Paulo reist nach China (6) - HaMuJu - E-Book

Paulo reist nach China (6) E-Book

HaMuJu

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Beschreibung

Paulo bereist die Seidenstraße zwei Jahre lang und lernt viele verschiedene Menschen kennen, er stellt fest, dass es bei aller Fremdheit viel Verbindendes gibt. Als er nach China gelangt, ist er zunächst fasziniert von dem riesigen fremden Land. Gleichzeitig macht sich aber auch ein Respekt in ihm breit, der sich in der Leistung der Menschen dort gründet.

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HaMuJu

Paulo reist nach China (6)

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Seide aus Margilan

Asaka

Abschied vom Ferganatal

Osh

Kashgar I

Taklamakanwüste

Kashgar II

Yining

Korla

Turpan

Impressum neobooks

Seide aus Margilan

Nördlich von Fergana lag die Stadt Margilan, aus der ich den Beton für meine Denkmalfundamente bezogen hatte, sie galt als Zentrum der usbekischen Seidenindustrie, in der Stadt existierte der Wirtschaftszweig schon seit der Antike.

Fergana war eine koloniale Neugründung und hieß bis ins 20. Jahrhundert hinein Neu-Margilan. Angeblich hatte Alexander der Große Margilan gegründet, als er im Jahre 329 vor Christus dort einen Stopp machte. Nachweislich galt Margilan als wichtiger Posten an der Seidenstraße auf der Route über das Alai-Gebirge nach Kaschgar in China.

In unserer Zeit galt Margilan neben Namangan als Hochburg des konservativen Islam. Die Stadt hatte 144000 Einwohner, war demnach Großstadt, blieb aber dennoch überschaubar. In Margilan gab es die traditionelle Seidenfabrik „Yodgorlik“, in der zweitausend Arbeiter jährlich 250000 Quadratmeter hochwertiger Seide produzierten und es gab die benachbarte „Margilan Silk Factory“, in der mit 15000 Arbeitern jährlich zweiundzwanzig Millionen Quadratmeter Seide hergestellt wurden. Niemand wusste, wann genau die Seidenproduktion in Margilan begann. Bekannt war, dass die Seidenproduktion in China angefangen hatte. Der Legende nach sollte Xiling, die Gattin des Gelben Kaisers Huang Di, schon im 3. Jahrtausend vor Christus dem Volk die Nutzung von Kokons und Seide zur Herstellung von Kleidungsstücken beigebracht haben. Es war bei Todesstrafe verboten, die Eier des Seidenspinners außer Landes zu bringen. Angeblich gelang es aber zwei persischen Mönchen doch, einige Eier hinaus zu schmuggeln, sodass von da an auch außerhalb Chinas eine Seidenproduktion möglich wurde. Auf diese oder ähnliche Weise soll die Seidenspinnerei nach Margilan gekommen sein. Seide war eine Textilfaser, die aus dem Kokon der Seidenraupen, der Larven des Seidenspinners, gewonnen wurde. Sie war seit jeher eine begehrte Textilfaser in der ganzen Welt. Nachdem die oben erwähnten persischen Mönche Eier aus China hinaus geschmuggelt hatten und so eine Seidenproduktion auch an anderen Orten ermöglicht hatten, begann man im Mittelalter in Italien und Frankreich mit der Seidenraupenzucht, im 18. Jahrhundert sorgte Friedrich der Große in Deutschland für Maulbeerbaumalleen zur Versorgung der gefräßigen Raupen. Die „Pebrine-Krankheit“ vernichtete die deutschen Seidenraupen im Jahre 1860.

Die Seide war das Speicheldrüsensekret der Raupe des chinesischen Maulbeerspinners „Bombyx mori“. Zur Seidengewinnung wurden die Kokons in Wasser gekocht, die Puppen so abgetötet und die Sericinschicht des Fadens entfernt. Danach musste der Faden entrippt und abgewickelt werden. Fäden mehrerer Kokons wurden zu Rohseidenfäden unterschiedlicher Stärke verzwirnt. Vor dem Weben der Textilien erfolgte das Einweichen und Färben der Rohseide.

Udima und Kamil hatten Freunde in Margilan, bei denen ich so lange wohnen könnte, bis ich hinter die Geheimnisse der Seidenproduktion gekommen wäre. Ich würde mich also für mehrere Wochen von Udima und Kamil verabschieden und nach Margilan ziehen. Ihre Freunde hießen Boris und Fjodora, sie waren verheiratet und hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die beide noch zur Schule gingen. Der Junge, der Ilja hieß, ging schon auf das Gymnasium. Jelena, das Mädchen, ging noch zur Grundschule.

Beide Eltern sprachen Englisch, ich hätte also keine Sprachschwierigkeiten zu erwarten. Ich rief Michail in Namangan an, er war inzwischen im ersten Semester und studierte Islamwissenschaften, es ging ihm und seiner Familie gut, wie er sagte, ich bestellte Grüße aus Fergana. Wir wollten uns in den nächsten Semesterferien treffen, wenn ich dann noch im Ferganatal wäre. Dann kam der Abschied von Udima und Kamil. Ich wäre ja zum Glück in Margilan nicht aus der Welt, hatte aber, wie Udima und Kamil auch, Tränen in den Augen. Ich umarmte Udima und fuhr mit Kamil nach Margilan. Wir redeten auf der Fahrt nicht viel. In Margilan sagte Kamil, wenn er zum Denkmal führe, würde er mich abholen, dann würden wir gemeinsam Rafik besuchen.

