Weihnachtsküsse in Snowflake Valley - Ella Thompson - E-Book
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Weihnachtsküsse in Snowflake Valley E-Book

Ella Thompson

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Beschreibung

24 Türchen bis zur großen Liebe

Emma Porter liebt Weihnachten. Jedes Jahr verbringt die Journalistin die Feiertage in ihrer Heimatstadt Snowflake Valley. Doch dieses Jahr ist alles anders: Die von allen Bewohnern geliebte Lokalzeitung steht vor dem Bankrott. Emma beschließt, die Snowflake Valley Gazette zu retten. Nur ist das schwieriger als gedacht, denn in dem tief verschneiten Tal in den Rocky Mountains gibt es nicht einmal eine stabile Internetverbindung … Gut, dass IT-Profi Jared Dawson sie unterstützt. Gemeinsam entwickeln sie die Idee eines ganz besonderen Adventskalenders. Jeden Tag wird ein neuer attraktiver Single von Snowflake Valley vorgestellt. Was Emma nicht ahnt: Während sie den Snowflake-Valley-Bewohnern Türchen für Türchen zum großen Glück verhilft, wartetet ihres schon auf sie.

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Seitenzahl: 433

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Das Buch

»Biggie! Bleib!«, rief Jared.

Doch sein Hund hatte Miss Milli gesehen. Die Meisterin der Hundekekse, die ihn verwöhnte, wann immer sie in ihrem Tante-Emma-Laden vorbeischauten. Was Biggie nicht sah, war die Frau, die zwischen zwei Schneehaufen am Straßenrand hockte und ihre Kamera auf die Kunstwerke vor Sashas Café richtete. Als sie den schwarzen Hund bemerkte, versuchte sie noch auszuweichen. Doch es war zu spät. Biggie war in seinem Leckerli-Tunnelblick gefangen und nahm nichts um sich wahr. Er rannte die Frau einfach um, und sie landete mit einem erschrockenen Schrei in einer Schneewehe.

Jared rannte los, um der Frau zu helfen.

»War das Ihr Hund?«, wollte sie wissen, als sie sich auf die Knie aufgerichtet hatte. Dunkelrote Skihosen, pinkfarbene Daunenjacke und zerzauste blonde Haare über einem von der Kälte geröteten Gesicht. Über ihre Wange zog sich ein feiner Streifen aus Glitzerpartikeln, die ihn an die Eissterne an dem Ahornbaum erinnerten. Die graublauen Augen der Frau funkelten ihn wütend an.

Die Autorin

Ella Thompson, geboren 1976, verbringt nach Möglichkeit jeden Sommer an der Ostküste der USA. Sie ist aber auch ein großer Weihnachtsfan. Zu einem gelungenen Fest gehören nicht nur Berge und funkelnde Lichter, sondern auch jede Menge Schnee, Eggnog – und natürlich ein Hund, der die Wintermonate genauso liebt wie sie.

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2022

Copyright © 2022 by Ella Thompson. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Diana Mantel

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München, unter Verwendung von © Bigstock (Azovsky), Shutterstock.com (Tanya Sid), iStockphoto (Tom Merton, borchee, DenisTangneyJr)

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-28657-6V001

www.heyne.de

PROLOG

Dear Santa, I really did try

Snowflake Valley, vor fünfundzwanzig Jahren

Klirrende Kälte lag über der Stadt. Die bunten Lichterketten, die die Eislauffläche auf dem See einrahmten, schwangen fröhlich im eisigen Wind. Der große Lehnstuhl, auf dem Santa Claus saß und darauf wartete, dass die Kinder ihm ihre Weihnachtswünsche ins Ohr flüsterten, stand ein wenig geschützt zwischen den Tannen und Buden, die das kleine Snowflake-Valley-Weihnachtsdorf bildeten. Auch hier glitzerten überall bunte Lichterketten. Bei all dem Schnee, der unter den Stiefeln knirschte, und den großen Bergketten mit ihren weißen Mützen, die das Tal einrahmten, konnte man fast glauben, am Nordpol zu sein statt in Montana.

Emma Porter konnte sich das zumindest sehr gut vorstellen. Trotz ihres dicken türkisfarbenen Schneeanzugs zitterte sie vor Kälte. Sie schob ihren Schal ein wenig höher, um Mund und Nase zu bedecken, und zog die Mütze, die die Tante ihrer besten Freundin Sasha für sie gestrickt hatte, so tief ins Gesicht, dass nur noch ein Schlitz für die Augen frei blieb. Noch zwei Kinder vor ihr. Sie hüpfte in ihren Moon Boots ein wenig auf und ab, um sich aufzuwärmen, aber es half nichts.

Das Mädchen, das von Santas Schoß aus in die Kamera der Elfe gelächelt hatte, nahm sein Foto entgegen und rannte zu seinen Eltern, um es stolz zu präsentieren. Nur noch ein kleiner Junge vor Emma. Ungeduldig wippte sie vor und zurück. Der Duft frisch gebackener Waffeln wehte von den Buden zu ihr herüber. Sobald sie Santa ihren Wunsch zugeflüstert hatte, würde sie sich eine dieser heißen Leckereien holen – mit Schokoladensoße –, bevor sie sich mit Sasha in der Wichtelwerkstatt treffen würde, um ein Geschenk für ihre Eltern zu basteln.

Ein empörtes Aufheulen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen vor sich. Er weigerte sich, zu Santa zu gehen, was Emma veranlasste, sehr erwachsen die Augen zu verdrehen. Sie hatte diese Geste schließlich oft genug gesehen, wenn ihre Mommy sich lächelnd darüber beschwerte, dass ihr Daddy nie seine Socken in den Wäschekorb räumte, und hielt sie für passend. Der Junge vor ihr ließ sich jetzt mit hochrotem Kopf auf den Boden fallen und strampelte mit den Beinen. So ein Baby, dachte sie. Der Wutanfall des Kleinen brachte sie ihrem Ziel allerdings schnell näher, denn die Mutter zog das Kind einfach beiseite, und Emma ging zielstrebig auf Santa zu, als er ihr winkte. Sasha war der Meinung, dass sie bereits zu alt dafür waren, Santa von ihren Wünschen zu erzählen, aber Emma fand, dass es auf keinen Fall schaden konnte. Wer wusste schon, ob sie auf diese Weise nicht doch wahr wurden?

»Hallo Kleine«, brummte Santa mit tiefer Stimme, als sie sich auf seine Knie gesetzt hatte. »Wie heißt du?«

»Ich bin Emma. Und sechs Jahre alt«, ergänzte sie vorsichtshalber gleich, weil sie wusste, dass das seine nächste Frage sein würde.

»Aha.« Santa brummte. »Und was wünschst du dir zu Weihnachten, Emma?«

Sie biss sich auf die Unterlippe und rief sich noch einmal in Erinnerung, wie sie ihren Wunsch am besten vortrug. »Ich will Reporterin werden«, sagte sie und sah Santa ernst an. »Damit ich die ganze Zeit bei meinem Onkel Henry sein kann. Sein Zeitungsbüro ist der schönste Ort auf der ganzen Welt.«

»O … Hmm.« Emma wartete, aber mehr sagte Santa nicht.

Also erzählte sie weiter. Von ihrem größten Wunsch. »Ich kann schon schreiben und lesen. Und bei Onkel Henry riecht es so gut. Nach Papier. Vom Fenster aus kann man die Leute auf der Mainstreet beobachten. Ständig klingeln die Telefone.« Sie kicherte. »Und Miles«, sie blickte sich um, ob auch niemand zuhörte, »sagt die ganze Zeit schlimme Wörter.« Dann seufzte sie. »Onkel Henry sagt, ich muss weiter in die Schule gehen und dann aufs College. Aber das dauert ja alles noch mindestens hundert Jahre.« Sie betonte die Ewigkeit, die vergehen würde, bis sie neben ihrem Onkel am Schreibtisch sitzen durfte. »Deshalb wünsche ich mir zu Weihnachten ein kleines Wunder, das diese ganze lange Warterei ein bisschen abkürzt.«

»Hmm«, machte Santa wieder. »Nun ja.« Er strich sich über seinen Bart. »Das mit den Wundern ist so eine Sache. Ich gebe mein Bestes. Aber für Wunder gibt es wirklich keine Garantie. Gibt es denn sonst noch etwas, was du dir wünschst?«

»Ja.« Emma strahlte ihn an. »Die Rapunzel-Barbie.« So sehr Emma auch Zeitungsreporterin werden wollte, Weihnachten liebte sie mindestens genauso. Und ganz besonders den Weihnachtsmorgen. Es wäre schrecklich, wenn Santa kein Geschenk unter den Baum legen würde. Und Rapunzel wünschte sie sich schon, seit Beatrice Williams in der Vorschule mit genau dieser Barbie angegeben hatte.

