Trugbilder - Ella Danz - E-Book

Trugbilder E-Book

Ella Danz

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

„Tonya ist eine erfolgreiche Influencerin“, erzählt die Mutter von Kommissar Angermüllers Nachbarin. Sie sorgt sich, weil ihre Tochter längst von einer Reise zurück sein wollte. Als in einem geschlossenen Strandbad am Pönitzer See eine verbrannte Frauenleiche entdeckt wird, ist Angermüller alarmiert. Doch es ist nicht seine Nachbarin. Sein erster großer Fall nach dem Sabbatjahr verlangt dem Kommissar einiges ab und auch in seinem Privatleben gibt es neue Verwicklungen. Wie gut, dass er sich des Öfteren den ganzen Frust von der Seele kochen kann.

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Ella Danz

Trugbilder

Angermüllers 11. Fall

Zum Buch

Schöner Schein „Tonya ist eine erfolgreiche Influencerin“ erzählt Mia, die Mutter von Kommissar Angermüllers Nachbarin, ihm stolz. Der Kommissar wiederum weiß eigentlich gar nicht, was das genau ist. Gleichzeitig ist Mia in Sorge, denn Tonya wollte längst von einer Reise zurück sein. Als in einem geschlossenen Strandbad am Pönitzer See eine verbrannte Frauenleiche gefunden wird, ist Angermüller alarmiert. Ist es etwa die junge Frau von nebenan? Doch die Tote wird als Jasmina Bogdanovic identifiziert, jung, hübsch, ebenfalls Influencerin und ziemlich vertrauensselig. Zu vertrauensselig? Tonya hingegen bleibt verschwunden. Als sie auch zu Mias Geburtstagsfeier nicht auftaucht und ihre Schwester Vicky feststellt, dass jemand Tonyas Wohnung durchsucht hat, wendet sie sich an Kommissar Angermüller. Kurz darauf entdeckt Vicky das abgestellte Auto ihrer Schwester in Lübeck und die hinzugezogenen Beamten machen im Kofferraum einen überraschenden Fund …

Ella Danz, gebürtige Oberfränkin, lebt seit ihrem Publizistikstudium in Berlin. Nach Jahren in der Ökobranche ist sie mittlerweile als freie Autorin tätig. Ihr spezielles Interesse gilt der genauen Beobachtung von Verhaltensweisen und Beziehungen ihrer Mitmenschen. In ihren Angermüller-Krimis wird gern gekocht und gegessen, mischt sich Spannung mit Genuss. Und der Kommissar, ein sympathischer Oberfranke im Lübecker Exil, kämpft nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch gegen schlechtes Essen.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © manza49 / Pixabay

ISBN 978-3-8392-6850-6

Widmung

Für Moni und für W.!

Kapitel I

»Hi, Schatzi!«, zwitscherte es hinter ihm. Überrascht drehte er sich um. Kaskaden rotblonder Locken umrahmten das Gesicht, das fast zur Hälfte von einer monströsen schwarzen Sonnenbrille bedeckt wurde. Die Trägerin konnte höchstens Schemen wahrnehmen, denn der Himmel war bedeckt, und es herrschte abendliches Zwielicht. Kannte er die Frau? Verwechselte sie ihn mit jemandem? Ehe er sich darüber weiter Gedanken machen konnte, hing sie an seinem Hals.

»Wie schön, dass du schon da bist!«

Sie hauchte ihm ein Küsschen auf beide Wangen, dann gab sie ihn frei. Ihre auffällig geschminkten Lippen verzogen sich zu einem reizenden Lächeln, gleichzeitig schob sie mit beiden Händen den Kragen ihres eleganten Mantels hoch.

»Ach bitte, mach schnell. Mir ist so kalt!«

Leicht irritiert tat Angermüller wie ihm geheißen und schloss die Haustür auf. Mittlerweile dämmerte ihm, wer ihn da so stürmisch begrüßt hatte. Seine Nachbarin richtete den Blick zum Gartentor.

»Na dann tschüs, Tonya, wir sehen uns«, rief ihr von dort jemand zu. Auch Angermüller schaute sich um. Ein dicklicher junger Mann stand auf dem Bürgersteig, hob eine Hand zum Gruß und wandte sich dann zum Gehen. Er wirkte enttäuscht.

»Ja, bye-bye, Fabi, hoffentlich bis bald mal wieder!«, rief die junge Frau freundlich, schlüpfte schnell in den Hausflur, nahm die Sonnebrille ab und lehnte sich an die Wand. Plötzlich wirkte sie zugleich erschöpft und verärgert.

»Entschuldigung, dass ich mich so an Sie rangeschmissen habe, aber das war ein Notfall«, sie seufzte hörbar, »der Typ ist etwas aufdringlich, den wäre ich bestimmt so schnell nicht losgeworden.«

Doch im nächsten Moment schon stand sie wieder aufrecht, zeigte dieses zauberhafte Lächeln und schien ihre Worte von eben zu bereuen.

»Ach, ich rede nur irgendeinen Quatsch. Also, vielen Dank für Ihre Hilfe, und einen schönen Abend noch!«

Damit drehte sie sich zu ihrer Wohnungstür, die der von Angermüller gegenüberlag, und schloss auf. Sie wohnte erst seit ein paar Monaten hier und hatte sich nie vorgestellt. Laut Namenschild hieß sie K.B. Frederiksen. Bis auf einen kurzen Gruß hie und da im Vorübergehen hatten sie noch nie miteinander gesprochen.

»Frau Frederiksen, wenn der Mann von eben Sie öfter verfolgt oder Sie schon einmal bedroht hat, sollten Sie besser etwas unternehmen. Solche Leute können manchmal zu gefährlichen Stalkern werden.«

Die junge Frau wandte sich zu ihrem besorgten Nachbarn um.

»Ach nein, der Fabi ist eigentlich ganz harmlos. Er war einer meiner ersten Follower und ist eine treue Seele, verteidigt mich immer, wenn irgendwelche Idioten mal Gemeinheiten gegen mich posten. Aber auch solche lieben Fans können manchmal ein bisschen anstrengend sein.«

Sie winkte ihrem Nachbarn noch einmal anmutig zu und schloss die Tür. Auch Angermüller betrat seine Wohnung, und während er sich die Hände wusch, verweilten seine Gedanken kurz bei der jungen Frau. Aus dem Wenigen, was sie gesagt hatte, schloss er, dass sie viel im Netz unterwegs war, vielleicht sogar beruflich? Besonders viel wusste er nicht über Leute, die mit Clicks und Likes auf Internetplattformen ihr Geld verdienten. Bei nächster Gelegenheit würde er seine Töchter mal danach fragen, die kannten sich bestimmt mit Instagram, Facebook und wie das alles hieß, um einiges besser aus als er.

Ein relativ ruhiger Tag in der Lübecker Kriminalinspektion lag hinter Georg Angermüller. Nach ein paar Monaten Auszeit war der Kriminalhauptkommissar Anfang des Jahres in den Dienst zurückgekehrt, voller Energie und Lust auf den Job. Auch auf die Zusammenarbeit mit den Kollegen hatte er sich gefreut, zumindest mit den meisten.

Man hatte ihm einen herzlichen Empfang bereitet. Claus Jansen, der schon seit mehreren Jahren sein Partner war, nicht gerade vor Gefühlen überschäumte und keine großen Worte machte, hatte ihm kräftig auf die Schulter geklopft und ihn mit einer zwar kurzen, aber festen Umarmung willkommen geheißen. Das hatte Angermüller richtig gerührt.