Dann kamen wir bei Boris und Fjodora an, sie wohnten mitten in der Stadt in einem Einfamilienhaus, das in einer Nebenstraße gelegen war. Sie hatten hinter dem Haus einen große Garten. Als wir kamen, waren beide zu Hause, die Kinder waren in der Schule, Boris und Fjodora hatten beide eine Woche Urlaub. Boris arbeitete als Abteilungsleiter in der „Margilan Silk Factory“, Fjodora war Textilingenieurin und arbeitete auch in der Factory. Sie hatten beide ein relativ gutes Einkommen, jedenfalls im Vergleich zu den normalen Verhältnissen, wie sei bei den Familien im Ferganatal herrschten. Die Kinder hatten ein gutes Zuhause und waren glücklich. Sie waren alt genug, sich Essen aufzuwärmen, sollte Fjodora noch nicht zu Hause sein, wenn sie aus der Schule kamen.

Kamil schellte und Fjodora öffnete die Haustür, Kamil umarmte seine alte Freundin, dann kam Boris, auch ihn umarmte er, er stellte mich vor und ich gab meinen neuen Gastgebern die Hand. Sie waren beide sehr freundlich und zuvorkommend, baten uns ins Haus und kochten Tee. Ich musste erzählen, was ich im Ferganatal machte und wohin ich reisen wollte. Das war mittlerweile eine lange Geschichte geworden, die mit der Restauration der alten Verhältnisse in Usbekistan endete. Auch in Margilan wäre gestreikt worden, sagte Boris, auch in ihrer Stadt hätten die Soldaten in den Nebenstraßen gehockt, neben ihren gepanzerten Fahrzeugen, die wegen Spritmangels am Straßenrand parkten. Auch in Margilan hätte es vereinzelt Übergriffe seitens der Soldaten gegeben, die aber sofort beendet worden wären.

Die Wiederwahl Karimovs hätte alle wie ein Schock getroffen, man müsste weitermachen, weiter gegen die Allüren des diktatorischen Herrschers kämpfen. Es ginge nicht an, dass viele Menschen im Ferganatal hungerten, während die herrschende Klasse in Taschkent in Saus und Braus lebte. Dann kamen die Kinder nach Hause. Fjodora stellte mich den Kindern vor. Ilja konnte schon in Grundzügen Englisch, zwischen Jelena und mir lief es nur mit Übersetzung.

Ich sagte, dass ich alles über Seide und Seidenproduktion lernen wollte, deshalb wäre ich nach Margilan gekommen, weil ich wusste, dass Margilan die Hauptstadt der usbekischen Seidenproduktion wäre. Da wäre ich ja bei Boris und ihr genau richtig gelandet, sagte Fjodora, sie wären beide vom Fach und würden in einer riesigen Seidenfabrik arbeiten. Sie hätte an der Universität in Namangan ihren Textilingenieur gemacht, Boris hätte BWL studiert und wäre in der Factory für Innovationen zuständig. Der Streik wäre für die Factory ein Schlag ins Kontor gewesen, Maschinen wurden angehalten, begonnene Seidenwebereien mussten weggeworfen werden.

Die Seidenproduktion wäre eine aufwändige Angelegenheit und erforderte viel Geschick, weil vieles noch Handarbeit war. Als wichtigster Seidenproduzent gälte der „Bombyx mori“, der Maulbeerspinner. Sein Kokon lieferte die von allen so geschätzte Maulbeerseide. Bevor sie aber weiter in die Materie der Seidenherstellung eindränge, sollten wir doch eine Kleinigkeit essen und trinken, sagte Fjodora. Kamil war noch da und setzte sich mit an den Esstisch. Ilja und Jelena schauten mich mit großen Augen an. Um ihnen die Angst und Skepsis zu nehmen, sprach ich mit Ilja auf Englisch über die Schule und gab ihm eine leichte mathematische Übungsaufgabe, Kamil übersetzte für Jelena. Jelena schrieb ich eine Aufgabe auf ein Blatt, sie löste sie sofort richtig. Ich lächelte die Kinder an, sie lächelten zurück, das Eis war gebrochen.

Ich hieße Paulo, sagte ich zu Ilja und Jelena. Dann nannten die Kinder ihre Namen. Boris war etwas zurückhaltend, er müsste nur auftauen, dachte ich. Es gab ein Nudelgericht mit viel Gemüse und wenig Fleisch, mir schmeckte es ausgezeichnet und das sagte ich Fjodora auch, sie freute sich über das Kompliment. Dann brach Kamil auf, wir umarmten uns und sagten, dass wir uns in Kürze wiedersähen, wenn wir zusammen zum Denkmal führen. Ich winkte Kamil draußen noch nach, dann war ich allein mit meiner neuen Gastfamilie. Boris wollte von mir wissen, wie das genau mit dem Denkmal abgelaufen wäre. Ich erzählte von dem ersten Anschlag, als dessen Folge wir das Denkmal neu errichten mussten und dem zweiten Attentatsversuch, bei dem der Geheimdienst meinen Hund erschossen hätte. Boris sagte, dass er mit Fjodora einmal beim Denkmal gewesen wäre, er hätte es als sehr ausdrucksstark empfunden, ich könnte stolz auf meine Skulptur sein. Ich erzählte von meinen ganzen Vorbereitungsarbeiten und meinem Besuch in Chirchiq mit Kamil. Fjodora erzählte von Boris und sich, wie sie sich an der Hochschule in Namangan kennengelernt hätten, wie sie beide eine kurze Zeit fast ohne Geld durchstehen mussten und sich lieben gelernt hätten. Nach dem Studium hätten sie geheiratet und sofort einen Job bei der „Margilan Silk Factory“ bekommen, wo sie bis in unsere Zeit, inzwischen schon zehn Jahre, arbeiteten. Die Arbeit machte ihnen Spaß, sie wäre relativ anspruchsvoll und würde einen fordern. Sie wären mit ihrer Fabrik der größte Seidenproduzent in ganz Zentralasien und hätten 15000 Mitarbeiter.