»Eine gute Wahl«, lobte Santa. »Das werde ich mir auf jeden Fall merken, falls das mit dem Wunder nicht funktioniert. Bist du denn brav gewesen in diesem Jahr?«

Emma seufzte. »Ich habe es wirklich versucht«, flüsterte sie. Santa Claus hatte ja keine Ahnung, wie schwierig das war.

»Aha, ich verstehe.« Santa nickte bedächtig. »Jetzt schau doch mal zur Elfe hinüber, damit sie ein Foto von uns machen kann.«

Emma zog ihren Schal ein Stück herunter und grinste in die Kamera. Weihnachten war einfach das Schönste!

1

Same procedure as every year

Snowflake Valley, fünfundzwanzig Jahre später – Labour Day

Emma öffnete die Augen einen Spalt und kniff sie sofort wieder zusammen, bevor sie es ganz vorsichtig noch einmal versuchte. Angestrengt blinzelte sie gegen das Sonnenlicht, das den Raum flutete.

»O Gott«, hörte sie Sashas raue Stimme neben sich. »Was hat Steven in diese Margaritas gemischt?«

Langsam setzte sich Emma auf und presste die Hand an ihre Schläfe. Sie befand sich im Schlafzimmer ihrer besten Freundin, die neben ihr im Bett lag und sich die Decke über den Kopf zog. Genau wie früher, als sie noch Kinder gewesen waren und Übernachtungspartys gefeiert hatten.

Stück für Stück kehrten die Erinnerungen an den vergangenen Abend zurück. Die Party im Old Boat, dem Pub am See, in dem Emma und Sasha vor zehn Jahren ihr erstes legales Bier getrunken hatten, war genauso ausgelassen und fröhlich gewesen wie immer in der Nacht vor dem Labour Day. Aber diese Margaritas … halbherzig zog Emma ihrer Freundin die Decke weg. »Du hättest mich davon abhalten sollen, mir von Freddy Carpenter diesen letzten Drink ausgeben zu lassen«, murmelte sie. »Und vor allem hättest du verhindern müssen, dass ich mit ihm tanze. Bei mir dreht sich immer noch alles.«

Sasha angelte eine Wasserflasche vom Nachttisch, schraubte sie auf und trank gierig, bevor sie sie an Emma weiterreichte. »Hörst du, was mein Körper mir mitzuteilen versucht?«

Emma leerte die Flasche und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Es gab immer irgendetwas, wozu Sashas Körper eine eigene Meinung hatte. »Was sagt er denn?«

Sasha ließ sich neben sie fallen und stützte sich auf den Ellenbogen. »Er flüstert mir zu: Mach das nie, nie wieder.«

»Dann hat er sich mit meinem abgesprochen.« Emma blickte aus dem Fenster. Sie konnte die weißen Spitzen der Rockys sehen, die sich hinter dem See erhoben. Es war erst Anfang September, aber hier oben in den Bergen war bereits alles mit Raureif überzogen. Silbern glitzerten die winzigen Eiskristalle in der Sonne. Der Ausblick, den man von Sashas neuem Haus hatte, war atemberaubend und ließ den Winter bereits erahnen. Es war schön, endlich wieder zu Hause zu sein. Der Abend hatte den Freunden gehört, heute war ihre Familie dran. Der Labour-Day-Brunch war genauso eine Tradition im Hause Porter wie das Thanksgiving-Dinner und die Motto-Pyjamas am Weihnachtsmorgen. Emma wandte den Kopf wieder ihrer Freundin zu. »Wo ist Simon?«, fragte sie.

Sasha runzelte die Stirn. »Ich glaube, auf der Couch im Wohnzimmer. Wenn ich mich richtig erinnere, hat er uns zwei heute Nacht nach Hause gefahren, und dann habe ich ihm erklärt, dass das ein echter Mädelsabend ist. Wie in alten Zeiten. Und dass du bei mir übernachtest.«

Emma drückte die Hand ihrer Freundin. »Das war es wirklich. Wie in alten Zeiten.« Das Haus von Sashas Eltern hatte dem ihrer Familie früher genau gegenüber gelegen, was dazu geführt hatte, dass sie Tag und Nacht zusammen gewesen waren. Wie Schwestern. Und selbst wenn ihre Eltern es einmal untersagt hatten, dass die eine bei der anderen übernachtete, hatten sie sich über die Straße geschlichen und waren durchs Fenster geklettert. Emma seufzte. »Ich habe den ganzen Sommer über wahnsinnig viel Arbeit gehabt. Aber ich hatte dabei das Labour-Day-Wochenende die ganze Zeit über wie eine Ziellinie vor Augen. Diesen Herbst schaffe ich es vielleicht sogar, mir eine Woche freizuschaufeln und euch noch mal zu besuchen.«

»Das wäre wundervoll. Ich habe dich vermisst. Aber jetzt«, sie drückte Emmas Hand, »sollten wir unseren Kater in den Griff bekommen, damit deine Mom uns keine Standpauke hält.« Sie rappelte sich auf. »Vielleicht ist mein wundervoller Ehemann schon wach und hat die Kaffeemaschine angeschmissen. Bei der Federung der Couch liegt das durchaus im Bereich des Möglichen.«

Emma seufzte. »Für Kaffee würde ich meine Seele verkaufen. Oder zumindest meinen Körper.«

Sasha gab ein »Pff« von sich. »Mit diesem alkoholvergifteten, dehydrierten Kadaver wirst du nur Centbeträge einsammeln. Wie gut, dass du Simons Kaffee auch so bekommst.« Sie lachte, als Emmas Kissen sie zielsicher am Hinterkopf traf.

Sasha sollte Recht behalten. Ihr Mann (und Highschool-Sweetheart) Simon hatte längst Kaffee gekocht und blätterte durch die wöchentliche Ausgabe der Snowflake Valley Gazette, die Emmas Onkel Henry herausgab, und auf die sie stolz war, als wäre es ihre eigene Zeitung. Simon hatte sie ein wenig mit ihrem Kater aufgezogen und behauptet, dass Emma Freddy Carpenter ein unmoralisches Angebot gemacht hatte. Was sie nicht glaubte. Mit Freddy war sie immerhin schon in die Vorschule gegangen, und ihr Herz hatte in seiner Gegenwart ganz sicher noch nie auch nur einen Schlag ausgesetzt – und das war die absolute Voraussetzung für einen Flirtversuch.

Allerdings war es auch einfach, sich für Simons kleine Attacke zu revanchieren. Besonders, weil Sasha darauf bestand, mit Emmas Wagen zu fahren. Ihre Freundin liebte Cabrios über alles, fuhr aber wegen des Cafés, das sie betrieb, einen kleinen Lieferwagen. Simon hatte einen Pick-up mit dem Logo der Baufirma, die seinem Vater und ihm gehörte. Also mietete sich Emma jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, am Flughafen in Missoula ein Cabrio, um ihrer Freundin eine Freude zu machen. Sasha und sie waren auch schon bei minus zehn Grad mit offenem Verdeck gefahren – Sonnenbrille auf der Nase und der unerlässliche Schal, den sie so gerne fünfzigerjahrefilmstarmäßig hinter sich her wehen ließen. Und heute war wieder einer dieser Tage, an denen es nur knapp über null Grad hatte, auch wenn die Sonne von einem strahlend blauen Himmel schien.

