Osterfeuer - Ella Danz - E-Book

Osterfeuer E-Book

Ella Danz

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Beschreibung

Die erfolgreiche Kochbuchautorin Trude Kampmann wollte das Osterwochenende mit ihren Freundinnen eigentlich nutzen, um ihnen die Schönheiten ihrer ostholsteinischen Wahlheimat zu zeigen und sie mit eigenen Kreationen zu verwöhnen. Doch die Vorfreude wird getrübt, als auch ein ungebetener Gast aus dem Auto steigt. Als dieser zwei Tage später, am Morgen nach dem traditionellen Osterfeuerfest, tot im Mühlteich gefunden wird, sind Ruhe und Frieden auf dem malerischen Anwesen endgültig dahin. Ein äußerst verzwickter Fall für den Lübecker Kommissar Georg Angermüller.

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Ella Danz

Osterfeuer

Kriminalroman

Zum Buch

TÖDLICHES OSTERFEUERFEST Die erfolgreiche Kochbuchautorin Trude Kampmann wollte das Osterwochenende mit ihren Freundinnen eigentlich nutzen, um ihnen die Schönheiten ihrer ostholsteinischen Wahlheimat zu zeigen und sie mit eigenen Kreationen aus der Landhausküche zu verwöhnen. Doch die Vorfreude wird getrübt, als auch Margot aus dem Auto steigt, von der sich Trude gewünscht hatte, sie nie wieder zu sehen. Als Margot zwei Tage später, am Morgen nach dem traditionellen Osterfeuerfest, tot im Mühlteich gefunden wird, sind Ruhe und Frieden auf dem malerischen Anwesen endgültig dahin …

Ein äußerst verzwickter Fall, der dem Lübecker Hauptkommissar Georg Angermüller – ein ruhiger, zur Melancholie neigender Franke, den die Liebe in den Norden verschlagen hat und der einem guten Essen nie abgeneigt ist, – gewaltig auf den Magen schlägt.

 

Ella Danz, gebürtige Oberfränkin, lebt seit ihrem Publizistikstudium in Berlin. Ihr spezielles Interesse gilt der genauen Beobachtung von Verhaltensweisen und Beziehungen ihrer Mitmenschen. Außerdem wird in ihren Büchern stets ausgiebig gekocht und gegessen, und das Zusammenleben ihrer Protagonisten mit Genuss und Ironie durchleuchtet. Ella Danz ist aktiv bei Slow Food, der weltweiten Bewegung zur Förderung einer nachhaltigen Esskultur und sie hat Kommissar Georg Angermüller erfunden, einen sympathischen Oberfranken im Lübecker Exil, der nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch gegen schlechtes Essen kämpft. Die Geschichten um den Genießer im Polizeidienst haben ihr bei der Kritik den Titel »Agatha Christie des Gourmetkrimis« eingebracht.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Strandbudenzauber (2018)

Schockschwerenot (2015)

Unglückskeks (2014)

Geschmacksverwirrung (2012)

Ballaststoff (2011)

Schatz, schmeckt’s dir nicht? (2010)

Rosenwahn (2010)

Kochwut (2009)

Nebelschleier (2008)

Steilufer (2007)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

12. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Manni / photocase.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3248-4

Widmung und Dank

Für Doris

Großen Dank an W. für Verständnis und Ermutigung.

Prolog

»… Man wässere die Hirne eine gute halbe Stunde in mäßig warmem Wasser und befreie sie sodann sorgsam von Häuten und Blutgefäßen. Nun hacke man sie klein und vermische sie gut mit einer mittelgroßen Zwiebel, die man zuvor gerieben hat, sowie einem in Milch eingeweichten, ausgedrückten Rundstück. Sodann füge man zwei frische, ganze Eier hinzu und schmecke mit Salz und Pfeffer ab …«

Trude legte das vergilbte, von Fettflecken übersäte Schreibheft beiseite und schob ihre Lesebrille von der Nase. Sie konnte sich beim besten Willen jetzt nicht auf dieses überbackene Kalbshirn nach Art der letzten Köchin vom Schlossgut Berkenthin konzentrieren. Durch das große Fenster wanderte ihr Blick gedankenverloren nach draußen.

Wolkenfelder trieben gemächlich über den Himmel und erlaubten hin und wieder der Sonne, ihre wärmenden Strahlen zur Erde zu schicken. Der Wind spielte lässig mit den Zweigen des Pflaumenbaumes, der in der Mitte der Wiese stand, und in den Blumenbeeten ringsum feierte der Frühling sein Erwachen mit Tulpen, Narzissen, Stiefmütterchen und frischem Grün. Auf der eingezäunten Weide fraßen sich drei Schafe langsam voran. Trudes Blick wanderte über die Tiere zu dem Wäldchen dahinter, hin zu den angrenzenden Hügeln, auf denen ein Trecker bei der Feldarbeit seine Bahnen zog.

War es wirklich erst drei Tage her, seit sie in Erwartung ihrer Gäste unter dem Pflaumenbaum einen Moment innegehalten und die sie umgebende Idylle genossen hatte? Sie konnte es kaum glauben. In diesen drei Tagen hatte sich ihr ruhig dahinfließendes Leben, mit dem sie zufrieden, ja glücklich war, in einen schmutzigen Strudel von Beschuldigungen und Lügen, von nagendem Misstrauen und haltlosen Verdächtigungen verwandelt: Zuneigung hatte sich in Nichts aufgelöst und jahrelang beschworene Freundschaften sich als leere Floskeln entpuppt. Ob sie und Franz wohl wieder zu ihrem alten Vertrauen zurückfinden würden? Vielleicht hatte sie selbst ja nie genug Vertrauen gehabt? Keine Ahnung. Die Schuld an dieser hässlichen, niederdrückenden Situation trug jedenfalls allein Margot. Doch man würde sie nicht zur Verantwortung ziehen können, denn Margot war nicht mehr hier. Sie befand sich seit Sonntag schon in Lübeck, in einem perfekt temperierten Kühlraum der Gerichtsmedizin. Starr und stumm.

1

Die Hitze des Backofens ließ die kleinen, runden Teigstücke auf dem Blech sich aufplustern und färbte ihre Oberfläche langsam goldgelb. Die Scones verströmten eine betörende Duftmischung aus Vanille, Butter und Zitrone, welche die Küche zu erfüllen begann. Sie mischte sich mit dem Aroma bittersüßer Sevilla Orangen, das einer Tarte nach altenglischem Rezept entstieg, die bereits zum Auskühlen auf dem Fensterbrett stand und kündete von bevorstehendem Genuss. Trude war ganz in ihrem Element. Was gab es schöneres, als die Vorbereitung von köstlichen Speisen für die Bewirtung von Freunden? Doch noch war es nicht so weit. Mit geröteten Wangen fuhr sie zwischen Tisch, Spülmaschine, Spüle und Herd hin und her, zwischendurch dem Hund ausweichend, der alt, ziemlich taub und fast blind, immer genau dort stand oder lag, wo man ihn nicht vermutete. Nur sein Geruchssinn funktionierte noch ausgezeichnet und wo er etwas zum Fressen vermutete, war er zur Stelle.

»Mensch Lollo, irgendwann leg ich mich wegen dir noch mal lang hier! Troll dich ins Körbchen!«

Der Hund, die persönliche Ansprache bemerkend, erhob sich, legte erwartungsvoll den Kopf schief und wedelte mit dem Schwanz. Ansonsten blieb er, wo er war.

