Schockschwerenot - Ella Danz - E-Book

Schockschwerenot E-Book

Ella Danz

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Beschreibung

Der schlechte Kaffee und der penetrante Bockwurstgeruch in der Cafeteria der Kurklinik am Ostseestrand sind Kriminalhauptkommissar Angermüller von Besuchen bei seiner Frau lebhaft in Erinnerung. Nun hat er dort dienstlich zu tun: Maren Seemann, unbeliebte Klinikmanagerin, hat ihr Müslifrühstück nicht überlebt. Einen Tag später liegt der Chefarzt Dr. Paulsen tot in seinem Büro. Neben seiner Leiche wird ein mysteriöser Stein mit einem Flügelsymbol gefunden. Genau so einer wie neben Maren Seemann …

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Ella Danz

Schockschwerenot

Angermüllers neunter Fall

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Giuseppe Porzani – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4794-5

Widmung

Für meine ganze Familie – in der Ferne so nah

Kapitel I

Abschied nehmen, in aller Ruhe den Traum loslassen, für den sie jahrelang hart gearbeitet und gespart hatte. Diesen Moment wollte sie sich heute früh noch gönnen, bevor der unangenehme Teil ihres Tages begann. Bereits um sieben hatte sie den Gesprächstermin, vor dem ihr graute. Der kleine Fiat rollte über die gewundene Straße zwischen Feldern und kleinen Wäldern, vorbei an den Torhäusern alter Gutshöfe, vereinzelt stehenden Katen, hin und wieder einem Herrenhaus hinter Parkbäumen, und erklomm schließlich die letzte Steigung. Auf dem Hügel, dessen weites Plateau sich über dem Steilufer erstreckte, tauchte das reetgedeckte Gebäude auf.

Sie stieg aus, und das Herz wurde ihr schwer. Die Sonne war gerade aufgegangen, schemenhaft schwamm Fehmarn hinter Morgendunst am Horizont, und rechts davon lag die offene See. Was für ein wundervoller Ort! Genau danach hatte sie immer gesucht, ihn endlich gefunden, und nun war es damit schon wieder vorbei. Sie seufzte. Es versprach ein strahlender Tag zu werden, einer, an dem sie sicher Stühle und Tische auf die Terrasse gestellt hätten, der Eisumsatz wäre exorbitant gewesen, und wahrscheinlich hätten sie mindestens eine Aushilfe gebraucht. Ach ja. Hätte, hätte, Fahrradkette …

Karolin Berner kramte in den Tiefen ihres Lederrucksacks nach dem Schlüssel. Heute Abend wollte sie sich mit der Vermieterin treffen und damit das Ende ihres Traumes besiegeln. Hier, auf der Anhöhe über der Ostsee, wo der Blick keine Grenze hatte, an diesem einmaligen Platz hatte sie ihre Zukunft angesiedelt. Vor vier Wochen, an ihrem Dreißigsten, hatten sie hier auf der Baustelle ein Riesenfest gefeiert. Sie war so glücklich gewesen. Hier hatte sie leben und arbeiten wollen, leben und arbeiten mit dem Mann ihres Lebens.

Ihre Augen brannten und tränten, die Nase lief, was aber nicht ihrer Aufgewühltheit, sondern einer Rapsallergie zu verdanken war. Begierig atmete Karo die frische Luft ein, die vom Wasser her wehte, während sie die letzten Meter zum Haus zurücklegte, und plötzlich überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Stühle und Tische, die sie ordentlich neben dem Eingang aufgestapelt hatte, waren umgestoßen. Und dann schrak sie zusammen: Die Eingangstür stand offen!

Karo blieb stehen. Während sie versuchte, durch die Fenster zu spähen, ob sich drinnen vielleicht irgendwelche Eindringlinge befanden, ahnte sie bereits, auf wessen Konto dieser Einbruch ging, und als sie schließlich das Chaos im Gastraum sah, war sie sich dessen sicher. Kein Stück Mobiliar stand mehr an seinem Platz, alles lag kreuz und quer, teilweise beschädigt, die teure italienische Profikaffeemaschine war umgekippt und lag in einer Wasserlache, das Glas der Eistheke war zersplittert. Einzig der gemauerte Tresen hatte der Zerstörungswut standgehalten.

›Pass bloß auf!‹, prangte es an der Wand in dem leuchtenden Griechenlandblau, mit dem Karo Türen und Fenster gestrichen hatte. Sie stöhnte auf. Was für ein Ärger! Aber war das nicht zu erwarten gewesen, seit sie letzte Woche auf Anraten ihres Anwalts Anzeige erstattet hatte?

Unwillkürlich schüttelte Karo den Kopf. Immer wieder rätselte sie, wie sie sich so hatte irren können. Trauer und Enttäuschung waren zum Glück schon überwunden. Eine Stinkwut war das Gefühl, das sie inzwischen beherrschte. Als sie jetzt vor den sprichwörtlichen Trümmern ihres Lebenstraumes stand, wurde Karo noch wütender. Sollte er gedacht haben, sie mit dieser Vandalenaktion einschüchtern zu können, hatte er sich aber gründlich getäuscht! Sie sah auf die Uhr. Vor ihrer Verabredung mit Maren Seemann schaffte sie das nicht mehr. Aber heute am frühen Nachmittag würde sie wieder zur Polizei gehen und ihn erneut anzeigen, diesmal wegen mutwilliger Zerstörung. Und er würde dafür zahlen, jeden einzelnen Cent, das schwor sie sich!

Schnell machte sie mit dem Handy noch ein paar Aufnahmen von den Verwüstungen und verschloss, nachdem sie auch diese fotografiert hatte, notdürftig die beschädigte Eingangstür. Hier gab es eh nichts mehr zu holen, und kaputt gemacht werden konnte schon gar nichts mehr.

Karo eilte aus der Lobby in den Klinikflur. Auf dem Parkplatz hatte sie dieser arme Irre aufgehalten, der den ganzen Tag um die Klinik herum am Fegen war. Er wollte ihr unbedingt die Hand schütteln, was wohl ein Zeichen großen Vertrauens war, wie ihr Arne, einer der Physiotherapeuten erklärt hatte. Der war ihr auch noch begegnet, war gerade dabei, sein Fahrrad anzuschließen. Und dann war Benni, Arnes Kollege, auf seinem Roller angeknattert gekommen. Sie hatte den beiden nur kurz zugewinkt und ihren Weg fortgesetzt.

Als sie jemanden fürchterlich husten hörte, beschleunigte sie ihren Schritt. Bestimmt war das der Schulze, dieser unangenehme Mensch, der hier länger Patient war als irgendwer. Bloß dem blöden Kerl jetzt nicht über den Weg laufen. Als sie um die Ecke in Richtung Cafeteria bog, wäre sie beinah mit Karwen Barzani, einem jungen Neurologen, zusammengeprallt. Er war genauso überrascht wie sie, aber freute sich offensichtlich, sie zu sehen.

»Guten Morgen, liebe Karo! Gerade habe ich die Sachen zurückgebracht. Auftrag ausgeführt. Ich möchte ein Lob hören!«

»Total super, Karwen, kriegst ein Sternchen!«

Er grinste. Sie hatte sich vor ein paar Tagen mächtig aufgeregt, weil alle sich Tassen und Teller aus der Cafeteria borgten und es nicht für nötig hielten, die Sachen wieder an Ort und Stelle zurückzubringen.

»Einen schönen Milchkaffee krieg ich ja leider nicht, oder?«

Karo hob bedauernd die Schultern. Natürlich wollte Karwen quatschen, aber das passte jetzt gerade gar nicht.