»Ich habe was für euch«, sagte Emma und öffnete ihren Koffer noch einmal. »Der letzte Schrei.« Sie suchte die psychedelisch bunten Mützen heraus, die sie in der Redaktion der Belle abgestaubt hatte und die diesen Winter absolut angesagt sein würden. »Du musst auch eine aufsetzen, Simon«, bestimmte sie.

»Nicht nötig«, gab er zurück, während Sasha die Mütze bereits über ihre dunklen Locken gezogen hatte und sich vor dem Spiegel hin und her drehte. »Bevor mich jemand mit diesem Farbklecks auf dem Kopf sieht, lasse ich mir lieber die Ohren abfrieren.«

»Farbklecks?« Emma stemmte resolut die Hände in die Hüften und funkelte den Mann ihrer besten Freundin an. »Du weißt gar nicht, wie angesagt die Dinger sind«, holte sie zum Tiefschlag aus. »The Rock hat erst vorgestern ein Bild von sich mit so einer Mütze auf Instagram gepostet.« Das stimmte zwar nicht, aber Simon glitt in absolute Heldenverehrung ab, wenn es um Dwayne Johnson ging.

»Wirklich?«, fragte er skeptisch.

»Ich schwöre.« Bevor Simon sein Handy hervorholen und Emmas Behauptung überprüfen konnte, nahm sie ihm die Mütze ab und stülpte sie ihm über den Kopf. »Auf geht’s! Lasst uns eine Runde um den See drehen, bevor wir zu meinen Eltern fahren.«

Die Ranch, die Sasha und Simon sich gekauft hatten, lag ein wenig außerhalb der Stadt. Nachdem Emma das Verdeck des Mustangs heruntergelassen hatte, Simon grummelnd auf den Rücksitz geklettert war und den Naked Cake entgegennahm, den seine Frau zum Brunch beisteuern wollte (und den er während der Fahrt halten musste), nahmen sie den Umweg um den See herum nach Snowflake Valley.

Der Crystal Lake war ein eiskalter Gletschersee. Was sie als Kinder und Teenager nicht davon abgehalten hatte, trotzdem in ihm zu baden. Er war so klar, dass man bis auf den Grund sehen konnte. Sasha und Emma hatten auf dem Wasser schon atemberaubende Fotos geschossen, die so wirkten, als schwebten sie mit ihren Paddelboards regelrecht in der Luft.

Jetzt genoss Emma die Aussicht und Sashas gute Laune, die laut Hollaback Girl von Gwen Stefani mitsang, während sie ihren Schal über den Kopf hielt und im Wind flattern ließ.

An einem Labour-Day-Vormittag war nicht viel los auf den Straßen im Tal. Erst auf dem letzten geraden Stück vor dem Ortseingangsschild kam ihnen ein dunkelblauer Range Rover mit einem U-Haul-Anhänger entgegen. Als sie auf gleicher Höhe waren, konnte Emma nur erkennen, dass ein Mann am Steuer saß. Und neben ihm ein riesiger schwarzer Hund. Oder ein Bär – ganz so sicher war sie sich da nicht.

Sasha blickte dem Wagen hinterher. »Armes Schwein«, kommentierte sie den großen Anhänger und drehte Gwens Gesang etwas leiser. »Am Labour Day umziehen zu müssen ist grauenvoll.«

»Das ist Jared Dawson.« Simon war dem Range Rover ebenfalls mit den Blicken gefolgt und drehte sich jetzt wieder zu ihnen um. »Hat das Woodward Cottage gekauft.«

»Das wurde ja auch Zeit.« Emma fing den Blick des Freundes im Rückspiegel ein. »Das Cottage stand jetzt mindestens zwei Jahre leer. Was ist das für ein Typ?«, fragte sie neugierig.

»Irgendein Software-Entwickler oder so was. Aus Kalifornien.« Nur jemand, der in den Rocky Mountains aufgewachsen war und sein ganzes Leben hier verbracht hatte, konnte diesen Bundesstaat klingen lassen, als wäre er eine ansteckende Krankheit. »Wir haben im Haus noch ein paar Renovierungsarbeiten übernommen. Deshalb habe ich mitbekommen, dass er sich Glasfaserkabel hat verlegen lassen. Ich vermute, er hat dadurch das beste WLAN in diesem Teil Montanas«, plauderte er aus dem Nähkästchen.

»Trotzdem.« Sasha ließ ihren Schal wieder im Wind flattern, obwohl ihre Hand bereits ganz rot war vor Kälte. »Armes Schwein. Der Labour Day ist der perfekte Tag, um einen Rausch auszuschlafen und sich bei einem Brunch den Bauch vollzuschlagen. Umziehen sollte man an so einem Tag nicht müssen.« Sie drehte das Autoradio wieder auf und begleitete Gwen mit eher mittelmäßiger Textsicherheit, bis sie das Cabrio vor Emmas Elternhaus parkten.

* * *

Labour Day war ein perfekter Tag, um umzuziehen. Jared Dawsons Meinung nach war er jedenfalls nicht schlechter als die anderen dreihundertvierundsechzig Tage des Jahres. Er lenkte seinen Range Rover die schmale Bergstraße hinauf, durch das Städtchen Snowflake Valley und am Crystal Lake entlang. Der Wegbeschreibung nach musste er gleich hinter dem Ortsausgang links abbiegen, dann noch einmal links. Und dann müsste er vor seinem neuen Haus stehen, das er bis jetzt nur von den Fotos kannte, die ihm der Makler geschickt hatte.

Die Burger und die Pommes, die er sich bei einem Wendy’s in Wild Creek geholt hatte, dufteten so verführerisch, dass Biggie neben ihm ein hungriges Brummen ausstieß. Jared kraulte seinen Neufundländer zwischen den Ohren. »Wir haben es gleich geschafft«, versprach er. Zwei Tage waren sie aus dem Silicon Valley hierher unterwegs gewesen. Mit einer Übernachtung in einem Motel in Idaho. Jared sehnte sich danach, seine Beine auszustrecken, zu duschen und etwas zu essen. Und dann sein Arbeitszimmer einzurichten. Eine Nacht in einem Mietanhänger war genug für seine empfindlichen Geräte.

Jared hielt bereits nach der Abzweigung zu seinem Haus Ausschau, als ihm das Cabrio entgegenkam. Mit offenem Verdeck. Er warf einen Blick auf die Temperaturanzeige in seinem Armaturenbrett. Zwei Grad. Die Beifahrerin des Cabrios hielt einen Schal in die Luft, und alle drei Insassen trugen diese lächerlichen Mützen, die er an der Westküste in den letzten Wochen ein paarmal gesehen hatte. Der Blick der Fahrerin traf ihn für den Bruchteil einer Sekunde, dann war der Mustang vorbeigerauscht.

»Hast du das gesehen?«, fragte Jared mit einem Seitenblick in Biggies Richtung. »Da denkt man, Verrückte gibt es nur in Kalifornien.« Er schüttelte den Kopf. Hoffentlich war das die Ausnahme. Schließlich hatte er die Rocky Mountains nicht zu seiner neuen Heimat gewählt, um sich mitten in ein Nest partyverrückter Bergbewohner zu setzen.

Die Abzweigung mit dem Schild »Woodward Cottage« tauchte vor ihm auf, und Jared bog auf die Schotterstraße ab, die durch ein Pinienwäldchen führte, fand die zweite Abzweigung und ließ den Range Rover ausrollen, als das Haus, dem das Wort Cottage nicht ganz gerecht wurde, vor ihm auftauchte. »Wenigstens sieht es genauso aus wie auf den Fotos«, stellte Jared fest. Er beugte sich an Biggie vorbei, um die Beifahrertür zu öffnen und den Hund rauszulassen. Biggie hatte die Angewohnheit, immer als Erster aussteigen zu wollen und vergaß zudem meistens, dass er kein kleiner Welpe mehr war, sondern hundertzwanzig Pfund wog. Was schmerzhaft enden konnte, wenn Jared die Fahrertür als erstes öffnete. So aber konnte Biggie schon mal das Grundstück inspizieren, während Jared ebenfalls ausstieg und ihr neues Zuhause betrachtete.