Der Kokon des Maulbeerspinners wäre der Ausgangsstoff für Bombyxseide. Fjodora und Boris wollten am nächsten Tag mit mir zu einigen Seidenraupenzüchtern fahren und mir zeigen, wie diese sich um die Eier des Maulbeespinners kümmerten und sie im Winter sorgfältig in kühler Umgebung aufbewahrten. Dann stiegen Fjodora, Boris, die Kinder und ich ins Auto und fuhren in die Stadt. Margilan wies keine hohen Häuser auf und war deshalb großflächig. Wir fuhren zum Bahnhof, in dessen Nähe die „Silk Factory“ lag, ein riesiges Firmengelände schloss sich dem Bahnhof an, es hatte natürlich einen Gleisanschluss. Fjodora und Boris zeigten mir die „Said-Ahmad-Chodja-Medrasa“, die seit dem 19. Jahrhundert bestand und folglich noch nicht sehr alt war, ferner gingen wir zur „Toron-Moschee“. Interessant war der Markt in Margilan. Es waren fast nur Frauen an den Verkaufsständen zu sehen, viele hatten nicht einmal einen Stand und saßen hinter ihrem frisch gehaltenen Gemüse am Wegesrand. Alle trugen bunte Kopftücher und lange bunte Kleider. Sie tranken Tee oder Wasser und schwatzten untereinander. Der Markt war brechend voll und die Frauen verkauften gut. Die Käufer hatten auf dem Markt, was das Gemüse anging, die absolute Frischhaltegarantie. Ich war auf meiner Reise immer gern auf Märkten, weil dort die Menschen in ihrem wahren Naturell anzutreffen waren. Sicher waren alle darauf aus, ihr Geschäft zu machen, nie vergaßen sie aber, dass ihr Gegenüber ein Mensch war, den man auch als solchen behandeln musste, hauten sie ihn übers Ohr, folgte irgendwann die Strafe für ihre Selbstsucht. Boris fuhr ein Stück die Stadt hinaus und zeigte mir die Maulbeerbaumanlagen.

„Morus alba“, der weiße Maulbeerbaum, war die Lieblingsspeise der Seidenspinnerraupe, sie verschlang Unmengen davon. Um ein Paar Seidenstrümpfe herzustellen, wurden etwa dreihundertfünfzig Kokons gebraucht, für ein Kleid benötigte man ungefähr ein halbes Kilogramm Seide oder tausendsiebenhundert Kokons. Um diese Konkons zu erhalten, musste man die Raupen mit fast sechzig Kilogramm Maulbeerblättern füttern! Das verdeutlichte schon, wie kostbar Seide war und auch sein musste. Die Seidenraupenzucht war für die Bauern der Umgebung der Seidenfabrik ein sehr gutes Zubrot.

Wenn die Kokons soweit herangereift waren, standen sie mit den schweren Kokonsäcken vor der Annahmestelle der Fabrik Schlange. Sie züchteten ihre Seidenspinnerraupen und nahmen nur die besten Exemplare, deren Eier sie dann überwinterten. Was machte die Seide so begehrenswert? Im Vergleich zu Wolle und Baumwolle hatte die Seide eine sehr geringe Dichte, weshalb sie leicht war und nicht auftrug, sie zeichnete sich durch eine relativ hohe Formbeständigkeit und hohe Elastizität aus, weshalb sie knitterfrei war, mehr als alle anderen Naturfasern. Seide isolierte sehr gut, wahrscheinlich schützte sie die Puppen im Konkon vor widrigen Witterungseinflüssen, sie hielt im Winter warm und kühlte im Sommer. Seide schimmerte und glänzte, sie nahm Farben sehr gut auf, sie absorbierte dreimal stärker als Nylon. Sie war, im Gegensatz zu synthetischen Stoffen, nicht brennbar. Ein Tau aus Seide könnte größere Gewichte tragen, als ein entsprechendes aus Stahl. Wir fuhren wieder in die Stadt und setzten uns in eine Teestube.

Fjodora und Boris fragten mich nach Ebu, wie gut ich ihn gekannt hätte. Ich sagte, dass Ebu ein sehr guter Freund gewesen wäre, das Bemerkenswerte daran wäre gewesen, dass sich unser Verhältnis in sehr kurzer Zeit entwickelt hätte. Ebu wäre so offen und aufrichtig gewesen, was auch sein Charisma ausgemacht hätte. Ich wäre eine Zeit lang mit ihm durch das Ferganatal gefahren und er hätte Reden gehalten, bis zu der legendären Rede in Yozyovon, bei der er erschossen worden wäre. Ich erzählte, wie ich in Namangan auf seiner Beerdigung gewesen wäre. Michail, sein Bruder, sähe Ebu sehr ähnlich, obwohl er noch nicht Ebus Ausstrahlung hätte, würde einmal ein großer Mann aus ihm, ich hätte ihn bei Reden erlebt, das wäre schon beeindruckend gewesen.

Als Ebu erschossen worden war, sagte Fjodora, wäre allen gewesen, als hätte sich ein großes Loch aufgetan, jeder hätte sich gefragt, wie es weitergehen sollte. In Margilan freute sich jeder, dass Michail Ebus Nachfolge angetreten hätte. Udima und Kamil wären ganz alte Freunde, sie wären schon in Fergana zusammen zur Schule gegangen. Fjodora wüsste noch, wie Kamil damals seinen Job als Elektroingenieur verloren hätte, das wäre geschehen, weil er den Mund nicht halten konnte und im Betrieb gegen Kamirov gewettert hätte. Trotz mehrmaliger Ermahnungen hätte Kamil weitergemacht und Mitarbeiter zu Demonstrationen gegen die Regierung angestachelt. Da wäre der Betriebsleiter zu ihm gekommen und hätte ihm die Papiere gegeben. Seitdem wäre Kamil arbeitslos. Zum Glück schienen Udima und er ein neues Standbein gefunden zu haben, ihre Puppen, Puppenwagen und Puppenhäuser verkauften sich ja sehr gut.