»Ja, so ist das mit uns Alten. Erst lassen die Augen nach, dann die Ohren und dann brauchst du ein Ersatzteil am andern …«

»Na Elsbeth, fishing for compliments? Du kannst dich doch wirklich nicht beklagen – fünfundsiebzig und fit wie’n Turnschuh. Du fährst Fahrrad, schwimmst fast jeden Tag in der grauenhaft kalten Ostsee, lernst Englisch, spielst Theater und was du sonst noch alles so treibst. Und mir nimmst du auch noch eine Menge Arbeit ab. Da kenne ich aber andere …«

Trudes Worte bewirkten, dass sich ein erfreutes Lächeln auf dem Gesicht der alten Dame ausbreitete. Sie strich sich eine Strähne ihrer silberblonden Haare aus dem gebräunten, immer noch jugendlich wirkenden Gesicht und murmelte nicht ohne Stolz: »Na ja, es könnte einem schlechter gehen.«

»Siehst du! Und das wird auch so bleiben, denn schließlich wirst du hier gebraucht. Olli und Franz brauchen dich, die Tiere brauchen dich und von mir gar nicht zu reden!«

»Ja Trudchen, is ja gut! Wollte eben auch mal bisschen jammern. Kann ich jetzt noch irgendwas für dich tun? Sonst ziehe ich mich nämlich zurück.«

»Ich denke nicht. Wir haben ja sogar schon fast alles für das Abendessen gemacht und den Fisch kann ich erst kurz vorher zubereiten … Vielen Dank, Elsbeth! Du warst wie immer eine große Hilfe.«

»Na, da werdet ihr reichlich zu erzählen haben, du und deine Freundinnen, wo ihr euch nach so langer Zeit mal wieder seht …«

»Aber klar! Du wirst uns wahrscheinlich bis hoch zur Mühle gackern hören!«

Elsbeth lachte und zog ihre adrette, weiße Kittelschürze aus, tauschte die Hauspantoletten gegen ihre grünen Gummistiefel, zog ihren Anorak über und verabschiedete sich.

»Tschüß, Trude. Bis später!«

»Bis heute Abend! Dann wirst du meine Weiberrunde auch kennen lernen.«

Mit eingezogenem Kopf lief Elsbeth schnellen Schrittes durch den Nieselregen, der gerade wieder begonnen hatte, vom Himmel zu sprühen. Trude schloss hinter ihr die Tür, die direkt von der Küche über eine kleine Steinterrasse in den Garten führte. Was für ein Glück sie doch hatte, dass Franz außer seinem Sohn Oliver auch noch seine Schwiegermutter – oder Ex-Schwiegermutter? – mit in die Ehe gebracht hatte. Ihre Tochter war kurz nach der Geburt von Oliver gestorben und da sie selbst auch allein war, siedelte Elsbeth zu ihrem Schwiegersohn über, führte ihm den Haushalt und kümmerte sich um Oliver. Natürlich sorgte sich Trude, dass die Ältere sich verdrängt fühlen würde, als sie vor fünf Jahren nach Warstedt zog. Sie sah die klassischen Konkurrenzen und Eifersüchteleien auf sich zukommen. Doch Elsbeth und sie verstanden sich auf Anhieb. Elsbeth gab gerne ihre Hausherrinnenposition auf, um sich ihren zahlreichen anderen Interessen zu widmen und war doch sofort zur Stelle, wenn ihre Hilfe oder ihr Rat gebraucht wurde. In ihrer ehrlichen, unkonventionellen Art und Herzlichkeit war sie für Trude zu einem unverzichtbaren, hochgeschätzten Mitglied ihrer neuen, kleinen Familie geworden.

Noch fast drei Stunden bis zum Eintreffen der Gäste und es gab nicht mehr viel zu tun. Franz und Olli nutzten den Feiertag, um im Yachtclub ihr Segelboot für die kommende Saison vorzubereiten. So hatte Trude noch Zeit und Ruhe, ein wenig am Exposé für ihr neuestes Buchprojekt zu feilen. Wenn erst mal ihre Berliner Freundinnen eingetroffen waren, konnte sie das Osterwochenende arbeitsmäßig wohl vergessen. Nach dem überraschenden Erfolg ihres Erstlings »Geschmack und Vorurteil – Die Englische Landhausküche seit Jane Austens Zeiten« beabsichtigte Trude jetzt, sich der holsteinischen Küche anzunehmen, die im Reich der Gourmets auch eher ein Schattendasein führte. Die ersten Recherchen, die sie in Archiven und Bibliotheken, sowie Herrenhäusern und Gutshöfen der näheren Umgebung unternommen hatte, fand sie äußerst vielversprechend. Die Geschmackskompositionen waren zum Teil ausgesprochen originell und es gab reichlich Material für eine Mischung aus historischem Sittengemälde, regionalen Rezepten und Anekdoten. Dann musste das Ganze noch mit Fotos der bezauberndsten Häuser und Landschaften garniert werden und natürlich mit betörend opulenten Arrangements der vorgestellten Gerichte – ein wahrer Augenschmaus sollte das werden! Die Vorschläge und Ideen, die sie ihrem Verlag unterbreiten wollte, sprudelten nur so aus ihr heraus.

Eine wahrhaft glückliche Fügung war es, dass sie diesen Themenbereich für sich entdeckt hatte, der ihrer ganz persönlichen Leidenschaft für alles, was mit Koch- und Esskultur zusammenhing, auf wunderbare Weise entgegenkam. Als sie damals Hals über Kopf aus der Großstadt in die norddeutsche Provinz flüchtete, hatte sie keinen Gedanken an ihre berufliche Zukunft verschwendet. Sie war froh, dem täglichen Kampf um Aufträge als sogenannte freie Journalistin entronnen zu sein, den sie, je älter sie wurde, als immer strapaziöser empfand. Sie konnte erst einmal aufatmen, da Franz ihr ein Leben ohne finanzielle Sorgen bot. Doch der naive Traum vom abwechslungsreichen Landhausalltag, mit Kochen und Backen für große Runden, dem Einmachen und Vorräteanlegen für den Winter, hatte in einem Vierpersonenhaushalt mit Spülmaschine und Tiefkühltruhe nicht lange Bestand. Außerdem hatte sie für Haus und Hof jede erdenkliche Hilfe in Form einer Putzfrau, eines Gärtners und natürlich Elsbeth, der Unermüdlichen. Auch pflegte man bedauerlicherweise nicht mehr die aufwendige Gastfreundschaft des englischen Landadels im 19. Jahrhundert mit Einladungen zu ausgedehnten Lunches oder geselligen Afternoon Teas mehrmals im Monat. Oliver war, als sie ihn kennen lernte, bereits ein ziemlich selbständiger Fünfzehnjähriger, mit dem sie sich auf Anhieb verstand, der aber keiner intensiven Betreuung, außer hin und wieder Nachhilfe in den sprachlichen Schulfächern, bedurfte. Und ein Engagement im örtlichen Lion’s Club, das ihr bald von

den maßgeblichen Damen der Warstedter Society angetragen worden war oder die Mitarbeit am Gemeindeblättchen, füllten ihre Tage bei weitem nicht aus.

Da alles, was mit Kochen und Essen zusammenhing, in den letzten Jahren ohnehin einen Schwerpunkt ihrer journalistischen Arbeit bildete, hatte sie begonnen, sich genauer mit den historischen Vorbildern ihrer Idealvorstellung vom Landleben zu beschäftigen. Als junges Mädchen schon faszinierten sie die Bücher der drei Brontë-Schwestern und Jane Austens, in denen Tees, Dinners und Picknicks eine wichtige Rolle spielten. Von jeher der gediegenen britischen Lebensart zugetan, begann sie, über die im Allgemeinen von Feinschmeckern eher gemiedene englische Küche zu forschen, und fand, was sie immer geahnt hatte: Nicht wenige englische Männer und Frauen hatten sich durch ihren Reise- und Forschungsdrang große Verdienste um die Entwicklung der europäischen Esskultur erworben. Letztendlich bestimmten nur die Fähigkeiten eines Kochs und nicht die ethnische Zugehörigkeit einer Speise ihren Wohlgeschmack.