»Sorry, ich hab’s echt eilig. Bin mit der Seemann verabredet.«

»Au weia. Na, dann viel Glück! Ich muss auch. Bis später!«

»Ja, bis später!«

Fünf Minuten nach sieben. Die Seemann hasste Unpünktlichkeit, auch wenn es nur ein paar Minuten waren, das hatte Karo sofort kapiert. Hastig stellte sie das Müsli zusammen, das die Klinikdirektorin am Morgen zu sich nahm und das sie ihr heute persönlich servieren sollte. Die Spezialrezeptur hing in der Küche der Cafeteria an der Wand. ›Wünsche einen guten Start in den Tag – Gruß Bille‹, stand handschriftlich auf der Kopie. Es stammte wahrscheinlich von einer von Seemanns Freundinnen. Für die Verwaltungsdirektorin gab es Naturjoghurt, frische Früchte, fünf Sorten Getreideflocken sowie Cranberries, Mandeln und Haselnüsse – alles bio. Den Insassen der Reha Klinik Dünenhöhe, jedenfalls den Kassenpatienten, wurde zu faden Haferflocken abgepackter Erdbeerjoghurt serviert, rosa und zuckersüß, der nach allem schmeckte, nur nicht nach echten Erdbeeren. Kaum hatte Karo den Job in der Cafeteria angetreten, hatte sie beschlossen, wenigstens in ihrem Bereich ein Kontrastprogramm zu dem üblen Billigfutter anzubieten. Und genau darüber wünschte die Seemann, die ein wiedergeborener Rotstift zu sein schien, mit ihr heute zu sprechen.

»Wir wollen doch nicht dem am obersten Limit kalkulierten, höchst ausgewogenen Angebot unserer bewährten Patientenverpflegung Konkurrenz machen, oder?«, hatte die Klinikdirektorin mit gefährlicher Freundlichkeit gefragt, ohne eine Antwort zu erwarten. Unwillkürlich drückte Karo das Kreuz durch. So schnell wollte sie nicht klein beigeben, sie war auf Kampf eingestellt.

Sie streute ein paar von den edlen gerösteten Mandeln über das Müsli, stellte die Schüssel auf ein Tablett, legte Löffel und Serviette dazu und machte sich auf den Weg zu dem Trakt, in dem die Klinikdirektorin residierte.

»Guten Morgen«, grüßte Karo die Frau, die soeben eiligen Schritts aus dem Büro von der Seemann zu kommen schien.

»Morgen«, bekam sie undeutlich gemurmelt zur Antwort. Von irgendwoher glaubte Karo die Person mit dem wippenden braunen Pferdeschwanz zu kennen, die da in einem ausgesprochen eleganten Jogginganzug ihren Weg kreuzte. Aber sie kam nicht darauf. Karo klopfte kräftig an die Bürotür. Keine Antwort.

»Da ist niemand«, rief ihr die andere Frau über die Schulter zu. »Ich hab’s eben vergeblich probiert«, nahm den Ausgang in den Park, wo sie von aufgeregtem Hundegebell begrüßt wurde, und war verschwunden.

Mist! Und deshalb bin ich nun so früh hier angetanzt, ärgerte sich Karo, dann kann ich ja wieder gehen. Die Cafeteria öffnete erst um neun, und heute war auch noch Jana ab acht eingeteilt, sodass für die Vorbereitungen weniger Zeit als sonst benötigt wurde. Und außerdem hatte sie wirklich gerade andere Sorgen! Einmal klopfte sie noch, ohne eine Reaktion zu erhalten, und wollte gerade den Rückweg antreten, da hörte sie von drinnen ein dumpfes Geräusch, gleichzeitig fiel ihr Blick auf einen Schlüssel, der auf dem Boden gleich neben der Tür lag. Vorsichtig, um die gefüllte Müslischale auf dem Tablett nicht ins Rutschen zu bringen, bückte Karo sich danach und steckte ihn, ohne lange nachzudenken, kurzerhand ins Schloss. Er passte. Also schloss sie die Tür auf und balancierte mit der anderen Hand das Tablett mit Maren Seemanns Spezialmüsli. Wenigstens das konnte sie schon mal hier lassen.

Der Schreibtisch stand vor einem großen Fenster, durch das gleißend die Morgensonne fiel, sodass Karo erst einmal geblendet den Blick abwandte. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, fuhr sie erschrocken zusammen, so gespenstisch war das Bild, das sich ihr bot.

»Frau Seemann?«

Keine Reaktion.

»Was ist denn los mit Ihnen?«

Hinter ihrem Schreibtisch saß Maren Seemann auf einem Bürostuhl und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Das sonst so sorgsam frisierte Blondhaar stand ziemlich wirr vom Kopf ab. Das Gesicht, wie üblich perfekt geschminkt, schimmerte bläulich und sah seltsam aufgedunsen aus, fand Karo, und beide Hände schienen am Kragen der weißen Bluse zu zerren.

»Frau Seemann, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Karo, ohne eigentlich zu wissen, wie, und trat näher heran. Im nächsten Moment sackte die Klinikdirektorin zusammen, und ihr röchelnder Atem war nur noch ganz schwach zu vernehmen.

»Ganz ruhig, ich hole sofort einen Arzt«, verkündete Karo beschwichtigend, obwohl ihr das Herz plötzlich bis zum Halse schlug, »gibt hier ja genug davon.«

Schnell stellte sie das Müslitablett auf dem Schreibtisch ab und stutzte.

»Das gibt’s doch nicht! Was ist das denn?«

Völlig entgeistert schüttelte Karo den Kopf. Vor Maren Seemann stand ein Tablett mit genau derselben Schale wie der ihren, gefüllt mit Müsli. Jetzt sah Karolin Berner auch die Spuren von Joghurt und Flocken, die um den Mund der bewusstlosen Frau klebten. Die vollen Lippen, die Jana für garantiert aufgespritzt hielt, erschienen ihr noch praller als sonst.

Karos Blick fiel auf die Handtasche, die neben dem Bürostuhl auf dem Boden lag, deren Inhalt scheinbar ausgekippt worden war und von einem Löffel mit Müslispuren gekrönt wurde. Sehr eigenartig war das alles. Hatte jemand die Seemann ausrauben wollen? Aber egal, jetzt hieß es, so schnell wie möglich Hilfe zu holen. Das Gespräch, das ihr so bevorgestanden hatte, würde nun ja wohl ausfallen. Wenigstens eine gute Wendung an diesem schwarzen Morgen.

»Bin gleich wieder da!«, rief Karo der Seemann zu, ob die sie nun hörte oder nicht, und rannte los, um Hilfe zu holen.

Was für ein unangenehmer Ton! Benommen tastete Angermüller nach seinem neuen Handy. Den sollte er unbedingt ändern, der war ja unerträglich. Mühsam öffnete er die Augen. Es war kurz nach sechs. Hatte er die falsche Uhrzeit eingegeben? Eigentlich wollte er heute doch eine Stunde länger schlafen! Endlich hörte das Mobiltelefon auf, ihn zu belästigen, doch nur, um gleich darauf wieder Alarm zu geben. Da begriff er, dass dies nicht der Wecker, sondern ein Anruf war.

»Derya, Schatz. Guten Morgen«, brummte er nach einem Blick auf das Display leicht verwirrt, »was ist denn los?«

»Ach Georg! Ganz schrecklich«, hörte er ihre aufgeregte Stimme. »Mein Vater ist heute Nacht ins Krankenhaus gekommen. Irgendwas mit seinem Herz. Meine Mama ist völlig hilflos und komplett durcheinander. Sie konnte mir nicht mal erzählen, was er genau hat, und im Krankenhaus konnte ich auch niemanden erreichen, der mir Auskunft geben kann.«

Und dann heulte sie los und war nicht zu stoppen.

»Derya, das tut mir leid, das sind keine guten Nachrichten. Kann ich was für dich tun?«

Beruhigend redete Georg auf seine Freundin ein. Er hörte sie noch eine Weile schniefen und sich dann die Nase putzen.

