Wintermondnacht - Ella Danz - E-Book

Wintermondnacht E-Book

Ella Danz

0,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Beim weihnachtlichen Klassentreffen gibt es Streit, als Simone die wilden Vollmondpartys von vor mehr als zwanzig Jahren erwähnt - und sie ziemlich schräg, ja übergriffig nennt. Rico, ein unverbesserlicher Sexist, hatte sie organisiert. Am nächsten Morgen liegt er tot hinterm Gasthof Greiner. Kommissar Georg Angermüller, zu Besuch in der oberfränkischen Heimat und auch beim Klassentreffen, wird wie alle anderen als Zeuge vernommen. Zurück im Norden erhält der Lübecker Kommissar nicht nur einen überraschenden Anruf, sondern auch Besuch aus der Heimat …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 322

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Ella Danz

Wintermondnacht

Angermüllers 12. Fall

Zum Buch

Weihnachtsmond, Weihnachtsmord Kommissar Angermüller verbringt genussvolle Weihnachtstage in seiner oberfränkischen Heimat und nimmt spontan an einem Klassentreffen im Gasthof Greiner teil. Lustige Erinnerungen an die Schulzeit werden geteilt, die Stimmung ist ausgelassen, bis Simone die Vollmondpartys von vor mehr als 20 Jahren erwähnt. Mit reichlich Alkohol und Drogen ging es zuweilen recht wüst zu, wogegen die jungen Frauen sich damals schlecht zu wehren wussten. Vor allem Rico, immer noch ein unbelehrbarer Macho, findet Simones Vorwürfe absurd. Die Mädels hätten doch immer Spaß gehabt! Simone verlässt wütend das Lokal. Am nächsten Tag steht die Kriminalpolizei bei Angermüllers vor der Tür. Rico wurde tot hinter dem Gasthof gefunden. Der misstrauische Coburger Kollege Bohnsack vernimmt Angermüller als Zeugen, lehnt seine fachliche Unterstützung aber entschieden ab. Als der Lübecker Kommissar wieder im Norden gelandet ist, erhält er nicht nur einen überraschenden Anruf, sondern auch Besuch aus der Heimat …

Ella Danz, gebürtige Oberfränkin, lebt seit ihrem Publizistikstudium in Berlin. Nach Jahren in der Ökobranche ist sie mittlerweile als freie Autorin tätig. Ihr spezielles Interesse gilt der genauen Beobachtung von Verhaltensweisen und Beziehungen ihrer Mitmenschen. In ihren Angermüller-Krimis wird gern gekocht und gegessen, mischt sich Spannung mit Genuss. Und der Kommissar, ein sympathischer Oberfranke im Lübecker Exil, kämpft nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch gegen schlechtes Essen.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © maroznc / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-7688-4

Widmung

Für meine Hongkonger!

Mondnächte

Schlaflosigkeit bei Vollmond war kein Thema, genauso wenig hatte der fette Mond mit Romantik zu tun. Nur eine gewisse Unruhe machte sich jedes Mal breit, wenn die Scheibe am Himmel zu ihrer vollen Größe wuchs. Besonders im Winter und ganz besonders um Weihnachten herum. Dann gelang im kalten Lichtschein die Verdrängung nicht mehr an jene Erinnerungen – Erinnerungen, die auf eine Art wehtaten – nein, das traf es nicht. Sie machten irgendwie Angst, die Erinnerungen, denn was, wenn sie heute jemand ans Licht holen würde?

Dabei lag das alles schon so lange zurück, die Eiseskälte, die Schneefelder, das helle Mondlicht. Und trotzdem war der Blick darauf mit dem Wissen von heute zuweilen schwer zu ertragen. Warum eigentlich? Woher rührten diese Gefühlsverwirrungen, die inneren Kämpfe? Weshalb diese Qualen? Was war schon passiert? Sie waren doch alle noch jung gewesen, so verdammt jung.

Außerdem war die Rückschau an manchen Stellen ziemlich getrübt, was sicherlich den Unmengen von Alkohol geschuldet war, der damals regelmäßig floss. Die Bilder waren unscharf, natürlich auch wegen der Pillen und anderer Substanzen, die irgendwie immer vorhanden waren. Zugegeben, sie hatten es zuweilen übertrieben, aber nie hatte das Konsequenzen, niemand bekam je Ärger deswegen.

Es hatte auch nie mehr jemand darüber gesprochen. Aber jetzt war jemand tot. Vielleicht war das erst der Anfang …

Kapitel I

Mila hastete durch die Shopping Mall. Drei Tage vor Heiligabend wimmelte es von Menschen auf der Jagd nach Geschenken. Das hatte sie natürlich vorher gewusst und versuchte nun, sich nicht über das Gewühle zu ärgern. War ja auch ihr Fehler, Geschenke auf den allerletzten Drücker zu besorgen.

Überall hingen Girlanden mit Sternen, Glocken, roten Schleifen und anderen weihnachtliche Accessoires, nicht fein und zierlich, sondern unbescheiden groß. Sie sollten neben zahlreichen üppig geschmückten Tannenbäumen aus Plastik, die mit Kunstschnee bestäubt waren, in den klimatisierten Gängen und Atrien eine festliche, winterliche Atmosphäre verbreiten. Während draußen frühlingshafte Temperaturen herrschten, verteilten in der Mall rot gewandete Santas mit weißen Rauschebärten Tüten mit nutzlosen Überraschungen an die Kleinen. Und über dieser vibrierenden Betriebsamkeit lag ein Geräuschteppich aus Jingle Bells und White Christmas. Mila hatte gänzlich andere Erinnerungen an die Advents- und Weihnachtszeit ihrer Kindheit. Warum man dieses Fest am 24. Dezember feierte, dafür interessierte sich hier kaum jemand. Die Deko musste blinken und glitzern, das war die Hauptsache, und die Kunden in Weihnachtsstimmung – sprich Kauflaune – versetzen.

Für Henry hatte Mila in einem Laden namens Liquid Gold einen Scotch erworben, von dessen Geschmack der Verkäufer in den höchsten Tönen schwärmte. Dem Preis nach zu urteilen befand sich wirklich Gold in der Flasche. Christopher hatte sich spezielle Kopfhörer für sein Handy gewünscht, ihr die Adresse des drei Etagen umfassenden Apple Store genannt, sodass auch dieser Wunsch leicht zu erfüllen gewesen war.