Ich kaufte ein paar Teilchen, die Kinder freuten sich, ich fragte erst hinterher, ob ich den Kindern Teilchen geben durfte. Das sähen sie nicht so eng, sagte Fjodora. Sie glaubte manchmal, dass Boris und sie zu lasch in der Erziehung ihrer Kinder wären, sie hätten sich schon öfter über Erziehungsfragen mit Bekannten unterhalten. Viele hätten Sprüche geklopft wie „Kinder müssen merken, wo die Grenzen liegen“ oder „Das durften wir früher auch nicht“ usw. Sie glaubten manchmal, nicht richtig gehört zu haben, wenn sie so etwas aus dem Munde gleichaltriger Bekannter vernehmen mussten. Beobachtete man aber solche Bekannten bei der Erziehung von deren Kindern, so entdeckte man die gleichen Fehler wie bei der eigenen Erziehung. Mittlerweile glaubten Boris und sie aber, dass das gar keine Fehler wären, wenn sie nicht streng wären, erzögen sie noch nicht schlecht. Da musste ich Fjodora recht geben. Ich hätte auch in Deutschland beobachtet, wie manche ihre Kinder im Beisein anderer maßregelten, sodass die Kinder verwirrt aufschauten, wenn sie dann allein waren, ließen sie den Kindern alles durchgehen. Ilja und Jelena machten jedenfalls einen völlig zufriedenen Eindruck.

Wir fuhren nach dem Tee nach Hause, es war kalt geworden, Fjodora und Boris hatten einen Kamin im Haus und hinten genug Holz gestapelt. Wir machten ein schönes Feuer und wärmten uns. Ich lief noch einmal los und ging zu dem Bäcker, den Fjodora mir genannt hatte, dort holte ich gutes frisches Brot. Wir deckten den Abendbrottisch und aßen die guten Sachen, die es bei Fjodora und Boris gab, Käse, gute Dauerwurst, Streichkäse, Quark und viel frisches Gemüse und Obst. So viel Gemüse und Obst wie ich im Ferganatal gegessen hatte, hatte ich, glaubte ich, mein ganzes Leben noch nicht gegessen. Es schmeckte aber auch wirklich ausgezeichnet, in der Beziehung war das Tal wirklich ein Paradies!

Boris holte ein paar Flaschen Bier zum Essen, er fragte mich, ob ich auch Bier tränke. Ich antwortete, dass ich aus Deutschland stammte, einem Land, das mehr als tausenddreihundert Brauereien hätte, natürlich tränke ich Bier und nahm mir eine Flasche. Fjodora trank auch Bier, sie bemerkte meinen erstaunten Blick und sagte, dass sie sich das Biertrinken nach dem Studium angewöhnt hätte, sie würde aber auch Wodka und Wein trinken. In Usbekistan würden die Regeln des Islam, zumindest was das Alkoholtrinken anbelangte, nicht so streng ausgelegt wie zum Beispiel im Iran. Den Menschen müssten schon ein paar Vergnügungen bleiben. Solange man sich beim Alkoholtrinken im Griff hätte, wäre dagegen auch nichts einzuwenden. Ich erzählte, wie wir bei Udima und Kamil so manchen feuchtfröhlichen Abend verbracht hätten, aber nie wäre jemand völlig ausgerastet. Um 22.30 h ging ich in das für mich bereitgestellte Zimmer.

Am Morgen lief ich zu dem Bäcker, den ich schon kannte und kaufte Brötchen. Es war noch sehr früh, sodass die Kinder noch mit am Frühstückstisch saßen. Wir wollten an dem Morgen einen Seidenraupenzüchter besuchen, den Fjodora und Boris kannten. Nachdem die Kinder zur Schule unterwegs waren, räumten wir den Tisch ab und fuhren aus der Stadt hinaus. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten wir eine kleine Hofanlage, die inmitten einer riesigen Maulberbaumplantage lag. Als wir auf den Hof einbogen, kam uns ein Mann entgegen, dem der Hof offensichtlich gehörte. Er war ein wenig älter als Fjodora und Boris, ich schätzte ihn auf Ende dreißig. Als er Fjodora und Boris erkannte, freute er sich, sie zu sehen. Boris stellte mich vor und sagte, dass ich ein wissbegieriger Deutscher wäre, der alles über die Seidenherstellung erfahren wollte. Er hätte gedacht, dass man da am besten zu einem traditionellen Seidenraupenzüchter führe. Der Züchter stellte sich mir als Ismail vor, ich sagte, dass ich Paulo hieße. Boris übersetzte alles, was Ismail erzählte. Ismail begann seinen Vortrag, indem er von der Paarung der Seidenspinner berichtete. Die Parung erfolgte meistens in den Morgenstunden. Die Begattung fand sofort nach dem Schlüpfen statt und dauerte mehrere Stunden. Die Weibchen würden dazu auf eine Unterlage gebracht und die Männchen darüber geschüttet. Ein Männchen könnte bis zu zwei Weibchen begatten. Die Mindesttemperatur müsste 20°C betragen. In speziellen Fällen wäre Individualpaarung möglich, wenn erforderlich, erfolgte vor jeder Paarung eine Auslese, eine physiologische Zuchtwahl also. Kleine, inaktive und kranke Falter würden ausgesondert. Nach sieben Tagen des Brütens legten die Weibchen zweihundertfünfzig bis dreihundert Eier, aus denen weitere acht Tage später kleine Seidenraupen schlüpften, wenn sie nicht in Ismails Nebengebäude überwinterten. Man konnte annuale Rassen, das hieß einbrütige Rassen oder voltine Rassen - mehrbrütige Rassen verwenden, letzteres lag im Interesse des Züchters, der so mehrere Kokonernten pro Jahr einfahren konnte. Die Embryonalentwicklung wurde gefördert mit mechanischer Behandlung der Eier durch Reiben und Bürsten unter Wasser. Diese Behandlungsmethode müsste möglichst sofort nach der Eiablage erfolgen. Es gab dazu große Wasserbecken, an denen Ismails Frau und seine Kinder standen. Ferner gab es die Möglichkeit einer chemischen Behandlung der Eier, das hieß, dass die Eier für fünfzehn Minuten in ein schwaches Salzsäurebad gebracht wurden - zwei Teile HCL, ein Teil H2O, im Anschluss war eine gründliche Waschung erforderlich. Das hätte Ismail einmal ausprobiert, hätte dann aber wieder davon abgelassen, nachdem ihm zu viele Eier eingegangen waren. Als dritte Möglichkeit der Embryonalpflege gab es die Behandlung mit Bündellicht, das war ein Licht, das bei Spitzenentladungen, zum Beispiel bei Blitzen an Masten entstand. Die Eier wurden dem Licht eine bis zwei Minuten ausgesetzt, doch auch davon hatte Ismail sich abgewandt. Er bevorzugte die mechanische Behandlung der Eier. Es gab auch Versuche, die Eier einer Bestrahlung mit ultraviolettem Licht auszusetzen, was auch Erfolge versprach. Die Forschungen auf diesem Gebiet steckten aber noch in den Kinderschuhen, für Ismail kam ultraviolettes Licht nicht in Frage.

