Olaf und der gelbe Vogel - Erik Neutsch - E-Book

Olaf und der gelbe Vogel E-Book

Erik Neutsch

4,9

Beschreibung

Olaf hat auf seinem Zeugnis der 1. Klasse nur eine Zwei, sonst alles Einsen. Als er ganz unten eine Fünf erkennt, Ist er sehr, sehr traurig. Doch er sieht auf einem Baum einen unbekannten gelb-schwarzen Vogel, der rasch wegfliegt. Auf der Suche nach ihm geht er immer weiter aus der Stadt heraus, bis er in einem kleinen Dorf anlangt. Dort freundet er sich mit Susanne an, deren Zeugnis seinem gleicht, bis auf die Fünf. Susannes Eltern und Olafs Mutter lachen über die große Zahl auf dem Zeugnis, die Olaf so viel Kummer bereitete. Nun ist er kein bisschen mehr traurig und läuft fast jeden Tag in das Dorf zu Susanne. Als sie in der Nähe der Baustelle, die eine Verbindungsstraße zwischen der Stadt und dem Dorf errichtet, vom Regen überrascht werden, haben beide eine großartige Idee. Mit diesem Buch aus dem Jahre 1972, seinem einzigen in der DDR geschriebenen Kinderbuch, wendet sich der erfolgreiche Schriftsteller Erik Neutsch an Kinder ab 6 Jahre. LESEPROBE: „Erst dein Ehrenwort, dass du es keinem weitersagst.“ „Ehrenwort.“ Sie schlagen die Hände ineinander und sehen sich feierlich an. Dann erzählt Olaf seinem Freund Hansi die ganze Geschichte. Von dem gelbschwarzen Vogel, von Atze, und wie er Susanne getroffen hat. Von ihren Besuchen an der Fernstraße und von dem Gewitter, und wie Susanne und er auf die Idee gekommen sind, an der Straße Bäume zu pflanzen. Nur die Fünf auf dem Zeugnis verschweigt er. Aber es war ja gar keine richtige Fünf. „Siehst du, und Susanne hat sogar an dich gedacht, dass auch du Bäume mit pflanzen sollst.“ Für Hansi ist das alles ein bisschen viel auf einmal. Eine solche lange Geschichte! Die muss erst in seinen Kopf hinein. „Erzähl’s noch mal“, bittet er. Olaf beginnt von vorn. Und Hansi fragt, wenn er etwas nicht versteht. Dann sagt er: „Hast du gar keine Angst vor der Polizei?“ „Vor wem?“ „Vor der Polizei.“ „Warum denn?“ „Weil du die Kirschbäume aus dem Schulgarten klauen willst.“ „Ich klau sie doch nicht. Ich pflanze sie nur von einem Fleck an den anderen. An der Straße stehen sie besser. Die Leute können sich drunterstellen, wenn es regnet. Und der Zaubervogel hat einen Platz zum Ausruhen. Wir müssen sie nur tüchtig gießen, damit sie groß werden und viele Blätter kriegen. Im Schulgarten braucht sie keiner. Du weißt ja. Als wir Unkraut zupfen sollten und es fing an zu regnen, sind wir mit Frau Franke zurück in unsere Klasse gegangen.“ „Hm ... Ob aber die Polizei das weiß?“

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Impressum

Erik Neutsch

Olaf und der gelbe Vogel

ISBN 978-3-86394-786-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1972 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Ferien sind. Große Sommerferien. Darüber freuen sich alle Schulkinder. Alle? Nein. Olaf nicht. Er ist sehr traurig, wie noch nie. Und immerhin ist er schon sieben Jahre alt. Er kommt jetzt in die zweite Klasse.

Das aber ist es ja gerade. Es hat heute Zeugnisse gegeben. Olaf erhielt elf Einsen. Die stehen auf dem Papier, eine nach der anderen, wie die Soldaten stramm in Reih und Glied. Auch eine Zwei hat er. Im Schreiben. Aber - und das stimmt ihn so traurig - er bekam auch eine Fünf. Ganz dick, wie ein hässlicher Tintenfleck, klebt sie am Ende der Seite im Zeugnisheft. Dick ist sie wie der breite Leib eines Pferdes, das sich aufbäumt und von der Leine reißen will, wie es Olaf einmal gesehen hat.