Seit seinem Dienstantritt verliefen die Tage recht geruhsam. Sie hatten kein aktuelles Tötungsdelikt zu bearbeiten, sodass sogar pünktlicher Feierabend meist die Regel war. Das hatte zur Folge, dass der Kriminalhauptkommissar am Abend des Öfteren einkaufen gehen und sich Köstliches ganz nach seinem Geschmack zubereiten konnte. Ein seltener Luxus! Heute war er trotz des nasskalten Wetters mit dem Fahrrad noch in die Innenstadt gefahren und hatte in dem kleinen Fischladen in der Hüxstraße zwei dicke Stücke Skrei erstanden. Die Saison für den schmackhaften Winterkabeljau dauerte nur wenige Monate, und das musste man nutzen.

Noch von unterwegs hatte er versucht, Derya anzurufen, denn der Fisch würde auch für zwei reichen. Doch sie ging nicht an ihr Handy. Nun hatte er ausnahmsweise einmal ziemlich geregelte Arbeitszeiten und bekam Derya trotzdem kaum zu Gesicht.

Wie oft hatte sie sich vor und auch während seiner Auszeit, vor allem, als er ihr zuliebe den Privatermittler spielen musste, beschwert, dass er nie Zeit für sie hatte. Und jetzt? Jetzt war Derya ständig beschäftigt, fand nicht einmal Gelegenheit zum Telefonieren, und wenn, dann war sie ziemlich kurz angebunden. Das fand Georg zwar doof, aber sie war nun mal selbstständig mit einem Catering Service für mediterrane Spezialitäten, und die Geschäfte liefen zurzeit scheinbar auf vollen Touren. Wahrscheinlich sollte er sich für Derya darüber freuen. Seit mehr als einer Woche hatten sie sich nicht gesehen. Noch einmal versuchte er, sie zu erreichen, und sprach, als es wieder nicht klappte, seine Einladung zum Abendessen auf ihre Mailbox.

Er hätte es schön gefunden, heute Abend Derya zu bekochen. Sie, die für ihre Kunden oft Tage in der Küche zubrachte, liebte es, von ihm verwöhnt zu werden. Andererseits hatte Georg auch kein Problem damit, nur für sich allein ein exzellentes Abendessen zuzubereiten und es in aller Ruhe zu genießen. Voller Vorfreude betrat er seine Küche, suchte alle Zutaten zusammen und begann mit der Arbeit.

Er schichtete gewaschene, in Spalten geschnittene Kartoffeln in eine kleine Auflaufform, benetzte sie mit etwas Öl, würzte mit Salz und Kümmel und stellte alles in den Backofen. Zu glasig gedünsteter Zwiebel gab er gekochte gewürfelte Rote Beete und schmeckte mit Rotwein, Ahornsirup und ein paar Gewürzen süßsäuerlich ab.

Als Angermüller gerade die dicken weißen Skreifilets in das erhitzte Öl in der Pfanne legen wollte, klingelte das Telefon. Ah, vielleicht konnte Derya doch noch zum Essen kommen!

»Guten Abend, Georg, störe ich?«

»Du störst doch nie«, antwortete Angermüller großzügig und nahm die Pfanne vom Feuer. Er hatte sofort registriert, dass Astrids Stimme nicht klang wie gewohnt.

»Ist irgendwas mit den Kindern?«

»Nein, mit Julia und Judith ist alles in Ordnung. Aber mein Vater ist heute in den frühen Morgenstunden gestorben …«

»Ach, Heini? Das tut mir aber leid«, sagte Georg betroffen, »ich mochte deinen Vater, er war so ein offener, liebenswerter Mensch.«

Georg hatte Heini als einen ruhigen, humorvollen Mann kennengelernt, für den es in dem weiblich dominierten Haushalt mit seiner Frau Johanna und den drei Töchtern manchmal nicht einfach war, sich Gehör zu verschaffen. Aus Astrids ganzer Sippe war ihm sein Schwiegervater immer der Liebste gewesen.

»Wart ihr bei ihm?«

»Ja, Mama hatte noch in der Nacht angerufen, und meine Schwestern und ich sind sofort zu ihr und Papa gefahren.«

»Wie geht es Johanna?«

»Du kennst sie ja. Sie hält sich tapfer. Aber wahrscheinlich hat sie es noch gar nicht richtig begriffen.«

Das letzte Mal hatte er den alten Mann an dessen 85. Geburtstag gesehen, überlegte Angermüller. Auf dem Fest hatte sein Schwiegervater ziemlich munter gewirkt, eine kurze, aber launige Rede gehalten, nach Herzenslust gegessen und getrunken und die Anwesenheit von Familie und Freunden offensichtlich sehr genossen. Er schien von den vielen Infekten, die ihn immer wieder zu Bettruhe gezwungen hatten, augenscheinlich komplett erholt.

»An seinem Geburtstag vor ein paar Wochen machte Heini noch einen putzmunteren Eindruck auf mich. Wie konnte das so schnell gehen?«

»Na ja, kurz nach dem Fest begann Vater wieder zu kränkeln. Er musste mehrmals ins Krankenhaus, wurde immer schwächer. Und als er sich jetzt noch eine Lungenentzündung zuzog, da konnte man nichts mehr machen. Wir haben damit gerechnet. Er ist zu Hause gestorben, ohne langes Leiden, wir konnten bei ihm sein. Das ist mir ein Trost …«

Sie stockte. Nach einem kurzen Räuspern fuhr sie fort:

»Also, ich wollte nur, dass du das weißt, Georg. Die Bestattung wird irgendwann nächste Woche sein. Ich muss noch ein paar Leute anrufen. Dann sag ich mal tschüs …«

»Ich danke dir fürs Bescheidgeben. Kann ich vielleicht irgendwie helfen?«

»Vielen Dank, ich bin ja nicht allein. Julia und Judith kümmern sich sehr lieb um mich.«

»Aber sag wirklich Bescheid, falls ich etwas für dich tun kann.«

»Das mach ich, Georg, ganz bestimmt. Und spätestens, wenn wir den genauen Bestattungstermin wissen, melde ich mich wieder bei dir.«

Durchs Telefon konnte Georg deutlich spüren, wie mitgenommen Astrid war. Wenn man sich so lange kannte wie sie beide, dann las man in der Seele des anderen wie in einem Buch.

»Dann mach’s gut, Astrid. Ich denke an euch.«

Während er sich wieder der Vollendung seines Fischgerichts widmete, füllten Erinnerungen seinen Kopf. Vor fast 20 Jahren hatte sich der Oberfranke Angermüller in Astrid verliebt und war ihretwegen in Lübeck, wo er während seines Jurastudiums ein Praktikum in der Kriminalinspektion absolvierte, hängengeblieben. Sie hatten geheiratet, die Zwillinge bekommen, schöne Jahre erlebt, schwierige Jahre gemeistert, bis sich ein unüberhörbarer Misston zwischen ihnen einschlich. Angermüller konnte nicht genau sagen, wann das angefangen hatte oder wer daran die Schuld trug. Ab einem bestimmten Moment spielten Astrid und er nicht mehr im selben Team, sondern gegeneinander.

Warum, weshalb – oft hatte er sich darüber schon den Kopf zerbrochen und nach einem Ausweg gesucht. Ihre Beziehung war ihm so wertvoll erschienen, das tiefe Vertrauen zueinander, der feste Zusammenhalt, so leicht wollte er das alles nicht aufgeben. Immer wieder hatte er versucht, einen neuen Anfang zu machen, und war jedes Mal gescheitert.

Auch in diesem Moment nahm er wieder einmal wahr, wie viel ihm seine Frau noch bedeutete. Seit über zwei Jahren lebten sie schon räumlich getrennt, trotzdem waren sie noch nicht geschieden. Sie schienen beide vor diesem endgültigen Schritt zurückzuschrecken, obwohl Georg schon eine ganze Weile mit Derya liiert war und Astrid – nun ja, eigentlich konnte er immer noch nicht sagen, ob sie mit ihrem Arbeitskollegen Martin mehr als eine Freundschaft verband.