Er war auf der Suche nach einem Rückzugsort gewesen. Weit weg von Silicon Valley. So weit entfernt von dem schnellen Puls in seinem ehemaligen Büro in Sunnyvale, wie es nur ging. Das Woodward Cottage war eigentlich zu groß für Biggie und ihn. Ein zweistöckiges Blockhaus, dessen honiggelbes Holz in der Sonne warm glänzte. Die Panoramafenster zeigten auf den Crystal Lake hinaus, an dessen steinigem Ufer Biggie bereits seine Runde drehte. Die großzügige, umlaufende Veranda bot einen gemütlichen Sitzplatz, von dem aus man der Sonne dabei zusehen konnte, wie sie hinter den Bergspitzen verschwand. Einen anstrengenden Tag im Jacuzzi ausklingen lassen. Oder im Sommer grillen. Noch vor ein paar Monaten hätte er beim Gedanken an diese Art von Freizeitaktivitäten die Augen verdreht. Jetzt war er bemüht, sich dieses neue Leben zumindest vorzustellen.

Jared folgte seinem Hund über die von Moos und Feldsteinen durchzogene Wiese zum See hinunter. Das Wasser war so klar, dass er bis auf den Grund sehen konnte. Spiegelglatt und ruhig. Jared atmete tief ein. Und wieder aus. Pinien. Klare, kalte Luft. Und ein bisschen nasser Hund, weil Biggie sich nicht auf die Erkundung an Land beschränkt hatte. Jared horchte bewusst auf seinen Herzschlag, der sich beruhigt hatte, je weiter er nach Norden gefahren war.

Links von sich konnte er die Stadt mit dem albernen Namen Snowflake Valley erkennen. Sein Haus gehörte gerade noch dazu, war aber trotzdem abgeschieden genug, um seine Ruhe zu haben. Jared hatte es möbliert gekauft, damit er sich keine Gedanken um Dinge wie einen Esstisch oder eine Couch machen musste. Dafür hatte er einen Highspeed-Internet-Anschluss installieren lassen. Es war alles bereit für das Einrichten seines Büros. Aber bevor er sich mit der Technik beschäftigen würde, war erst einmal der Lunch fällig. Er holte die Burger aus dem Auto und setzte sich auf die Veranda. Biggie, dem klar wurde, dass es etwas zu essen gab, kam angaloppiert und ließ sich neben Jared plumpsen.

Biggie liebte Burger, also hatte Jared ihm einen eigenen besorgt. Er stellte seinem Hund die geöffnete Pappschachtel hin. »Ab morgen gibt es wieder gesundes Futter«, erklärte er Biggie. »Für dich und für mich.« Denn das war einer seiner drei neuen Vorsätze: Die Arbeitszeit zumindest so weit zu beschränken, dass er nicht mehr Tag und Nacht durcharbeitete, ohne es zu merken. Regelmäßig Sport zu machen oder zu wandern oder Holz zu hacken – oder was auch immer man in diesem Tal tat. Und sich besser zu ernähren. Denn der wichtigste Vorsatz für seine Zukunft war, nicht sein Leben zu verlieren. An den Burnout zu verlieren, auf den er zugesteuert war. An die rasend schnell getaktete Cyberwelt, in der er sich im Hamsterrad gedreht hatte. Und vor allem nicht an einen beschissenen Herzinfarkt, der das Leben seines Freundes und Geschäftspartners Dale mit nur fünfunddreißig Jahren beendet hatte.

Jareds Handy klingelte. Er wischte sich die Hände an einer Serviette ab und zog es aus der Hosentasche. Marshall Miller. Einen Moment lang zögerte Jared. Dann legte er das Handy auf die Bank neben sich und ließ es klingeln. »Ein wirklich tolles Picknick«, sagte er zu Biggie und kraulte ihn zwischen den Ohren. Mit einem tiefen Wuff teilte sein Hund ihm mit, dass er derselben Meinung war. Und dass er ein paar von den lauwarmen Pommes abhaben wollte.

2

Oh Deer!

Der Labour-Day-Brunch in Emmas Elternhaus war genauso abgelaufen wie jedes Jahr. Mit herzlichen Umarmungen, fröhlichen Begrüßungen – und Mimosas. Sasha hatte hinter dem Rücken von Emmas Mutter das Gesicht verzogen, aber trotzdem todesmutig einen Schluck von ihrem Drink genommen. Emma tat es ihr gleich. Obwohl ihr der Sinn nicht nach Alkohol gestanden hatte, nippte sie an ihrem Sekt mit Orangensaft, um ihrer Mutter zu verheimlichen, dass sie es in der Nacht zuvor im Old Boat übertrieben hatten. Da war sie mit einunddreißig nicht anders als mit sechzehn.

Die Runde, die sich um den großen Esstisch der Porters versammelt hatte, war ebenfalls die gleiche. Emmas Eltern Ed und Debbie. Ihr Onkel Henry. Sasha und Simon. Und Sashas Tante Vivian, die einfach auch schon immer zur Familie gehört hatte. Nach ihrer Scheidung vor einigen Jahren und dem Tod von Onkel Henrys Frau hatte Emma gehofft, dass die beiden irgendwann entdecken würden, dass sie mehr als Nachbarn und Freunde waren. Aber über einen lebenslangen Vorrat selbst gestrickter Socken aus Vivians Laden für Onkel Henry und seiner regelmäßigen Schleichwerbung für ihr Wollgeschäft in der Snowflake Valley Gazette ging ihre Beziehung nicht hinaus.

»Hast du die Mützen gesehen, die ich aus Chicago mitgebracht habe?«, hatte Emma Sashas Tante gefragt. »Die werden diesen Winter der letzte Schrei. Die Wollfarben brauchst du im Laden. Ich wette, dass es jede Menge Leute geben wird, die sie nachstricken wollen.«

Vivian hatte genickt und Emma damit aufgezogen, dass sie von diesem Trend bereits gelesen hatte – in einem von Emmas Artikeln.

Alle hatten gelacht. Bis auf Simon, der bei dem Gedanken an die Mützen das Gesicht verzogen hatte, und Emmas Onkel Henry. Simons Reaktion war nachvollziehbar. Er beschwerte sich darüber, dass Emma ihn reingelegt hatte, weil er auf Instagram kein einziges Bild von The Rock mit dieser Kopfbedeckung hatte finden können. Warum Henry allerdings so schweigsam war, verstand Emma nicht, und auch nicht, dass er es den Rest des Brunches über blieb. Emmas Mutter erzählte lustige Anekdoten aus der Highschool in Wild Creek, an der sie unterrichtete. Ihr Dad ergänzte sie um ein paar skurrile Geschichten aus seiner Landarztpraxis. Vivian berichtete, dass der Run auf die Bernie-Sanders-Handschuhe immer noch nicht abriss und sie schon ein paar Damen aus ihrer Strickgruppe mit der Produktion dieser Fäustlinge hatte beauftragen müssen, um den Kundenwünschen ihres Wollgeschäfts gerecht zu werden.

Henry blieb wortkarg und einsilbig. Emma hatte versucht, in seinem Gesicht zu lesen, was los war, aber er war ihrem Blick ausgewichen.

Dieses Verhalten passte nicht zu Emmas Onkel, also beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen, bevor sie nach Chicago zurückkehrte. Henry und sie hatten noch nie Geheimnisse voreinander gehabt. Vielleicht hatte er es geschafft, den Rest der Familie beim Brunch zu täuschen, weil alle so mit dem geselligen Zusammensein beschäftigt gewesen waren – sie würde er nicht hinters Licht führen.

Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich früher als sonst von ihren Eltern, um Henry auf dem Weg zum Flughafen noch einen Besuch in der Redaktion abzustatten. Um diese Uhrzeit waren die Redakteure zwar noch nicht im Haus, Onkel Henry aber mit Sicherheit. Sie parkte das Cabrio in der Mainstreet, direkt vor den großen Fenstern der Snowflake Valley Gazette. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, lag Sashas Café One More Bite, das durch einen Wanddurchbruch mit Vivians Wollladen One More Row verbunden war. So konnten sich die Kundinnen mit ihrer gekauften Wolle ins Café hinübersetzen und bei einem Sandwich oder einem Stück Kuchen mit ihren Freundinnen stricken. Das Konzept hatte sich bewährt, und Emma hätte den beiden nur zu gern einen Besuch abgestattet und eine letzte Tasse Kaffee vor ihrem Abflug getrunken, aber dazu würde die Zeit nicht reichen, denn Henry war im Moment wichtiger.