Mila war froh, alles erledigt zu haben und die IFC Mall verlassen zu können. Nur wenn es sich nicht umgehen ließ, betrat sie diese Konsumtempel, von denen es unzählige in der Stadt gab, und fühlte sich stets irgendwie fehl am Platze. Jetzt wollte sie nur noch schnell nach Hause. Sie nahm den Ausgang zur Harbour View Street, hatte Glück und erwischte dort gleich ein Taxi.

Es dämmerte schon, doch die Gebäudeschluchten von Central gleißten taghell im Licht der Geschäfte und Restaurants, unzählige Menschen wuselten über die Trottoirs oder standen diszipliniert an roten Ampeln, während sich ein endloser Strom aus Autos, Bussen und Tram daran entlangschob. Doch je weiter das Taxi den Hügel emporkletterte, desto ruhiger wurde es draußen.

Wenig später stand Mila auf ihrer dunklen Terrasse und rauchte eine Zigarette. Vor ihr ragten die strahlenden Hochhaustürme des Bankenviertels von Hong Kong Island auf, am anderen Ufer funkelte die Skyline von Kowloon. Es fühlte sich vertraut an, fast wie Heimat, oder wie etwas, das sie zumindest dafür hielt, denn Mila wusste nicht zu beschreiben, was Heimat eigentlich ausmachte. Und in dieser verrückten Stadt hielt sie es nur für längere Zeit aus, wenn sie ihr hin und wieder entfliehen konnte. Dabei war ihr bewusst, dass sie auf hohem Niveau jammerte, auf sehr hohem Niveau.

Wer konnte sich schon eine über 2.500 Square Feet geräumige Wohnung in den Mid Levels East leisten, in einer Anlage mit Tennisplätzen, gepflegten Gärten, Gym, In- und Outdoor Swimming Pools und vielen weiteren Annehmlichkeiten? Charly konnte. Obwohl sie nun schon eine ganze Weile in diesem Luxus lebte, kam Mila die Realität manchmal total unwirklich vor. Sie war in Hong Kong gelandet, um einer mal wieder gescheiterten Beziehung und ach so vielem anderen zu entfliehen, so weit weg wie möglich von Deutschland, mit wenig Geld und der Idee, ein deutsches Café zu eröffnen.

Sie jobbte in der Gastronomie, um die Miete für ihr enges Einraumapartment in Mongkok zu verdienen, und begann außerdem, in ihrer winzigen Küche deutsches Backwerk herzustellen, das sie übers Internet anbot. Und eines Tages meldete sich ein Kunde, der für die Geburtstagsparty seines Sohnes drei Torten, zwei Napf- und zwei Blechkuchen orderte.

Mila erinnerte sich gut an den Stress, mit ihrer wenig professionellen Ausstattung diesen Riesenauftrag auszuführen, zumal es ein schwüler Augusttag mit über 30 Grad war und die Klimaanlage gegen den Backofen kaum ankam. Doch irgendwie gelang es ihr, auch die Schwarzwälder Torte perfekt zu produzieren. Sie räumte ihren Kühlschrank komplett leer, um das Kunstwerk darin bis zur Lieferung zu lagern.

Und das war das nächste Problem. Sie konnte diese Menge an Gebäck nicht allein mit der U-Bahn und dem Bus bewältigen. Kurzerhand schickte Mila dem Kunden eine Mail, dass er angesichts der Menge jemanden schicken sollte, mit dem zusammen sie die Lieferung per Taxi durchführen konnte.

Wenig später stand der Auftraggeber selbst vor ihrer Tür, stellte sich in akzentfreiem Deutsch als Charly Lao vor, und sie schafften gemeinsam die Torten und Kuchen zu seinem Wagen. Mila interessierte sich nicht für Autos, doch dass dieser weiße Van zu den teureren gehörte, fiel ihr gleich auf. Der Mann schloss die Heckklappe, und Mila wollte sich schon verabschieden, da sah er sie plötzlich an.

»Sagen Sie, ich könnte Unterstützung gebrauchen bei unserer Geburtstagsparty«, meinte er zögernd, »ich allein mit einer Horde Zehnjähriger, mir graut davor. Wollen Sie nicht mitkommen?«

»Äh, jetzt?«

Charly Lao nickte. Sie sah an ihrem T-Shirt und den Shorts herunter, die durchgeschwitzt waren und unverkennbare Spuren ihrer Backorgie trugen.

»Ich müsste mich aber erst umziehen …«, stellte sie etwas hilflos fest und überlegte dabei, was sie für einen zusätzlichen Kindergeburtstagsservice berechnen könnte.

»Kein Problem.«

Nach der Fahrt zu seiner Wohnung wusste sie, dass seine verstorbene Mutter aus Deutschland stammte, wo er fast jedes Jahr einige Zeit verbrachte, und er deutsche Backwaren liebte. Außerdem hatte er einen zehnjährigen Sohn, den er allein großzog, nachdem er von dessen Mutter vor sieben Jahren geschieden worden war. Und dass er Geld hatte, war offensichtlich, was Mila erst einmal misstrauisch machte. Doch seine offene, humorvolle Art ließ ihre Skepsis bröckeln, und als sie Christopher, das Geburtstagskind, kennenlernte, verschwanden ihre Bedenken gänzlich. Der Junge, der neben Deutsch ganz selbstverständlich Englisch und Chinesisch sprach, war nicht nur sehr wohlerzogen, sondern ausgesprochen fröhlich und freundlich und fasste sofort Vertrauen zu Mila.

Sie hatte einige sehr einfache Spielideen hervorgekramt, an die sie sich von Geburtstagen aus ihrer Kindheit erinnerte, und damit die temperamentvolle Bande aus zehn, zwölf Kindern total begeistert. Charly war beeindruckt.

Als sie sich verabschiedete, musste sie Christopher versprechen, auf jeden Fall wiederzukommen, was Charly für eine sehr gute Idee hielt. Für den Sondereinsatz als Kindergeburtstags-Entertainerin forderte sie dann doch keine Bezahlung. Es erschien ihr plötzlich unangebracht. Allerdings entdeckte sie ein paar Tage später unter dem Stichwort Awesome Birthday Party eine stattliche Summe auf ihrem Konto, was sie einerseits freute, ihr aber auch ein wenig peinlich war.