»Ich hab solche Angst um ihn! Ich muss da sofort hin! Eigentlich hab ich gar keine Zeit. Endlich mal wieder ein paar Aufträge in dieser und der nächsten Woche. Aber die muss ich absagen. Meine Mutter ist völlig überfordert, die kriegt das allein nicht gebacken.«

Georg dachte daran, dass Derya für ihren kleinen Catering-Service ›Deryas Köstlichkeiten‹ auf jeden Kunden angewiesen war und ihr das Absagen bestimmt nicht leichtfiel.

»Was ist mit deiner Schwester?«

»Ach, Bilhan, die steckt doch mitten im Wahlkampf! Jetzt nach Istanbul? Natürlich würde sie das für unsere Eltern machen, aber das kann ich ihr nicht antun!«

Es war bezeichnend für Derya, dass sie für Familie und Freunde alles zu geben bereit war, eben auch für Bilhan. Deryas ältere Schwester, die eine leitende Position in der Schulverwaltung innehatte und sich in einer Partei engagierte, wollte in die Bürgerschaft gewählt werden. Dafür opferte sie ihre gesamte Freizeit. Laut Derya hatte Bilhan deshalb weder ein richtiges Privatleben noch einen Mann. Und wenn sie ihrer Schwester mal einen vorstellte, verwickelte diese ihn sofort in hartnäckige politische Diskussionen, die ihn schnell vergraulten. So jedenfalls Deryas Meinung. Nach Georgs Ansicht war Bilhan einfach glücklich, sich nach zwei Scheidungen nur noch um sich selbst und die Politik kümmern zu müssen. Sie wollte gar keinen Mann.

»Wann willst du fliegen?«

»Heute noch.«

»Heute, ehrlich?«

»Ich habe keine Ahnung, in welchem Zustand sich mein Baba befindet. Ich will nicht zu spät kommen, verstehst du?«

Ihre Stimme drohte wieder zu kippen.

»Du hast ja recht«, sagte Georg schnell. »Soll ich dich nach Hamburg zum Flughafen fahren?«

»Das wäre super! Ich hänge mich gleich an den Computer und suche nach Flügen für heute Nachmittag oder Abend. Ich muss noch packen und meinen Kunden absagen.«

Sie machte eine kurze Pause.

»Und ich dachte, das nächste Mal fliege ich zusammen mit dir nach Istanbul, um dir meine schöne Geburtsstadt zu zeigen. Ach ja.«

Das hörte sich sehr betrübt an.

»Ich melde mich dann wieder bei dir.«

Nach dem Telefonat war er hellwach. Also stand Georg Angermüller auf, ging ins Bad und bereitete sich auf einen ruhigen Tag vor. Seit Wochen arbeiteten sie in der Kriminalinspektion an einem ungeklärten Altfall, was hauptsächlich im Durchwühlen von Aktenbergen bestand. Doch er freute sich über diese konzentrierte, ruhige Arbeit, die seinem Alltag eine gewisse Regelmäßigkeit verlieh, die er inzwischen sehr zu schätzen wusste. Und entdeckte man einen Anhaltspunkt, ein übersehenes Detail bei dieser Forschung, wurde es richtig spannend. Wenn sie nach Jahren, Jahrzehnten den Täter doch noch entdeckten, war das ein unglaubliches Hochgefühl.

Aber jetzt wollte er in aller Ruhe frühstücken, er war ja eine Stunde zu früh dran.

Beim Duft des Bauernbrotes vom Biobäcker in der Glockengießerstraße merkte er erst, wie hungrig er war. Heute durften auch Käse, Katenschinken und Mettwurst auf den Tisch. Angermüller genoss das ausgedehnte Morgenmahl, trank in Ruhe seinen Tee und las die Lübecker Zeitung.

Als er sich zum Abschluss das von seiner Mutter selbst gemachte würzige Pflaumenmus aufs Brot strich, fiel ihm ein, dass er sich nach seinem Besuch im vergangenen September vorgenommen hatte, von jetzt ab öfter in Niederengbach vorbeizuschauen. Im Oktober dieses Jahres wurde seine Mutter 73 – eigentlich kein Alter heutzutage. Doch sie hatte schon mehrere leichte Schlaganfälle hinter sich, und das Leben war nun einmal endlich. Zwar hatte sich seine Mutter immer recht gut erholt, doch bei Derya erlebte er gerade, wie man aufschreckte, wenn den Eltern in der Ferne etwas passierte. Im Gegensatz zu Istanbul war es nach Oberfranken ein Katzensprung. Eben deshalb würde er bald wieder hinfahren, beschloss er.

Wenig später schwang Angermüller sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Er nahm eine Route durch wenig belebte Nebenstraßen in St. Jürgen, freute sich über Vogelgezwitscher und Fliederduft in den Vorgärten, die blühenden Kastanien am Straßenrand und rollte schließlich durch Tor 1 aufs Gelände der Polizeidirektion Lübeck. Er parkte sein Fahrrad in der ehemaligen Waschhalle, die zur Fahrradgarage umgebaut worden war, nahm den Schleichweg am Schießkino vorbei und schließlich einen der dortigen Fahrstühle in den siebten Stock, wo das K1 residierte.

»Morgen, Claus!«, begrüßte er Kriminalkommissar Jansen, mit dem er ein Büro teilte, das durch einen kleinen Zwischenflur in zwei Räume getrennt wurde.

»Was für ein schöner Tag heute!«

»Moin«, kam es gleichmütig zurück, »Wieso? Hast du im Lotto gewonnen oder wat?«

»Was bist du doch für ein Materialist! Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, ein wunderbarer Frühsommertag heute!«

»As du meinst Berta. Hab ich hier drin nix von.«

Angermüller wusste, was Jansen querlag. Im Gegensatz zu ihm liebte der Kollege das Aufarbeiten von Altfällen ganz und gar nicht. Er war am liebsten draußen unterwegs, rauschte mit dem Dienstwagen durch die Landschaft, unterwegs zu Recherchen und Vernehmungen, mochte es auch gerne mal ein bisschen aufregend. Zu viel Büroarbeit drückte ihm aufs Gemüt, weshalb er regelmäßig schlechte Laune bekam.

Im Flur gurgelte bereits die altersschwache Kaffeemaschine, und ein intensiver Geruch versprach belebenden Kaffeegenuss. Angermüller war aber klar, dass man in dem Fall seiner Nase nicht trauen und lieber nicht auf exquisiten Geschmack der schwarzen Brühe schließen sollte. Nur mit Milch, mit sehr viel Milch fand er sie einigermaßen genießbar.

»Krieg ich einen Kaffee?«

Angermüller wusste, dass Jansen diese Bitte erfreute. Auch heute sprang der Kollege eilfertig auf. Von jeher hatte er die Herrschaft über Maschine und Kaffee ausgeübt, weshalb das Zeug auch so schmeckte, wie es schmeckte.

»Klar, kommt sofort. Mit viel Milch.«

»Danke dir.«

Angermüller nahm den, wie stets, übervollen Kaffeepott in Empfang.

»Heut werd ich früh Feierabend machen, wollt ich dir gleich sagen.«

»Willst du zum Strand?«

»Nein, zum Flughafen nach Hamburg.«

»Malle oder Malediven?«

»Ach Claus, du wieder! Derya muss überraschend nach Istanbul. Ich bring sie zum Flieger.«

»Kavalier oder wat?«

»Genau. Könntest du auch mal versuchen.«

Jansen schnitt nur eine Grimasse, während sich der Kriminalhauptkommissar an seinen Schreibtisch zurückzog und den PC einschaltete, um neu eingegangene Nachrichten zu sichten. Daneben legte er sich den siebten von 25 Aktenordnern bereit, in denen das Schicksal einer fünfköpfigen Familie dokumentiert war, die vor 17 Jahren in einem wahren Massaker zu Tode gekommen war. Eine Mutter, ihre zwei erwachsenen Söhne, die Frau des einen und deren Kleinkind hatte jemand regelrecht hingerichtet. Tatortfotos und Asservate kündeten von rasender Gewalt. Angermüller erinnerte sich gut, wie sehr ihn der Fall mitgenommen hatte.

