Nach dem, was in Boston geschehen war, war sein Interesse an Frauen schlichtweg nicht mehr vorhanden.

Niclas streckte die Arme über den Kopf und ließ sich ­sinken, bis seine Füße den türkis gekachelten Grund berührten.

*

Marie ließ Sam nur allein, wenn sie sonntags die Regale in einem kleinen Supermarkt in Hyannis auffüllte oder eine Schicht im Cape Cod Sports Club ergatterte. Während sie sich in ihrem Zweit- und Drittjob abmühte, lag ihr Hund gemeinsam mit Hollys Retriever-Welpen Potter unter dem Tresen des Restaurants Fairway und ließ sich verwöhnen. Im Sommer hatte Marie ein gutes Sümmchen verdient, doch je weniger reiche Gäste auf die Halbinsel kamen, desto seltener konnte sie im Fitnessstudio aushelfen. Damit kam sie nicht über den Winter. Schon gar nicht jetzt, da sie auf der Suche nach einer neuen Bleibe war.

Im Cape Cod Sports Club zu arbeiten war die größte Herausforderung, die sie ihrem Stolz zumutete. Das Fitnessstudio war exklusiv und teuer. Hier trieben sich nur die Leute aus den Strandhäusern in der ersten Reihe herum, wenn sie sich auf ihren Terrassen mit Meerblick langweilten. Marie sprang ein, wann immer einer der anderen Angestellten ausfiel. Natürlich stand sie in der Hackordnung auf der untersten Stufe. Sie trieb sich nicht am Empfang herum. Sie gehörte nicht zu den jungen Mädchen, die in knappen Tops diese ekligen Smoothies zubereiteten. Nein, Marie räumte die leeren Gläser weg, die die Gäste überall herumstehen ließen. Sie füllte in der Sauna und im Schwimmbad Handtücher auf, putzte die Toiletten und Duschen. Mülleimer leeren, Sportgeräte desinfizieren. Wenn es in diesem Fitnessstudio eine niedere Tätigkeit gab, dann hatte sie sie mit Sicherheit schon einmal ausgeübt. Nach Möglichkeit sollte sie dabei für die Gäste unsichtbar bleiben und niemanden stören.

Sie hatte Angela, ihre Chefin, nicht belügen können. So dringend sie das Geld auch brauchte, so wenig hatte sie verschweigen können, dass sie zurzeit auf Bewährung draußen war. Zu ihrem Erstaunen hatte Angela sie trotzdem eingestellt. Doch sie hatte gewisse Regeln aufgestellt, die ihren Stolz kränkten und die sie gerade so ertragen konnte. Auch wenn Angela nie vor ihrem erlesenen Kundenstamm kundtun würde, dass sie eine verurteilte Straftäterin beschäftigte, lebte sie ihre Macht genüsslich aus. Wenn Maries Schicht endete und sie sich in ihrem Büro ihren Lohn abholte, musste sie ihre Tasche vorzeigen und sich abtasten lassen. Sie hätte ja einen Gast bestehlen können. Außerdem war es Marie strikt untersagt, etwas mit einem der Sports-Club-Mitglieder anzufangen. Angela wollte verhindern, dass sie einen Mann kennenlernte, der auf sie hereinfiel und von ihr um sein Geld betrogen wurde.

Marie hatte gelernt, ihre Gefühle in ihrem Inneren wegzuschließen, und ertrug zähneknirschend die Demütigungen und Leibesvisitationen. Sie brauchte das Geld und hatte auch dieses Mal Angelas Anruf angenommen. Ihren Stolz konnte sie sich für eine andere Gelegenheit aufheben.

Sie hatte an diesem Abend bereits zwei Kisten Obst und Gemüse für die Smoothies aus einem Lieferwagen in die Küche geschleppt und die Mülleimer im gesamten Studio geleert. Nachdem sie im Schwimmbad zwei Turteltäubchen in der Mitte des Pools hatte treiben sehen, hatte sie sich diskret zurückgezogen und die Massageliegen im Wellnesstempel geputzt.

Dann schnappte sie sich einen Stapel Handtücher und betrat den Saunabereich. Einen Augenblick blieb sie stehen und atmete den Duft nach heißem Aufguss und Orangenblüten ein, der in der Luft hing. Früher war sie unglaublich gern in die Sauna gegangen, hatte ganze Sonntage faul an der Seite ihres Verlobten in Wellnessoasen verbracht. Plötzlich verspürte sie einen Stich, weil die Wärme und der Duft sie daran erinnerten, was sie alles verloren hatte. Entschlossen schluckte sie den Anflug von nostalgischer Sehnsucht hin­unter, stapelte die Saunatücher und sammelte die Hand­tücher auf, die die Gäste achtlos hatten fallen lassen.

Als sie sich nach dem letzten Frotteetuch bückte, wurde hinter ihr die Tür zur Sauna geöffnet. Sie richtete sich auf, drehte sich mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht um – und erstarrte.

»Hi«, sagte der Mann, der sie vor ein paar Tagen in Sunset Cove erwischt hatte.

»Äh …« Marie starrte ihn an. Die Badeshorts saßen tief auf seinen Hüften, auf seinem Oberkörper glänzten Schweißperlen. Ihr Blick wanderte über die Brustmuskeln, den flachen Bauch, und zurück zu seinem Hals. Ihr wurde heiß, was sicher an dem Schwall Saunaluft lag, der den Mann umgab. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu blicken.