Sie schob die Tür auf und atmete den unverwechselbaren Geruch nach gebohnertem Holzboden, staubigem Papier und abgestandenem Kaffee ein, der in diesem Raum lag, solange Emma sich erinnern konnte. Das Schild mit der Aufschrift »Zeitungsbüro«, das ihr Onkel irgendwann neben der Tür angebracht hatte, weil Emma sich als kleines Mädchen das Wort Redaktion einfach nicht hatte merken können, hing noch immer da. Ein bisschen vergilbt und eine stolze Erinnerung an die Zeit, in der sie selbst als Nachwuchsjournalistin durch diese Räume gewirbelt war. Voller großer Träume und Ziele – die sie später auch erreicht hatte.

Ein bisschen war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Oberfläche des riesigen Tisches, an dem die Redakteure ihre Arbeitsplätze hatten, verschwand unter einem Chaos von Notizblättern und bunten Post-its. Eine Wand war mit einem großen Kalender bedeckt, auf dem alle Termine eingetragen waren, die das Jahr über für die Gazette wichtig waren, die gegenüberliegende zierte eine Pinnwand mit den Dienstplänen der Mitarbeiter. Das Licht im Chefredakteursbüro brannte, aber durch das große Glasfenster konnte Emma ihren Onkel nicht sehen.

»Onkel Henry?«, rief sie und lehnte sich gegen den alten Aktenschrank, in dem Henry nach wie vor gewissenhaft sein Recherchematerial und seine Informationen ablegte, so als hätte er noch nie von einem Cloud-Speicher gehört. Das war das Problem in dieser Redaktion. Ihr Onkel und seine Angestellten arbeiteten zwar am PC, aber wenn Henry wissen wollte, wer vor fünfzehn Jahren den Backwettbewerb beim Frühlingsfestival gewonnen hatte, sah er lieber in diesem Schrankmonstrum nach.

Emma fuhr mit dem Zeigefinger über die Schubblade für den Buchstaben H, die schon seit Jahren ein Stück hervorstand. Sie vermutete, dass irgendwann die Informationen zu irgendeinem Hasendiebstahl dahinter gerutscht waren und die Schublade blockierten. Dann rief sie noch einmal nach Henry.

»Emma?« Ihr Onkel tauchte aus dem Nebenraum auf, in dem sich eine kleine Küchenzeile und ein zerkratzter Resopaltisch befanden: der Pausenraum. »Was für eine Überraschung.« Er nahm sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Trotz der liebevollen Geste entging Emma nicht, dass er ihrem Blick noch immer auswich. »Ich habe mir gerade einen Kaffee gemacht. Möchtest du auch einen?«

»Gerne.« Emma folgte ihm in den kleinen Raum und nahm den Kaffeebecher mit dem Logo der Zeitung entgegen, dann ging sie ihrem Onkel voraus in sein Büro. Sie setzte sich auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch, der kein bisschen weniger chaotisch aussah als der seiner Mitarbeiter, und wartete, bis er ebenfalls Platz genommen hatte.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte Henry mit einem Lächeln, das auf den ersten Blick echt wirkte, es aber nicht bis zu seinen Augen schaffte.

Emma betrachtete ihn. Er sah müde aus. Älter als bei ihrem letzten Besuch. Schatten lagen unter seinen Augen, und das Hemd, über dem sich rot-weiß-karierte Hosenträger spannten, war zerknittert. Die Bartstoppeln, die das Kinn ihres Onkels bedeckten, waren nicht weiter außergewöhnlich, weil er es hasste, sich zu rasieren. Aber seine dichten, grauen Locken standen ihm zu Berge, als hätte er sie an diesem Morgen bereits unzählige Male mit den Händen zerfurcht – oder vergessen, sich zu kämmen. Emma stellte ihre Tasse auf die Kante des Schreibtischs. »Ich möchte wissen, ob mit dir alles in Ordnung ist«, sagte sie.

Henry schwieg einen Moment, so als kämpfe er mit sich selbst. Dann stellte auch er seinen Kaffee zur Seite. Ohne Emma anzusehen räusperte er sich. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.«

Ganz automatisch griff Emma über den Tisch hinweg nach seiner Hand und drückte sie. Seine Worte klangen genauso furchteinflößend, wie seine Stimme seltsam war. Und war er nicht viel blasser als sonst? Sie betete, dass er nicht gleich mit der Neuigkeit herausrücken würde, dass er eine schwere Krankheit hatte.

»Ich schließe die Zeitung«, sagte Henry.

Stille tickte im Raum. Einen Herzschlag lang. Zwei. Drei. Dann zog Emma langsam ihre Hand zurück. »Was meinst du damit? Du schließt die Zeitung?« Sie schluckte. »Dieses Jahr über die Feiertage? Oder weil du eine Woche zum Angeln fahren willst?« Was Quatsch war. Henry angelte schon immer im Crystal Lake oder dem Wild Creek. Aber Emma wollte einfach nicht darüber nachdenken, was dieser Satz ihres Onkels sonst bedeuten könnte. »Oder …?«

»Für immer.« Henry sagte es leise, aber fest. Den Blick auf den pinkfarbenen Notizzettel vor sich gerichtet.

»Was? … Aber … Das geht nicht!« Emma hatte das Gefühl, wie ihr sechsjähriges Ich zu klingen, das gleich mit dem Fuß aufstampfen würde.

Endlich sah Henry auf. »Die Arbeit lohnt sich einfach nicht mehr. Unsere Abonnentenzahlen gehen immer weiter zurück. Die Belange des Tals interessieren die Leute nicht mehr wirklich. Oder sie haben sie bereits im Internet nachgelesen, bevor die Gazette erscheint.«

»Du hast Angestellte!« Emma sprang auf. Sie konnte nicht ruhig sitzen bleiben, wenn ihr Onkel so eine Bombe platzen ließ. »Was wird aus ihnen?«

Henry seufzte. »Miles redet sowieso schon davon, endlich in den Ruhestand zu gehen, und Lydia hat ständig Ausreden, warum sie diesen oder jenen Bericht nicht machen kann. Wenn die Zeitung dicht ist, wird sie nicht weniger arbeiten als vorher. Jeffrey hat sich überlegt, im nächsten Jahr mehr ins Geschäft seiner Familie einzusteigen. Und Flora«, er sah Emma von der Seite an, »wird uns in einem Jahr in Richtung College verlassen.«

Flora Sullivan erinnerte Emma an ihr jüngeres Ich. Die journalistischen Wurzeln der Schülerin lagen, genau wie ihre eigenen, in der Redaktion der Snowflake Valley Gazette. Emma betrachtete die Bilderrahmen, die die Wand des Büros zierten. Gruppenbilder der Redaktionen aus verschiedenen Jahrzehnten. Auszeichnungen für besondere Artikel, die Henry geschrieben hatte. Und sogar ein Abdruck des Interviews mit Michelle Obama, das Emma in ihrer Studentenzeit für die Unizeitung in Berkley hatte führen dürfen – und das ihre Mutter so stolz gemacht hatte, dass sie gefühlte hundert Exemplare des Daily Californian gekauft und unter allen Freunden und Bekannten verteilt hatte. Selbst in ihrem alten Kinderzimmer hing der Artikel an der Wand. Emma strich mit den Fingerspitzen über einen der Bilderrahmen und wirbelte eine kleine Staubwolke auf. Was würde damit passieren? Mit den Auszeichnungen? Dem Zeitungsbüroschild? Den Rechercheschätzen im großen Aktenschrank? »Das geht einfach nicht, Onkel Henry.« Emma blickte in den Redaktionsraum. »Die Gazette ist eine Institution hier im Tal. Du kannst sie nicht einfach dichtmachen.«