Er war damals ganz neu in Lübeck und bei der Kriminalpolizei und hatte Mühe, die grausamen Bilder nach Feierabend aus dem Kopf zu bekommen. Die Toten waren türkischstämmig und mit mehreren eigenen Restaurants in Ostholstein zu bescheidenem Wohlstand gelangt. Als Motiv war Konkurrenzneid angenommen worden, oder auch mafiöse Verwicklungen der Opfer. Doch alle Nachforschungen hatten keinerlei konkrete Ergebnisse erbracht, sodass der oder die Mörder frei herumliefen. Nachdem sich eine andere Serie von Tötungsdelikten an Migranten als Mordanschläge einer rechten Untergrundgruppe entpuppt hatte, bestand umso mehr die Notwendigkeit, auch dieses grässliche Verbrechen endlich aufzuklären.

Gerade wollte sich Angermüller in die Akten vertiefen, da riss ihn das Telefon aus seiner Konzentration. Es war ein Kollege vom Kriminaldauerdienst.

»Aktendeckel zuklappen und den Wagen vorfahren, Claus«, sagte er nach dem Telefonat zu seinem Kollegen, der bereits erwartungsvoll in seine Richtung gespäht hatte. »Wir haben einen Fall.«

»Das war ja nicht so schwer zu erraten, nachdem du Ameise und Mehmet angefordert hast«, meinte Jansen und gab sich gleichgültig. Aber seine Miene hellte sich auf, und er schob eiligst die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen.

»Wo?«

»Im Norden, zwischen Lütjenbrode und Grube.«

»Da bin ich schon ewig nich mehr lang gekommen!«

»Aber du kanntest da mal jemanden, nehme ich an?«, stichelte Angermüller in Gedanken an die, jedenfalls in der Vergangenheit, quer durchs Land verteilten Beziehungen seines um zehn Jahre jüngeren Kollegen. Der grinste nur achselzuckend.

»Ich weiß genau, wo wir hin müssen, ich kenn mich da oben ganz gut aus. Details erzähl ich dir unterwegs. Ich komme gleich nach, muss nur noch kurz telefonieren.«

Ach ja, warum musste es gerade heute einen Toten geben? Seit einiger Zeit vermisste er die Leidenschaft, die ihn sonst bei einem neuen Fall gepackt hatte, das Jagdfieber, den Täter so schnell wie möglich zu stellen. Waren es die ewig gleichen Prozeduren, die den Job für ihn langsam zu ermüdender Routine machten, oder war es der Job selbst? Er schob die belastenden Gedanken beiseite und griff zum Telefon. Wenn Derya enttäuscht war über seine Absage, dann ließ sie sich das nicht anmerken.

»Wat mutt, dat mutt, Herr Kommissar! Aber das ist wirklich kein Problem. Ich bitte Bilhan, mich zu fahren. Sie ist mir so dankbar, dass sie nicht fliegen muss, da macht sie das bestimmt gern.«

Dann versprach sie, sich aus Istanbul zu melden, sobald sie mehr wusste, und wünschte ihm viel Erfolg bei seiner Arbeit.

Ungeduldig kreuzte Karo die Arme vor der Brust, streckte die Beine von sich und atmete laut hörbar aus. Was dachten sich diese beiden Bullen bloß? Wie lange sollte sie noch untätig hier rumsitzen und ihre Arbeit vernachlässigen? Hielten die sie etwa für verantwortlich für den Tod von der Seemann?

»’tschuldigung! Wie lange muss ich hier noch warten? Ich müsste so langsam mal los zu meinem Job.«

Der jüngere Uniformierte, der seine Angebersonnenbrille übers Haar geschoben und sich breitbeinig vor der Bürotür von der Seemann postiert hatte, warf ihr nur einen gelangweilten Blick zu, der andere sah auf die Uhr und meinte:

»Dat kann nich mehr lang dauern. Die Kripo müsste gleich eintreffen. Dann werden Sie als Zeugin befragt und können anschließend zur Arbeit gehen.«

»Oder auch nich«, murmelte sein Kollege mit einem abfälligen Grinsen in Karos Richtung. Dr. Paulsen, der Ärztliche Direktor, der neben ihr saß, nahm keine Notiz von dem, was um ihn herum vorging. Er starrte nur finster vor sich hin und strich sich ab und zu nervös übers Kinn. Dr. Paulsen war der Erste, auf den Karolin Berner bei ihrer Suche nach ärztlicher Hilfe getroffen war. Ihre Schilderung vom Zustand Maren Seemanns hatte ihn sogleich in helle Aufregung versetzt, und ohne sich weiter um sie zu kümmern, war er sofort losgelaufen.

»Oh Gott, Maren, oh mein Gott!«, hatte er beim Anblick der Klinikdirektorin gestammelt, hektisch im Zimmer herumgeschaut und sich dann auf den Inhalt der ausgekippten Handtasche gestürzt.

»Wo hast du die Spritze? Wo ist denn die verdammte Spritze?«

Er fand nicht, was er suchte, fühlte stattdessen Maren Seemanns Puls und schüttelte schließlich resigniert den Kopf.

»Ein anaphylaktischer Schock. Davor hast du immer solche Angst gehabt. Es tut mir so leid, ich bin zu spät gekommen, Maren«, entschuldigte er sich, ohne Karo zu beachten, und strich ein paar Mal behutsam über Maren Seemanns zerzaustes Haar. Langsam begriff Karo. Sie hatte die Frau nicht gemocht, aber dass die Klinikchefin nun tot war, ließ ihr doch einen kleinen Schauder über den Rücken laufen, und sie machte einen Schritt zurück. Dr. Paulsen stand mit traurigem Blick neben der Verwaltungschefin. Schließlich beugte er sich zu der Toten herunter und berührte mit seinen Lippen ihre Stirn. Abrupt drehte er sich danach zu Karo um.

»Haben Sie Frau Seemanns Tasche ausgekippt? Wo ist das Notfallset, wo ist die Adrenalinspritze geblieben?«

»Ich habe keine Ahnung. Die Tasche lag schon so auf dem Boden, als ich hier reinkam.«

Karos Antwort schien ihn nicht zu überzeugen.

»Haben Sie für Frau Seemann das Müsli zubereitet?«

»Wieso?«, fragte Karo verblüfft ob der plötzlichen Schärfe in seiner Stimme.

»Beantworten Sie bitte meine Frage!«

»Ja, ich habe ihr ein Müsli fertig gemacht, aber …«

»Und Sie wussten von ihrer Unverträglichkeit?«

»Natürlich! Ich habe die Mischung nach dem Rezept zusammengestellt, das mir Frau Seemann gegeben hat. Darin hat sie extra auf die Allergie hingewiesen.«

»Aber?«

»Wieso aber?«

»Das haben Sie eben gesagt: Sie haben ihr ein Müsli fertig gemacht, aber …«

»Ja, ich habe das Müsli wie bestellt fertig gemacht. Als ich hier reingekommen bin, da hatte sie schon ein Tablett mit einer Schale vor sich stehen. Schauen Sie doch: Da ist das Tablett, das schon hier war – und das hier ist meines.«

Ratlos blickte der Ärztliche Direktor zum Schreibtisch, dann zu Karo.