Wir verließen Ismails Nebengebäude wieder, das ein einfaches Bretterhaus war. Wir gingen zu seinem Wohnhaus und tranken in seinem Wohnzimmer Tee. Ismails Kinder waren in der Schule, sie mussten mit den Fahrrädern nach Margilan fahren, bei schlechtem Wetter fuhr Ismails Frau sie mit dem Auto. Ismail hatte in gemütliches Wohnhaus, das vollkommen eingebettet war in die Maulberbaumplantage. Die Raupen des Seidenspinners waren monophag, das hieß, sie fraßen nur eine Speise, die Blätter des weißen Maulbeerbaumes und davon reichlich. Nach der Eiablage wurden die Eier von der jeweiligen Unterlage in einem Wasserbad gelöst, das Wasser löste den natürlichen Klebstoff, mit dem die Eier angeheftet waren. Die lebenden Eier sanken in dem Wasser nach unten, tote konnten schwimmend eingesammelt werden. Das Wasserbad musste die gleiche Temperatur haben wie die Umgebung, damit kein Reiz entstand, das Embryonalstadium fortzusetzen. Die Eier annualer Rassen wurden nach der Trocknung auf die Ruhezeit vorbereitet, dazu kamen sie in einen Kühlschrank, wo sie bei drei bis fünf Grad aufbewahrt wurden. Zwei bis drei Wochen vor dem Schlupf wurden die Eier langsam der normalen Raumtemperatur ausgesetzt. Nachdem die Raupen geschlüpft waren, begann die Zeit des Fütterns. Die Entwicklung des Embryos im Ei war bei annualen und voltinen Rassen unterschiedlich.

Bei ersteren waren die Eier gelb und saftig, um nach zwei bis drei Tagen grau zu werden, mit dieser Verfärbung wurde die Entwicklung sicher angezeigt. Die Entwicklung blieb aber für zehn Monate auf einem sehr frühen Entwicklungsstadium stehen, das Ei trat in eine Zwischenpause ein, die sogenannte Diapause. Bei den voltinen Rassen blieben die Eier gelb, die Embryonalentwicklung erfolgte ohne Unterbrechung bis zum Schlupf, der nach einer bis zwei Wochen stattfand. Ismail beendete seinen Vortrag und vertröstete uns auf den nächsten Tag, an dem wir noch einmal wiederkommen sollten, dann wollte er uns den Rest erzählen.

Wir verabschiedeten uns von ihm und seiner Frau und fuhren nach Margilan zurück. Als wir zu Hause ankamen, waren die Kinder schon da und machten Schulaufgaben. Fjodora machte ihnen schnell etwas zu essen, ich ging nach hinten und holte Holz für den Kamin. Es war bitterkalt draußen, auf den Gehwegen hatte sich in den Pfützen Eis gebildet. Ich steckte den Kamin an, der zu Beginn etwas qualmte, dann aber gut durchzog, wir wärmten uns alle. Boris und ich aßen nur eine Kleinigkeit, Fjodora aß mit den Kindern. Ich fragte Ilja ganz langsam, sodass er mich auch verstand, was er in der Schule gelernt hätte und welches sein Lieblingsfach wäre. Ilja überlegte kurz, dann sagte er, dass sie in Mathematik mit Algebra angefangen hätten und in Englisch einfache Übersetzungen und Leseübungen machten. Sein Lieblingsfach wäre aber Sport.