Schon am nächsten Wochenende hatte sie eine Verabredung mit Christopher – und daraus wurde eine feste Einrichtung. Sie fuhren mit der alten Tram auf den Peak oder zum Baden mit der Fähre nach Lamma Island, sie beobachteten die Drachenflieger oberhalb von Sai Kung oder machten Picknick in einem der vielen Country Parks. Die Tage mit Christopher machten ihr viel Spaß. Mila, die keine Kinder hatte und auch nie welche haben würde, gewann den Jungen richtig lieb. Auch Charly schloss sich den beiden immer öfter an, bis ihre Verabredungen zu dritt die Regel waren. Und als Charly und sie ein Paar wurden, war das nur logisch, obwohl Mila sich geschworen hatte, sich nie wieder zu verlieben.

Als ihre neugierige Nachbarin Frau Cheng zum ersten Mal Mila in Charlys Begleitung begegnete, bekam sie große, staunende Augen.

»Sagen Sie, Miss Mila, heißt Ihr Freund zufällig Charles M. Lao?«, fragte sie beim nächsten Treffen im Hausflur.

»Äh, Charly Lao, ich kenne ihn als Charly.«

»Ja, ja, ja«, nickte die Nachbarin eifrig mit einem breiten Lächeln, »Glückwunsch!«

»Danke.«

Leicht verwundert wandte sich Mila zu ihrer Wohnungstür. Erst als Frau Cheng ihr ein paar Tage später ein Foto aus den Society-Spalten einer Hongkonger Zeitung präsentierte, dämmerte Mila, in welche Kreise sie geraten war.

›Neulich in der Ozone Bar: Charles M. Lao und seine neue Begleitung‹, stand unter einem Foto, das sie und Charly zeigte, wie sie gerade mit Champagner auf ihren Geburtstag anstießen.

Inzwischen war sie schon zwei Jahre Ms. Lao, konnte sich keinen besseren Mann als Charly wünschen, hatte einen liebenswerten Stiefsohn und in Kennedy Town ihr eigenes Café, das Little German Cake Paradise – und manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn sie an ihr früheres Leben dachte und die Millionen von Menschen, die genauso strampelten wie sie damals, um in dieser Stadt zu überleben. Hatte ausgerechnet sie so viel Glück verdient?

»Hallo, ich bin wieder da.«

Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Charly stand plötzlich neben ihr, grinste fröhlich und gab ihr einen Begrüßungskuss.

»Hallo, Charly.«

»Brauchst du eine Beruhigungszigarette vor der großen Reise oder bewunderst du den Mond?«

»Stimmt schon, ich mag diese langen Flüge gar nicht, aber ich habe kein Reisefieber«, lachte Mila, »ich hoffe nur, ich kann wenigstens ein bisschen schlafen.«

Auf den Mond hatte sie gar nicht geachtet. Sie schaute nach Westen, wo die fast volle Scheibe hell über Lantau Island stand. Mila wusste nicht, warum, aber plötzlich überkam sie eine Art Beklommenheit.

»Essen wir jetzt zu Abend?«, fragte sie schnell, um sich abzulenken.

»Ja, bis wir im Flieger was bekommen, ist bestimmt Mitternacht vorbei. Bonnie hat Fried Rice gemacht. Ach Mila, ich freu mich so auf unsere Reise«, Charly knuffte aufgekratzt wie ein Kind ihren Arm, »auf meine Tante, meine Cousine und meinen Cousin, die Kälte, den Glühwein, die Lebkuchen – richtig deutsche Weihnachten mal wieder!«

»Und ich bin gespannt, deine Verwandten endlich kennenzulernen. Ein bisschen aufgeregt bin schon …«

»Aber warum das denn? Die sind wirklich alle ausgesprochen nette Menschen. Vor allem meine Tante Ingeborg ist einfach wow! Du wirst schon sehen«, bekräftigte Charly, »ach ja, Henry wird uns um 21 Uhr abholen und zum Flughafen bringen.«

»Das ist aber nett von ihm. Und da kann ich ihm gleich sein Weihnachtsgeschenk geben.«

Henry war ihr Schwiegervater, ein Herr von 85 Jahren, der, statt die kleine Handelsfirma seines Vaters weiterzuführen, sich schon in den 60er-Jahren auf Ankauf und Vermietung von Immobilien verlegt hatte. Nach ersten bescheidenen Anfängen begann das Immobiliengeschäft in den 80ern so richtig zu florieren und machte die Laos zu reichen Leuten. Nach der in der Familie kursierenden Erzählung gründete ihr Vermögen auf absolut ehrlichen Geschäften und viel Glück. Mila hoffte insgeheim, dass dem auch so war.

Die Beziehung zu ihrem Schwiegervater war nicht sehr eng. Er war stets freundlich, aber auf eine eher distanzierte Art. Außer bei Familienfesten sah man sich kaum. Henry kam nie zu spontanen Besuchen bei seinem Enkel vorbei, und mit Charly traf er sich höchstens mal im Büro, wenn es Geschäftliches zu besprechen gab. Welche Gefühle sich hinter seinem höflichen Lächeln verbargen, blieb für Mila ein Geheimnis. Klar war jedenfalls, dass Charly das humorvolle Wesen von seiner Mutter geerbt haben musste.

Vor Jahren schon hatte Henry seinem Sohn die Geschäftsführung übergeben, und seit er Witwer geworden war, verbrachte er den Großteil seiner Zeit im Hong Kong Jockey Club. Das bedeutete aber nicht, dass er sich nur mit Pferderennen beschäftigte, wie Mila anfangs angenommen hatte. Natürlich war der Rennsport Henrys Leidenschaft, doch der exklusive Club, der reichste Sportclub der Welt im Übrigen, der ein staatlich verankertes Monopol auf Sportwetten besaß, war vor allem die größte Wohltätigkeitsorganisation der Stadt. Im Hong Kong Jockey Club engagierte sich ihr Schwiegervater in einem Gremium, das über die Vergabe der Gelder und die Auswahl der Projekte entschied.