»Wie auch immer, ich finde das ist alles ziemlich verworren, was Sie hier erzählen. Ich rufe jetzt die Polizei«, entschied er und holte ein Handy aus der Tasche seiner weißen Hose. »Und Sie bleiben hier!«

Vergeblich versuchte Karo, dem Chefarzt zu versichern, dass Maren Seemann sich bereits in der misslichen Lage befunden hatte, als sie das Büro betrat, doch er ignorierte ihre Erklärungen genauso wie ihre Person. Und so saß Karo seit über einer Stunde auf diesem harten Plastikstuhl vor dem Büro der Klinikdirektorin. Ihr Versuch, den beiden Streifenpolizisten das Vorhandensein zweier Müslis auf Maren Seemanns Schreibtisch plausibel zu machen, war schon in den ersten Ansätzen gescheitert.

Hinter der Glastür, die von der Lobby zum Verwaltungstrakt führte, standen ein paar Patienten herum, angelockt von dem rot-weißen Band mit dem Aufdruck ›Polizeiabsperrung‹, das der Sonnenbrillen-Cop sogleich mit wichtigem Gesicht quer über den Flur gespannt hatte. Sie waren nicht zu hören, aber schienen angeregt zu diskutieren und glotzten immer wieder neugierig zu Karo und Dr. Paulsen. Achim Schulze, der Stammkunde aus der Cafeteria und vor allem ein ziemlich unangenehmer Stänkerer, nickte ihr zufrieden zu und zeigte triumphierend seinen hochgereckten Daumen, was auch immer er damit sagen wollte. Sie wandte genervt den Kopf.

Inzwischen war auch Frau Franzmeyer, die Sekretärin von der Seemann, zur Arbeit erschienen. Als sie hörte, was mit ihrer Chefin passiert war, schüttelte sie ungläubig den Kopf und wiederholte ständig, wie schrecklich das alles sei, oh nein, oh Gott, ganz entsetzlich, die Arme! Als sie sich gar nicht beruhigen konnte, riss sie mit ihrem Gejammer sogar den Paulsen aus seiner Lethargie, weshalb er sie bat, sich doch an ihren Arbeitsplatz zu begeben, sie könne hier eh nicht helfen. Leicht verschnupft zog sich die Franzmeyer zurück. Aus ihrem Büro, das neben dem der Seemann lag, war nun unablässig leises Gebrabbel zu hören. Wahrscheinlich verbreitete sie per Telefon flächendeckend die Nachricht vom Ableben der Klinikdirektorin, versäumte aber nicht, alle paar Minuten erwartungsvoll die Nase aus der Tür zu stecken.

Karo atmete zum wiederholten Mal tief durch und fasste sich in Geduld. Auf jeden Fall würde sie die hier vergeudeten Stunden als Arbeitszeit abrechnen, das war ja wohl klar.

»Du kannst die Abfahrt Jahnshof nehmen und dann über Neukirchen fahren. Das ist näher als über Heiligenhafen, und auf der Landstraße kommt man ganz gut durch.«

Den Weg nach Dünenhöhe kannte Angermüller in- und auswendig. Mehrmals die Woche war er im letzten Jahr mit den Kindern, manchmal auch mit seinen Schwiegereltern, in die Reha-Klinik südlich von Lütjenbrode gefahren. Meist herrschte graues Schmuddelwetter. Fast drei Monate hatte Astrid hier zugebracht, viele Stunden mit Physio- und Ergotherapeuten trainiert, um nach ihrem schweren Fahrradunfall sprichwörtlich auf die Beine zu kommen, bevor sie kurz vor Weihnachten entlassen wurde.

Heute standen Bäume und Wiesen in jungem Grün, dazwischen leuchteten unzählige Rapsfelder. Die weiße Vorderfront, die vor ihnen auf dem Hügel auftauchte, hätte auch gut zu einem Hotel gehören können. Eine weitläufige Gartenanlage mit Blumenrabatten, Büschen und Rasenflächen umgab die Gebäude, Bänke standen an den Wegen verteilt, und in einer Ecke ragte ein Pavillon auf. Neben einigen Menschen in Rollstühlen oder an Krücken und der sehr legeren Kleidung der dort Wandelnden – ein paar Morgenmäntel, meist Jogginganzüge – verriet ein großes Schild direkt am Portal die wahre Bestimmung der Anlage: Es begrüßte die Gäste auf dem Gelände der Reha-Fachklinik Dünenhöhe für Neurologie und Orthopädie, die zum Fortesana Gesundheitskonzern gehörte, und wünschte einen erholsamen Aufenthalt.

Angermüller erinnerte sich gut, wie es hinter der Fassade aussah, und dass ihm nach Astrids Entlassung eines klar war: Sollte er jemals in die unangenehme Lage kommen, eine Reha in Anspruch nehmen zu müssen, auf gar keinen Fall in diesem Etablissement. Allein das Essen! Innerlich schüttelte es ihn bei dem Gedanken an Schlimme-Augen-Wurst, geschmacklose blasse Käsescheiben und lappiges Graubrot – für Menschen, die sich erholen sollten! Jansen parkte den Dienstwagen nicht weit vom Haupteingang auf dem Besucherparkplatz, der um diese Morgenstunde so gut wie leer war.

»Großer Mann, ich kenne dich!«, tönte es auf dem Weg zum Eingang plötzlich hinter ihnen. Angermüller schaute sich erstaunt um. Ein Mann in einem blauen Arbeitskittel bearbeitete mit einem Besen die Gehwegplatten, die zum Raucherpavillon führten. Sein rundgeschnittenes weißes Haar wippte im Rhythmus seiner kräftigen Armbewegungen.

»Meint der dich?«

»Keine Ahnung. Vielleicht hat er mich manchmal hier gesehen, wenn ich Astrid besucht habe«, überlegte Angermüller und rief: »Hallo, meinen Sie mich? Wollten Sie etwas von mir?«

Sie verharrten einen Moment, doch der Angesprochene reagierte nicht, widmete sich nur mit großer Inbrunst seiner Reinigungstätigkeit, sah nicht einmal vom Boden auf.

»Komm, lass! Wir haben was anderes zu tun«, drängte Jansen seinen Kollegen. Sie betraten die weitläufige Lobby. Während sie sich am Empfang meldeten, fuhren draußen die Kollegen vor und luden Spurensicherungskoffer und andere Gerätschaften wie Laptops und Kameras aus dem Kofferraum. Bald darauf bogen die beiden Kommissare mit den Kriminaltechnikern Andreas Meise und Mehmet Grempel rechts in den Trakt, wo die Büros der Verwaltung lagen. Angermüller schnupperte neugierig. Irgendetwas war anders als im letzten Herbst, er kam nur nicht drauf, was.

»Polizei! Machen Sie bitte den Weg frei!«

Nur zögernd traten die zehn, zwölf Gaffer auf Jansens energisch vorgebrachte Forderung zur Seite. Sensationslüstern musterten sie die Beamten. Endlich eine aufregende Abwechslung im gleichförmigen Kuralltag.

»Werden wir jetzt alle verhaftet?«, rief ihnen eine ältere, sehr blonde Frau in einem pinkfarbenen Jogginganzug zu. Die umstehenden Jogginganzüge kicherten.

»Wenn Sie ’ne ordentliche Belohnung zahlen, hab ich vielleicht einen Tipp, Herr Kommissar. Sagen Sie doch mal!«

Der Sprücheklopfer, so ein kleiner Dicker, bog sich über seine Bemerkung vor Lachen, bis es in einen rasselnden Raucherhusten überging und er schleunigst in Richtung Ausgang verschwand.

Claus Jansen schüttelte genervt den Kopf, hob das Band an, der Öffner summte, und beide Flügel der Glastür sprangen auf.

»Moin«, sagte Jansen wenig freundlich zu den beiden Streifenpolizisten, die sie empfingen, und deutete hinter sich.

»Sorgen Sie dafür, dass die verschwinden? Danke.«

Vom anderen Ende des Flurs blickte dem Lübecker Team ein weiteres Grüppchen erwartungsvoll entgegen. Ein Mann ganz in Weiß erhob sich augenblicklich von seinem Stuhl.