Natürlich dauerte es entmutigend lange, bis endlich ein Lektor erkannte, welches Potential in ihrem unverlangt eingesandten Manuskript steckte. Doch schließlich profitierte sie vom Revival der englischen Damenliteratur in Buch und Film und der kleine Verlag, der wagemutig zugegriffen hatte, verfügte über einen Bestseller. Nun gut, ob ihr die Aufhebung des Vorurteils gegenüber englischer Kochkunst gelungen war, daran mochte man zweifeln. Gelungen war ihr mit »Geschmack und Vorurteil« auf jeden Fall ein wunderschönes, bibliophiles Stück Küchenliteratur, welches Eingang in die höchst weihevollen Spalten der Feuilletons gefunden hatte, und, darauf war sie besonders stolz, das eine Fülle von authentischen Rezepten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts enthielt, so aufbereitet, dass jeder interessierte Zeitgenosse seine Gäste damit zutiefst beeindrucken konnte. Ehrensache, dass Trude auch ihre Freundinnen mit Fundstücken aus ihrem Buch bewirten würde. Schließlich hatte sie einen Ruf zu verteidigen als geniale Köchin und Gastgeberin, die ihre ganz eigene Küche pflegte und sich dem ausgelutschten Trend Prosecco/Rucola/Mozzarella oder modischem Schnickschnack à la Pacific Food mutig entgegenstellte.

Zufrieden klappte Trude den Laptop zu und begab sich zurück in die Küche. Sie schlug die Sahne, die sie in Ermangelung von echter Clotted Cream, dieser klumpigen englischen Skurrilität, als Ersatz zu den Scones beim Creamtea reichen wollte. Auf dem rohen Holztisch in dem geräumigen, hellen Raum, der durch die vielen vorhanglosen Sprossenfenster, die fast bis zum Boden reichten, wie ein Wintergarten wirkte, stand handgetöpfertes blaues Teegeschirr für drei Personen bereit. Die ganze Küche war von den Fliesen, über Fensterrahmen und Türen bis zu den schmückenden Accessoires in Blau und Weiß gehalten und strahlte eine schlichte Behaglichkeit aus. Der kundige Betrachter sah sofort, dass hier jemand geplant hatte, der Wert auf Funktionalität legte, ohne dabei den ursprünglichen Charakter des Bauernhauses zu zerstören oder aber ins süßlich, kitschige Landhausambiente abrutschen zu wollen. Die Einbauküche aus weiß lasiertem Kiefernholz bot großzügige Arbeitsflächen, durch Punktstrahler bestens ausgeleuchtet, und optisch perfekt integrierte modernste Küchentechnik. Der große Esstisch, an dem mindestens zwölf Personen Platz finden konnten, erzählte mit seiner leicht fleckigen Patina von so manchem köstlichen Mahl, genossen in gemütlicher Runde.

Plötzlich erstrahlte die Küche in blendender Helligkeit. Der allgegenwärtige Ostseewind hatte die Wolken vertrieben und wenigstens für ein paar Minuten herrschte eitel Sonnenschein. Trude schlüpfte in ihre Gummistiefel – ein unverzichtbares Utensil des Landlebens in Ostholstein – nahm sich die Gartenschere, die neben der Terrassentür an der Wand hing, und ging schnellen Schrittes über den regenglitzernden Rasen, um aus den sich links davon anschließenden Blumenbeeten einen Strauß für den Küchentisch zu schneiden. Natürlich veranstalteten die drei Schafe auf der Weide am Ende des Grundstücks bei ihrem Anblick wie immer ein Mitleid erregendes Geblöke, als ob sie kurz vor dem Hungertod stünden. Doch Trude war mit dem Zusammenstellen ihres Straußes beschäftigt und achtete gar nicht darauf. Den Arm voller gelber Tulpen und einiger weißer Narzissen, kam sie zurück und blieb unter dem Pflaumenbaum in der Mitte der Wiese stehen. Durch die noch kahlen Zweige spürte sie die kräftigen Strahlen der Aprilsonne und atmete tief die frische Luft ein. Der Anblick des weißen, reetgedeckten Hauses inmitten der nach dem grauen Winter wieder zum Leben erwachenden Natur entlockte ihr einen zufriedenen Seufzer. Ja, sie fühlte sich hier zu Hause, sie war endlich angekommen. Was würden wohl Iris und Betty zu ihrer neuen Heimat sagen? Sie werden natürlich grün vor Neid, dachte Trude befriedigt. Schließlich gehörte außer Strohdachhaus, Wiese, Garten und Weide mit Weiher auch noch die alte Mühle, eine große Scheune und ein Stallgebäude zu dem pittoresken Hofensemble, nicht zu vergessen die angrenzenden Wiesen und Felder und mitten darin der ehemalige Mühlteich. Wenn das nicht beeindruckend war …

Sie stellte die gelbe Tulpenpracht in einem großen Glaskrug auf den Tisch, bestäubte die orangegoldene Tarte dick mit Puderzucker, platzierte sie neben dem Teegeschirr, stellte Milch und braunen Zucker bereit und legte noch Servietten im Gelb der Tulpen unter die Kuchengabeln. Die Scones ließ sie noch im Ofen, damit sie warm genossen werden konnten. Zufrieden begutachtete Trude das appetitliche Arrangement und hörte im Geiste schon die entzückten Ausrufe ihrer Gäste.

Lange konnte es nicht mehr dauern bis zu ihrem Eintreffen. Aber sie wollte noch schnell in die Gästewohnung hinter der Mühle laufen und sehen, ob Silke auch nicht vergessen hatte, die Heizung aufzudrehen. Das Mädchen putzte erst seit einigen Wochen bei ihr, war sehr nett und willig, jedoch etwas vergesslich, was Anweisungen außerhalb der Routine betraf. Außerdem konnte sie gleich noch den kleinen Narzissenstrauß drüben auf den Tisch stellen. Sie war schon auf Höhe der Gästewohnung, da hörte sie einen Wagen auf den Hof fahren. Als sie sich umdrehte, kam der rote Peugeot gerade vor dem Wohnhaus zum Stehen, die Türen wurden rasch geöffnet und Iris und Betty entstiegen dem Gefährt. Eine dritte Person zwängte sich ebenfalls noch von der Rückbank ins Freie. Trude, die eben noch durch Rufen und Winken auf sich aufmerksam machen wollte, duckte sich überrascht hinter den nächststehenden Holunderbusch. Die dritte Frau schüttelte den blonden Lockenkopf, streckte beide Arme in die Luft, räkelte sich nach allen Seiten, verschränkte dann die Arme vor der Brust und warf abschätzend prüfende Blicke um sich.

»Das ist es also, ja Mädels? Trudis holsteinischer Palazzo …«

Unwillkürlich ging Trude hinter dem Gebüsch noch mehr in die Knie, als sie die altbekannte Stimme hörte. Margot! Was wollte die denn hier? Sie hatte sie nicht eingeladen. Wie auch. Seit fast zehn Jahren hatten sie sich weder gesehen noch gesprochen. Iris oder Betty oder beide waren offensichtlich von der nostalgischen Vorstellung beseelt, die alte Runde von vor zwanzig Jahren wieder auferstehen zu lassen. Erste Zeichen von Altersdemenz bei den Damen. Sie hatte ihnen doch mehr als einmal deutlich gemacht, dass sie mit Margot nichts mehr zu tun haben wollte.

Egal. Jetzt musste sie sich entscheiden, wie sie mit der Situation umgehen wollte. Und zwar schnell. Ewig konnte sie hier nicht hinter dem Holunder hocken bleiben. Was würde Elsbeth denken, die in der Mühle wohnte und sie bestimmt sehen konnte. Wieso erschrecke ich überhaupt so, wenn diese Person hier unaufgefordert auftaucht? Ich werde sie die paar Tage lang ertragen müssen und danach werde ich Iris und Betty zur Schnecke machen, wie sie auf diese dämliche Idee verfallen konnten, Margot hier anzuschleppen. Die Freude eines hysterischen Anfalls meinerseits werden sie jedenfalls nicht haben und die Überraschung ist ihnen auch nur halb gelungen, denn jetzt bin ich gewappnet!