Seit Olaf die Zahlen kennt, betrachtet er sie stets wie Bilder. Das macht ihm Spaß.

Die Zwei schwimmt wie ein Schwan auf dem Wasser. Schnurstracks geradeaus.

Die Sechs krümmt sich wie eine Schlange. Sie ist schlänglich.

Die Acht sieht aus wie die bunte Matrjoschka, die ihm der Vater aus Moskau mitgebracht hat. So gemütlich. Die Neun hat einen Kopf wie Bello, der Hund seines Freundes Hansi. So schnauzig.

Und die Fünf ist wie ein Pferd, das sich aufbäumt und mit den Hufen schlägt. Genauso bedrohlich.

Als Olaf die dicke Fünf in dem Zeugnisheft sah, waren ihm die Tränen gekommen.

„Aber Olaf, warum weinst du denn?“, fragte Frau Franke, seine Lehrerin. „Weinst du, weil du im Schreiben nur eine Zwei hast?“

Olaf schüttelte heftig den Kopf. „Nein“, sagte er. „Nur aus Freude und so.“ Er wusste von seinen Eltern und von anderen Erwachsenen, dass es Freudentränen gibt. Er selber kannte sie nicht. Er hatte gelogen. Er hatte aber nur gelogen, weil niemand in der Klasse wissen sollte, dass eine Fünf auf seinem Zeugnis stand. Er schämte sich.

Olaf schämt sich noch jetzt, auf dem Weg nach Hause. Nach dem Klingelzeichen war er sofort davongelaufen. Er hatte nicht einmal auf Hansi gewartet, mit dem er sonst immer den Schulweg gemeinsam geht. Und er denkt: Mit einer Fünf im Zeugnis wird mich Mutti nur noch halb so lieb haben. Und mit einer Fünf kann ich niemals fliegen lernen, Pilot werden, Flugzeugführer. Denn ein Pilot muss stets der Allerbeste sein. Höchstens eine Zwei im Schreiben kann er sich erlauben. Weil er ja nicht schreiben muss, der Pilot, wenn er fliegt, den Steuerknüppel fest in der Hand hält und durch die Wolken jagt.

Da wird er aus seinen Gedanken gerissen. In einer Baumkrone über seinem Kopf pfeift ein Vogel. „Pilot, Pilot“, pfeift er. Olaf hört es deutlich.Er denkt nicht mehr an die Fünf. Er denkt auch nicht mehr an Frau Franke, die so getan hat, als gäbe es keine Fünf auf seinem Zeugnis. Woher weiß denn der Vogel, wundert sich Olaf, dass ich Pilot werden und fliegen will wie er?

Olaf verharrt und blickt in das dichte Laub. Einen solchen Vogel hat er noch nie gesehen. Gelb ist er wie Hansis Kanarienvogel, der immer singt, wenn sie beide, sein Freund und er, Schularbeiten machen.

Aber der Vogel im Baum ist kein Kanarienvogel. Er ruft: „Pilot, Pilot“ und fliegt auf den nächsten Baum, eine Pappel. Er ist auch viel größer als der Kanarienvogel in Hansis Käfig. Und ein bisschen schwarz an den Flügeln, und ein bisschen rot am Schnabel ist er wohl ebenfalls.

Olaf geht ihm nach. Als er die Pappel erreicht, flattert der Vogel wiederum auf. Er setzt sich in die Pappel dahinter und ruft.

Olaf folgt ihm.

„Pilot“, ruft der Vogel. Es klingt wie ein Pfiff. Und husch - fliegt er schon wieder davon. Olaf ihm nach. Von Pappel zu Pappel. Und plötzlich schlägt der Vogel kräftig mit den Flügeln. Ein gelbes Leuchten zuckt am blauen Sommerhimmel. Und auf einmal stehen auch keine Pappeln mehr da, keine anderen Bäume. Der seltsame Vogel entschwindet. Ein Spatz flattert vorbei. Eine Lerche trillert. Und Olaf steht vor einem riesigen Kornfeld, das sanft im Winde wogt.

Die Stadt ist hier zu Ende.