Georg wiederum scheute das Zusammenziehen mit Derya, die nicht direkt, aber mit versteckten Andeutungen des Öfteren um dieses Thema kreiste. Sie hätte einen gemeinsamen Hausstand wohl für gut befunden. Seit einiger Zeit allerdings hatte Derya nichts mehr davon erwähnt, wie ihm gerade auffiel, und er war darüber eigentlich ganz erleichtert. Trotzdem irgendwie merkwürdig, dachte er, aber wir sehen uns ja momentan sowieso kaum.

Wenig später lagen goldgelb gegarte Kartoffelscheiben neben dem violettroten Gemüse, auf dem schneeweiße Skreifilets thronten. Schon wollte Georg den ersten Bissen auf die Gabel nehmen, da hielt er inne. Er goss sich von dem dunklen, kräftigen Negroamaro ein, den er so liebte, und hob feierlich sein Glas.

»Auf dich, Heini! Warst ein liebenswerter Mensch, ruhe in Frieden.«

Angermüller wollte sich gerade auf den Weg zur Arbeit machen, als seine Nachbarin mit einem magentafarbenen Rollkoffer aus ihrer Wohnung kam.

»Guten Morgen, Frau Frederiksen. Sie wollen verreisen?«

Er zeigte auf das Gepäckstück.

»Dann wünsche ich Ihnen ein erholsames Wochenende.«

»Ach, ich muss nur zu einem beruflichen Termin«, wehrte die junge Frau ab. In ihrem grauen Hosenanzug, ein ebenfalls magentafarbenes Tuch um den Hals geschlungen, wirkte sie sehr mondän.

»Na dann, trotzdem gute Reise und viel Erfolg!«

Sie lächelte hinter ihrer großen Sonnenbrille, die sie trotz der frühen Stunde an diesem recht trüben Tag schon wieder trug. Wenn sie sich dahinter verstecken will, dachte Angermüller, erreicht sie mit diesem auffälligen Modell eher das Gegenteil.

»Vielen Dank«, antwortete die junge Frau und ging auf hohen Stiefelabsätzen Richtung Ausgang. Auf einmal blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um.

»Könnten Sie mir wohl einen Gefallen tun und mich zu meinem Wagen begleiten? Der steht fast direkt vor der Tür.«

Da seine Nachbarin kein Gepäck außer ihrem Rollkoffer hatte, wunderte sich der Kommissar zwar ein wenig, doch er sagte: »Klar, kein Problem.«

Wie selbstverständlich überließ sie Angermüller ihren Koffer, der ihn gehorsam hinter ihr her zum Auto rollte. Und nun erkannte er auch, warum ihn Frau Frederiksen um seine Begleitung gebeten hatte. Nicht weit von ihrem Wagen entfernt, lehnte der junge Mann von vor zwei Tagen an einem Gartenzaun und sah zu ihnen herüber.

Der Kommissar hievte das Gepäck in den Kofferraum des auffälligen gelben Mini Clubman, in dem bereits eine große Tasche und andere Utensilien lagen, die zu einer Fotoausrüstung zu gehören schienen.

»Vielleicht sollten Sie sich doch überlegen, ob Sie was gegen den jungen Mann unternehmen, wenn er Sie andauernd belästigt«, meinte Angermüller leise, während er den Kofferraum schloss. Frau Frederiksen lächelte und nahm die Sonnenbrille ab.

»Keine Sorge. Außerdem bin ich ja bald zurück. Also dann, mach’s gut, mein Schatz!«, sagte sie, ohne die Stimme zu senken. Sie umarmte Angermüller zum Abschied, gab ihm wieder zwei Küsschen auf die Wangen und stieg in ihr Auto.

»Gute Reise, Tonya!«, rief der am Gartenzaun Wartende herüber.

»Danke, Fabi!«, antwortete Angermüllers Nachbarin freundlich, schloss die Tür und startete den Wagen. Der junge Mann sprintete zu einem am Straßenrand geparkten Motorroller und fuhr hinterher.

Am Dienstag der darauffolgenden Woche versammelte sich eine ansehnliche Trauergesellschaft auf dem Burgtorfriedhof, um Heini Dittmer die letzte Ehre zu erweisen. Jedermann wusste, dass die große Aufmerksamkeit, die man Heinis Abschied entgegenbrachte, nicht nur ihm, sondern vor allem auch seiner Frau Johanna geschuldet war, die der angesehenen Lübschen Kaufmannsfamilie Tiedemann entstammte.

Die Kapelle konnte gar nicht all die Menschen aufnehmen, sodass ein Teil unter dem zementgrauen Märzhimmel stehen musste, was angesichts scharfer, eisiger Windböen ziemlich unangenehm war. Auch Georg hatte den vorwiegend älteren Herrschaften den Vortritt gelassen und trat mit hochgezogenen Schultern von einem Fuß auf den anderen. Mit Bedauern dachte er an seinen langen, warmen Lodenmantel, der ihn zuverlässig vor der beißenden Kälte geschützt hätte.

»Und, Georg, darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?«, hatte Astrid zum Schluss gefragt, als sie ihm telefonisch Ort und Zeit für die Bestattung durchgab.

»Ziehst du bitte zur Beerdigung den schicken, kurzen Wollmantel an, den wir mal zusammen gekauft haben?«

Es war eine rhetorische Frage, das wusste Georg sofort. Über ihre Vorstellung von Kleiderordnung konnte man mit Astrid nicht diskutieren. Und seinen geliebten alten Lodenmantel hatte sie schon immer gehasst.

Angermüller war froh, als die Trauerfeier vorüber war und man sich zum beeindruckenden Tiedemannschen Familiengrab bewegte, wo Heini zu seiner letzten Ruhe gebettet wurde. Da er und Astrid noch nicht geschieden waren, zählte Georg offiziell immer noch zur Familie und musste deshalb nicht allzu lange ausharren, um Heini zum Abschied drei Schaufeln Sand und eine weiße Rose ins Grab zu werfen. Und da er den Auftrag hatte, mit seinen Töchtern Heinis hochbetagte Schwester zu dem Traditionscafé am Burgfeld zu fahren, in dem der Leichenschmaus stattfinden sollte, durfte er sich zum Glück alsbald entfernen.

Im Café war es warm. Man reichte Canapés und eine heiße Rinderkraftbrühe, die nach den schneidenden Temperaturen auf dem Friedhof richtig guttat. Natürlich ließ sich am Familientisch die Begegnung mit Astrids beiden Schwestern und ihrem Anhang nicht vermeiden. Sie verlief, wie schon seit Längerem üblich, eher frostig. Abgesehen davon hatte Angermüller unter seiner angeheirateten Verwandtschaft von Anfang an dieses Fremdkörpergefühl empfunden. Gut verstanden hatte man sich nie.

Er schaute sich um. Wo steckte eigentlich Martin? Hatte der wieder gekniffen, wie immer, wenn es schwierig wurde? Na ja, das konnte ihm eigentlich egal sein. Nachdem Kaffee und ein buttriger Streuselkuchen, Beerdigungskuchen, wie sie hier sagten, serviert worden waren, begannen sich viele der Gäste zu verabschieden, so auch Angermüller. Johanna sah erschöpft aus, als sie seine Hand nahm und lange drückte.

»Komm mich doch mal besuchen, Georg«, forderte sie ihn auf, »wir haben heute ja kaum sprechen können.«

Die Einladung freute ihn, und er versprach es. Wahrscheinlich würde sie das Leben allein erst einmal hart ankommen, nach mehr als 50 Jahren, die sie an Heinis Seite verbracht hatte. Er nahm sich vor, der alten Dame so bald wie möglich einmal seine Aufwartung zu machen.

Die Luft im Café war zum Schluss etwas stickig geworden. Weit ausschreitend machte er sich zu Fuß auf den Heimweg und genoss die halbe Stunde an der frischen Luft.