Und damit richtete sich Trude zu voller Größe auf, wedelte mit dem Narzissenstrauß und rief:

»Da seid ihr ja endlich! Und einen Überraschungsgast habt ihr auch noch mitgebracht – was für eine ausgefallene Idee! Kommt doch ’rüber zu mir und lasst euch begrüßen!«

Außerhalb der gepflasterten Flächen hatte sich der Hofboden von dem häufigen Regen in den letzten Wochen in rutschigen, weichen Matsch verwandelt. Wohl oder übel hieß es ihn durchqueren, wenn man zur Mühle wollte. Mit grimmiger Freude beobachtete Trude, wie Iris und Betty in ihren feinen Schühchen unsicher durch den Modder stakten und dabei Rufe der Wiedersehensfreude und des Wohlgefallens ob der wunderschönen Umgebung ausstießen. Margot hingegen setzte sich ins Auto, fuhr damit auf die gepflasterte Fläche vor der Mühle und begrüßte Trude als erste.

»Also, meine Idee war es nicht, hier uneingeladen einzufallen. Doch zugegeben fand ich es ganz reizvoll, sich nach all den Jahren mal wieder zu sehen … denkst du nicht auch, meine Liebe?«

Margot sagte dies ohne die Spur von Verlegenheit oder Unsicherheit. So war sie. Schwamm in ihrer Selbstsicherheit wie das Fettauge in der Suppe, von sich überzeugt bis an die Schmerzgrenze. Anstelle einer Antwort deutete Trude nur ein Lächeln an und fügte sich der folgenden Umarmung samt Luftküsschen.

Auf den ersten Blick fand sie Margot in ihrer äußeren Erscheinung unverändert: Die kräftige, sehr weibliche Figur, das glatte, bis auf den dunkelroten Lippenstift wenig geschminkte Gesicht mit der äußerst seriösen, dunkelrandigen Brille und nach wie vor die immer ungekämmt wirkende, blond gefärbte Lockenpracht. Sie musste jetzt siebenundvierzig sein, zwei Jahre älter als Trude. Ein bisschen voller war sie vielleicht geworden, doch das schien ihre alte Vorliebe für figurbetonte Kleidung nicht im geringsten zu beeinträchtigen. Das edle, hellgraue Strickkleid mit dem riesenhaften, weich fallenden Rollkragen zeichnete jede ihrer Rundungen überdeutlich ab. Dazu der nicht eben dezente rote Modeschmuck und die ebenfalls roten Velourslederpumps, das war die alte, unnachahmliche Mischung aus damenhafter Strenge und schlampiger Eleganz.

Über den Zustand ihrer Schuhe lamentierend waren Iris und Betty inzwischen vor der Mühle angelangt. Doch als sie Trude gegenüberstanden, strahlten ihre Gesichter sofort um die Wette.

»Kaum zu glauben, dass es schon wieder ein Jahr her ist, seit wir uns das letzte Mal in Berlin gesehen haben! Es ist schön, hier zu sein, Trude!«

Iris schien fast zu ein paar Tränchen gerührt, tupfte sich jedenfalls unnachahmlich wohlerzogen mit den Spitzen ihrer langen, schlanken Zeigefinger zwischen Augen und Nase. Mit der ihr eigenen formellen Höflichkeit, hinter der Trude herzliche Zuneigung ahnte, die Iris aber nie offen zeigte, wollte sie Trude die Hand zur Begrüßung reichen.

»Komm, lass dich drücken!«

Trude umarmte sie fest und hatte wie immer bei Iris das Gefühl, ein junges Vögelchen zu berühren, so schmal und leicht und verwundbar fühlte sich ihre dünne Freundin an, die nur etwas kleiner als sie selbst, aber bestimmt mehr als zwanzig Kilo leichter war. Mit Sicherheit entsprach Iris nicht irgendeinem Zeitschriftenschönheitsideal, doch Trude fand ihr Aussehen schon immer beeindruckend: Die dunklen, mittlerweile graumelierten Haare trug sie extrem kurz, was ihr schmales Gesicht mit den braunen Augen sehr gut zur Geltung brachte, aber auch eine gewisse Strenge vermittelte. Wie immer trug sie Schwarz. Hose und Jackett waren schmal geschnitten, von schlichter Eleganz und sahen teuer aus. Trude wusste es allerdings besser. Ihre Freundin durfte sich zwar mit einem Doktortitel schmücken, hangelte sich aber seit Jahren von einem unbedeutenden Lehrauftrag zum andern. In dem von Karrieristen, Intriganten und Blendern beherrschten Unibetrieb konnte sie in ihrer vornehm zurückhaltenden Redlichkeit mit ihrem altmodischen Pflichtgefühl keine Sprosse auf der Leiter nach oben erklimmen. Ein gewisser Stolz und die Angst vor geistiger Leere hinderten Iris jedoch daran, sich einen Brotjob, in welcher Branche auch immer, zu suchen. Ähnliches war wohl auch der Grund, dass Iris schon lange keine feste Beziehung mehr hatte. Mit Leib und Seele hatte sie sich der Literaturwissenschaft verschrieben. Trude wusste, dass sie nur dank eiserner Disziplin mit ihrem geringen Einkommen überleben konnte und es war wahrhaft bewundernswert, wie sie trotzdem nur perfekt gekleidet auftrat, meist darauf bestand, Restaurantrechnungen selbst zu bezahlen, und stets eine nette Kleinigkeit als Gastgeschenk dabei hatte.

Wie immer sträubte sie sich auch diesmal kaum merklich gegen die Nähe der Umarmung, wie ein kleiner Vogel, der mit flatternden Flügeln versucht, seinem Fänger zu entkommen.

Betty bedurfte keiner Aufforderung. Sie war noch etwas kleiner als Iris, dafür aber ziemlich rund und um sich von ihr so richtig knuddeln zu lassen, musste Trude sich etwas niederbeugen.

»Wir sind eben treue Seelen, uns wirst du nicht los und wenn du nach Nordgrönland ziehen würdest! Und um unsere alte Weiberrunde zu komplettieren, haben wir diesmal noch die Margot mitgebracht. War doch eine Superidee, oder? Jetzt können wir perfekt in alten Zeiten schwelgen.«

»W u n d e r b a r! Herzlich willkommen auf dem Mühlenhof, alle zusammen.«

»Ich finde das sehr bemerkenswert, dass wir es geschafft haben, dieses Wochenende zu organisieren! Seit Jahren sprachen wir davon und ich habe, ehrlich gesagt, nicht gedacht, dass wir das je verwirklichen würden. Und welch ein Paradies hätten wir verpasst! Du bist wirklich zu beneiden, Trude, weißt du das eigentlich?«

Iris ließ ihren Blick umherschweifen und breitete in gemessen großer Geste die Arme aus.

»Für mich ist das der schönste Platz auf Erden und ich habe auch nicht vor, hier wieder wegzugehen. Ich bin sehr glücklich hier.«

Trude meinte, was sie sagte. Sie hatte auf dem Mühlenhof ihre Seelenruhe wieder gefunden und würde sie sich durch nichts und niemanden wegnehmen lassen …

»Dein neuer Ehemann lässt ja zumindest finanziell nichts zu wünschen übrig. Was hast du nur, was wir nicht haben, dass du immer das große Los ziehst?«

Von wegen »Immer das große Los …« – Trude zog es vor, Margots Kommentar zu überhören.

»Und jetzt kommt – ich zeige euch eure Kemenate!«

Sie führte die drei Frauen auf einem Kiesweg an der alten, runden Mühle vorbei, zu einem sich daran anschließenden, aus Backsteinen gemauerten Häuschen.