In der Ferne rattert über einen Eisenbahndamm ein langer Güterzug. Er sieht aus wie eine Schlange, denkt Olaf, so schlänglich.

In der Ferne bedeckt ein schwarzer Streifen aufgewühlter Erde den Horizont. Das ist die Fernstraße, denkt Olaf, an der der Vater arbeitet.

Und noch ferner in der Ferne sieht er ein dunkles, ein dunkelgrünes Gewölk. Das muss der Wald sein. Eine Kirchturmspitze ragt daraus hervor. Die gehört bestimmt zu einem Dorf. Dorthin ist der seltsame Vogel vielleicht geflogen. Und dieses ferne, so tief in den Wald gehüllte Dorf einmal zu besuchen - das hat Olaf schon immer gelockt.

Also macht er sich auf den Weg. Der Ranzen ist heute leicht, denn Frau Franke hatte den Kindern gesagt, am letzten Schultag keine Bücher mehr mitzubringen.

Olaf will den bunten Vogel wiedersehen. Er geht über die schmalen Wege im wogenden Korn. Nur ein einziges Mal schaut er zurück und sieht schon weit hinter sich die Stadt mit ihren mächtigen Zickzackformen. Die vielen Türme. Das sind die Kirchen. Die vielen Schornsteine. Das sind die Fabriken. Die vielen Kästen. Das sind die Hochhäuser.

Näher aber als all die Türme, Schornsteine und Hochhäuser sieht er den länglichen Bau der Schule. In ihren Fenstern spiegelt sich die Sonne, blitzt zu ihm herüber. Hinter einem dieser Fenster hat er heute eine Fünf erhalten. Und sofort dreht er sich wieder um. Er ist wütend auf die Schule und denkt: Vielleicht will mir der Vogel sagen, wie ich trotz der Fünf auf dem Zeugnis fliegen lernen und Pilot werden kann. Vielleicht ist er ein Märchenvogel.

Da gerät er an einen Garten. Auf einer Leiter steht eine Frau, die wie die Großmutter aussieht. Sie trägt eine Brille, hat ihre grauen Haare zu einem Knoten im Nacken gebunden und pflückt Kirschen. „Guten Tag, Großmutter“, sagt Olaf, „hast du nicht einen Vogel gesehen? Er ist gelb und schwarz und ist hier vorbeigeflogen. Ich suche ihn.“

Die Frau schaut sich um und rückt an ihrer Brille. „Wer bist du denn?“, fragt sie. „Ich kenne dich gar nicht.“

„Ich heiße Olaf.“

„Nein. Deinen Vogel habe ich nicht gesehen. Wenn du ihn suchst, macht das hungrig. Hier, nimm ein paar Kirschen und iss sie.“ Sie steigt von der Leiter und füllt ihm die Taschen mit den süßen und roten Früchten.

Olaf bedankt sich und geht weiter.

Er begegnet einer Schafherde. Die Schafe blöken, und die Hunde bellen. Der Schäfer sitzt am Wegrain und raucht eine Pfeife. Er trägt einen breiten, mit Metall beschlagenen Ledergürtel, an dem eine Feldflasche, ein Beutel und ein Messer hängen.

Olaf grüßt und fragt: „Guten Tag, Herr Schäfer. Ich suche den Vogel, der gelb und schwarz ist. Ist er hier vorbeigeflogen?“

„Du bist wohl von der Schule nicht nach Hause gegangen“, antwortet der Schäfer. „Ich seh es an deinem Ranzen. Wie heißt du denn?“

„Olaf“, sagt Olaf.

„Nein. Deinen Vogel habe ich nicht gesehen. Doch wenn du ihn suchst, macht das durstig. Hier, nimm und trink und dann marsch, geh nach Hause.“ Er öffnet die Flasche und gibt ihm zu trinken, einen würzigen, erfrischenden Tee.

Olaf bedankt sich. Aber er geht nicht nach Hause, sondern ins Dorf.