Jelena merkte, dass ich mich fast ausschließlich mit Ilja befasste und machte auf sich aufmerksam. Ich gab ihr eine einfache Matheaufgabe, die sie schnell löste. Dann fragte Fjodora sie nach ihrem Lieblingsfach, Kunst wäre ihr Lieblingsfach, und Jelena fing nach dem Essen sofort an zu malen. Ich hatte in der Schule auch sehr gerne Kunst. Viele mochten das Fach nicht, weil sie sich für unbegabt hielten und glaubten, nichts produzieren zu können. Ich mochte die Kunstgeschichte sehr, ich malte auch gerne. Wenn wir in der Schule Skulpturen fertigten, meistens aus Holz, Ton oder Metall, ging ich aus mir heraus. Ich entwarf die wildesten Modelle und war sehr fantasievoll. Meine Kunstlehrer wussten das zu schätzen und gaben mir immer gute Noten. Jelena malte mit Wasserfarben. Sie hatte ein gutes Auge für den Farbauftrag, mischte Farben zusammen und benutzte sogar Deckweiß. Als sie fertig war, konnte ich eine Stadt erkennen, in der viele Soldaten zu sehen waren. Das wäre Margilan während des Generalstreiks gewesen, sagte Jelena. Hätte das Bild nicht so einen traurigen Hintergrund gehabt, ich hätte Jelena aufgefordert, es in ihrem Zimmer aufzuhängen, so ausgewogen und inhaltsstark war es. Ich lobte Jelena wegen des Bildes und fragte sie nach ihrer Note in Kunst. Sie sagte, dass sie eine Zehn hätte, was in Deutschland einer Eins entsprach. Ilja saß oft am Computer und spielte irgendetwas. Ich sagte ihm, dass er doch einmal zu schreiben anfangen sollte, kurze Geschichten, die ihm einfielen oder Erinnerungen an Urlaube oder schöne Erlebnisse. Ilja sagte, dass er mit der Tastatur noch nicht so gut zurechtkäme. Ich entgegnete, dass das umso besser klappen würde, je häufiger er schriebe und seine Fehler korrigierte. Wenn er wollte, könnte ich ja einmal mit ihm üben, bot ich ihm an. Ilja war einverstanden und ich gab ihm einen kurzen Text aus der Tageszeitung, den er abtippen sollte. Ich gab ihm fünf Minuten Zeit. Ilja konzentrierte sich, er tippte langsam, fluchte, wenn er sich verschrieb und korrigierte Fehler sofort. Nach fünf Minuten setzte ich mich vor seinen Bildschirm und verglich das, was er geschrieben hatte, mit dem Original. Ich fand noch zwei Fehler. Das wäre doch sehr gut, sagte ich zu Ilja, der stolz lächelte. Wenn er das jeden Tag übte, sich eine kurze Zeit setzte, so um die fünf Minuten für einen Kurztext, dann würde er sich extrem verbessern und schnell die Tastatur beherrschen. Ilja sagte daraufhin, dass er von da an üben wollte. Er wollte so lange üben, bis er in der Lage wäre, eine Geschichte zu schreiben.

Ich fragte Jelena und Ilja, ob sie mit zum Bäcker gingen. Sie wollten beide mit. Wir zogen unsere warmen Sachen an und zogen los. Ich kaufte den beiden ein Teilchen auf die Hand und für uns alle Kuchen zum Tee. Fjodora hatte inzwischen Tee gekocht. Wir setzten uns alle ins Wohnzimmer und tranken ihn. Ich könnte ja sehr gut mit Kindern umgehen, sagte Boris dann, woher ich denn diese Fähigkeit hätte, wollte er wissen. Ich sagte, dass ich keine Ahnung hätte, das läge mir nun einmal. Ich sollte mir überlegen, Lehrer zu werden, meinte Boris. Ich erwiderte, dass ich daran gedacht hätte, Philosophie zu studieren, mich aber noch nicht entschieden hätte. Es wäre ja auch noch Zeit damit.

Fjodora sagte, sie hätte gehört, dass ich mit Ebu in Andizhan und in Asaka gewesen wäre und dass in den Städten Frauengruppen gegründet worden wären, ob ich damit zu tun gehabt hätte. Ich sagte, dass die Gründung von Frauengruppen Ebus Verdienst gewesen wäre, er wäre absoluter Anhänger der Idee von der Gleichberechtigung der Frau gewesen. Er hätte gewusst, damit gegen ein jahrhundertealtes Prinzip zu verstoßen, das war ihm aber egal. Seine Initiative stieß auf einen ungeahnten Widerhall und es hätte natürlich auch Gegenbewegungen gegeben. Einmal wäre am Abend des ersten Frauentreffens in Andizhan eine Frau mit eingeschlagenen Zähnen erschienen.

Ebu und ich hätten deren Mann, der kurze Zeit später erschien, beruhigen müssen. Die Frauengruppe wäre ein sagenhafter Erfolg geworden, auch in Asaka. In Fergana hätte Udima gerade damit begonnen, Frauenarbeit zu leisten. Sie würde dazu ihren Laden zur Verfügung stellen. Kamil und ich wären einmal dabei gewesen und ich hätte etwas über das Denkmal erzählt. Es wäre beeindruckend gewesen, zu sehen, wie viele Frauen dort gesessen hätten. Ich fragte Fjodora, ob sie nicht auch schon einmal an so etwas gedacht hätte. Fjodora überlegte, Boris sah sie an, dann sagte sie, dass ihr schon einmal so etwas in den Sinn gekommen wäre, sie sich aber nicht getraut hätte. Boris sagte, dass sie ihm nie davon erzählt hätte. Fjodora entgegnete, dass das ja auch völlig unausgegoren gewesen wäre. Sie müsste eine Räumlichkeit haben und für ein Treffen werben, dann müsste sie sich eine Schutztruppe aus Männern zusammenstellen, die sie vor wild gewordenen Ehemännern beschützten, warf ich ein. Ich glaubte, aufgrund meiner Beobachtungen sagen zu können, dass auch in Margilan ein großes Bedürfnis der Frauen nach solchen Gruppen bestand.

Fjodora nahm sich vor, sich verstärkt für Frauengruppen einsetzen zu wollen.