»Hier wohnt ihr. Das ist der ehemalige Maschinenraum. Den haben wir vor ein paar Jahren zur Gästewohnung umgebaut. Oben sind zwei Schlafräume und unten habt ihr den Wohnraum mit offener Küche und Bad. Folgt mir, der Eingang ist auf der anderen Seite.«

»Das ist ja ein Kleinod! Und so gemütlich eingerichtet! Also, hier bleiben wir!«

Der Fußboden bestand aus terracottafarbenen Fliesen, darauf lag im Wohnbereich ein großer, bunter Flickenteppich vor einem alten Kanapee, das ebenso wie zwei bequeme Ohrensessel mit einem naturfarbenen Leinenstoff bezogen war. In der Wand dahinter befand sich ein offener Kamin. Eine alte hölzerne Eckbank mit passendem Tisch und drei Stühlen bildete zusammen mit einer alten Kommode die ganze Einrichtung. Die kleine Küchenecke auf der anderen Seite war praktisch und unauffällig zugleich eingerichtet.

Iris und Betty überboten sich mit ihren Lobpreisungen.

»Und dieser Ausblick! Wahnsinn!«

»Ja, das ist was anderes als die Berliner Straßenschluchten, nicht? Da, vor euren Fenstern grasen morgens die Hasen und Rehe – das gehört alles zu unserem Wellness Programm für geplagte Großstadtmenschen!«

Da der größte Teil der Wand gegenüber der Eingangstür aus verglasten Türen bestand, ebenso die linke Stirnseite des Raumes, machte der nicht übermäßig große Wohnraum den Eindruck großzügiger Weite. Und der Blick konnte ungehindert über die kleine Kiesterrasse in die Wiesen und Felder schweifen, die sich dahinter bis zum Horizont erstreckten und zwischen denen die Wasserfläche des alten Mühlteichs glänzte.

»Wie ist’s? Wollt ihr erst mal auspacken? Ach so, in den Schlafräumen oben sind alle vier Betten bezogen und Handtücher gibt’s im Schrank im Badezimmer. Wenn ihr durstig seid: Hier sind Mineralwasser und Saft und ihr könnt euch auch einen Tee oder Kaffee kochen. Nehmt, was ihr braucht.«

Trude holte für den kleinen Narzissenstrauß eine Vase aus einem der Schränke in der Küche, füllte sie mit Wasser und platzierte sie in der Mitte des Holztisches, der vor der Eckbank am Fenster stand.

»Hier ist übrigens auch alles da an Geschirr und Töpfen – falls ihr euch selbst bekochen wollt…«, sagte Trude in scherzhaftem Ton.

»Selbst wenn wir das wollten, gehe ich davon aus, dass Frau Bestsellerautorin es sich nicht nehmen ließe, an uns ihre viel gepriesenen Trouvaillen englischer Kochkunst auszuprobieren …«, gab Margot spöttisch zurück.

»Vielen Dank, Trudi! Das ist alles ganz wunderbar hier!«, Betty mischte sich eifrig ein.

»Ich denke, wir holen unser Gepäck und machen uns ein bisschen frisch, oder?«

Sie sah ihre beiden Mitreisenden fragend an und die nickten.

»Gut. Wenn ihr fertig seid, kommt ihr einfach rüber. Dann trinken wir erst mal Tee. Ach, eh’ ich’s vergesse …«, Trude warf einen Blick auf die matschigen Schuhe ihrer beiden Freundinnen, »Gummistiefel für Gäste befinden sich in der Kiste vor der Haustür …«

Voller widerstreitender Gefühle und Gedanken stapfte Trude zurück zum Haus. Margot hatte sich überhaupt nicht verändert.

Der Verlauf der ersten Stunden mit den Freundinnen war fast harmonisch zu nennen. Zuerst hatte Trude einen riesigen Korb mit exquisiten Delikatessen für die feine Küche als Gastgeschenk überreicht bekommen, von denen die Freundinnen richtig vermutet hatten, dass sie im Städtchen in dieser Vielfalt und Qualität nicht angeboten wurden. Anschließend hatten sie eine Hausbesichtigung gemacht und dann hatten Iris und Betty mit Wonne reichlich von den selbstgebackenen Köstlichkeiten verzehrt, Tee getrunken und mit begeisterten Komplimenten über Haus, Hof und Umgebung nicht gespart. Auch Trude hatte entgegen ihres Vorsatzes, höchstens ein Stückchen Tarte zu probieren, kräftig zugelangt. So war das immer: Kaum störte etwas ihre Seelenruhe, sog sie alles Essbare auf, ignorierte ihr natürliches Sättigungsgefühl und ihren Verstand und fand so zumindest für kurze Zeit ihren Frieden. So lange, bis sie auf die Waage stieg …

Margot hatte sich sehr zurückgehalten. Natürlich trank sie keinen Tee, sondern brauchte ihren Milchkaffee und ihre Zigaretten dazu. Von Trude um Rücksicht auf den nicht rauchenden Rest der Gruppe gebeten, stellte sie sich für jeden ihrer zahlreichen Glimmstängel an die geöffnete Terrassentür. Der Wind blies den Rauch ins Zimmer zurück und brachte gleichzeitig eine unangenehme Kälte mit.

»Und jetzt kommt von deinem ›Geschmack und Vorurteil-Buch‹ schon die dritte Auflage raus? Den Titel finde ich schön gewählt! Das ist wirklich beeindruckend, dass du so einen Erfolg hast – findet ihr nicht auch?«

Iris schaute von einem zum anderen. Als Gastgeberin genoss Trude das Privileg – zumindest vorerst – im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen und wurde, wie sich das gehört, reichlich mit Streicheleinheiten bedacht.

Betty nickte zustimmend. Margot zog unschlüssig die Schultern hoch.

»Mein Gott ja, ein netter Verkaufserfolg … Aber ehrlich gestanden: Kochen interessiert mich überhaupt nicht.«

Und sie drückte völlig unbefangen ihren Zigarettenstummel im Blumenkasten neben der Terrassentür aus und kam an den Tisch zurück. Für Margot war das Thema erledigt, da mochte noch soviel Herzblut in Trudes Schreibarbeit geflossen sein.

Ja, das war Margot. Als Betty, Iris und Trude sie kennen lernten – hoffnungsvolle, junge Frauen Anfang zwanzig – waren sie auf Anhieb von ihr begeistert. ihr geistreicher Witz, ihr scharfer Verstand und vor allem ihre scheinbar absolute Ehrlichkeit machten sie zu einer Art ungekrönter Herrscherin der kleinen Runde. Ihre schonungslose Kritik und ihre drastischen Ratschläge fanden die Freundinnen zwar teils schockierend, aber hilfreich. Es war nicht so, dass sie allgemein beliebt war, aber jeder schmückte sich gern mit ihrer Anwesenheit, denn sie erregte überall Aufsehen, brachte Glanz und Spannung auf jede Party. Völlig ungerührt sagte sie jedem das, was sie dachte. Jedem. Alles. Das jedenfalls glaubten sie damals. Im Lauf der Jahre aber wurde Trude klar, dass Margot ein ganz anderes Spiel spielte. Und so zog sich Trude peu à peu immer mehr von ihr zurück. Margot rief weiterhin an, kam unangemeldet zu Besuch und klinkte sich in gemeinsame Verabredungen mit den anderen Freundinnen ein. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass Trude mit ihr nicht mehr über persönliche Dinge sprach, sie nie mehr ins Vertrauen zog und auch nie mehr aktiv Kontakt zu ihr aufnahm. Deswegen war das Nichteingeladensein für Margot auch jetzt überhaupt kein Anlass zu falscher Zurückhaltung.

»Auch wenn dich das Thema nicht interessiert, musst du doch anerkennen, dass »Geschmack und Vorurteil« gut recherchiert und geschrieben ist und von einer beeindruckenden gestalterischen Ästhetik.«

Iris fühlte sich berufen, Trudes Erfolg nicht von Margot schmälern zu lassen.