Die Dorfstraße ist ausgefahren und staubig. Zu beiden Seiten duften die Linden. Und als er die nächste Hausecke erreicht, steht plötzlich ein Junge vor ihm, so groß, dass er zu ihm aufblicken muss. Der Junge trägt eine Hose mit Fransen an den Nähten, ein buntkariertes Hemd und ein rotes Tuch um den Hals. Er stemmt die Fäuste in die Hüften und versperrt ihm den Weg. Links will Olaf an ihm vorbei, da tritt der Junge nach links. Rechts will Olaf an ihm vorbei, da tritt der Junge nach rechts.

„Guten Tag“, sagt Olaf. „Ich heiße Olaf. Und ich suche den gelbschwarzen Vogel, der hierhergeflogen ist.“ Dabei späht er schon in die Linden.

„Ich heiße Atze“, entgegnet der fremde Junge. „Und du selber hast einen Vogel.“ Mit dem Zeigefinger tippt er an seine Stirn. „Ich kenne dich nicht. Und darum verhau ich dich jetzt.“ Er nimmt die Fäuste hoch und stellt sich hin wie ein Boxer.

„Aber ich hab dir doch nichts getan“, sagt Olaf.

„Doch“, antwortet der Junge, der Atze heißt. „Du bist in mein Reich gedrungen. So weit du blicken kannst, reicht mein Reich. Bis an die Stadt, wo der Sheriff wohnt. Ich bin der Rauchende Jimmy, und ungestraft betritt niemand mein Reich.“

Im selben Augenblick jedoch klappt eine Tür, und eine Stimme ruft erschrocken: „Mutti, Mutti. Der Atze will sich schon wieder prügeln.“

Im Nu nimmt der Junge Reißaus. So schnell rennt er davon, dass der Staub aufwirbelt und es aussieht, als ob seine Schuhsohlen qualmten. Bis zur nächsten Straßenecke - weg ist er.

Nun steht Olaf mit einem Mädchen allein. Denn niemand anders als ein Mädchen mit langen gelben Zöpfen und großen runden Augen hat gerufen. Es betrachtet ihn von oben bis unten. Und Olaf tritt von einem Fuß auf den anderen und betrachtet das Mädchen ebenfalls von oben bis unten. Es sagt kein Wort. Er sagt kein Wort.

Da es so auf die Dauer nicht weitergehen kann, bricht er schließlich als erster das Schweigen. „Ich suche den gelbschwarzen Vogel“, sagt er. „Alle Leute waren freundlich zu mir. Die Großmutter und der Schäfer. Auch du. Nur dieser Atze nicht.“

Das Mädchen hält sich die Hand vor den Mund und prustet.

Olaf findet das zwar töricht, aber irgendwie muss er sich ja für die Hilfe erkenntlich zeigen. Wäre nicht das Mädchen gekommen und hätte gerufen, hätte er jetzt wohl blaue Flecke und eine blutige Nase. „Hier“, sagt er, „die schenke ich dir.“ Er greift in die Taschen und hält ihr beide Hände voll Kirschen hin.

„Ich heiße Olaf.“

„Und ich Susanne.“ Sie nimmt von den Kirschen zwei Paare, die an den Stielen zusammengewachsen sind. Doch sie verzehrt sie nicht, sondern hängt sie sich über die Ohren. „Wo wohnst du denn?“, fragt sie. „In der Stadt.“ Er streckt den Arm aus. Da er aber die Stadt nicht mehr sehen kann, weiß er nicht genau, in welcher Richtung sie liegt. Er zeigt irgendwohin, in den Himmel. Dort schwebt eine weiße Wolke. „Was? So weit?“ Wiederum macht sie große und runde, ganz dunkle Augen. „Und so weit bist du gelaufen?“

„Ja.“ Er spürt, dass Susanne ihn jetzt bewundert. Trotz seiner Angst vor Atze vorhin, hält sie ihn nicht für feige. Und er will ihr beweisen, dass er noch viel mutiger ist, und sagt: „Hundert Kilometer weit.“

Da lacht Susanne. „Piep“, sagt sie. Denn sie weiß natürlich, dass es bis zur Stadtmitte nur acht Kilometer sind. Sie ist ja schon mit den Eltern im Beiwagen des Motorrads zum Einkauf dorthin gefahren, und dabei hat sie genau auf den Kilometerzähler geachtet. Der Vater hatte es ihr erklärt. „Es sind nur acht“, sagt sie.