»Findet dein Vater es eigentlich schade, nicht mit uns Weihnachten feiern zu können?«

»Das weiß ich nicht. Selbst wenn es so wäre, würde er das nie sagen. Du kennst ihn doch. Ihm ist der lange Flug auch zu anstrengend, sagt er, und zu kalt wäre es ihm dort sowieso. Außerdem ist er ja nicht allein. Er freut sich drauf, die Feiertage hier mit meiner Schwester und ihrer Familie zu verbringen.«

»Stimmt, Janet organisiert sicher ein absolut perfektes Weihnachtsfest.«

»Oh ja, da hast du recht. Hoffen wir mal, es wird trotzdem nett«, Charly verzog das Gesicht. Er fand, dass Janet, die seine ältere Halbschwester aus Henrys erster Ehe war, es mit der Perfektion ihrer Feste immer ziemlich übertrieb.

»Lass uns jetzt essen, Mila, es wird sonst zu spät.«

»Okay, ich komm gleich.«

Sie drückte die Zigarette aus und wandte ihren Blick wieder zum Meer, auf dem das kalte Licht des Mondes tanzte. Trotz der lauen Temperatur fröstelte Mila plötzlich.

Kapitel II

Wie lange lag sein letzter Besuch in Franken zurück? Mehr als ein Jahr war es auf jeden Fall. Georg hatte kurz gezögert, als ihm Marga den Vorschlag machte, Weihnachten doch mal wieder bei ihnen in Niederengbach zu verbringen, denn es war klar, dass er allein fahren müsste. Astrid und die Mädchen würden sich um seine Schwiegermutter Johanna kümmern, die im vergangenen März Witwe geworden war. So ist das halt, wenn die Eltern alt werden, hatte er gedacht, da gibt es neue Prioritäten und dass er sich wirklich mal wieder um seine Mutter kümmern müsste. Und er hatte zugesagt.

Seine Schwester hatte ihn am Bahnhof in Oeslau abgeholt, was er ihr hoch anrechnen musste, da sie nur äußerst ungern Auto fuhr.

»Schorsch, ich bin fei so froh, dass du da bist!«, empfing ihn Marga und fiel ihm um den Hals. So eine überschwängliche Begrüßung war sonst nicht unbedingt ihre Art.

»Ich freu mich auch, mal wieder mit euch Weihnachten zu feiern«, antwortete Georg leicht erstaunt.

Margas mehr als 20 Jahre alter Golf, der beinah wie ein Neuwagen aussah, stand gleich gegenüber auf dem kleinen Parkplatz. Georgs Schwester warf ihm einen unsicheren Blick zu und reichte ihm den Wagenschlüssel.

»Kannst du fahren? Wir müssen erscht emal nach Coburg ins Krankenhaus.«

»Wieso das denn?«

»Die Mamma is heut Morgen plötzlich umgekippt. Und da hab ich den Arzt gerufen und der hat g’sagt, am besten zur Beobachtung gleich ins Krankenhaus. Du weißt doch, sie hat schon öfter so kleine Schlaganfälle gehabt.«

Georg packte den Strauß aus, den sie in einem Blumenladen am Hinteren Glockenberg gekauft hatten, und atmete tief durch, bevor er die Türklinke herunterdrückte. Er mochte keine Besuche im Krankenhaus.

»Mensch, Mamma, was machst du denn für Sachen?«, fragte er launig zur Begrüßung und ärgerte sich sofort über diesen albernen Spruch. Er nahm die Hand seiner Mutter, ziemlich erschrocken über den Anblick der alten Frau, die sich klein und blass zwischen den Kissen und Decken verlor. Ihre Hand fühlte sich rau an, wie immer, wie die Hand eines unermüdlich im Haus und im Garten tätigen Menschen. Aber heute war sie dazu kalt und kraftlos.

»Wie geht’s dir denn?«

In ihrem Gesicht unter den praktisch kurz geschnittenen weißen Haaren erschien ein schwaches Lächeln.

»Schön, dass de da bist, Georg. Mir geht’s gut.«

Seine Mutter wirkte so viel älter, als er sie in Erinnerung hatte. In jedem Fall war er sehr froh, dass er sich für die Reise nach Oberfranken entschieden hatte. Plötzlich richtete sich die alte Frau in ihrem Bett auf.

»Die wollen mich fei über die Feierdaach hier behalten«, berichtete sie empört, »des geht doch gar ned! Der Baum und der Gänsebroudn und die Klöß und was alles noch g’macht werden muss, ich muss haam!«

»Na ja, da müssen wir erst mal die Ärzte fragen, wann du nach Hause kannst …«

Marga, die neben ihm stand, nickte zur Bekräftigung.

»Mir war doch nur e bissle schwindelig und dann bin ich halt hieg’fallen. Ich hab höchstens en blauen Fleck. Aber sonst is alles wieder gut.«

»Abwarten, Mamma. Wir sprechen gleich mit den Ärzten.«

»Ich an Weihnachten im Krankenhaus! Wie soll denn des gehen?«

Die leitende Oberärztin gab sich sehr verständnisvoll, bestand aber darauf, dass die Patientin zumindest über Nacht zur Beobachtung in der Klinik blieb.

»Und wenn alles so weit in Ordnung ist, können Sie morgen an Heiligabend am Mittag nach Hause.«

Doch selbst diese Aussicht schien der Mutter nicht zu genügen.

»Aber es ist doch noch so viel zu machen und …«

»Und machen werden Sie erst mal gar nichts!«, unterbrach die Ärztin sie streng, »Sie ruhen sich aus und lassen sich verwöhnen. Ihre Kinder kümmern sich um alles und Sie genießen ganz entspannt die Weihnachtstage.«

Georg sah seiner Mutter an, dass ihr diese Vorstellung überhaupt nicht behagte. Aber sie nickte gehorsam und widersprach nicht, auch nicht, als die Ärztin sich verabschiedet hatte.

Marga hatte Kuchen mitgebracht und holte Kaffee. Sie machten es sich so nett, wie es hier eben ging. Die Mutter trank kaum von ihrer Tasse und pickte nur wie ein Vögelchen an ihrem Kuchenstück herum. Sie sagte nicht viel. Aber es war klar, dass ihre größte Sorge der Organisation des Weihnachtsfestes galt, um das sie sich nicht in gewohnter Weise würde kümmern können.