»Abgesehen davon, entschuldige meine Offenheit, Margot: Kochen konntest du ja noch nie …«

»Muss man das können? Ich kenne wesentlich nettere Tätigkeiten, mit denen ich meine Zeit verbringen kann, als ausgerechnet Kochen …«

»Nun sei doch nicht so unsachlich! Man kann doch persönliche Vorlieben nicht als einzigen Maßstab …«

Betty beendete die kleine Diskussion indem sie Iris einfach das Wort abschnitt und verkündete mit verschwörerischer Miene: »Von wegen gute Bücher: Es gibt übrigens eine große Neuigkeit …«

Sie richtete ihren Blick auf Iris.

»Soll ich es sagen oder willst du?«

Es war Iris anzusehen, dass sie wohl am liebsten gar nichts sagen oder hören wollte, aber sie hob nur resigniert die Schultern und überließ Betty widerspruchslos das Feld.

»Iris hat ab Mai einen festen Job! Einen gut bezahlten, festen Job!«

Triumphierend als ob es ihr Verdienst sei, blickte Betty in die Runde.

»Mensch, das ist ja toll! Was für ein Job ist es denn?«, wollte Trude wissen.

»Nun erzähl doch mal, Iris!«, drängelte Betty, »oder muss ich das auch noch für dich erledigen?«

»Aus meiner Sicht hättest du gar nichts erzählen müssen«, antwortete Iris, lächelte aber dabei.

»Ich werde das neue Literaturmagazin auf Kanal 3 betreuen. Also hauptsächlich redaktionelle Arbeit im Hintergrund leisten. Aber ich soll auch Beiträge herstellen und später wahrscheinlich Gespräche mit Autoren und Autorinnen moderieren.«

»Das hört sich doch gut an! Wie für dich gemacht! Und wenn es auch noch gut bezahlt wird – umso besser!«, freute sich Trude.

»Was denn? Unsere Frau Doktor begibt sich in die geistigen Niederungen eines Privatsenders? Ob du das ertragen wirst?«

Die satte Häme troff nur so aus Margots Worten.

»Kanal 3 ist noch nie ein Krawallsender gewesen und der Chef, Dr. Dietrich, scheint mir durchaus ein Mensch mit einem gewissen Qualitätsanspruch zu sein. Er will den geistigen Horizont seiner Zuschauer noch mit etwas anderem als vermeintlich intelligenten Quizshows fördern, zum Beispiel die Leute mit diesem neuen Magazin zum Lesen anregen. Daran kann ich nichts Anrüchiges finden«, stellte Iris ruhig und sachlich fest und auch Trude und Betty protestierten. Doch ihre Argumente drangen gar nicht zu Margot vor.

»Ach nee. Der Diddi wird dein Chef! Grüß ihn doch mal ganz lieb von mir!«

Genüsslich betonte Margot die verniedlichte Namensform und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie den Mann sehr gut kannte. Niemand reagierte auf ihren Einwurf und Trude sagte warm: »Also, das freut mich wirklich für dich, Iris! Du hast es verdient! So lange wie du dich mit schlecht bezahlten Lehraufträgen und anspruchsvollen Hilfsjobs, die viel Ehre aber keine Kohle brachten, durchgeschlagen hast – ich wünsche dir viel Erfolg!«

»Vielen Dank.«

Iris nickte.

»Ich muss zugeben, die letzten Jahre waren nicht einfach für mich. Denkt nicht, dass ich keine gut dotierte, feste Stelle angenommen hätte – es hat sich einfach nicht ergeben. Andererseits wollte ich aber auch nicht irgendetwas völlig anderes machen, nur um Geld zu verdienen. Diese Konsequenz verschafft zwar eine gewisse Befriedigung und das Gefühl frei und unabhängig zu sein, aber der ständige Wettbewerb um klitzekleine Aufträge, dieser ständige Existenzkampf kostet eine Menge Kraft. Ich habe immer versucht, das zu verdrängen, aber ich werde ja nicht jünger und das macht es nicht einfacher, da entwickelt man Zukunftsängste. Es ist schon ein sehr gutes Gefühl, zukünftig regelmäßig ein Gehalt zu bekommen, endlich einmal eine Sicherheit in meinem Leben. Und aus dieser Ruhe heraus fühle ich eine große Energie wachsen. Ich sage Euch, ich kann es gar nicht erwarten, meine neue Stelle anzutreten!«

So offen und ausführlich hatte Trude die Freundin selten über ihre Gefühle reden hören. Sie konnte daran erkennen, wie viel schwerer der Alltag für Iris in den letzten Jahren immer gewesen sein musste, als diese es sich je hatte anmerken lassen und sie bewunderte sie im Nachhinein dafür umso mehr.

»Hältst du dich etwa ernsthaft für die geeignete Besetzung so eines Jobs, Iris?«

Margots Stimme voller Spott und Skepsis flog wie ein giftiger Pfeil durch den Raum und es entstand eine kurze, peinliche Stille. Iris war offensichtlich entschlossen, den Einwurf zu ignorieren, doch Betty fühlte sich genötigt, einzugreifen und fragte scharf: »Was soll das jetzt, Margot? Gönnst du Iris das nicht?«

»Was hat das damit zu tun?«

Margot war ganz der kühle Profi.

»Ich darf doch wohl meine Zweifel an Iris’ Eignung für diesen Job äußern, ob sie mit ihrem hehren Anspruch jemals der Trivialität einer so genannten Literatursendung gerecht werden kann, die ja vor allem unterhalten soll. Und außerdem sollte man doch alten Freunden helfen, wenn man kann …« Sie machte eine kurze Pause.

»… und Diddi ist ein sehr guter, alter Freund …«

In diesem Augenblick wurde die Küchentür geöffnet und Margots Ansicht über alte Freundschaften blieb unwidersprochen stehen.

»Ach, der Besuch aus Berlin ist schon da. Hi, ich bin Oliver!«

Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht trat er ein, drehte eine Runde um den Tisch und gab jeder der drei Damen artig die Hand. In seinem blau-weiß gestreiften Sweatshirt, groß, blond, mit seinen hellgrauen Augen entsprach Oliver perfekt dem Klischee des nordischen Helden. Er klopfte Trude freundschaftlich auf die Schulter.

»Na, seid ihr schon fertig mit dem Schiff?«, fragte sie ihn.

»Wir haben es fast geschafft. Papa ist noch dabei und macht die ganzen Fallen und Schoten an, dann können wir morgen schon mal einen Schlag segeln.«

»Möchtest du einen Tee und etwas essen?«

»Ich muss jetzt erst mal telefonieren, was heute Abend so läuft – ich nehm mir ein bisschen Kuchen mit auf mein Zimmer. Zum Abendessen bin ich jedenfalls definitiv nicht da.«

Oliver lud sich eine ansehnliche Menge Scones und Orangentarte auf einen Teller, schob sich im Gehen bereits ein Stück in den Mund, winkte der Runde kurz zu und verschwand.

Amüsiert beobachtete Trude wie wieder Leben in ihre Gäste zurückkehrte. Denn zumindest Iris und Betty waren, ohne sich zu rühren, mit den Augen jeder Bewegung ihres äußerst attraktiven Stiefsohnes gefolgt, hatten stumm seine Hand geschüttelt und ihn dabei hemmungslos angehimmelt. Der Disput um Iris’ neuen Job war vergessen.

»Das ist also dein Stiefsohn – ein ausnehmend hübscher Junge! Die Mädels stehen doch bestimmt Schlange? Und rufen sicher ständig bei euch an?«

Betty, selbst Mutter einer halbwüchsigen Tochter, kannte sich offensichtlich aus und Trude antwortete ihr nicht ohne Stolz: »Na ja, Oliver hat schon Chancen. Aber er sieht nicht nur gut aus, er ist wirklich ein lieber Junge und ziemlich gut in der Schule!«

»Wie alt ist denn dieser brave Schuljunge?«, fragte Margot, die auch aus ihrer gelangweilten Trägheit erwacht war, mit einem provokanten Unterton.

»Oliver ist im Januar zwanzig geworden und macht in wenigen Wochen sein Abitur.«

»Na, dann ist er ja alt genug …«

Margot erhob sich mit einem Lächeln, um sich erneut vor der Terrassentür eine Zigarette anzuzünden.