»Paulsen mein Name, Dr. Eicke Arthur Paulsen. Ich bin der Ärztliche Direktor dieser Klinik und Chefarzt der Neurologie. Ich habe bei Maren, Frau Seemann, nur noch den Tod feststellen können. Ein anaphylaktischer Schock. Irgendetwas in ihrem Müsli muss mit einem Allergen behaftet gewesen sein. Sie hatte eine hochgradige Kiwiallergie, vielleicht litt sie auch an einer bisher nicht aufgetretenen Kreuzallergie. Ich weiß es nicht. Jedenfalls bin ich zu spät gekommen.«

Betroffen senkte er den Kopf.

»Guten Tag, Kriminalhauptkommissar Angermüller, Kommissar Jansen. Das sind die Kollegen von der Kriminaltechnik«, stellte der Kriminalhauptkommissar vor und wies auf Ameise und Mehmet Grempel, die gerade ihre Schutzkleidung anlegten.

»Eine Allergie als Todesursache? Das hört sich nicht nach Fremdverschulden an. Weshalb haben Sie die Polizei gerufen, Herr Paulsen?«

»Mir sind einige Ungereimtheiten aufgefallen, aufgrund derer ich guten Gewissens keinen Totenschein mit einer natürlichen Todesursache ausstellen konnte. Kann ich allein mit Ihnen sprechen?«, fragte er mit einem Seitenblick auf die große, kräftige Frau mit der praktischen Kurzhaarfrisur und einem auffälligen schwarzen Brillengestell, die auf dem Stuhl daneben saß und bei seinen Worten nur stumm mit den Augen rollte.

»Gleich, Herr Paulsen, wir werden gleich mit Ihnen sprechen. Erst würden wir uns gern selbst ein Bild machen, wenn Sie erlauben.«

Bis auf das Summen einer fetten schwarzen Stubenfliege war es im Büro der Klinikdirektorin völlig still und ziemlich warm. Wahrscheinlich kam das von der Sonne, die ungehindert durch die beiden großen Fenster schien. Die vier Beamten verharrten einen Moment am Eingang. Jeder auf seine Art maß die Szenerie mit Blicken. Die Kriminaltechniker in ihren weißen Overalls näherten sich als Erste der Toten am Schreibtisch und walteten in stummer Geschäftigkeit ihres Amtes. Grempel umkreiste das Opfer, fotografierte es, fertigte Videos von der Lage der Gegenstände auf dem Schreibtisch, der Tasche mit ihrem ausgekippten Inhalt auf dem Boden und sprach währenddessen seine Kommentare. Andreas Meise ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach und suchte akribisch Zentimeter für Zentimeter den Boden ab.

»Auf den ersten Blick irgendwas Auffälliges?«, fragte Angermüller.

»Nee«, knurrte Ameise kurz angebunden. Ameise, so nannten sie den Kriminaltechniker immer, wenn er es nicht hören konnte, denn der Kollege reagierte ziemlich angefressen auf diese Bezeichnung. Aber sie passte so gut. Ameise war klein, wuselte mit Inbrunst an Tatorten auf dem Boden herum, so wie eben gerade, und auf dem Schild an seiner Bürotür in der Polizeidirektion Lübeck stand ›A. Meise‹. Angermüller respektierte Ameise, denn er leistete als Spurenleser hervorragende Arbeit, aber er mochte ihn nicht, von Anfang an, was auf Gegenseitigkeit beruhte, und fand ihn nach all den Jahren in seiner ewigen Miesepetrigkeit manchmal unerträglich.

»Klar ist, die Frau hat von dem Müsli gegessen, das da vor ihr steht. Ein paar Krümel hängen ihr noch am Mund.«

Mehmet Grempel zeigte zum Schreibtisch. Auch der dicke Brummer hatte diese Krümel entdeckt und krabbelte emsig auf der Wange der Toten im Kreis herum. Allergien waren seiner Spezies wahrscheinlich fremd.

»Aber seht ihr, da stehen zwei Tabletts vor der Frau. Beide mit identischer Müslischale mit Inhalt. Da hat wohl jemand der Allergikerin ein ganz spezielles Müsli angerührt, obwohl: Kiwistücke sind auf den ersten Blick nicht zu entdecken. Wieso jetzt zwei Portionen hier sind, müsst ihr rauskriegen. Die Müslimischungen kommen jedenfalls beide mit ins Labor.«

»Und wat haben wir hier?«, tönte es missmutig aus der Ecke neben dem Schreibtischstuhl. »So ’n komischer Stein mit Flügeln drauf. Wat soll dat?«

»Bestimmt so eine Art Glücksbringer«, meinte sein Kollege nach einem kurzen Blick darauf.

»Glücksbringer?«

Ameise ließ ein höhnisches Lachen hören.

»Wenn du mich fragst, hat er der Tante aber kein Glück gebracht.«

»Dich fragt aber keiner«, bemerkte Angermüller und sah zu Jansen.

»Lass uns jetzt mal mit den Leuten da draußen reden. Hier sind wir momentan überflüssig.«

»Das seh ich auch so«, bestätigte Ameise bissig.

Mit wichtigem Gesicht verließ der Ärztliche Direktor den Konferenzraum, in den sich die Kripo mit ihm zur Befragung zurückgezogen hatte. Karo würdigte er dabei keines Blickes. Der jüngere, dünnere der beiden Beamten, der Jansen hieß und so ein Galgenvogelgesicht hatte, winkte ihr, dass sie nun an der Reihe war.

»Na endlich.«

Sie hatten einen der Tische aus dem Hufeisen gezogen, das diese normalerweise bildeten, und drei Stühle herumgestellt, dort nahmen Jansen und sein älterer Kollege, der wuscheliges dunkles Haar und einen Dreitagebart hatte, gegenüber von Karo Platz. Angermüller hieß der zweite Mann, war so um die 40 und wohl der Chef. Nachdem sie ihre Personalien aufgenommen hatten, forderte er sie auf zu schildern, wie ihr Morgen abgelaufen war.

»Also, ich hatte um sieben eine Verabredung mit der Direktorin. Und ich sollte ihr Spezialmüsli mitbringen, das sie jeden Morgen frühstückt. Das hab ich in der Küche von der Cafeteria fertig gemacht und bin schnell mit dem Tablett rübergelaufen, weil ich spät dran war. Es waren nur ein paar Minuten, aber die Seemann konnte schon deswegen ziemlich kiebig werden.«

»Ist Ihnen auf Ihrem Weg irgendjemand begegnet?«

Karo wollte erst verneinen, aber dann fiel ihr die Frau ein.

»Ja, da war eine Frau, die mir noch gesagt hat, dass die Seemann nicht da wäre.«

»Kannten Sie die?«

»Ich glaube, ich hab die schon mal gesehen, aber … Nee, tut mir leid.«

»Vielleicht fällt’s Ihnen noch ein. Und dann?«

»Ich hab geklopft, aber es reagierte niemand, wie die Frau ja schon gesagt hatte, und die Tür war abgeschlossen. Da war ich ziemlich sauer, denn eigentlich hätte ich heute erst viel später kommen können, und nur wegen dieses doofen Gesprächs … Na ja. Dann hab ich aber drinnen ein Geräusch gehört, so eine Art Plopp, als ob was runtergefallen ist. Irgendwie fand ich das komisch. Als ich dann den Schlüssel auf dem Boden gesehen hab, dacht ich mir, ich schau mal rein. Außerdem kann ich wenigstens ihr Müsli gleich hier lassen.«

»Woher wussten Sie, dass es der Schlüssel für die Bürotür war?«

»Wusst ich natürlich nicht. Aber er hat gepasst. Und dann hab ich die Seemann an ihrem Schreibtisch gefunden. Ich wusste erst gar nicht, was mit ihr los war. Sie sah irgendwie aufgequollen aus, konnte nicht sprechen, hechelte nur so komisch, kriegte wohl nicht richtig Luft. Und da bin ich los, einen Arzt holen, und der Erste, den ich gefunden hab, war der Paulsen.«

Karo überlegte, ob sie irgendetwas vergessen hatte in ihrem Bericht. Die Kommissare schauten sie aufmerksam an, dann fragte der ältere:

»Sonst ist Ihnen am Fundort nichts aufgefallen?«

»Ich war natürlich aufgeregt. Aber eins ist mir sofort aufgefallen: Ich komm da an mit dem Müslitablett, und vor der Seemann steht schon genau dasselbe! Ich dachte, ich spinne! Und sie hatte auch schon davon gegessen, denn sie war um den Mund ganz verschmiert. Und dann hab ich ihre Handtasche am Boden gesehen, die war ausgekippt.«

Ihr fiel noch etwas ein.