Mit einem Zipfel des Handtuchs, das um seine Schultern hing, wischte er sich über das Gesicht. Er hob eine Augenbraue und fragte: »Ist mein Anblick so schockierend? Oder warum starren Sie mich so an?«

»Ich …« Sie wollte etwas sagen, doch ihr Gehirn schien wie leer gefegt.

Die Saunatür öffnete sich erneut, und ein Glatzkopf mit Bierbauch drängte sich an ihnen vorbei. Marie blinzelte und fasste sich. Stand sie allen Ernstes in einem Fitnessstudio und starrte einen halb nackten Mann an? Verdammt. Allein dafür konnte Angela sie feuern. »Entschuldigen Sie«, murmelte sie, presste die gebrauchten Handtücher an ihre Brust und stürzte davon.

*

Niclas musste zugeben, dass die Gedanken, die er sich noch vor ein paar Stunden gemacht hatte, nicht ganz ehrlich gewesen waren. Es stimmte, dass er sich momentan nicht für Frauen interessierte. Frauen wie die hübsche Schwimmerin Jennifer, die einem zuzwinkerte und sich zu Smoothies verabredete. Eine andere Frau allerdings schaffte es sehr wohl, sich in seinem Hirn einzunisten. Dabei wusste er nicht einmal ihren Namen. Und warum sie ihn nicht losließ. Durch seinen Whiskeykonsum hatte er an die erste Nacht auf dem Cape nur ziemlich vage Erinnerungen. Er hatte absolut keine Ahnung, wer sie war. Abgesehen davon, dass sie in das Strandhaus eingebrochen war. Ein paar Mal hatte er geglaubt, sie zu sehen. Und dann stand sie plötzlich vor ihm. Im Ruheraum der Sauna.

Er hatte sich einen Aufguss gegönnt, weil er Jennifer aus dem Weg gehen wollte. Die Unbekannte war der letzte Mensch, mit dem er gerechnet hatte, als er die Tür öffnete. Ihr schien es nicht anders ergangen zu sein. Sie hatte keinen klaren Satz herausbekommen, ihn angestarrt, als hätte sie seit zehn Jahren keinen halb nackten Mann mehr gesehen, bevor sie mit hochrotem Kopf davongerannt war.

Er hatte keine Gelegenheit gehabt, sie wenigstens nach ihrem Namen zu fragen. Allerdings bemerkte er das T-Shirt mit dem Logo des Sports Club. Er wusste jetzt, wo er sie treffen konnte. Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht immer dann arbeitete, wenn die hübsche Jennifer im Pool ihre Runden drehte.

Immerhin war er der Schwimmerin nicht mehr begegnet. Eine Stunde später nickte er dem Mädchen am Empfang zu, schob die Tür des Studios auf und trat in die kühle Abendluft hinaus. Sein Wagen stand an der Seite des Gebäudes. Niclas drückte mit der Fernbedienung seinen Kofferraum auf und warf die Sporttasche hinein. Als er sich hinter das Lenkrad seines SUV setzte, fiel sein Blick auf die nach hinten gelegenen Fenster des Fitnessstudios. Dort lagen die Räume vom Personal. Und auf einmal erblickte er sie wieder, seine mysteriöse Fremde. Die Dunkelheit hatte das Tageslicht vertrieben, und die Frau war in dem hell erleuchteten Büro zu erkennen wie auf einer ausgeleuchteten Bühne.

Was trieb sie da? Er sah zu, wie sie die Arme spreizte und die Beine schulterbreit auseinanderstellte. Fast als … Tatsächlich. Eine Frau tastete sie über ihrer Kleidung ab. Die Unbekannte ließ es über sich ergehen. Das Kinn hatte sie wieder so hochgereckt wie am Strand, als er sie dazu genötigt hatte, im Haus zu übernachten.

Als die Leibesvisitation beendet war, ließ sie die Arme sinken und reichte der anderen ihre Umhängetasche. Nachdem auch diese durchwühlt worden war, machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ mit hocherhobenem Kopf den Raum. War sie eine Diebin? Das würde gut zu der Einbrecherin in Sunset Cove passen. Sie sollte ihn wirklich nicht im Geringsten interessieren. Geschweige denn faszinieren. Er kannte sie nicht. Und es sah sehr danach aus, dass sie eine Straftäterin war. Das Letzte, was er in seiner Situation brauchen konnte. Er sagte sich das immer wieder vor. Wie ein Mantra.

Trotzdem stieg er ein paar Minuten später aus seinem Wagen, kehrte zum Fitnessstudio zurück und klopfte an die Tür der Frau, die seine Unbekannte abgetastet und ihre Tasche durchsucht hatte.

*

Es war nicht leicht gewesen, Informationen aus Angela Bergs, der Managerin des Sports Club, herauszubekommen. Niclas hatte lange auf sie eingeredet, hatte seinen Charme eingesetzt und schließlich keine andere Möglichkeit gesehen, als die Macht der Hunters ins Spiel zu bringen. Die Managerin war alles andere als begeistert. Aber die Aussicht, dass sein Vater die Mitgliedschaft im Sports Club kündigen könnte, hatte sie schließlich weichgeklopft. Natürlich würde er seinen alten Herrn nie dazu bringen, irgendetwas in diese Richtung zu unternehmen. Aber das musste Miss Bergs ja nicht wissen. Die Gründe für die Leibesvisitation und die Durchsuchung der Tasche ihrer Mitarbeiterin behielt sie für sich, aber zumindest verriet sie ihm den Namen und die Adresse der Frau.