Schon lange hatte Georg hier keinen Dezember mehr erlebt. Das momentan herrschende nasskalte Wetter hatte überhaupt nichts Winterliches. Dunkle Wolkenbänke hingen tief über der Landschaft aus Braun- und Grautönen, Nebel hüllten den Bausenberg auf der anderen Seite des Tales ein und verbargen die stolz hoch oben thronende Veste. Alle fröhlichen Farben schienen ausgelöscht.

Als sie in Niederengbach ankamen, dämmerte es. Nur ein paar weihnachtliche Lichterketten auf den Bäumen vor manchen Häusern setzten hie und da leuchtende Akzente. Die Dorfstraße unter dem dick verhangenen Himmel war menschenleer. Das große Wellness Hotel, das den Geschwistern Steinlein gehörte, war zwar weihnachtlich geschmückt, doch hinter den Fenstern war es dunkel. Das ganze Gebäude machte einen geschlossenen Eindruck.

»Mmh, beim Steinlein ist geschlossen. Ich dachte, ich könnte dich heut Abend dorthin zum Essen einladen.«

»Die machen doch immer über Weihnachten zu, seit e paar Jahrn. Des lohnt sich wohl ned. Aber wenn der Greiner offen hat, könn mer auch dort hin.«

»Greiner? Du meinst die alte Dorfkneipe? Kann man da essen?«, fragte Georg skeptisch. Früher hatten sie sich dort oft zum Biertrinken getroffen, höchstens Wurstbrote oder Kuhkäs auf Schmalzbrot wurden serviert. Er war ja kein anspruchsvoller Mensch, aber wenn’s ums Essen ging, machte Georg keine Kompromisse.

»Du warst ja schon lang nimmer da. Seit des Fritzla den Gasthof endlich von seim Vater übernehme konnt, hat sich des alles ganz schön g’mausert. Der hat mächtig renoviert und umgebaut und angebaut. Des ist jetzt sogar auch e Hotel und des Essen gar ned schlecht. Siehste, die ham geöffnet!«, zeigte Marga zu dem schmucken Gebäude zur Linken, das Georg nicht als die alte Gastwirtschaft aus seiner Jugend wiedererkannt hätte. Es war viel größer geworden, man hatte mehrere Balkons angebaut, nur die alten Butzenscheiben an der Gaststube sahen aus wie früher. Neben den Stufen zum Eingang war eine große Tanne weihnachtlich herausgeputzt.

»Na gut. Dann probieren wir das nachher.«

»Ein Silvaner für die Dame, ein Kutschertrunk für den Herrn, bitteschön.«

Der Chef, der sie vom Tresen her beäugt hatte, während die Kellnerin ihre Bestellung entgegennahm, servierte persönlich die Getränke.

»Na, Schorsch, auch emal wieder in der Heimat? Dich hab ich ja ewig nimmer g’sehn!«

»Aber noch wiedererkannt«, grinste Angermüller.

»Is ja ned so schwer, wenn dei Schwester neben dir sitzt.«

»Hast recht, Fritz, ist schon eine Weile her, dass ich in Niederengbach war …«

»Des war im letzten Jahr im Sommer, mit deiner Freundin Derya«, warf Marga ein.

»Genau. Und jetzt will ich mal wieder mit dir und der Mamma Weihnachten feiern«, bestätigte Angermüller und tätschelte ihre Hand, um sie zu stoppen, bevor sie weitere Details über sein Beziehungsleben verkünden würde.

»Und geht’s dir gut, da drob’n im Norden?«, wollte Fritz wissen. Er musste so Anfang 60 sein, überlegte Angermüller, nach Jahren als ewiger Junior nun endlich der Chef, wie Marga erzählt hatte.

»Danke, alles gut bei mir. Und bei euch? Wie geht das Geschäft? Ihr habt ja mächtig an- und umgebaut.«

Der Fritz ließ seinen Blick durch die Gaststube schweifen. Unter seiner ledernen Schürze wölbte sich ein kräftiger Bauch. »Ach ja, unser Hotel läuft. Man muss halt auch was tun, von nix kommt nix, gell? Hinten vergrößern wir grad die Terrasse, des wird im Sommer der Hit. Wir ham ja einen super Blick auf die Veste! Ja, ja«, nickte er zufrieden, »und sogar über die Feiertage haben wir ein paar Buchungen. Bis zum Wochenende war hier eine Weihnachtsfeier nach der anderen. Zum Glück ist es die Tage vor dem Fest e bissle ruhiger.«

Neben drei älteren Männern, die in der Ecke am Stammtisch vor ihren Biergläsern saßen, verlor sich nur noch eine Handvoll Besucher an zwei weiteren Tischen in der geräumigen Gaststube.

»Und, Schorsch, bist du am Zweiten abends auch dabei?«, wollte der Fritz wissen.

»Wobei?«

»Na, da treffen sich doch immer alle bei uns, auch aus eurer Schul. Weißt des nimmer?«

Alle – das war natürlich übertrieben. Aber als er während des Studiums noch jedes Jahr zum Fest nach Niederengbach gefahren war, traf man sich am Abend des zweiten Feiertags beim Greiner, sowohl welche von den Daheimgebliebenen wie von den Weggezogenen. Einfach so, ohne Verabredung, und die meisten waren froh, der heimischen Weihnachtsschwere aus Gänsebraten und Karpfen, Kaffeetafel und Verwandtschaft für ein paar Stunden entkommen zu können. Vor fast 20 Jahren war er wohl zum letzten Mal dabei gewesen.

»Mal schauen.«

Angermüller griff nach seinem Bier.

»Wohl bekomms«, wünschte Fritz und zog sich wiegenden Schrittes hinter den Tresen zurück.

Ah, tat das gut! Georg nahm einen kräftigen Zug. Er mochte das trüb aussehende, dunkle Bier, das würzig, aber nicht bitter schmeckte und einfach unglaublich süffig war. In seiner alten Heimat stieg er meist von seinem geliebten Rotwein auf Bier um, denn nirgendwo anders gab es noch so viele kleine Privatbrauereien, die nach ganz individuellen, traditionellen Rezepturen beste Qualität brauten wie in Oberfranken.