»Der Paulsen war auch ganz außer sich, als er gesehen hat, in welchem Zustand die Seemann war. Und als er ihr nicht mehr helfen konnte, war er total fertig. Der scheint sie irgendwie gut zu kennen. Ja, das war’s. Kann ich jetzt gehen? So langsam wird’s Zeit, dass ich in die Cafeteria komme.«

»Sie sagten ja schon, Sie arbeiten in der Cafeteria«, sagte dieser Angermüller und fügte mit einem spöttischen Lächeln an: »Im Bockwurstparadies.«

»Ja, ja, ich weiß, so nannte man das hier. Bis vor Kurzem!«

Immer wieder ärgerte sich Karo, wenn jemand das erwähnte, obwohl sie damit nichts zu tun hatte.

»Aber seit ich hier arbeite, ist das vorbei. Wir haben jetzt mehr Salate, Quiches, Suppen, und die meisten Sachen sind bio. Manchmal gibt’s auch Würstchen. Aber auf keinen Fall so wie früher, nur Bockwurst und Salat aus dem Eimer!«

»Ah ja, interessant. Jetzt weiß ich auch, was sich hier verändert hat! Es hat früher schon in der Lobby ganz aufdringlich nach dieser Bockwurst gerochen. Das hab ich heute vermisst!«

Er schaute sie interessiert an.

»Sie sind also die streitbare junge Dame, die sich für die Cafeteria ein neues Konzept ausgedacht hat.«

»Wer sagt das?«

»Herr Paulsen.«

»Der Chefarzt? Als ob der davon ’ne Ahnung hätte. Hier arbeitet doch jeder am andern vorbei. Ich bin zwar noch nicht so lange hier, aber die Verpflegung wird sicher nicht mit den Ärzten abgesprochen, außer Diabetiker- und sogenannte Schonkost, die auch ein Witz ist! Wenn Sie mich fragen, der letzte Fraß! Nee, nee, hier ist die Hauptsache, dass die Zahlen stimmen, deshalb wird nur billig, billig eingekauft, da hat die Seemann für gesorgt.«

»Wie war sie denn insgesamt so, die Frau Seemann?«

Karo hob ungeduldig die Schultern. Eigentlich hatte sie gerade andere Sorgen, als sich den Kopf um das Wesen der Verblichenen zu zerbrechen. Immer wieder tauchten vor ihrem inneren Auge die Verwüstungen im Dünenbistro auf.

»Wie gesagt, ich bin ja erst seit ein paar Wochen hier und ich kannte die Frau kaum. Sie war allgemein aber ziemlich unbeliebt, das hab ich gleich mitbekommen. Alle hier meckern über sie. Eben vor allem wegen ihrer ständigen Sparmaßnahmen, beim Personal, bei den Gehältern, bei der Ausstattung und eben auch beim Essen. Und sie war knallhart. Keine Kompromisse.«

»Stimmt es, dass Sie wegen Ihrer eigenmächtigen Neuerungen öfters Auseinandersetzungen mit Maren Seemann hatten?«

»Hat der Paulsen das gesagt? Und deswegen hab ich sie mit Kiwi gefüttert, oder was? Der spinnt doch!«

»Woher wissen Sie, dass sie an einer Kiwiunverträglichkeit gestorben ist?«

Langsam gingen Karo die Fragen des Kommissars auf den Geist.

»Das weiß ich natürlich nicht. Nur, wenn sie an diesem komischen Schock gestorben ist, wie der Paulsen gesagt hat, dann war es eine allergische Reaktion, worauf auch immer, und wenn es jemand darauf angelegt hatte …«

»Sie wussten also von Frau Seemanns Kiwiallergie?«

»Ja, natürlich! Erstens steht das ganz groß handgeschrieben neben dem Spezialrezept für dieses Müsli von der Seemann, das an der Pinnwand der Cafeteriaküche hängt, und außerdem wissen das hier alle. Ist ja auch logisch. Das war als Vorsichtsmaßnahme gedacht. Schon die kleinste Menge Kiwi ist für so jemanden gefährlich.«

Der dunkelhaarige Beamte nickte.

»Kann denn jeder in die Küche von der Cafeteria oder die Großküche marschieren und Tablett und Müslischale holen?«

»Muss er ja gar nicht, wäre aber sogar möglich. Doch die Tabletts und die Schalen gibt’s auch auf den Stationen, das Geschirr ist überall gleich – bis auf die Privatstation natürlich. Aber an das normale Geschirr kommt eigentlich jeder ran, ob Patient, Mitarbeiter oder Besucher.«

»Aha«, nickte der Kripomann. »Hast du noch Fragen, Claus? Nein? Gut, dann war es das vorerst. Für alle Fälle, falls Ihnen noch was einfällt, hier meine Karte. Und jetzt können Sie endlich zu Ihrer Arbeit. Später kommen wir vielleicht mal vorbei, das Angebot in Ihrer Cafeteria testen«, zwinkerte er ihr freundlich zu.

Komische Bullen, dachte Karo beim Hinausgehen. Sie schaute auf die Visitenkarte dieses KHK Georg Angermüller und schob sie dann in die Tasche ihrer Jeans. Der eine sagt fast nix und guckt nur misstrauisch, und der andere scheint sich vor allem fürs Essen zu interessieren. Sieht man ihm auch irgendwie an. Aber zumindest hat er eine ganz nette Art.

Kapitel II

Mittlerweile war der Rechtsmediziner eingetroffen und spulte seine Tatortroutine ab. Steffen hatte seinen Mitarbeiter Manfred Eberle geschickt, der ihn seit letztem Herbst am Lübecker Institut unterstützte und aus Freiburg stammte. Der junge Mann war hoch motiviert und arbeitete sehr gewissenhaft, nur wenn er in seinen Dialekt verfiel, verstanden die Kollegen oft nichts und wandten sich Hilfe suchend an Angermüller, von dem sie wohl vermuteten, er als Franke könne übersetzen. Dabei war ihm diese kehlige Sprache, die gerne die Endsilben verschluckte und aus ganz vielen Zischlauten bestand, ebenso fremd.

»Des doo isch högscht interessant«, begann Eberle begeistert, als Angermüller nach ersten Erkenntnissen fragte. Dann sah der Rechtsmediziner Jansens skeptischen Gesichtsausdruck und bemühte sich sogleich um eine allgemein verständliche Ausdrucksweise.