Eine nicht sehr große, etwas rundliche Frau verschloss gerade die Tür der Nachbarwohnung, als Angermüller in den Hausflur trat. Schon ein paar Mal war er ihr begegnet, und immer hatten sie sich freundlich gegrüßt, manchmal ein paar Worte über das Wetter gewechselt. Er nahm an, dass sie in der Wohnung gegenüber putzte. Sie drehte sich nach ihm um, und wie üblich wünschten sie sich Guten Tag.

»Sie sind doch der direkte Nachbar von Tonya. Darf ich Sie was fragen?«, sprach ihn die Frau an, als Angermüller seine Tür aufschließen wollte.

»Ja, sicher.«

»Haben Sie Tonya in den letzten Tagen mal gesehen?«

»Meine Nachbarin? Mmh … das war letzte Woche, da sind wir uns über den Weg gelaufen, sogar zweimal«, sagte der Kommissar nach kurzem Nachdenken. »Warum fragen Sie?«

Für Mode hatte Angermüller sich noch nie interessiert, aber wieder fiel ihm bei dieser Frau ihre fröhlichfarbige Kleidung auf, der türkise Anorak, die orangefarbene Hose, dazu Schal und Stulpen, bunt und wild gemustert. Ziemlich individueller Stil, fand er. Auch das kurz geschnittene Haar leuchtete in einem kräftigen Kupferrot. Die Dame liebte es offensichtlich bunt. Er schätzte sie auf Ende 40, einige Jahre älter als er selbst. Und jetzt, wo er sie länger reden hörte, bemerkte er ihren leichten Akzent.

»Meine Tochter wollte am Wochenende verreisen, nach Dänemark. Montagmittag wollte sie zurück sein. Aber bis jetzt ist sie immer noch nicht da.«

Die Art, wie sie alle S stimmlos aussprach, und dieser ganz leichte Singsang, das spricht für eine dänische Herkunft, dachte Angermüller.

»Stimmt, ich habe sie Freitagmorgen mit ihrem Koffer getroffen. Na ja, heute ist ja erst Dienstag«, meinte Angermüller beschwichtigend. »Hat sie sich denn gar nicht bei Ihnen gemeldet?«

Die Frau schaute ihn einen Moment zweifelnd an, dann zuckte sie mit den Schultern und ließ ein fröhliches Lachen hören, das so gar nicht zu ihrer besorgten Miene passen wollte.

»Na ja, immerhin hat sie Sonntagabend eine Nachricht geschickt, dass sie eine super Location aufgetan haben, und sie erst Montag zurückkommt. Tonya ist viel auf Reisen, und wenn sie beruflich unterwegs ist, meldet sie sich nicht so oft. Und ich soll sie auch nicht anrufen. Sie sagt, ich störe dann immer nur, wenn sie gerade Aufnahmen machen und so. Die jungen Leute halt …«

Wieder lachte sie.

»Ist Ihre Tochter Fotografin?«

»Nein, nein, sie ist keine Fotografin. Tonya hat sogar ihre eigenen Fotografen, die sie in den Kollektionen bekannter Modefirmen fotografieren. Meine Tochter ist eine ziemlich bekannte Influencerin, wissen Sie, macht Werbung im Internet, Youtube, Instagram und so. Tonya hat schon 500.000 Follower«, erklärte sie mit offenkundigem Stolz.

»Tut mir leid«, bedauerte Angermüller, »mit diesen Sachen kenne ich mich überhaupt nicht aus.«

»Ich mich eigentlich auch nicht«, lachte sie, »erst seit meine Tochter das macht, gucke ich mir das an. Na ja, was tut man nicht alles für die Kinder!«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Angermüller und wollte sich wieder seiner Wohnungstür zuwenden, um zu signalisieren, dass er die Unterhaltung beenden wollte. Da streckte die Frau plötzlich ihre Hand aus.

»Wir sind uns ja schon öfters begegnet. Mein Name ist übrigens Mia Frederiksen.«

»Freut mich, Frau Frederiksen. Ich heiße Angermüller«, stellte sich Georg notgedrungen ebenfalls vor und schüttelte die dargebotene Hand. Sie nickte.

»Ja, ich weiß, hab ich schon auf Ihrem Namenschild gelesen.«

»Na dann, bis zum nächsten Mal, Frau Frederiksen. Ich drücke die Daumen, dass Ihre Tochter bald was von sich hören lässt.«

»Ja, ich hoffe«, seufzte Frau Frederiksen und bückte sich nach dem großen Korb, den sie neben sich abgestellt hatte.

»Hab die Blumen gegossen und den Goldfisch gefüttert. Dann geh ich jetzt nach Hause und meine Kanelsnegle nehme ich wieder mit. Hab ich extra für Tonya gebacken. Die mag sie doch so gern, jedenfalls, wenn sie mal nicht auf Diät ist«, erzählte Frau Frederiksen, schnitt eine Grimasse und zupfte sorgfältig das blau-weiß karierte Geschirrtuch über dem Inhalt des Korbes glatt.

»Wie heißt das Gebäck?«, fragte Angermüller nach, dem schon die ganze Zeit so ein angenehmer Duft in die Nase gestiegen war, und deutete auf ihren Korb.

»Kanelsnegle, nichts Besonderes, einfach nur Zimtschnecken. Die essen wir in Dänemark zum Frühstück, zum Nachmittagskaffee, ach, eigentlich immer. Möchten Sie mal kosten?«

Erwischt. Neuen kulinarischen Köstlichkeiten gegenüber war Angermüller ja immer aufgeschlossen.

»Äh, also ja, gerne.«

Frau Frederiksen schlug das Geschirrtuch zurück und griff in den Korb.

»Am besten holen Sie mal was, wo ich die Zimtschnecken drauflegen kann.«

Sie sprach das Sch wie S in Zimtschnecken, und wieder lachte sie.

»Die sind nämlich ein bisschen süß und klebrig.«

Gleich darauf hatte Angermüller drei von den köstlich duftenden Hefeteilchen auf seinem Teller.

»Mmh, die sehen ja verlockend aus.«

»Und die schmecken, sag ich Ihnen! Ja, ich muss dann mal wieder. Tonyas Schwester kommt heute zu uns zum Abendessen. Tschüs, Herr Angermüller.«

»Ja, tschüs und vielen Dank, Frau Frederiksen.«

»Gerne. Bis zum nächsten Mal!«

Kapitel II

Lustlos stocherte Vicky in ihrem Blumenkohlgratin. Es schmeckte gar nicht schlecht. Doch der intensive Schweinebratengeruch, der über dem Esstisch hing, verdarb ihr den Appetit, genau wie das andauernde Gejammer ihrer Mutter.

»Heute Nachmittag hab ich auch ihren Nachbarn nach Tonya gefragt. Ein netter Mann. Aber der wusste natürlich auch nichts.«

Etwas zu geräuschvoll legte Vicky ihre Gabel auf das Porzellan.

»Mann, Mia, ich versteh nicht, warum du jedes Mal so einen Bohei machst. Gibt doch gar keinen Grund. Sie hat dir am Sonntag diese Nachricht geschickt, dass alles gut ist, sie nur noch etwas länger braucht.«

Bei dem Gedanken an Karolines Nachrichtentext spürte Vicky gleich wieder ihre Wut im Bauch: »Super Location hier! Bin Montag spät zurück. Bitte Goldie füttern, Wasser mal wechseln, Blumen gießen. NICHT MEHR ANRUFEN!!! Hab zu tun.« Und Mia nahm das einfach so hin, tat, was Karoline ihr auftrug, und sorgte sich ohne Ende.

»Außerdem ist sie doch erst einen Tag im Verzug. Ist doch schon öfter vorgekommen, dass Karoline länger wegbleibt als angekündigt, viel länger. Denk nur an die Story mit Mallorca damals! Da ist sie fast zwei Wochen geblieben, ohne sich nur einmal zu melden.«

»Du hast ja recht. Eine Mutter macht sich halt Sorgen«, kam kleinlaut die Antwort.