»Zurzeit hat er auch wieder mal eine feste Freundin. Anna, ein ausgesprochen nettes und hübsches Mädchen aus seiner Klasse«, meinte Trude noch anfügen zu müssen.

Doch Margots Interesse an dem Thema schien sich schon wieder erledigt zu haben. Sie stand rauchend in der Tür und es war nicht einmal klar, ob sie überhaupt noch zuhörte.

»So Mädels, was haltet ihr von einem kleinen Spaziergang? Ich muss mich ums Abendessen kümmern und ihr macht bestimmt Lollo eine große Freude, wenn ihr ihn ein bisschen in den Wiesen laufen lasst.«

Trude hasste nichts so wie Zaungäste in der Küche, die im Weg standen, dumme Fragen stellten und nichts so erledigten, wie man es ihnen auftrug, wenn man ihnen schon mal eine Hilfstätigkeit überließ. Betty musste natürlich fragen: »Können wir dir nicht irgendwas helfen? Wir wollen ja nicht, dass du wegen uns stundenlang in der Küche stehst.«

»Mir kann niemand helfen! Quatsch – so viel ist gar nicht mehr zu tun. Ihr kennt doch meine perfekte Zeit-Intervall-Planung … Um acht Uhr ist Dinner-Time! Dann lernt ihr auch Elsbeth, die Erstschwiegermutter von Franz kennen. Und Franz ist zum Essen natürlich auch da.«

Damit komplimentierte Trude die drei Frauen samt Lollo, der Freudensprünge vollführte, als er die Hundeleine sah, aus der Küche. Endlich Ruhe und Zeit, sich beim Kochen seinen Gedanken zu überlassen. Auch wenn Margots unerwartete Anwesenheit einen Misston in ihre Stimmung brachte, Trude freute sich trotzdem, Iris und Betty wiederzusehen. Die kleine Betty – blass, sommersprossig, mit einer roten Löwenmähne und hellen, wasserblauen Augen, ein Energiebündel trotz ihres nicht unerheblichen Übergewichts und eine Seele von Mensch. Frisch gebackene Institutssekretärin bei den Germanisten war sie, als sie sich kennenlernten und angespornt durch ihre neuen Freundinnen, die alle drei studierten, hatte sie fleißig und strebsam ihr Abitur nachgemacht, um sich den Traum vom Studium zu erfüllen. Kaum hatte sie zwei Semester Theaterwissenschaft hinter sich, da lernte sie Michael kennen, verliebte sich unsterblich und wurde schwanger. Sie heirateten. Michael konnte sich nicht viel um die kleine Annick, die bald darauf geboren wurde, kümmern, denn er musste an seiner Karriere in einer Werbeagentur am Ball bleiben und die ging selbstverständlich vor Bettys Selbstverwirklichungsquatsch, wie er das nannte. Schließlich würde sie auch davon profitieren, wenn später die Kohle stimmen würde. Als die Kohle dann stimmte, konnte sich Michael keine brave Hausfrau und Mutter mehr an seiner Seite vorstellen. Auf seinen Wunsch wurde die Ehe geschieden und plötzlich leistete er einen Offenbarungseid nach dem anderen, wenn es um die Zahlung des Unterhalts ging. Margot, die damals in seiner Agentur jobbte, wusste bestens Bescheid über horrende Gehälter, edle Champagnerfeste mit dem Team, teure Workshop-Wochenenden im Hotel, profitierte davon in vollen Zügen und hätte für Betty bei jeder Unterhaltsklage als Zeugin auftreten können. Doch die wollte darüber nichts wissen und akzeptierte vorbehaltlos Michaels Konditionen. Abgesehen davon, dass Margot sich eher unparteiisch gab und niemals Betty ihre Unterstützung angeboten hatte. Es war eine harte Zeit für sie und am allerschlimmsten war, dass sie diesem Kerl immer noch nachweinte! Heute noch machte sie sich Vorwürfe, damals nicht mehr um ihn gekämpft zu haben. Sie wollte einfach nicht einsehen, dass ihr Michael ein Charakterschwein war. Diesem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen hatte Trude wahrscheinlich auch Margots Anwesenheit zu verdanken …

Zum Glück hatte Betty es geschafft, sich in ihrem Leben als allein erziehende, berufstätige Mutter einzurichten und machte einen glücklichen und zufriedenen Eindruck. Annick war mittlerweile sechzehn Jahre alt und die beiden verstanden sich sehr gut. Das Studium hatte Betty an den Nagel gehängt. Sie arbeitete inzwischen als Sekretariatsleiterin in ihrem alten Institut, genoss das sichere Einkommen und ihre geregelte Freizeit. Ein Großteil davon opferte sie einer Laientheatertruppe und konservierte so ihren Traum von einer Theaterkarriere.

Trude holte die Makrelen aus dem Kühlschrank. Kühl, fest und ein wenig rau fühlten sie sich an und hübsch sahen sie aus mit ihrer zebraähnlichen Zeichnung in Blau und Silber und mit den dunklen Knopfaugen. Sie ließ kaltes Wasser über die Fische laufen. Kalt die Hände, kalt die Fische. Margot war auch kalt wie ein Fisch. Hinter ihrer Fassade aus barocker Lebenslust verbarg sich ein Mensch ohne Gefühle. Und ein Mensch ohne Gefühle ist grundsätzlich im Vorteil.

Bald lagen sechs Fischköpfe im Spülbecken, die Trude so geschickt abgetrennt hatte, dass sie von der entstandenen Öffnung aus die Fische sowohl ausnehmen als auch füllen konnte, ohne ihnen den Bauch aufzuschneiden. Aus Semmelbröseln, flüssiger Butter und gehackten Kräutern wie Petersilie, Thymian und Rosmarin mischte sie eine Füllung, die sie sodann mit Salz, Pfeffer und Muskat abschmeckte und mit geriebener Zitronenschale und Eigelb vervollständigte. Nachdem sie ihnen den Bauch gestopft hatte, verschloss sie die kopflosen Makrelen mit einem Zahnstocher und stellte sie erst einmal zurück in den Kühlschrank. Kurz vor dem Essen würden sie in einem Sud, dessen würziger Duft nach Wein, Nelken und Piment bereits durch die Küche zog, sanft gar gedünstet und anschließend unter einer Sauce aus ihrem Sud, verfeinert mit Sahne, serviert. Dazu junge, in der Schale gekochte Kartoffeln und grüne Erbsen – Franz und Elsbeth, die alles mochten, was aus dem Meer kam, würden ihr Karfreitagsfestessen bestimmt zu würdigen wissen. Und ganz beiläufig würde sie erwähnen, dass dieses Rezept ursprünglich dem Housekeeper’s Instructor von 1804 entstammte und sie es nur leicht der modernen Küche angepasst hatte.

Während sie den Tisch vom Teegeschirr befreite und danach für das Abendessen deckte, fiel Trude ein, dass sie sich umziehen musste. Sie trug immer noch ihre Kochklamotten, wie sie das nannte, eine abgewetzte Jeans, ein verwaschenes Sweatshirt und ihre Badelatschen, denn sie ging sommers wie winters barfuss. Wären Betty und Iris die einzigen Gäste gewesen, hätte sie gar keinen Gedanken an Garderobe verschwendet, sondern einfach in den Kleiderschrank gegriffen. Natürlich waren die beiden wohldurchdacht gekleidet, frisiert, Schmuck und Make-up feinstens abgestimmt und je älter sie wurden, desto perfekter traten sie auf. Trotzdem hätte sich Trude dadurch nicht bemüßigt gefühlt, aufzurüsten. Doch Margots Erscheinen bewirkte, dass sie sich von einer Minute zur andern ungelenk, farb- und glanzlos – schlicht und einfach absolut unattraktiv vorkam. Warum musste an ihr selbst auch alles so durchschnittlich sein? Mit ihren Einszweiundsiebzig war sie normal groß. Weder Busen noch Po waren auffallend geformt, nur ihre Hüften fand sie um einiges zu breit. Und es trennten sie zu ihrem Leidwesen seit letztem Winter noch fünf Kilogramm vom Normalgewicht und wenn sie jetzt nicht die Kurve kriegte, ihrem unkontrollierten mal Lust- mal Frustfressen Einhalt zu gebieten, würde sie sich bald eine neue Kleidergröße kaufen müssen.