»Gestorben ist die Person an einem anaphylaktischen Schock aufgrund ihrer Allergie, wahrscheinlich erstickt, wie der Kollege aus der Klinik Ihne ja scho gsait hät. Also insofern keine Fremdeinwirkung. Aber wenn ihr jemand des Allergen untergschobe hät – die Annahme isch, dass es sich um Kiwi handelt, in welcher Form auch immer –, dann liegt der Fall natürlich ganz anders. Gut, dass der Kollege angesichts einiger Ungereimtheiten die Polizei benachrichtigt hat. Irgend so ein Landarzt hätt womöglich einfach einen Totenschein uusgstellt. Hochgradige Kiwiallergie bekannt – und des wär’s dann gwese.«

Der junge Rechtsmediziner arbeitete an seiner Dissertation mit dem Thema ›Vergleichende Analyse der Leichenschau in Deutsch­land am Beispiel Schleswig-Holsteins und Baden-Württem­bergs‹ und war mit größtem Eifer bei der Sache. In Deutschland sei nämlich die Zahl unerkannter gegenüber aufgeklärten Tötungsdelikten aufgrund mangelhafter Fachkenntnis vieler Ärzte gleich hoch, also ein echter Skandal, wurde er nicht müde zu verkünden.

»Luege Se mol, Herr Angermüller: Noch eine interessante Kleinigkeit hier am Halsansatz. Da gibt es rechts und links kaum ausgeprägte schmale Hämatomstreifen, als ob jemand das Opfer dort mit ziemlich festem Griff gehalten hat. Und rechts sieht man an der Stelle eine winzige Hautabschürfung, eine zwei Zentimeter lange Kratzwunde, wahrscheinlich durch einen Fingernagel.«

»Ich kann also die Staatsanwaltschaft informieren, dass von einem Tötungsdelikt auszugehen ist?«

»So isch es. Die Details müsse mir zwar bei der Obduktion genau kläre, aber die könne getroscht e Verfahre eröffne. Und mir fahre jetz.«

Der Rechtsmediziner winkte den Männern vom Bestattungsinstitut, die gerade mit einem Zinksarg hereingekommen waren.

»Vielen Dank, Herr Eberle. Zwei von uns sind dann morgen dabei.«

Eigentlich hatte Angermüller wenig Neigung, den Termin im Institut für Rechtsmedizin selbst wahrzunehmen, doch er konnte sich nicht immer drücken. Also stimmte er sich darauf ein, am nächsten Morgen nach einem kargen Frühstück die unangenehme Prozedur der Obduktion über sich ergehen zu lassen.

»Habt ihr noch irgendwas gefunden, das weiterhilft, Andreas?«, wandte sich der Kriminalhauptkommissar an den Kriminaltechniker, nachdem er mit Staatsanwalt Lüthge telefoniert hatte. Ameise war gerade dabei, den auf dem Boden verstreuten Inhalt der Handtasche des Opfers spurensicher in Plastikbeutel zu verpacken.

»Ich kann dir genau sagen, wo die Frau den Löffel abgelegt hat: Da«, sagte Ameise höhnisch und zeigte auf den Löffel mit den Müslispuren am Boden, »aber sonst nix und wir sind gleich durch«, fügte er sichtbar unzufrieden hinzu.

»Na gut. Dann sehen wir uns heute Abend bei der Teambesprechung in Lübeck. Bis dann!«

»Ich kann’s kaum erwarten.«

Ameise konnte einfach nicht aus seiner Haut. Angermüller versuchte wegzuhören, sah nach der Uhrzeit und dann zu Jansen.

»Kleine Denkpause bei einem Kaffee?«

»Sehr gute Idee«, lobte der. »Kaffee und was zwischen die Kiemen erhöhen meine Leistungsfähigkeit ungemein.«

»Ein Mord in Dünenhöhe! Mensch, jetzt erzähl doch mal! Krimi in Echtzeit, find ich ja geil.«

Karo zuckte mit den Schultern.

»Ich hab’s doch schon erzählt.«

»Na ja«, empörte sich Jana, »erzählt!«

Ihr blasses Gesicht unter den schwarz gefärbten Haaren hatte tatsächlich einen zarten Rotton angenommen, was Karo nicht für möglich gehalten hatte. Jana war Anfang 20, arbeitete als Küchenhilfe mit ihr in der Cafeteria und kannte sich bestens aus mit dem Klatsch und Tratsch, der die Gänge der Klinik erfüllte. Für vermeintliche Skandale und Sensationen war sie immer zu haben. Nachdem die beiden Frauen ihre morgendlichen Vorbereitungen abgeschlossen hatten, gönnten sie sich nun eine Pause am Personaltisch in einer Ecke der Küche. Jana brannte vor Neugier. Mit Vorliebe las sie Krimis, und nun hatte sich ein echtes Kapitalverbrechen ganz in ihrer Nähe ereignet!

»Du hast nur gesagt, du wolltest ihr das Müsli reinstellen, und dann hast du sie gefunden. Wie war das denn genau? Bist du doll erschrocken? Hat sie noch gelebt? Hat sie was gesagt? Was hat der Paulsen gesagt?«

Die Einsilbigkeit ihrer Kollegin versetzte Jana in zappelige Erregung.

»Nu sach doch schon!«

»Weißt du, Jana, auch wenn die Seemann nicht meine Freundin war, es ist nicht angenehm, wenn jemand quasi vor deinen Augen stirbt. Aber wenn du das so interessant findest«, seufzte Karo, nahm ihre Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Dieses topmodische Gestell drückte ein wenig.

»Natürlich bin ich total erschrocken, als ich die Seemann gesehen hab, das Gesicht so aufgequollen, furchtbar. Und ihre Lippen …«

»Aufgespritzt, klar!«

»Also du immer! Nein, ich hab gedacht, ihre Lippen platzen gleich, irre angeschwollen waren die, und die Augen hatte sie so ganz weit aufgerissen. Aber da hat sie noch gelebt. Ich hab ja noch so ’n Röcheln gehört.«

»Manno, stell ich mir irgendwie schrecklich vor«, gruselte sich Jana.

»Das kannst du laut sagen! Aber ehrlich gesagt war ich vor allem geschockt, weil da schon ein Tablett mit einem Müsli stand. Ich hab das erst überhaupt nicht kapiert.«

»Und dann?«

»Dann hab ich Hilfe geholt, also den Paulsen, und der hat gleich gesagt, dass sie wohl an ihrer Allergie gestorben ist. Und da hab ich verstanden, was mit dem anderen Müsli los war. Das sah eigentlich ganz normal aus. Ich meine, ob’s das gleiche Rezept war, weiß ich nicht, aber irgendwer hat der Seemann eine ordentliche Portion Kiwi untergemischt.«

»Echt krass!«

»Allerdings. Und der Paulsen, der Idiot, hat natürlich sofort gedacht, ich wär das gewesen.« Karo trank einen Schluck Kaffee.

»Na ja, das musst du ihm nachsehen«, griente die Kollegin, »der war nicht ganz zurechnungsfähig, wo doch gerade seine Geliebte verschieden ist.«

Bellender Raucherhusten kam aus dem Gastraum.

»Kriegt man hier auch mal ’n Kaffee?«, rief jemand ungeduldig.

»Komme gleich«, antwortete Karo und fügte leise hinzu, »Dauerpatient Schulze, diese Nervensäge, der will doch nur Sensationsmeldungen aus erster Hand von mir haben.«

Sie spielte mit ihrer Brille.

»Was hast du gerade gesagt? Seine Geliebte?«

»Hast du das etwa noch nicht mitgekriegt? Schon als ich vor zwei Jahren hier angefangen hab, waren die ein Paar. Nicht zu übersehen.«

»Jetzt, wo du das sagst«, nickte Karo, »jetzt versteh ich auch, warum der Paulsen so total fertig war. Aber der ist doch verheiratet?«

»Ach Karo«, lächelte Jana mitleidig, »und?«

»Ja natürlich, du hast ja recht.«

Wirklich eine blöde Feststellung, ausgerechnet von mir, dachte Karo. Als ob eine Heirat, ein Treueschwur, eine vermeintlich perfekte Beziehung, als ob irgendwas irgendwen davon abhalten konnte, sich neu zu orientieren. Sie hatte es gerade selbst erlebt. Und ihr fiel ihr aktuelles Problem wieder ein. Doch Janas Wissbegier war noch nicht gestillt.