»Klaro, wird ja auch erst 23, dein Baby.«

»Sie hat schon seit Sonntag nichts mehr gepostet. Dabei wollte sie Aufnahmen machen. Deshalb ist sie doch weggefahren.«

»Wahrscheinlich ist unser Supermodel nicht schön genug auf den Fotos und muss die Bilder erst noch aufpimpen, damit sie ordentlich viele Likes kriegt«, meinte Vicky spöttisch, »wenn Karoline dich für irgendwas braucht, meldet die sich sowieso. Wetten?«

»Ach, Vicky, warum redest du immer so schlecht über deine Schwester? Und warum nennst du sie eigentlich immer Karoline? Du weißt doch, dass sie den Namen nicht mag.«

Genau deswegen, dachte Vicky trotzig und schüttelte unwillig das weißblonde Haar, das sich in einem wilden Gewirr kleinster Löckchen um ihren Kopf bauschte.

»Für mich ist und bleibt sie Karoline. Sie ist meine Schwester. Warum sollte ich sie bei ihrem Künstlernamen nennen?«

Früher war sie für alle Karoline und hatte auch kein Problem damit. Aber als sie begann, sich im Internet auszustellen, fand sie den Namen auf einmal altmodisch und unpassend, und außerdem hatte sie gelesen, es wäre ein Name, den Bauern gern ihren Kühen geben. Und ihr zweiter Name Bertonia klang ihr viel zu sehr nach dicker Berta. Und so wurde sie zu Tonya – mit dem extravaganten Y!

»Ich will doch nur, dass du dir keine Sorgen machst, Mia! Du müsstest inzwischen eigentlich wissen, dass meine große Schwester immer erst mal ihr Ding macht, und alles andere zweitrangig ist. Du wirst sehen, zu deinem Geburtstag am Wochenende ist sie bestimmt zurück.«

»Deine große Schwester kann eben Prioritäten setzen. Tonya will was aus sich machen, im Gegensatz zu dir.«

»Hat dich jemand um deine Meinung gebeten?«

Nur kurz richtete Vicky einen kalten Blick auf Ralf Ziegner, der am Kopfende saß, vor sich eine gewaltige zweite Portion Schweinebraten.

»Glaubst du, ich lass mir von dir in meinem eigenen Haus den Mund verbieten? Ausgerechnet von dir?«

Kurz überlegte Vicky, ihm eine passende Antwort zu geben. Aber es hatte keinen Sinn, und eigentlich wollte sie das auch nicht. Nicht, dass Vicky Angst gehabt hätte, mit ihm zu streiten, ihm an den kahl rasierten Kopf zu werfen, was für ein Idiot er war. Liebend gern hätte sie das getan. Aber sie wusste, wie sehr ihre Mutter unter diesen Auseinandersetzungen litt, die eh nichts brachten außer schlechter Stimmung. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie Mia diesen Mann nur hatte heiraten können. Ob sie ihn wohl wirklich liebte? Oder wollte sie nur einfach nicht allein sein?

Vicky schluckte ihren Ärger runter. Die Klügere gab nach. Sie platzierte ihr Besteck ordentlich auf dem Teller.

»Vielen Dank für das Essen, Mia. Ich muss dann mal wieder.«

»Aber du hast ja kaum was angerührt, Kind! Ich hab doch extra für dich den vegetarischen Gratin gemacht«, beklagte sich ihre Mutter.

»Ach ja, die Dame ist ja Vegetarierin. Verdient man damit eigentlich Geld?«, nuschelte Ralf mit vollem Mund, aus dem ein paar Fleischfasern hingen, deren Anblick bei Vicky einen leichten Brechreiz auslösten. Schnell sah sie weg und atmete einmal tief durch.

»Ich hab zum Nachtisch Æbleskiver gemacht. Weihnachten ist zwar lange vorbei, aber die magst du doch so gern. Ich geb dir wenigstens ein paar davon mit«, sagte Mia und holte aus der Küche einen großen Teller mit dem duftenden Gebäck und eine Plastikdose, in die sie eine ordentliche Anzahl der außen goldbraun gebackenen, innen fluffigen Kugeln schichtete.

»Es gibt auch noch Kanelsnegle, wenn du willst …«

»Vielen Dank für die Æbleskiver, die reichen mir. Und die Zimtschnecken kannst du für Karoline aufheben, die sind doch ihr Lieblingsgebäck. Dann sag ich noch mal danke und tschüs, Mia.«

Vicky gab ihrer Mutter zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

»Bleib ruhig hier, ich finde allein raus. Sollte ich was von Karoline hören, sag ich dir Bescheid.«

»Ja bitte, aber wahrscheinlich hast du recht, und ich bin einfach zu ängstlich.«

Mia Frederiksen lächelte schief.

»Du kommst doch nächsten Dienstag wieder zum Essen?«

»Klar, Mia. Ich komme gern. Aber erst mal sehen wir uns ja an deinem Geburtstag, sofern du mich einlädst«, scherzte Vicky.

»Aber natürlich, Kind, so gegen elf Uhr zum Geburtstagsbrunch!« Geübt sah Vicky über ihren Stiefvater hinweg, als sie zur Tür ging. Auch der beachtete sie nicht, war er doch voll damit beschäftigt, sich die nächste schwer beladene Gabel mit Fleisch und Kartoffeln in den Mund zu schieben.

Vor der Haustür schlang sich Vicky ihren kuscheligen Schal um den Hals, zog den Reißverschluss des Parkas bis ganz nach oben und zog ihre dicken Fingerhandschuhe aus Wolle über. Es wehte immer noch ein unangenehm kalter Wind, und erste feine Tropfen segelten vom Himmel. Sie setzte den Helm auf, stieg auf ihr Rad und blickte zurück zum Haus, das mit seinen erleuchteten Fenstern Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Es war das kleinste in seiner Nachbarschaft, bescheiden und bodenständig zwischen zum Teil recht klotzig wirkenden Bauten.

Vicky fuhr los. Vom Neubaugebiet am Bornkamp waren es knapp 20 Minuten bis zu ihrer Wohnung in der Innenstadt. Warum nur fiel es ihr so schwer, schlicht und einfach einen schönen Abend mit Mia und Ralf zu verbringen? Sie liebte ihre Mutter, aber es tat ihr in der Seele weh, wie sie sich für alle anderen aufribbelte, sich von Ralf kommandieren ließ, wie Karoline sie ausnutzte – und Mia nahm das einfach alles hin und wehrte sich nicht. Das machte Vicky so unglaublich wütend, und Mia schien nicht einmal zu bemerken, wie die anderen mit ihr umsprangen. Auch die Chefin des Cafés, für das sie in den Sommermonaten leckere Torten, Kuchen und andere Backwaren fertigte und wo sie manchmal als Bedienung aushalf, beutete sie nach Vickys Meinung aus und zahlte ihr ein absolut lächerliches Geld.

»Aber ich hab doch viel Spaß dran! Das Geld ist mir dabei gar nicht so wichtig«, sagte Mia immer nur, wenn man sie darauf ansprach.

Dabei konnten sie das Geld gut gebrauchen. Auch wenn Ralf stets den Eindruck erweckte, Geld spiele für ihn keine Rolle, war das Häuschen, in das sie vor fünf Jahren gezogen waren, natürlich noch nicht abbezahlt, und seine Pension war ausreichend, aber nicht üppig. Außerdem ging ein Großteil davon für seinen alten Hummer Geländewagen drauf, den er ehrfurchtsvoll »der General« nannte, und den er mit teuren Originalersatzteilen am Leben erhielt. Fast täglich putzte oder bastelte er daran herum. Okay, jeder hatte das Recht auf ein noch so bescheuertes Hobby, doch mit diesem Spritschlucker tagein tagaus sinnlos durch die Landschaft zu kurven, war allein aus ökologischen Gründen nicht mehr akzeptabel.