„Ich habe den Vogel gesucht“, wehrt sich Olaf. „Kreuz und quer bin ich hinter ihm her. Also doch hundert Kilometer.“

„Was war das denn für ein Vogel?“

„So gelb wie deine Haare. So rot wie die Kirschen. Und ein bisschen schwarz.“

„Ein Distelfink.“

Olaf zuckt mit den Schultern. Er kennt keinen Distelfink. Er zeigt’s mit den Händen. So groß wie ein Arm.Susanne zeigt’s mit den Fingern. So groß wie ein Finger. „Einen so großen Distelfink, wie du zeigst, gibt es gar nicht.“

„Gibt es doch“, sagt er.

„Dann muss es ein Märchenvogel gewesen sein.“

Olaf nickt. „Er hat auch gewusst, dass ich einmal Flugzeugführer werden will.“ Er breitet die Arme aus, ahmt einen Motor nach und läuft im Kreis herum. Er zischt, brummt und faucht.

„Du bist lustig“, sagt Susanne, und sie steckt sich nun doch eine Kirsche in den Mund. „Ich werde einmal Tierärztin.“

Ihr Gespräch wird von Susannes Mutter unterbrochen. Sie schaut aus einem der Fenster des niedrigen Hauses, und eine Weile muss sie den beiden wohl zugehört haben. Denn sie fragt: „Nun sag mir mal, Olaf, bist du von der Schule noch nicht nach Hause gegangen? Es hat heute Zensuren gegeben, nicht wahr?“

Olaf steht still und druckst.

„Es ist schon spät am Nachmittag. Und deine Mutter wird sich ängstigen.“

Ja. Die Sonne steht schräg, und die Bäume werfen lange Schatten. Und da erscheint auch Susannes Vater. Er kommt von der Arbeit. Er steigt von einem Motorrad und lässt sich noch auf der Straße berichten, dass Susanne elf Einsen auf dem Zeugnis hat und nur eine Zwei. Und er lässt sich erzählen, dass Olaf Olaf heißt und nach Schulschluss noch nicht nach Hause gegangen ist.

Olaf hört das alles. Er merkt, wie ihn die Eltern Susannes bekümmert mustern, und weiß nicht, wohin er mit seinen Augen blicken soll. Sie bitten ihn, auf ihre Fragen zu antworten. Er muss seine ganze Geschichte erzählen, die ganze Wahrheit. Von der Fünf auf dem Zeugnis. Von dem gelben Vogel, der immerzu Pilot gerufen hat. Dass er sich nicht nach Haus traut, weil die Mutter traurig sein wird. Und dass er wohl doch nicht hundert Kilometer weit gelaufen ist.

„Bitte, zeig mir mal dein Zeugnis“, sagt Susannes Mutter. Sie sagt es so freundlich, dass Olaf sofort seinen Ranzen öffnet.

Die beiden Erwachsenen blättern in dem Heft. Und plötzlich beginnen sie laut zu lachen.

„Na dann, du kleiner Ausreißer“, sagt Susannes Vater, freundlich und lachend. „Steig auf mein Motorrad, und halte dich fest. Ich bringe dich zu deinen Eltern.“

Nachdem sich Olaf von Susanne und Susannes Mutter verabschiedet hat, geht die Fahrt zurück durch die Felder. Beide Arme klammert er fest um die Hüften des Mannes. Bald halten sie vor dem Neubaublock, in dem Olaf wohnt.

Die Mutter hat sich wirklich schon Sorgen gemacht. Olaf sieht es ihr an. Ein paar kleine Falten stehen auf ihrer Stirn. Es tut ihm sehr leid, und er senkt schuldbewusst den Kopf.

Aber Susannes Vater spricht mit der Mutter. Plötzlich lacht auch sie. Und statt Olaf zu schelten, schließt sie ihn in die Arme und küsst ihn. Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht.

„Mein kleiner dummer Junge“, sagt sie. „Die Fünf auf deinem Zeugnis ... Das sind doch nur die Tage, die du in der Schule gefehlt hast. Fünf Tage. Im Winter. Entsinnst du dich nicht? Da warst du krank ...“

2. Kapitel