»Es ist meine Zeitung. Ich kann damit machen, was ich will. Vielleicht verkaufe ich sie auch einem großen Konzern. Aber ich glaube, dass unser wöchentliches Blättchen niemanden interessiert.«

»Davon gehe ich aus.« Emma drehte sich wieder zu ihm um. »Wenn die Zeitung nicht mehr so läuft wie früher einmal, dann müssen wir sie eben ein bisschen aufpeppen.«

»Wir?« Henry zog die Augenbrauen hoch. »Hör zu, Emma.« Er rieb sich über den Nacken. »Ich weiß, was die Gazette dir bedeutet. Das geht mir nicht anders. Sie ist mein Lebenswerk, und es bricht mir das Herz, sie aufzugeben. Deshalb habe ich mir diese Entscheidung auch nicht leicht gemacht. Aber es gibt nun mal keinen Weg, die Zeitung einfach ein bisschen aufzupeppen«, betonte er das Wort, das sie benutzt hatte, »und alles geht wieder seinen gewohnten Gang. Mir laufen die Anzeigenkunden weg. Und ohne diese Einnahmen gehen wir früher oder später pleite. Lieber ein klares Ende als dieser ständige Kampf ums Überleben.«

»Es gibt einen Weg«, hielt Emma dagegen. Es musste einfach einen Weg geben. Sie griff nach ihrem Kaffee und trank einen großen Schluck, bevor sie begann, auf den ausgetretenen Dielen auf und ab zu laufen. Emmas Leben war unstet und von viel Spontaneität und Abenteuerfreude geprägt. Ein solches Leben konnte man aber nur führen, wenn man Rückhalt hatte. Emmas Stabilität war schon immer ihre Familie gewesen – und die Snowflake Valley Gazette. Wo sie als Journalistin das Laufen gelernt hatte, nur um dann ihre Flügel auszubreiten und die Welt jenseits dieses Tals zu entdecken. Die Zeitung war immer eine Konstante gewesen – sie durfte jetzt nicht einfach wegbrechen. Insgeheim hatte sie sich sogar manchmal vorgestellt, irgendwann, wenn sie den Trubel der Großstadt und das unstete Journalistenleben überdrüssig war, zurückzukehren und die Gazette zu übernehmen. Später. Sehr viel später. Aber diesen Traum würde sie nicht leben können, wenn Onkel Henry jetzt alles hinwarf. »Die Zielgruppe!« Emma blieb stehen und hob die Hände, als ob das die einfachste Lösung der Welt wäre. »Du musst die Gazette für eine jüngere Leserschaft interessant machen. Die wollen spannendere Themen als das Ergebnis der letzten Stadtversammlung.« Emma schnippte mit den Fingern, als ihr die nächste Idee durch den Kopf schoss. »Du brauchst eine Online-Ausgabe der Zeitung. Modern, interaktiv, aktuell. Das ist es!« Sie strahlte Henry an.

Ihr Lächeln fiel in sich zusammen, als sie in sein verständnisloses Gesicht sah. »Was ist?«, fragte sie. Okay, Henry zeigte der modernen Technik gegenüber ein wenig Widerwillen. Aber konnte er nicht erkennen, dass sie die Zeitung nur in dieses Jahrtausend holen mussten? Dafür war es inzwischen ungefähr zwanzig Jahre zu spät. Aber noch nicht zu spät.

»Emma-Schätzchen.« Henry erhob sich, kam zu ihr herüber und nahm sie in die Arme. »Danke, dass du dir solche Gedanken machst. Aber die Zeit ist einfach abgelaufen. Du weißt, was ich von diesem neumodischen Quatsch halte. Bis ich da durchgestiegen bin …« Er beendete den Satz nicht, aber Emma verstand auch so, was er sagen wollte.

Sie erwiderte die Umarmung. Atmete den vertrauten Duft aus Rasierwasser, Druckerschwärze und Papier ein, der immer an ihm haftete. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie musste kämpfen. Langsam schob sie ihren Onkel zurück, bis sie, die Hände auf seinen Brustkorb gelegt, vor ihm stand. »Du hast mir beigebracht, hartnäckig zu sein. Hartnäckigkeit und ein gespitzter Bleistift sind die stärksten Waffen eines Reporters«, imitierte sie seine Stimme und erntete ein kleines Lächeln. »Also, lass mich hartnäckig sein. Was brauchst du, um die Zeitung am Leben zu halten?«

Henry strich ihr über die Wange. Emma sah seinen Stolz auf sie in seinem Blick. Und Traurigkeit. »Doppelt so viele Abonnenten wie im Moment. Mindestens. Hartnäckigkeit hin oder her, das schaffst auch du nicht.«

»Bis wann?«, fragte Emma, statt auf seine Bemerkung einzugehen.

»Am besten sofort. Aber auf jeden Fall noch in diesem Jahr.«

Emma biss sich auf die Unterlippe. Ihre Idee war spontan, noch nicht durchdacht. Aber auch so schossen ihr bereits Ideen durch den Kopf. In einem so rasanten Tempo, dass sie das Bedürfnis hatte, sich einen Stift und Zettel vom Schreibtisch zu schnappen, um alles festhalten zu können. »Ein Online-Portal ist die perfekte Lösung. Damit sind den Abo-Zahlen nach oben keine Grenzen gesetzt. Und wir hätten noch ein paar zusätzliche Einnahmequellen durch die Links, die wir setzen können. Glaub mir, Onkel Henry, das funktioniert«, beschwor sie ihn.

»Emma, das ist …«, begann Henry erneut.

»Bis Jahresende«, fuhr Emma dazwischen. »Ich stelle eine Online-Ausgabe der Zeitung auf die Beine. Und wenn ich es schaffe, die Abozahlen bis Silvester zu verdoppeln, dann lässt du dich auf dieses Modell ein und gibst die Gazette nicht auf.«

»Emma …«

»Komm schon, Onkel Henry. Gib mir die drei Monate bis Jahresende!«

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, schluckte den Raum. Emma vergaß das Atmen. Sie hielt den Blick ihres Onkels. Als ob sie ihn hypnotisieren könnte. Als ob sie ihn so von der Richtigkeit ihrer Idee überzeugen könnte.

Schließlich ließ Henry den Kopf hängen und schüttelte ihn. »Worauf lasse ich mich da nur ein?« Er sah wieder auf. »Bis Jahresende. Keinen Tag länger.«

Langsam atmete sie aus und nickte.

»Wenn du das nicht schaffst, Emma, dann ist das nicht das Ende der Welt. Die Dinge ändern sich nun mal. Vielleicht sind wir hier ein wenig hinter der Zeit zurück. Aber dieses Tempo und unsere Art, die Dinge anzugehen, sind nicht falsch, nur weil ihr es in der Großstadt anders macht.«

Ein erleichtertes Grinsen stieg in Emma auf und legte sich über ihr Gesicht. »Die Mischung macht es.« Davon war sie überzeugt. Dann stieß sie einen Jubelschrei aus und umarmte ihren Onkel. »Du wirst es nicht bereuen«, wisperte sie.

»O doch! Das werde ich«, flüsterte er zurück.

* * *

Jared hatte so tief und lange geschlafen wie seit einer Ewigkeit nicht mehr. Ein deutliches Zeichen, würde sein Arzt sagen. Jared jedenfalls war zufrieden mit sich selbst. Er hatte am vergangenen Tag seine Technik aus dem U-Haul-Anhänger ausgeladen und in dem Raum im Erdgeschoss, den er als sein künftiges Arbeitszimmer auserkoren hatte, aufgebaut. Bei den Vorbesitzern musste das ein Fernseh- oder Spielzimmer gewesen sein. Jedenfalls verfügte es über Jalousien, die er herunterlassen konnte, wenn ihm die Sonne bei der Arbeit zu sehr auf die Nerven ging. Nach getaner Arbeit hatte er seine Rechner nicht etwa angeschaltet und sich in eines seiner Projekte gestürzt. Nein, er hatte stattdessen den Whirlpool angeworfen und bei einem Bier im warmen, entspannenden Wasser dabei zugesehen, wie die Sonne hinter den Bergspitzen der Rockys verschwand.