Womit Vicky aber überhaupt nicht klar kam, war Ralfs Mackergehabe. Allein wie er mit herausgedrückter Brust stolzierte, statt zu gehen, wie dröhnend er sprach, als ob er Befehle erteilte, das alles rief ihren Widerspruch hervor. Frauen schien er ohnehin keiner vernünftigen Unterhaltung für fähig zu halten. Entweder er flachste nur herum mit blöden Zweideutigkeiten, oder er erklärte ihnen, wo es langging, benahm sich wie der Boss, dem seine Frau und die beiden Stieftöchter sich unterordnen sollten. Natürlich konnte er mit beiden Methoden bei Vicky nicht landen.

Nach dem Unfalltod des Vaters von Vicky und Karoline gab es in Dänemark bis auf ihre Schwiegermutter, zu der sie aber ein recht distanziertes Verhältnis hatte, keine familiären Bindungen mehr für Mia. Also war sie mit ihren Töchtern nach Deutschland gezogen, wo ihr Bruder schon seit mehreren Jahren in Lübeck lebte. Als junge Witwe mit einer vier- und einer sechsjährigen Tochter glaubte sie, nie mehr einen Mann zu finden. Doch dann lernte sie nach ein paar Jahren Ralf Ziegner kennen.

Vicky war neun, als er in ihrem Leben auftauchte. Anfangs kam er nur zu Besuch, und das Kind Vicky fand es merkwürdig, dass man mit diesem Mann überhaupt nicht spielen konnte. Er sagte immer so merkwürdige Erwachsenensachen, die sie nicht verstand, die er aber für lustig hielt, denn er lachte dabei dröhnend, sodass Vicky jedes Mal einen Schrecken bekam. Von Anfang an wahrte sie lieber eine gewisse Distanz diesem eigenartigen Menschen gegenüber.

Nicht, dass Karoline von Mias neuem Freund begeistert gewesen wäre, aber sie behielt für sich, was sie an ihm störte, begegnete ihm stets freundlich, gab keine Widerworte und machte trotzdem, was sie wollte. Das konnte Vicky nicht. Sie sagte schon immer, was sie dachte. Und als Mia und Ralf schließlich heirateten, behielt sie ihre Ablehnung nicht für sich. Es wurde auch genauso schlimm, oder schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Er mischte sich in alles ein, war der Herr im Haus, und Mia wurde immer unselbstständiger, überließ ihm in allem die Regie. Je länger Vicky mit Mia und dem Stiefvater zusammenleben musste, desto mehr sehnte sie sich nach dem Tag, an dem sie endlich volljährig wurde und ausziehen konnte. Karoline war nach dem 18. Geburtstag zu ihrem damaligen Freund gezogen, zu Marten, der … Aber daran wollte Vicky jetzt nicht auch noch denken. Jedenfalls wurde es für sie als Zurückbleibende nicht einfacher. So verschieden sie auch waren, zuweilen fehlte ihr Karoline. Vicky liebte ja ihre Schwester – manchmal – irgendwie jedenfalls.

Tief in ihre Gedanken versunken, trat sie kräftig in die Pedale, auch weil sich der Regen mittlerweile verstärkt hatte. Als plötzlich das Klinkergebäude in der Krähenstraße vor ihr auftauchte, wo sie sich unter dem Dach eine Wohnung mit zwei jungen Frauen teilte, war Vicky überrascht, schon zu Hause angekommen zu sein.

Kaum war sie 18 geworden, hatte Vicky die Schule abgebrochen. Das Lernen von Lateinvokabeln und das Pauken von Matheformeln waren ihr so sinnlos vorgekommen. Sie hatte das Haus am Bornkamp verlassen und war zu ihrer Oma Bente nach Kopenhagen geflohen. Natürlich machte Mia sich Sorgen, wie es mit Vicky weitergehen sollte. Ralf Ziegner dagegen, den das nun wirklich gar nichts anging, regte sich nur mächtig auf, wie sie so dämlich sein konnte, kurz vor dem Abi die Schule zu schmeißen.

»Hau doch ab zu deiner Hippie-Oma! Du wirst schon sehen, wo du noch landest! Aber komm bloß nicht hier an, wenn du Kohle brauchst. Von mir kriegst du nämlich keinen Cent, damit das klar ist!«

Da brauchte sich der Arsch wirklich keine Sorgen zu machen. Niemals würde sie einen wie ihn auch nur um ein Glas Wasser bitten – selbst in der Wüste nicht. Er hatte Oma Bente nie getroffen, schien sie aber für eine heruntergekommene Kifferin zu halten, da sie in den 70ern mit ihrem kleinen Sohn ein paar Jahre unter Besetzern in der Freistadt Christiania gelebt hatte.

Ziegner hatte keine Ahnung! Bente hatte ein in ganz Kopenhagen bekanntes Yoga-Studio, lebte im bunt durchmischten Nørrebro in einer geschmackvoll und gemütlich eingerichteten Wohnung und war eine Frau mit klaren Vorstellungen und Ansagen.

Hatte die Enkelin die ersten Wochen in Kopenhagen ziemlich planlos dahingelebt, lenkte ihre Großmutter immer wieder sehr geschickt ihre Gespräche auf mögliche Perspektiven für ihre Zukunft, ließ Vicky sich selbst befragen, was sie wirklich wollte. Und das war gar nicht so einfach, wenn man gerade mal 18 war. Vicky brauchte eine Weile, doch dann kristallisierte sich heraus, dass sie ein freiwilliges soziales Jahr machen würde, was sicher eine Entscheidungshilfe für ihren weiteren Weg bringen würde.

Vickys Telefon klingelte.

»Hej, Bente! Grade hab ich an dich gedacht.«

»Hej! Na hoffentlich waren es gute Gedanken! Wie geht es dir, min slangekrøller?«

Bente sagte oft »mein Löckchen« zu ihrer Enkelin, genau wie früher zu ihrem Sohn Viggo, von dem Vicky die weißblonde Lockenpracht geerbt hatte. Ihre nicht sehr große und etwas stämmige Statur dagegen hatte sie eher Mia zu verdanken, zu ihrem Leidwesen.

»Ach, alles gut eigentlich. Warte bitte mal einen Moment, es pladdert hier grade wie aus Eimern.«

Schnell schob Vicky ihr Rad in den Hausflur.

»So, da bin ich wieder. Ich war gerade bei Mia zum Essen, wie meistens am Dienstag. Und sonst passiert außer Arbeiten und Lernen nicht viel.«

»Flittige pige! War es nett mit Mia?«

»Geht so. Er war leider auch da.«

»Du scheinst den Mann ja wirklich überhaupt nicht leiden zu können. Ist er wirklich so schlimm? Ich kenne ihn ja nicht.«

»Da hast du auch nichts verpasst.«

»Karoline scheint aber ganz gut mit ihm auszukommen.«

»Wenn Karoline will, und vor allem, wenn es ihr nutzt, kommt sie doch mit allen Menschen aus.«

Vicky merkte, wie sie das Thema aufbrachte. Sie wollte diese negativen Gefühle eigentlich nicht, nicht gegenüber ihrer Schwester und schon gar nicht bei einem Telefonat mit Bente.