An diesem Abend wollte ich einen Lammgulasch kochen und ging zu dem Zweck mit Ilja und Jelena einkaufen. Vorher fragte ich Fjodora, was sie alles im Haus hätte. Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch und Gewürze waren ausreichend vorhanden, ich musste nur das Fleisch, Salat und Getränke kaufen. Wir nahmen einen Bollerwagen mit, mit dem Ilja früher gespielt hatte und auf den wir unsere Sachen legen konnten. Zweihundert Meter weiter gab es einen Supermarkt, nebenan lag der Metzger, zu dem wir zuerst gingen. Ich ließ mir ein gutes Stück Lammfleisch geben, die Kinder bekamen jeder ein Stück Dauerwurst. Dann gingen wir zum Supermarkt. Dort kauften wir Salat, Bier und Wein, auch eine Flasche Wodka nahm ich mit. Nachdem wir alles auf dem Bollerwagen verstaut hatten, schoben wir wieder nach Hause. Ich begab mich sofort in die Küche, Fjodora fragte, ob sie helfen könnte und ich sagte ihr, dass sie Kartoffeln schälen könnte. Boris deckte mit den Kindern den Tisch. Ich schnitt das Fleisch in mundgerechte Stücke und briet diese scharf in Öl an. Anschließend fügte ich Zwiebeln und Knoblauch hinzu und goss etwas Brühe an. Ich salzte und pfefferte und gab Tomaten zu dem Fleisch. Auf kleiner Flamme ließ ich dann alles eineinhalb Stunden schmoren, zum Schluss verquirlte ich etwas Mehl mit Sahne und gab diese Mischung zu dem Fleisch, fertig. Zwischenzeitlich hatte ich den Salat gewaschen und trocken geschleudert. Dazu legte ich den noch nassen Salat in ein Küchenhandtuch und schleudert das Handtuch dann in großen Drehbewegungen, bis der Salat kein Wasser mehr abgab, das machte ich natürlich draußen. Ich machte eine Salatsauce aus Essig, Öl, Salz, Pfeffer und saurer Sahne und schüttete sie über den Salat. Ich nahm aus Fjodoras Garten Schnittlauch und fügte ihn hinzu. Die Kartoffeln waren fertig und es konnte gegessen werden.

Ich wurde hoch gelobt, das Essen schmeckte ausgezeichnet, sagten alle. Die Kinder aßen, als gäbe es bald nichts mehr. Ich hatte einen Schuss Rotwein an das Lamm gegeben, der aber verkocht war, sodass die Kinder keinen Alkohol zu sich nahmen. Fjodora holte zum Nachtisch Eis aus ihrer Gefriertruhe, das war eine gute Sache, ich hatte sehr lange schon kein Eis mehr gegessen. Boris hielt sich den Bauch, er hätte wohl zuviel in sich hineingestopft, meinte er, er wäre jedenfalls unglaublich voll gefressen.

Wir tranken Rotwein zum Essen und machten hinterher die Wodkaflasche auf. Der Schnaps tat gut, jedenfalls einer, wir ließen es aber nicht bei einem bewenden. Es gab auch noch Bier, am frühen Abend waren wir Drei ganz schön angeheitert. Zum Glück waren die Kinder schon im Bett und mussten nicht mit ansehen, wie ihre Eltern und ich uns durch die Wohnung schleppten. Wir räumten mit Mühe den Tisch ab und gingen dann ins Bett, es war 21.30 h, ich schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen fuhren wir wieder zu Ismail. Fjodora war früh mit den Kindern aufgestanden, was ihr nicht leicht gefallen war. Boris und ich standen eine Stunde später auf, als die Kinder schon in der Schule waren. Ismail fuhr mit seinem Vortrag über die Zucht der Seidenraupen fort, nachdem wir ihn und seine Frau begrüßt hatten. Ismail hätte auch polyvoltine Rassen, die kurz vor dem Schlupf stünden, sagte er. Die meisten Eier lagen aber bei ihm ihm Kühlschrank bei drei Grad. Sie würden dort noch einige Monate bleiben, bis er sie langsam an die Umgebungstemperatur gewöhnte. Dann schlüpfte ein kleiner schwarzer Caterpillar, circa 0.45 mg schwer. Aufgrund der enormen Gewichtszunahme um das 10000-Fache müsste die chitinisierte Körperdecke viermal abgeworfen und erneuert werden. Die Zeitperiode zwischen dem Schlüpfen der Raupe bis zur ersten Häutung bzw. zwischen den einzelnen Häutungen wurde als „Instar“ bezeichnet. Mit dem Ende des fünften „Instars“ machte die gefüllte Seidendrüse etwa vierzig Prozent des Gesamtkörpergewichts aus, die Raupe war dann spinnreif. Während des ersten „Instars“, vom ersten bis zum vierten Lebenstag, bekamen die Raupen, die noch Schwärzlinge genannt wurden, fein geschnittene Maulbeerbaumblätter, die vorsichtig verteilt wurden. Dann erfolgte am fünften Tag die erste Häutung. Der zweite „Instar“ dauerte vom sechsten bis zum neunten Lebenstag. Am sechsten und am neunten Lebenstag wurden die Raupen umgebettet und ihr Lager wurde gereinigt. Die Blattgaben nahmen zu. Es erfolgte am zehnten Tag die zweite Häutung. Der dritte „Instar“ dauerte vom elften bis zum fünfzehnten Lebenstag. Am elften und am fünfzehnten Tag wurden die Raupen umgebettet, ab dem vierzehnten Tag konnten größere Blätter gefüttert werden. Am sechzehnten Tag fand die dritte Häutung statt, es folgte der vierte „Instar“, der vom siebzehnten bis zum dreiundzwanzigsten Lebenstag dauerte. Umbettungen folgten am siebzehnten, neunzehnten, einundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten Tag. Es wurden ganze Blätter und kleine Zweige gefüttert, kleine und kranke Raupen wurden ausgelesen. Es musste für ausreichende Belüftung und für ausreichend Raum gesorgt werden. Am vierundzwanzigsten oder fünfundzwanzigsten Tag häutete sich die Raupe zum vierten Male, der fünfte und letzte „Instar“ begann, er dauerte vom sechsundzwanzigsten bis zum zweiunddreißigsten Tag. Umbettungen erfolgten am sechsundzwanzigsten, siebenundzwanzigsten, dreißigsten und zweiunddreißigsten Tag. Fortlaufend wurde das Lager gereinigt und kontrolliert.