»Da schau her, der Georg Angermüller, das ist ja eine Überraschung! Mensch, wie lang haben wir uns nimmer gesehen?«, tönte plötzlich eine sonore Stimme von einem der Nebentische herüber.

Ein Mann trat zu ihm und streckte ihm eine Hand entgegen, die Georg zögerlich ergriff. Ja, er kannte dieses offene, jungenhafte Gesicht mit den verwuschelten braunen Haaren, aber ihm fiel kein Name dazu ein.

»Du schaust ganz schön verlegen. Hab ich mich so verändert? Ich bin der Simon. Wir waren mal in einer Klasse, vor … wie lang ist das eigentlich her?«

»Na klar, der Simon Bauersachs, grüß dich!«, beeilte sich Angermüller zu sagen. »Muss eine Ewigkeit her sein! An die 20 Jahre bestimmt.«

Sie schüttelten sich die Hände. Zwar hatten sie während der Zeit auf dem Gymnasium dieselbe Klasse besucht, doch da Simon in der Stadt wohnte und Georg als »Fahrschüler«, wie man sie nannte, täglich mit dem Bus nach Coburg pendelte, hatten sie in der Freizeit eher weniger miteinander zu tun. Der Simon Bauersachs war ein netter Kerl, und sie hatten sich immer ganz gut verstanden, erinnerte sich Georg, aber mehr fiel ihm zu dem ehemaligen Mitschüler auf Anhieb nicht ein.

»Bist du immer noch bei der Kripo in Lübeck?«

»Genau. Ich komm da wohl auch nimmer weg.«

»Dann scheint’s dir da droben ja zu gefallen. Ich bin noch nie in der Ecke gewesen. Soll wohl ganz schön sein, die Stadt, die Umgebung, die Ostsee nicht weit.«

»Ich kann’s nur empfehlen. Schöne Stadt, schöne Landschaft, angenehmes Klima und nette Menschen – vielleicht schaffst du’s ja mal mit einem Besuch.«

»Ich werd’s mir überlegen, Schorsch. Ich würd ja gern länger mit dir plaudern. Aber passt jetzt leider nicht.«

Simon deutete zum Nebentisch, an dem sich eine alte Dame und eine junge Frau lebhaft unterhielten, und fügte etwas leiser hinzu: »Ich bin mit meiner Mutter und meiner Tochter hier, muss mich um die Damen kümmern, du verstehst. Aber der Fritz hat’s dir ja schon gesagt: Wir treffen uns hier wie immer am zweiten Feiertag. Du kommst doch? Wird bestimmt wieder lustig.«

»Mal schauen, ob meine Mutter mir Ausgang gibt«, witzelte Angermüller, der sich nicht sicher war, ob er wirklich Lust auf ein Treffen mit Leuten aus seiner Schulzeit hatte. Die Kellnerin trat mit voll beladenen Tellern an den Tisch.

»Der Karpfen für die Dame und des Schäufele für den Herrn. Guten Appetit!«

»Na dann, guten Hunger!«, wünschte Simon Bauersachs, »mich würd’s auf jeden Fall freuen, wenn du kommst. Frohes Fest euch!«

Das Fleisch zart, die dunkle Soße würzig, das Kraut mit gerade der richtigen Mischung aus säuerlichen Anklängen und zarter Süße, dazu die flaumweichen Coburger Klöße – das Schäufele war eine lang vermisste Köstlichkeit für Angermüller.

Auch die gebläuten Karpfenstücke auf Margas Teller, die neben gelben Kartoffelscheiben, einem Häufchen Sahnemeerrettich und einem Kännchen flüssiger Butter angerichtet waren, sahen verlockend aus. Die Geschwister lobten jeder nach ein paar Bissen ihre Wahl und vertieften sich dann schweigend in den Genuss der Gerichte.

»Hast recht, die kochen hier sehr ordentlich«, bestätigte Georg seiner Schwester nach dem Essen und legte wohlgesättigt seine Serviette beiseite.

»Jetzt sollten wir einen Plan machen, was alles noch zu erledigen ist.«

»Wieso einen Plan? Es wird halt alles gemacht wie immer«, meinte Marga verständnislos. Das hieß wohl, dass sie den Heiligabend mit ihrer Mutter zu Hause verbrachten und am 1. Feiertag ihre Schwester Lisbeth mit Mann und Kindern zum Gänsebraten einfallen würde, mit nachmittäglichem Kaffeetrinken und anschließendem Abendbrot.

»Und was ist am zweiten Feiertag?«

»Da lädt uns die Lisbeth zum Mittag ein.«

»Lisbeth bekocht uns?«, fragte Georg voller Verwunderung.

»Natürlich ned. Sie lädt uns in ein gutes Restaurant in der Stadt ein, hat sie g’sagt. Den Tisch hat sie schon vor Wochen vorb’stellt.«

Der kurze Weg zu Fuß nach Hause tat nach dem üppigen Mahl gut. Es war mild, viel zu mild für die Jahreszeit, und die feuchte Luft von Nebel geschwängert. Marga richtete den Blick nach oben, wo sich der fast volle Mond gerade durch die dichten Wolken zu schieben versuchte.

»Im Fernsehen hamse g’sagt, an den Feiertagen kriegen wir weiße Weihnachten. Ich glaub des fei ned. Die in der Kiste erzählen viel, wenn der Tag lang ist.«

Als sie im Angermüller’schen Haus anlangten, stieg ihnen wieder die Duftmischung aus Süß und Herzhaft in die Nase. Die Mutter hatte Kuchen und Plätzchen gebacken, Marga den Kartoffelsalat zur Fleischwurst für Heiligabend schon zubereitet, ebenso den Punsch angesetzt. Außerdem hatte sie fast alle Besorgungen für das Fest komplett erledigt – vom Weihnachtsbaum über die Gans bis zu den Lebkuchen.