»Aber lass uns von was anderem reden, Bente. Wie läuft’s bei dir? Was macht das Studio?«

»Ich kann nicht klagen, es läuft super. Es suchen ja immer mehr Menschen nach Wegen für gesunde Entspannung im ganzheitlichen Sinne. Wir sind immer ausgebucht. Gerade haben wir eine fantastische neue Lehrerin für Kurse in Hormon Yoga gefunden. Also, alles gut. Aber sag mal, ich wollte vor allem fragen, wo deine Schwester steckt?«

»Das kann ich dir leider nicht sagen. Mia hat auch schon geklagt, dass Karoline sich nicht meldet …«

»Und mir hatte sie eigentlich für Sonntag ihren Besuch angekündigt. Nach fast zwei Jahren immerhin. Aber sie ist hier nicht aufgetaucht und hat auch sonst nichts hören lassen.«

»Hatte sie denn fest zugesagt?«

»Na ja, nicht so ganz. Wenn sie es schafft, kommt sie mal kurz vorbei, hat sie geschrieben. Ich hab ein paar Mal vergeblich versucht, sie anzurufen, und auf meine Nachrichten hat sie auch nicht reagiert.«

»Dann ist doch alles wie immer, Bente. Unsere Influencerin arbeitet an ihrer Karriere. Soweit ich weiß, wollte sie für Modeaufnahmen nach Dänemark. Sie hätten eine super Location gefunden, hat sie am Sonntag an Mia geschrieben.«

»Weißt du, mit wem sie unterwegs ist?«

»Keine Ahnung. Ich kenne kaum jemanden von Karolines Leuten. Vielleicht mit einem Fotografen. Aber mach dir keine Sorgen. Ihre Karriere ist ihr heilig, da vergisst sie alles andere, auch dich und Mia und mich.«

»Nein, ich sorge mich nicht. Ich kenne deine Schwester ja auch ein bisschen. War schön, dich zu hören, aber ich muss jetzt los, treffe mich gleich mit einer Freundin auf ein Glas Wein. Wann kommst du mich denn mal wieder besuchen?«

»Oh, ich würde so gerne kommen! Im Moment stecke ich in Prüfungsvorbereitungen und schaffe das nicht. Aber sobald ich kann, bin ich da, ich versprech’s!«

»Es wäre mir eine solche Freude, dich mal wieder in meine Arme zu schließen, min skat!«

Nach einer verregneten Nacht war der Mittwoch grau, Feuchtigkeit hing in der Luft, und es war kalt. Wie schon die ganzen Wochen seit Angermüllers Rückkunft, gestaltete sich auch dieser Tag im K1 ruhig und unaufgeregt. Sie waren seit Jahresbeginn zu keinem größeren Einsatz gerufen worden und beschäftigten sich vor allem mit der Aufarbeitung alter Fälle. Alles war fast wie früher. Jansen und Angermüller saßen jeder in seinem engen überheizten Büro, bei geöffneten Türen, sodass sie sich über den Verbindungsflur unterhalten konnten, ohne ihre Schreibtische verlassen zu müssen.

Nur eines war anders: Neben dem betagten Filterkaffeeautomaten, der in ihrem kleinen Flur stets leise vor sich hin gurgelte, produzierte jetzt eine ziemlich luxuriöse Espressomaschine aromatische heiße Shots und herrlich dichten Milchschaum. Jansen hatte sich in ihrer Zweiergemeinschaft all die Jahre für die Zubereitung des Kaffees zuständig gefühlt. Er trank das gefilterte Gebräu in rauen Mengen, und ab und zu nahm Angermüller das Angebot seines Teampartners an und ließ sich ebenfalls eine Tasse servieren. Er bereute es jedes Mal. Mit Kaffee hatte die dunkle Flüssigkeit nicht allzu viel zu tun.

Das chromblitzende Teil, das auch die meisten Kollegen gern und häufig nutzten, war die Hinterlassenschaft von Sebastian Eichhorn, der Angermüller während seiner Auszeit vertreten hatte. Der junge Mann hatte sich eine noch luxuriösere Ausgabe zugelegt, als er sich seiner neuen Freundin wegen überraschend nach Kiel versetzen ließ. Seine alte Espressomaschine hatte er großzügig dem Team vom K1 vermacht.

Hinter vorgehaltener Hand und mit einem Grinsen schilderte man Angermüller, wie Jansen dem jungen Kollegen, als der den Filterkaffeeautomaten gerade ausmustern wollte, das Gerät kurzerhand weggenommen hatte. Er hatte es auf seinen gewohnten Platz gestellt und geknurrt: »Ich will keinen Caffè Crema, oder wie dat Zeug heißt, ich will einfach nur einen stinknormalen Kaffee. Verstanden?«

Seither existierten die beiden Teile nebeneinander, und Jansen war und blieb der Einzige, der den altersschwachen Kaffeebereiter nutzte. Nie wieder sprach er das Thema an, aber er brachte der neuen Maschine sture Missachtung entgegen. Und er sah gnädig darüber hinweg, dass Angermüller sich mittlerweile fast täglich am Nachmittag eine große Tasse schaumigen Milchkaffee genehmigte.

»Hallo, Derya, dich wollte ich auch schon anrufen.«

Angermüller ging mit seinem Handy hinaus in den Etagenflur.

»Heute kein Großauftrag? Hast du etwa mal wieder Zeit für dein Privatleben? Und für mich?«

Tatsächlich, seine Freundin wollte heute Abend vorbeikommen.

»Prima, das freut mich! Ich koch uns was Schönes. Worauf hast du Lust? Oder soll ich dich überraschen?«

Er müsse doch nicht extra was kochen, meinte Derya, ein Glas Wein wäre ausreichend.

»Aber ich mach das doch gern, für dich sowieso! Und wenn ich mal die Gelegenheit habe, nach Feierabend noch was einkaufen zu gehen, sollte man das ausnutzen. Also, ich denk mir was Schönes aus, dann sehen wir uns gegen sieben Uhr. Bis dahin – ich freu mich!«

Irgendwie komisch, dass Derya das Essen heute nicht so wichtig war. Das hatte er bisher fast nie bei ihr erlebt. War sie krank? Oder mal wieder auf Diät? Egal, ihm würde schon was einfallen, womit er ihren Appetit wecken konnte. Ja, er freute sich auf den gemeinsamen Genuss und fing sofort an zu überlegen, womit er sie verwöhnen könnte.

Es dämmerte. Versonnen sah Angermüller nach draußen. In ungefähr einer halben Stunde würde er Feierabend machen und anschließend ein paar nette Sachen besorgen, aus denen er ein schönes Abendessen für sie beide zaubern würde. Beim Gedanken an gebratene Nudeln mit Rindfleisch und Pak Choi, kräftig gewürzt mit Sojasoße, Knoblauch und Ingwer, wässerte ihm schon jetzt der Mund. Ein lautes Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch unterbrach ihn in seinen Küchenfantasien.

»Moin, Angermüller, hier Ahrens vom Kriminaldauerdienst! Schluss mit der Gemütlichkeit. Die Streife aus Scharbeutz meldet einen Leichenfund am Pönitzer See. Das kann ich dann wohl direkt an euch weiterleiten. Die Kriminaltechnik hab ich auch schon alarmiert«, teilte der Kollege mit, »gratuliere, geht ja gleich in die Vollen für dich, Angermüller.«

»Wieso, was meinst du?«

»Überraschung! Schön medium«, kicherte Ahrens, »frohes Schaffen!«

Mit einem knappen »Tschüs« legte Angermüller auf. Einige Minuten später saß er auf dem Beifahrersitz des Golf 7, den sie zurzeit als Dienstwagen nutzten, während sich Jansen durch den Lübecker Feierabendverkehr in Richtung Autobahn kämpfte, dabei jede Lücke und jede Möglichkeit zum Überholen gnadenlos nutzend. Endlich erreichten sie die A1, und Jansen trat das Gaspedal durch.

»Überraschung, hat dieser Ahrens gesagt. Komischen Humor hat der. Ich liebe keine Überraschungen, bei Leichenfunden schon gar nicht«, murmelte Angermüller halb zu sich selbst, während draußen die Landschaft vorbeiflog, über die sich nun die Dunkelheit senkte. Leichenfunde waren immer irgendwie Überraschungen, die aber grundsätzlich keine Freude bereiteten. Trotz jahrelanger Erfahrung berührte Georg der Anblick der gewaltsam zu Tode Gekommenen jedes Mal tief in seinem Inneren, und tröstlich war nur der Gedanke, zumindest die aufzuspüren und zur Rechenschaft zu ziehen, die jenes Leben ausgelöscht hatten.