Die Bergspitzen, die er am Morgen auch von seinem Bett aus sehen konnte, und die gemeinsam mit dem leuchtend blauen Himmel die perfekte Kulisse für den Crystal Lake bildeten. Es wurde Zeit, aufzustehen und seine heutige To-do-Liste abzuhaken. Er hatte sich fest vorgenommen, erst morgen mit der Arbeit anzufangen. Heute würde er den Mietanhänger zurückbringen, Lebensmittel einkaufen und herausfinden, welche Lieferdienste Snowflake Valley zu bieten hatte. Nur für den Notfall natürlich.

Die Woodwards hatten offenbar ebenfalls einen Hund gehabt. Zumindest gab es in der Tür, die von der Küche aus auf die Veranda führte, eine Hundeklappe, die groß genug war, dass sich auch sein Neufundländer hindurchquetschen konnte. Während Jared sich eine Portion pappiges Müsli einverleibte, sah er seinen Hund immer mal wieder zwischen den Bäumen auftauchen. Das hier war ganz eindeutig nicht nur der perfekte Rückzugsort für ihn, das war auch ein Paradies für Biggie. Der in so einen Wald gehörte. An einen See – aber nicht in ein Apartment im Silicon Valley.

Zwei Stunden später hatte er den Anhänger in Wild Creek abgegeben und war nach Snowflake Valley zurückgefahren. Jared stellte seinen Range Rover auf dem Parkstreifen in der Mainstreet ab und ließ Biggie aussteigen, bevor er ihm folgte. Normalerweise blieb sein Hund problemlos bei Fuß. Aber er wusste nicht, wie die Leute hier zum Thema freilaufende Tiere standen, also legte er Biggie lieber die Leine an, was dieser mit einem tiefbeleidigten Blick kommentierte, bevor er sich im Schneckentempo in Bewegung setzte. Seine Art des Protests.

Jared war es recht. Er nutzte ihr langsames Vorwärtskommen, um sich umzusehen. Snowflake Valley war der Inbegriff einer tourismusorientierten Kleinstadt. Alles war blitzblank sauber und einladend. Die Schaufenster ansprechend und fantasievoll dekoriert. Aufsteller und Displays luden zum Kauf von Skiausrüstung für den bevorstehenden Winter ein. Priesen Pudelmützen an. Und im Falle eines Wollgeschäfts namens One More Row diese Bernie-Sanders-Handschuhe, die sogar die Leute in Kalifornien trugen. Das Café – One More Bite –, das direkt daneben lag, sah einladend aus und hatte eine Speisekarte im Kasten neben der Tür hängen, die ihm nach dem ekligen Frühstücksmüsli das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Vielleicht würde er sich hier nachher etwas zum Lunch holen. Aber erst einmal Lebensmittel. Am Stadtrand hatte er ein Einkaufszentrum gesehen, zu dem auch ein Supermarkt gehörte. Aber in einem Online-Ratgeber für den Umzug in Kleinstädte hatte er gelesen, dass man nirgends so viel erfuhr wie im Tante-Emma-Laden. Welche Pizzeria war die beste? In welcher Bar trank man abends sein Bier? Natürlich konnte man das alles auch selbst herausfinden, aber auf diese Weise ging das deutlich schneller.

Er fand Milli’s Grocery Store, den er bei Google ausfindig gemacht hatte, in der Mitte der Mainstreet, eingerahmt von einem Jagdausstatter und einer kleinen Galerie, die die Werke einheimischer Künstler vertrieb.

»Du wartest hier auf mich«, sagte Jared zu Biggie, der demonstrativ den Kopf wegdrehte, und band seine Leine an das Geländer vor dem Laden. Auf der Veranda stand eine Bank, von der aus ihm zwei ältere Damen zunickten, bevor sie ihre Unterhaltung fortsetzten. Daneben waren in altmodischen Regalen Angebotsartikel aufgereiht. Jared griff nach einer Packung Waschmittel und schob dann die Tür auf. Ein fröhliches Bimmeln begrüßte ihn, gefolgt von einem »Hallo, mein Lieber, kommen Sie herein«, einer winzigen Frau hinter dem Tresen, die sowohl sechzig als auch hundert sein konnte. Die winzigen weißen Ringellöckchen und die große Brille erinnerten Jared an Sophia von den Golden Girls. Die unzähligen Runzeln, die das Gesicht der Frau bedeckten, machten es unmöglich, ihr Alter zu schätzen, strahlten aber gemeinsam mit ihrem freundlichen Lächeln eine große Güte aus. »Was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, Ma’am. Ich brauche ein paar Lebensmittel«, sprach Jared das Offensichtliche aus. Die Köpfe von insgesamt vier Kunden, die er von der Tür aus ausmachen konnte, fuhren neugierig zu ihm herum.

»Sicher, mein Lieber. Sehen Sie sich nur um. Sie sind der neue Besitzer des Woodward Cottages, nicht wahr?« Die Verkäuferin blinzelte hinter ihrer großen Brille, als Jared sie verständnislos ansah. »Wir bekommen hier im Laden ziemlich viel mit«, erklärte sie.

»Klar.« Beste Pizza. Die beste Bar für ein Bier am Abend. Und wer in letzter Zeit zugezogen war. Er hätte daran denken müssen, dass er für seine neuen Nachbarn ebenfalls interessant sein könnte. Obwohl davon nichts in dem Ratgeber gestanden hatte.

»Ich bin Millicent Blackstone. Mir gehört der Laden. Wenn Sie etwas brauchen oder einmal eine besondere Bestellung haben, lassen Sie es mich wissen«, fuhr sie unbekümmert fort.

»Danke, Mrs. Blackstone.« Er nickte der alten Dame zu.

»Aber nicht doch, Schätzchen. Nennen Sie mich Miss Milli.« Und dann begann sie, genau wie im Ratgeber beschrieben, zu erzählen, was die Stadt zu bieten hatte. Wo man einen geselligen Abend verbringen konnte (nicht, dass er das vorhatte), wer einen beim Souvenir- und Kunsthandwerk-Shopping über den (Laden-)Tisch zog, und wo man die leckersten Backwaren und den besten Kaffee bekam: In dem Café, das er auf dem Weg in Milli’s Grocery Store entdeckt hatte. Das One More Bite – Noch ein Bissen. Ein witziger Name, wie er fand.

Als Jared die Gänge abgelaufen hatte und seinen gefüllten Korb vor Miss Milli auf dem Tresen abstellte, fühlte er sich gewappnet für seine neue Heimat.

»Einen hübschen Hund haben Sie da«, sagte Miss Milli und warf einen Blick nach draußen, bevor sie begann, die Preise der Lebensmittel mit rasender Geschwindigkeit in ihre Kasse einzutippen und in einer Papiertüte zu verstauen. »Ich liebe meinen Rocky auch von ganzem Herzen.« Mit dem Kinn wies sie auf einen Stuhl hinter sich, wo auf einem Schaffell ein Wesen lag, das nur aus Glubschaugen und Ohren zu bestehen schien. Das Fell war so kurz, dass das Vieh tatsächlich nackig aussah. Rocky ähnelte mehr einer Fledermaus als einem Hund, aber seine Besitzerin blickte ihn voller Hingabe an. Dann drehte sie sich wieder zu Jared um. »Wie heißt Ihr Schätzchen?«

Jared lächelte höflich. »Biggie.«

»Ein schöner Name. Und so passend«, flötete sie.

Jared brachte es nicht über sich zu erwidern, dass Rocky auch ganz fantastisch zu der Fledermaus auf vier Pfoten passte.