»Nur des b’stellte Brot musst du morgen beim Bäcker abholen. Ach ja, vorher muss der Weihnachtsbaum noch in den Ständer gestellt werden. Ich schmück den Baum dann, derweil du die Mamma mittags nach Haus bringst.«

»Alles klar, Chef, so machen wir’s«, salutierte Georg, insgeheim hoffend, dass die Ärzte der Entlassung der Mutter wirklich zustimmten.

»Hast du was dagegen, wenn ich noch kurz bei Johannes und Rosi vorbeischau? An den Weihnachtstagen schaff ich das bestimmt nicht, da haben wir ja volles Familienprogramm.«

Und das würde anstrengend werden, sowohl, was das pausenlose Zusammensein mit seinen Lieben betraf, als auch die kulinarischen Herausforderungen der Weihnachtstage, die erfahrungsgemäß selbst ihn an seine Grenzen brachten.

»Mach nur. Ich schau nur noch e bissle fern und dann geh ich bald in mei Bett.«

In der gemütlichen Küche des Biobauernhofes drängten sich junge Leute um den Tisch, teils die eigenen Kinder von Rosi und Johannes, teils deren Freunde und Freundinnen, teils welche, die ein Praktikum dort absolvierten. Georg wusste, dass Gäste hier jederzeit willkommen waren – und wie stets war die Freude über sein spontanes Auftauchen bei den Freunden groß.

»Das wurde ja auch mal wieder Zeit, dass du dich hier blicken lässt«, kommentierte Johannes tadelnd.

»Du hast ja recht. Ich bin seit Sommer letzten Jahres nicht mehr hier gewesen, hab’s einfach nicht geschafft. Aber dieses Jahr musste es sein. Meine Mutter ist nicht gerade von robuster Gesundheit, und jünger wird sie auch nicht«, bestätigte Georg selbstkritisch, »aber jetzt bin ich ja hier. Abgesehen davon warte ich bis heute darauf, dass ihr mich in Lübeck besucht.«

»Das stimmt natürlich«, bestätigte der Freund.

»Na ja, ich geb die Hoffnung nicht auf. Aber wo ich schon mal da bin: Hättest du wohl auch ein Glas Frankenwein für mich?«

Er deutete auf die geöffnete Flasche auf dem Tisch.

»Für so hohen Besuch wie dich hol ich sogar noch einen ganz besonderen Bocksbeutel aus dem Keller!«

Es wurde ein langer Abend. Die Freunde hatten sich wie immer jede Menge zu erzählen. Gegen Mitternacht zog sich Rosi gähnend zurück, und eine Stunde später stand auch Georg vom Tisch auf, eingedenk der Aufgaben, die anderntags auf ihn warteten.

»Seid ihr am zweiten Feiertag auch beim Greiner?«, fragte er Johannes beim Gehen.

»Weiß ich noch nicht. Obwohl ich hier wohne, hab ich wenig Kontakt zu meiner alten Klasse, höchstens wenn ich mal zufällig jemanden treffe. Aber mir fehlt das auch nicht. Rosi geht’s nicht anders. Durch den Hof und Rosis Café, unseren Bioverband und die Umweltprojekte, in denen wir uns engagieren, komme ich ständig mit einer Menge Leute zusammen. Und mit denen hab ich mehr gemeinsam als die verklärte Erinnerung an eine zusammen verbrachte Schulzeit.«

»Ich bin auch noch unentschlossen. Mal schauen. Vorhin, als ich mit Marga beim Greiner zum Essen war, hab ich dort einen Mitschüler von damals getroffen, den Simon Bauersachs …«

»Ach, den netten Simon! Der ist in die Lokalpolitik eingestiegen, will wahrscheinlich Oberbürgermeister werden. Für den ist so ein Treffen natürlich wichtig.«

»Ach so? Ja, das stimmt natürlich. Na ja, ich entscheide mich spontan, ob ich hingehe. Nach 20 Jahren kann so ein Wiedersehen ja auch ganz interessant sein. Gute Nacht, Johannes«, verabschiedete sich Georg mit einer kurzen Umarmung von seinem Freund, »ach ja, und schönes Weihnachtsfest!«

Kapitel III

»Where is all the snow, Madam? There is often snow at Christmas, you said …«

Fragend blickte Bonnie vom Beifahrersitz in den düsteren Nachmittag, auf die Bäume, die an den Straßenrändern ihre kahlen schwarzen Äste ins Grau streckten, auf die braunen Felder. Sie war im Lauf ihres Lebens schon ein paarmal nach Deutschland mitgereist, aber immer nur in den Norden, woher die Familie von Charlys Mutter stammte. Hin und wieder hatte es geschneit, doch die norddeutschen Breiten entsprachen nie dem, was Bonnie sich unter Germany vorgestellt hatte.

»And these mountains, they are not very high.«

Bonnie gab sich keine Mühe, ihre große Enttäuschung zu verbergen. Obwohl Mila versucht hatte, zu erklären, dass ihr Fahrtziel im Mittelgebirge lag – in Bonnies Kopf hatte sich die Fantasie schneebedeckter Alpengipfel festgesetzt.

»Auch früher lag hier nicht immer Schnee zu Weihnachten, das hab ich auch gesagt, Bonnie, und dass wir nicht in die Alpen fahren.«

Ihre Beifahrerin grummelte nur etwas Unverständliches vor sich hin.

»Aber wir werden in einem richtigen Country Inn wohnen. Das wird dir bestimmt gefallen«, fügte Mila schnell an, »du wolltest doch immer schon gern so ein bayerisches Gasthaus besuchen.«

Natürlich lag Niederengbach nicht in Oberbayern, sondern in Oberfranken, aber Bonnie diese Feinheiten zu erläutern, hätte zu weit geführt. Hauptsache viel rohes Holz, karierte Bettwäsche und ein offener Kamin in der Gaststube, das würde sie überzeugen. Zumindest auf seiner Website sah der gebuchte Landgasthof sehr malerisch, gemütlich und irgendwie bayerisch aus.

»Außerdem bekommst du vielleicht noch deinen Schnee. Im Wetterbericht sagen sie schon den ganzen Tag, es wird heute Abend schneien. Wir müssten jetzt auch bald da sein.«

Sie kamen gut voran und erreichten tatsächlich kurz darauf ihr Ziel.