Jansen sagte nichts, sah nur aufmerksam in den Rückspiegel, blieb konsequent auf der linken Spur und ließ alle anderen Fahrzeuge weit hinter sich. Angermüllers erster großer Einsatz seit einem Dreivierteljahr. Er verspürte eine merkwürdige Anspannung, fast so etwas wie Lampenfieber. Nach ungefähr 20 Minuten wechselten sie von der Autobahn auf eine Bundesstraße, bis sie schließlich auf einer schmalen Landstraße landeten, die durch einen dichten Laubwald führte. Als rechts vor ihnen ein heller Lichtschein durch die Bäume schimmerte, hatten sie ihr Ziel erreicht.

Jansen lenkte ihren Wagen an den Straßenrand hinter die bereits hier parkenden Fahrzeuge, und die Kommissare stiegen aus. In den hohen, winterkahlen Bäumen rauschte leise der Wind. Es roch nach feuchter Erde und moderndem Laub. »Seebadeanstalt« stand auf einem Schild. Sie folgten dem unbefestigten Weg, und nach ein paar Schritten tauchten vor ihnen mehrere Flachbauten auf, in deren Mitte sich ein Durchgang öffnete, der mit Flatterband versperrt war. Zwei uniformierte Kollegen hielten Wache, um Unbefugte am Betreten des Geländes zu hindern. Vor ihnen stand ein einzelner Mann mit einem Hund an der Leine, rauchte, redete und reckte neugierig den Hals. Die Kommissare grüßten, und der eine Polizist musterte Angermüller und Jansen skeptisch, hob aber beim Anblick ihrer Dienstausweise wortlos das Absperrband und ließ sie passieren.

»Moin! Der Herr hier hat uns den Fund gemeldet«, meldete sich sein jüngerer Kollege zu Wort und deutete auf den Hundefreund, »wollen Sie mit dem sprechen?«

»Klar, wir werfen aber erst mal einen kurzen Blick«, gab Jansen zurück und folgte Angermüller auf den Platz hinter dem Durchlass, den zwei große Scheinwerfer erhellten. Am Ende des Gebäudes, das augenscheinlich Umkleidekabinen beherbergte, und vor einem dichten Gebüsch kauerte ein Mensch im weißen Schutzanzug, ein zweiter suchte den Boden ab, und etwas entfernt davon umrundete ein dritter die Szene mit einer Kamera und verteilte Markierungsschilder.

Der Bau zur Linken beherbergte ein Café und war, genau wie die Badeanstalt, im Winterhalbjahr geschlossen. Davor lag außerhalb der Scheinwerferkegel eine Rasenfläche, hinter der im Dämmer das Wasser des Sees glitzerte, in den ein langer Steg führte, von dem jetzt nur die Umrisse zu erkennen waren.

Unwillkürlich war Angermüller stehen geblieben, um sich einen ersten Eindruck von der Szenerie zu verschaffen. Im Sommer war dies hier sicher eine beliebte Badestelle voller Erholungssuchender und planschender Kinder, aber um diese Jahreszeit ein sehr einsamer Platz. Und genau deshalb hatte sich jemand diesen Ort ausgesucht, um etwas zu tun, das niemand bemerken sollte. Er straffte sich und sah zu Jansen, der ebenfalls neben ihm verharrt hatte.

Als sie dem weiß gekleideten Grüppchen näherkamen, erkannte Angermüller seinen Freund Steffen. Der Kommissar war freudig überrascht, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass der Rechtsmediziner heute schon wieder seinen Dienst versehen würde. Erst am Vorabend war er von einer ausgedehnten Asienreise mit seinem Mann David zurückgekehrt, weshalb er auch bei Heinis Trauerfeier gefehlt hatte. Angermüller jedenfalls freute sich auf die Zusammenarbeit mit Steffen, der ruhig und präzise agierte und ein echter Meister seines Fachs war. Woran genau der Rechtsmediziner gerade arbeitete, konnte er auf die Entfernung nicht erkennen.

»Stopp! Hier wird mir nicht durchgelatscht. Geht gefälligst da außen rum«, schnauzte der vor ihnen kniende Kriminaltechniker die beiden Kommissare an, »ihr müsst ja nicht noch mehr kaputt trampeln. Der Scheißregen heute Nacht hat sowieso kaum was übriggelassen.«

»Hallo, Andreas, schön, dass wir mal wieder zusammenarbeiten dürfen«, grüßte Angermüller den Mann. Natürlich bekam er keine Antwort. Verbissen fuhr der Kollege fort, am Boden nach Hinweisen zu suchen, die mit dem Leichenfund in Verbindung gebracht werden konnten, was angesichts des durchweichten Rasens ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen war. Jeder hier wusste aber, dass die üble Laune von Andreas Meise nicht am Wetter lag, sondern sein persönliches Markenzeichen war.

»Mann, Ameise wieder. Das Genöle geht mir echt auf die Ketten. Als ob wir was für den Regen könnten«, brummte Jansen.

»Der ändert sich nicht mehr, Claus. Ich hör da gar nicht mehr hin. Ist vergeudete Energie, sich über Ameise zu ärgern. Hauptsache, er macht seine Arbeit ordentlich. Und da kann man ja nicht viel meckern«, meinte Angermüller leise, denn seinen Spitznamen durfte man Andreas Meise – klein von Gestalt, ein penibler Erforscher des Bodens an Fund- und Tatorten, und mit einem Schild »A. Meise« an seiner Bürotür – schon gar nicht hören lassen.

Mit einem freundlichen »Hallo, Kollegen« begrüßte Mehmet Grempel, ein weiterer Kriminaltechniker, um einiges jünger als Ameise, die Kommissare, während er ein Fundstück in einer verschließbaren Plastiktüte sicherte.

»Dein Urlaub schon wieder vorbei?«, fragte Angermüller.

»Tja, geht immer verdammt schnell. Aber hab eh nur meine Bude renoviert und war übers Wochenende mal in Coburg.«

»Ach, in der alten Heimat. Schön.«

Mehmet und der Kommissar stammten aus der gleichen Gegend in Oberfranken.

»Ich hab dir auch was mitgebracht. Kriegst du morgen«, verkündete Mehmet mit geheimnisvollem Lächeln.

»Oh, womit hab ich das verdient? Da bin ich ja gespannt«, freute sich Angermüller, »Und, hast du hier was Interessantes gefunden?«

»Was gefunden, ja. Eine Plastikkappe, wahrscheinlich von einem Kanister. Ob das interessant ist, wird sich noch rausstellen. Kleidung und sonstige persönliche Gegenstände leider bisher Fehlanzeige.«

Angermüller und Jansen waren an der äußeren Ecke der mit Steinplatten ausgelegten Umrandung vor den Umkleidekabinen angelangt, wo Doktor Steffen von Schmidt-Elm hockte und konzentriert seiner Arbeit nachging. Erst jetzt konnten die Kommissare ausmachen, was vor dem Rechtsmediziner lag. Beide stoppten gleichzeitig und starrten auf das gespenstisch anmutende Wesen. Der Anblick löste bei Angermüller mehr als Unbehagen aus. Schließlich räusperte er sich.

»Grüß dich, Steffen! Noch gar nicht richtig angekommen, schon wieder im Dienst.«

»Wat mutt, dat mutt. Grüß dich, Schorsch, hallo, Jansen.«

Mit einem kurzen Lächeln begrüßte Schmidt-Elm die Kommissare. Er war der Einzige hier, der die fränkische Version von Angermüllers Vornamen benutzte.