Seufzend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Das glatte, braune Haar war mittellang und auch Nase, Mund oder Ohren konnten nicht als besondere Kennzeichen dienen. Das einzige was Trude an sich selbst gefiel, waren ihre grünen Augen. Wenn sie sie beschreiben sollte, konnte sie richtig ins Schwärmen kommen: Je nach Lichteinfall warmes Flaschengrün mit goldenen Lichtreflexen oder aber die Farbe weichen, dunklen Mooses … Seit Franz endlich einmal ihre Augenfarbe aufgefallen war, nannte er sie zärtlich mein Heringsauge … Für Franz also hätte sie sich nicht in Schale werfen brauchen. Für ihn sah sie immer gut aus. Sagte er jedenfalls. Sie hätte zu gerne gewusst, welches Bild er eigentlich von ihr hatte. Wie er sie sah, was er überhaupt sah und was er schließlich an ihr mochte. Doch das würde sie mit Sicherheit nie von ihm hören, solche Schnackerei, wie er das nannte, lag ihm völlig fern. Und danach fragen würde sie natürlich auch nicht.

Wie wohltuend hatte Trude sein wortkarges Verstehen, seine Klarheit, diese Selbstverständlichkeit in Worten wie Taten empfunden, als sie ihn vor gut sechs Jahren kennen lernte. Sie befand sich damals an ihrem absoluten Tiefpunkt. Gerhard, der Mann mit dem sie sieben Jahre verheiratet und von dem sie im dritten Monat schwanger war, erlag an einem strahlenden Sommernachmittag, sozusagen aus heiterem Himmel, einem Herzinfarkt. Er hinterließ ihr, neben einigen unerwarteten, finanziellen Verpflichtungen, vor allem die schockierende Erkenntnis, jahrelang neben einem Fremden gelebt zu haben. Sie wurde fast irre an der Tatsache, dass man einen Toten nichts mehr fragen, ihn nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann. Und als ihre Seele die Qualen nicht mehr ertragen konnte, wehrte sich auch ihr Körper. Sie verlor das Baby und wurde schwer krank.

Als Trude sich nach Monaten wieder erholt hatte, wurde die Arbeit ihr Fixpunkt, daran hielt sie sich aufrecht. In erster Linie brauchte sie das Geld und dann natürlich die Ablenkung von ihren Gedanken, die ständig um die gleichen Fragen von Fehlern, Versäumnissen, Selbstvorwürfen kreisten. Sie nahm jeden Reportage-Auftrag an und lernte Franz als Interviewpartner zum Thema Galloway-Zuchtbullen kennen. Er konnte ihr nur die ausgesprochene Schmackhaftigkeit dieses Rindfleisches bestätigen aber ansonsten keine einzige Frage beantworten, bis sie ihm Gelegenheit gab, klarzustellen, dass er nur seinen Freund und Nachbarn zu dieser Landwirtschaftsschau begleitet hatte und der sich gerade ein Brötchen holte. Nachdem sie den Nachbarn dann interviewt hatte, ging Trude mit Franz einen Kaffee trinken und sie hörte gar nicht mehr auf zu reden, erzählte ihm, wie schlecht es ihr ging und dass sie nur noch weg wollte aus Berlin. Es war nicht ihre Art, vor völlig Fremden ihre persönliche Lage auszubreiten, doch Franz erschien ihr wie ein alter Freund. Er erzählte nicht ganz so viel, aber klärte sie zumindest genau über seine Lebensumstände auf und nach dieser halben Stunde wusste sie, dass er ein Witwer mit Sohn und Schwiegermutter war, eine Firma hatte, die sterile Einwegartikel für Krankenhäuser weltweit produzierte, auf dem Bauernhof lebte, auf dem er geboren war, und nie aus seiner Heimat wegziehen würde. Und er lud sie ein, ihn auf seinem Hof zu besuchen. Und Trude, die geglaubt hatte, nie wieder einem Menschen ihr Vertrauen schenken zu können, war zwei Wochen später da und ein knappes Jahr später waren sie verheiratet: Da nahm der Prinz sie auf sein Pferd, führte sie auf sein Schloss und es wurde eine große Hochzeit gefeiert. Sie waren alle Tage froh und glücklich und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Es schien ihr immer noch wie ein Märchen!

Träge floss der warme, dottergelbe Custard – eine altenglische Eiercreme – über den lockeren, portweingetränkten Biskuit, den der Saft der ihn bedeckenden Himbeeren in ein dunkles Fuchsia getaucht hatte. Nicht ganz rezeptgetreu verbarg sich darunter noch eine Schicht Vanilleeis, die nach Trudes Dafürhalten diese Komposition erst perfekt machte. Man war nach Cucumber Soup und den gefüllten Makrelen jetzt beim Dessert angelangt und eine genussvolle Stille lag über der kleinen Tischgesellschaft, unterbrochen nur durch das leise Geklapper der Löffel und ab und zu einen Seufzer des Wohlgefühls.

»Mmmh! Ich hatte schon fast vergessen, dass du eine göttliche Köchin bist, Trudi! Es war wie immer alles ganz wunderbar!«

Betty kratzte bei diesen Worten emsig mit dem Löffel in ihrem Dessertschälchen, um ja kein Mikrogramm übrig zu lassen.

»Trude, es hat wieder sehr gut geschmeckt! Lass uns auf deine Kochkunst anstoßen!«

Elsbeth, gut frisiert, eine Perlenkette auf dem eleganten, hellgrauen Pullover, hob ihr Weißweinglas und der Rest der Runde tat es ihr gleich.

»Prost!«

Franz, der neben Trude saß, küsste ihr anschließend die Hand.

»Was wäre ich ohne dich? Zehn Kilo leichter und um tausend Genüsse ärmer!«

Trude lächelte und errötete tatsächlich ein bisschen. Es rührte sie immer wieder aufs Neue, mit welcher Inbrunst Franz sich ihren kulinarischen Kreationen hingab, wie er sich am Genuss wohlschmeckender Speisen aus tiefstem Herzen freuen konnte. Und sie wusste auch, dass er wirklich an Gewicht zugelegt hatte, im Gegensatz zu ihren ständigen Kämpfen und Niederlagen in punkto Übergewicht grämte er sich darüber aber nicht im Geringsten. Er war noch nicht dick, doch seine ohnehin kräftige Statur hatte sich in den letzten Jahren sichtbar gerundet. Kaum größer als sie, das Haar auf der Stirn schon etwas gelichtet, das graue Schnauzbärtchen in seinem meist freundlichen Gesicht, fand sie ihn aber nach wie vor ungeheuer attraktiv. Und sie wusste, dass, wenn er von Genüssen sprach, er nicht nur ihre Kochkunst meinte.

»Ja, ja, die Trude … Ihr Weg zum anderen Geschlecht führte schon immer durch den Kochtopf.«

Margot war schon wieder auf dem Weg zur Terrassentür, um sich eine Zigarette anzuzünden.

»Mit Speck fängt man eben Mäuse!«

»Nun ja, bei dir würde das wahrscheinlich nicht funktionieren, Margot, wenn ich an deine diesbezüglichen Fähigkeiten denke …«, musste die harmlose Betty witzeln.

Amüsiert blies Margot, die Lippen zum Schmollmund aufgeworfen, den Rauch ihrer Zigarette zu Ringen geformt in die Küche.

»Stimmt! Ich musste mich da auf anderen Gebieten anstrengen.«