Im ersten Stock des Landgasthofs bezogen sie ihre Zimmer, in denen es warm und behaglich war und die mit ihrem folkloristischen Stil Bonnies Erwartungen voll und ganz erfüllten. Mila sandte Charly eine Kurznachricht, dass sie gut angekommen waren, worauf er mit einem Smiley und einem Herzen antwortete.

Als sie eine gute Stunde später in der gemütlichen Gaststube vor ihrem Bier saßen, hatte sich Bonnies Laune merklich gebessert. Wein und Schnaps rührte sie nicht an, aber sie trank liebend gerne Bier, und das hiesige mundete ihr ausgezeichnet. Außerdem hatte es kurz nach ihrer Ankunft tatsächlich zu schneien begonnen. Mittlerweile überzuckerte das Weiß schon ganz zart die Umgebung des Gasthofs. Bonnie blickte immer wieder fasziniert durchs Fenster nach draußen, wo im hellen Licht einer Laterne die Flöckchen tanzten.

Bonnie stammte aus dem Süden der Provinz Guangdong, wo es niemals schneite, und hatte schon den Haushalt von Charlys Vater, als der noch unverheiratet war, mit Kochen, Putzen, Waschen und allem, was so anfiel, in Ordnung gehalten. Damals, als Hongkongs Wirtschaft zu prosperieren begann, stammten die meisten Domestic Helper vom chinesischen Festland. Heute kam der überwiegende Teil von den Philippinen.

Auch nach Henrys Hochzeit war Bonnie im Haus der Laos geblieben und übernahm erst Janets, dann Charlys Betreuung. Sie verehrte Charlys Mutter Charlotte. Aber sich ihr zuliebe mit der schwierigen deutschen Sprache zu quälen, war ihr dann doch zu viel, denn neben ihrer Muttersprache Kantonesisch musste sie in Hongkong ja schon Englisch sprechen.

Ihr chinesischer Name lautete Guo Bo, wobei Guo ihr Nachname war und Bo wohl so viel wie wertvoll bedeutete. Als sie nach Hongkong gekommen war und Charlys Vater sie Bonnie taufte, war ihr das sehr recht, da die meisten Hongkong-Chinesen englische Vornamen trugen und ihren Nachnamen dahinterstellten. Dieser Gepflogenheit folgend nannte sie sich fortan Bonnie Guo.

Stolze 60 Jahre stand sie schon in den Diensten der Laos, hatte nie geheiratet und ging auf die 80, was man ihr überhaupt nicht anmerkte. Kaum sichtbare Silberfäden durchzogen das tiefschwarze Haar der zierlichen Person, die energisch, mit aufrechtem Gang ihre Wege zurücklegte.

Eigentlich gehörte Bonnie zur Familie, und jedermann begegnete ihr mit einem gewissen Respekt, doch auch nach all den Jahren zog sie es vor, in der Küche allein zu essen, statt am Familientisch zu sitzen. Nur auf mehrfache Einladung und in Ausnahmefällen wie Geburtstagen, Weihnachten oder Neujahrsfeiern ließ sie sich dazu bitten. Auch wenn sie auf der Anrede Madam und Sir bestand, außer bei Charly, war sie keineswegs eine schüchterne Dienerin, sondern äußerte sehr deutlich Kritik an ihren Arbeitgebern, wenn ihr etwas nicht passte. Für Charly war sie noch heute seine Auntie, wie er sie in Kindertagen genannt hatte.

Er hatte Mila vorgeschlagen, Bonnie auf ihre Fahrt nach Oberfranken mitzunehmen, zum einen, damit sie nicht allein die recht lange Strecke zurücklegen musste, zum andern, weil er Bonnie eine Freude machen wollte. Und Mila war ganz froh über die Gesellschaft, die ihr etwas Ablenkung bescherte, war doch der Anlass für diese Reise nicht gerade ein fröhlicher. Bonnie war zwar manchmal etwas anstrengend, aber im Großen und Ganzen unkompliziert. Da Mila in Bonnies Augen auch nach über zwei Jahren noch ziemlich neu in der Familie war, fühlte sie sich ihr ebenbürtig, gab ihr bereitwillig Auskünfte über die Laos und erteilte viele gute Ratschläge, ob Mila sie hören wollte oder nicht.

Während sie an ihrem Ecktisch auf das Essen warteten, füllte sich der Gastraum mit immer mehr Leuten, die sich oft mit großem Hallo begrüßten. Unablässig ließ Bonnie ihren Blick schweifen und musterte ihre Umgebung mit unverhohlener Neugier.

»Soll ich noch ein Bier bestellen?«

»Another beer? Oh yes, thank you Madam, I really like it«, freute sich Bonnie.

Als Mila bei der Bedienung, deren dirndlartiges Kleid Bonnie in helle Begeisterung versetzt hatte, die Getränkebestellung aufgab, entschuldigte sich die Frau für die lange Wartezeit aufs Essen.

»Normalerweis dauert des bei uns ned so lang, aber am zweiten Feiertag is halt immer der Teufel los.«

»Was feiern denn die Leute?«

»Nix Besonderes. Da treffen sich halt viele, die sich sonst des ganze Jahr ned sehen, viele wohnen auch gar nimmer hier in der Gegend und kommen nur an Weihnachten zurück. Und dann trifft man sich am Zweiten halt beim Greiner. Des is scho richtig Tradition«, erklärte die Kellnerin nicht ohne Stolz, bevor sie wieder davoneilte.

»What did she say?«

»Ach, ich hab nur gefragt, ob die vielen Leute hier irgendein Fest feiern. Es ist einfach nur ein Treffen alter Freunde, hat sie gesagt … sort of a tradition …«, übersetzte Mila, während sie gedankenversunken zu den anderen Tischen schaute, an denen immer mehr Gäste Platz nahmen.

Nun war Weihnachten fast schon wieder vorbei. Der Heiligabend in seinem einstigen Zuhause hatte Georg wie eine Reise in seine Kindheit angemutet. Der Baum stand am selben Platz, der Weihnachtsschmuck, die echten Wachskerzen, ja auch der Duft im Raum hatten altbekannte Empfindungen in ihm wachgerufen, schön und ein wenig traurig zugleich. Sie sprachen nicht viel, aber Marga und seine Mutter sahen einfach nur glücklich aus.