»Ich habe hier was für ihn.« Miss Milli griff unter die Ladentheke. »Hunde-Cookies. Ein kleines Willkommensgeschenk für Ihren Freund, weil er allein draußen warten musste.« Sie beugte sich ein Stück über den Tresen, als wolle sie Jared ein Geheimnis verraten, und hüllte ihn dabei in eine Wolke Florida Water ein. »Ich backe sie selbst, und Rocky liebt sie.«

»Vielen Dank. Das ist sehr nett.« Jared packte die Kekse zu seinen Einkäufen und reichte Miss Milli seine Kreditkarte. Als er sich mit seiner Einkaufstüte im Arm umdrehte, prallte er, dem teuren Duft nach, gegen eine Frau. »Entschuldigung.«

»Aber nein.« Eine Hand legte sich auf seinen Arm. Rot lackierte Fingernägel strichen über seine Jacke. »Ich muss mich entschuldigen.«

Jared blickte auf – und in das Gesicht einer perfekten Schönheit. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und strich sich die glatten dunklen Haare hinter das Ohr, während ihre andere Hand noch immer auf seinem Arm lag.

»Beatrice Williams«, stellte sie sich vor. »Lassen Sie mich raten …«, die Hand verschwand von seinem Arm, und im nächsten Moment tippte sie ihm mit dem Fingernagel gegen den Brustkorb. »Sie müssen Jared Dawson sein. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«

Er hatte keine Ahnung, woher die Frau wusste, wer er war. Er hatte Miss Milli doch nicht gesagt, wie er hieß, oder? Jedenfalls wurde es Zeit, zu gehen. Biggie wurde langsam ungeduldig. »Hat mich gefreut«, sagte er höflich und machte einen Schritt zur Seite.

Die Frau, Beatrice, folgte ihm. »Aber nicht doch. Sie wollen doch nicht flüchten?« Sie stieß ein kehliges Lachen aus. »Wie haben Sie sich eingelebt?«

»Ich … ähm …« Was ging das diese Frau an?

Der Zeigefinger glitt zu seinem Arm zurück. »Ich habe gehört, Sie haben Glasfaserkabel.« Sie lehnte sich ein Stück vor, und Jared musste sich beherrschen, um nicht einen großen Schritt zurückzumachen. »Wissen Sie, mir gehört das Mountain View Resort. Ich bin eine wirklich hart arbeitende Frau. Aber das Internet im Hotel ist eine Zumutung. Vielleicht kann ich ja mal vorbeikommen und mich in Ihr WLAN einloggen. Ich könnte eine gute Flasche Wein …«

»Bee, hör auf, den Mann anzugraben«, hörte Jared eine resolute Frauenstimme neben sich. Er sah einen Wust dunkler Locken, spürte einen Arm, der sich bei ihm unterhakte und ihn mitzog. Im nächsten Moment läutete das Türglöckchen über ihm, und er stand wieder auf der Veranda vor dem Laden. Erleichtert atmete er die klare Luft ein, die den Duft des schweren Parfüms aus seiner Nase vertrieb.

»Danken Sie mir nicht«, sagte die Frau neben ihm und lachte. »Ich kann es einfach nicht ertragen, einen Mann in Beatrices Fänge geraten zu sehen. Altes Highschooltrauma.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Sasha Campbell. Mir gehört das Café, von dem Miss Milli gerade noch geschwärmt hat, bevor Beatrice beschlossen hat, Sie mit Haut und Haaren zu verspeisen.« Sie lachte, als gefiele ihr der Gedanke. »Ich bin eigentlich nur kurz in den Laden gehuscht, weil mir die Milch ausgegangen ist. Na, was ist?« Sie legte den Kopf schräg, was ihre wilden Locken über ihrer Schulter tanzen ließ. Wahrscheinlich wirkte Jared wie ein Vollidiot, weil er immer noch keinen Ton gesagt hatte.

»Beatrice hatte recht. Ich bin Jared Dawson«, stellte er sich vor und schüttelte die dargebotene Hand.

»Der Mann mit dem berühmten Glasfaserkabel.« Sie hob unschuldig die Hand, in der sie den Milchkanister hielt. »Keine Sorge, ich bin nicht hinter ihrem WLAN her«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Die Baufirma meines Mannes hat ein paar der Umbauten am Woodward-Haus übernommen. Und in einer so kleinen Stadt wie dieser sprechen sich die Dinge schneller rum als auf Twitter. Kommen Sie mit.« Sie wandte sich um, ließ Biggie an ihrer Hand schnuppern und streichelte ihn, als er einmal quer über ihre Finger geleckt hatte. »Du bist ein Hübscher«, erklärte der Wirbelwind seinem Hund, was Biggie mit einem Schwanzklopfen und einem wissenden Blick in Jareds Richtung quittierte. »Sie und Ihr Hund sollten mich begleiten. Sie haben vorher sowieso schon mit feuchten Augen die Speisekarte an der Tür inspiziert. Ich lade Sie auf Ihren ersten Kaffee in Ihrem neuen Zuhause ein.« Sie streichelte Biggie noch einmal. »Und wohlerzogene Hunde sind im One More Bite immer willkommen.«

Auf ihre Art war Sasha Campbell nicht viel subtiler als Beatrice Williams, stellte Jared fest. Sie wusste, was sie wollte. Also marschierte sie einfach quer über die Straße, sicher, dass Biggie und er ihr folgen würden. »Sollen wir?«, fragte er seinen Hund.

Biggie klopfte einmal mit dem Schwanz auf den Boden, was Jared als Ja deutete. Sie betraten hinter Sasha das Café, in dem es verführerisch nach frisch gebackenem Brot und Kuchen duftete. Ein Wanddurchbruch führte in das daneben liegende Wollgeschäft. Was vermutlich auch der Grund dafür war, dass drei Frauen mittleren Alters in einer Sitznische zusammensaßen und strickten.

Jared ließ sich am Tresen nieder, hinter dem Sasha zu werkeln begann. Biggie ließ sich mit einem unsanften Rums zu seinen Füßen fallen.

»Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«, wollte Sasha wissen.

»Schwarz, danke.« Er nahm die bunt gestreifte Tasse entgegen, auf der der Spruch prangte: Kaffee! Weil es für Scotch noch zu früh ist.

»Also, Jared? Haben Sie sich schon bei uns eingelebt?«, begann Sasha ihr Verhör. Doch bevor er antworten konnte, blickte sie über seine Schulter nach draußen, hob die Hand, um ihn daran zu hindern, etwas zu sagen, und griff nach einem To-go-Becher. »Geben Sie mir eine Minute. Ich bin gleich wieder da.« Sie füllte Kaffee in den Becher, drückte den Deckel drauf und hastete an ihm vorbei.

Jared drehte sich auf seinem Platz um und sah ihr nach, wie sie aus dem Laden und über die Straße rannte. Auf der anderen Seite stand eine Blondine neben einem Mustang-Cabrio. Sasha umarmte sie fest und drückte ihr den Kaffee in die Hand, bevor sie sie noch einmal umarmte. Dann winkte sie lachend und kehrte in den Laden zurück. Einen Moment brauchte Jared, um zu begreifen, dass die Blonde die Verrückte war, die ihm gestern bei Frosttemperaturen mit offenem Verdeck entgegengekommen war. Sein Blick blieb an Sashas Locken hängen. Sie war die Beifahrerin gewesen, fiel ihm wieder ein.

Ebenfalls eine Verrückte. Noch dazu eine, die gnadenlos versuchte, ihn auszuquetschen. Aber sie mochte Biggie, hatte ihn aus den Klauen dieser Beatrice befreit und buk ein unglaubliches Ciabatta-Brot, das er wenig später in eine köstliche Kürbissuppe stippte. Falls sie nicht immer so viel redete, könnte das One More Bite glatt sein Stammlokal werden.

3

Happiness is catching snowflakes on your tongue.

Emmas letzter Roadtrip lag über zehn Jahre zurück. Damals war es darum gegangen, Spaß zu haben und nach dem Highschoolabschluss gemeinsam mit Sasha die Welt außerhalb ihres Tals zu erobern. Diesmal war Emma auf einer anderen Mission: die Snowflake Valley Gazette zu retten. Sie konnte sich allerdings nicht daran erinnern, dass die Reise mit ihrer besten Freundin auch nur halb so anstrengend gewesen war wie die knapp tausendsechshundert Meilen, die sie dieses Mal in zwei Tagen westwärts zurücklegte. Sie war völlig erschöpft, als sie ihren Jeep vor dem Haus ihrer Eltern ausrollen ließ.