Das war die Phase, in der höchster Arbeitskräftebedarf für Fütterung und Reinigung bestand. Am dreiunddreißigsten Tag bereiteten sich die Raupen durch unruhiges Gebaren auf das Einspinnen vor. Sie wurden alabasterartig durchscheinend und schrumpften durch Ausscheidung von Darmflüssigkeit.

Alle diese Handlungen waren in China seit Jahrtausenden ritualisiert, sagte Ismail. Am vierunddreißigsten Tag, wenn die Raupen spinnreif waren, wurde vorsichtig ein Spinnrahmen aus Holz, Reisig oder Stroh auf das Raupenlager gesetzt. Es wurden nur so viele Blätter gefüttert, wie auch tatsächlich gefressen wurden. Man durfte die mit Einspinnen bereits beschäftigten Raupen nicht stören, man musste Lärm, Erschütterungen, direktes Licht und Staub vermeiden. Am fünfunddreißigsten Tag befanden sich so gut wie alle Raupen zum Einspinnen auf dem Spinnrahmen. Noch umher kriechende Raupen wurden auf den Rahmen gesetzt. Am zweiundvierzigsten Tag wurden Raupen, die noch nicht mit dem Spinnen begonnen hatten, aufgelesen und auf besondere Hürden gesetzt. Am fünfundvierzigsten Tag, zehn Tage nach dem Beginn des Einspinnens, waren die Kokons reif. Sie wurden vorsichtig entfernt und zum Trocknen luftig gelagert. An dieser Stelle endete Ismail für den Tag.

Es war Mittag geworden und wir liefen zu Ismails Haus, wo wir Tee tranken.

Ismails Frau hatte ein schönes Feuer in der Feuerstelle gemacht, an dem wir uns wärmten. Sie hatte Kuchen gebacken und gab uns davon. Der arme Boris hatte die ganze Zeit übersetzt und war richtig geschafft. Ich dankte ihm. Der Kuchen schmeckte sehr gut und ich gab das Ismails Frau zu verstehen. Dann brachen wir ab und verabschiedeten uns von Ismail und seiner Frau bis zum nächsten Tag, dem letzten Vortragstag über die Seidenrupenzucht. Wir nahmen uns vor, den beiden ein Geschenk zu machen, wir mussten uns in Margilan einmal umschauen. Doch zuerst fuhren wir nach Hause, wo schon die Kinder saßen und auf das Essen warteten. Fjodora machte schnell etwas vom Lammgulasch warm, das reichte für die beiden noch. Dann machten sie Schulaufgaben.

Am Nachmittag gingen wir alle in die Stadt und überlegten, was wir Ismail und seiner Frau schenken könnten, auch die Kinder dachten nach. Wir liefen über den Wochenmarkt und kamen an einen Stand mit Töpferwaren. Dort kauften wir eine schöne große Salatschüssel, darüber würden sich Ismail und seine Frau sicher freuen. Die keramischen Produkte waren typisch für die Gegend und von erlesener Qualität. Wir waren froh, ein Geschenk gefunden zu haben. Sogar die Kinder fanden die Keramikschüssel schön. Wie liefen zu unserer Teestube und bestellten Gebäck und Tee. Anschließend liefen wir wieder nach Hause, wo sich Ilja sofort an seinen PC setzte, um tippen zu lernen.

Er nahm sich einen kurzen Zeitungsartikel und fragte mich, in welcher Zeit er den abtippen sollte. Ich sagte, dass er sich fünf Minuten setzen sollte. Ilja tippte sehr zurückhaltend und fehlervermeidend, er sah sich nach fünf Minuten das Geschriebene an. Er nahm leichte Korrekturen vor, war aber insgesamt sehr zufrieden. Wenn er noch zwei Wochen lang übte, sagte ich ihm, dann könnte er tippen. Wir aßen zu Abend und gingen früh schlafen.

Als die Kinder am nächsten Morgen in der Schule waren, fuhren wir raus zu Ismail. Er wartete schon auf uns. Wir gaben ihm und seiner Frau unser Geschenk, Ismails Frau war sehr angetan, auch Ismail freute sich. Er setzte seinen Vortrag vom Vortag fort und fing an, etwas über den eigentlichen Seidenfaden zu erzählen, aus dem die Raupen ihren Kokon bildeten. In zwei Drüsen am Unterkiefer, den „Mandibeln“, wurde das Protein „Fibroin“ gebildet.

Diese beiden „Fibroinstränge“ wurden durch den Seidenleim „Sericin“ verbunden, welcher von zwei weiteren Drüsen am Unterkiefer gebildet wurde. Anschließend wurde der Seidenfaden aus der Spinndrüse am Ende des Kopfes herausgedrückt. Die Raupe bewegte ihren Kopf von Seite zu Seite und bildete so den Kokon. Wenn das „Sericin“ mit der Luft reagierte, erhärtete der Kokon. In zwei bis drei Tagen hatten die Raupen einen Seidenfaden von annähernd tausendfünfhundert Metern Länge gebildet und sich so mit einem Kokon umgeben. Wenn das Spinnen des Fadens aufhörte, wurden die Kokons von den Spinnrahmen genommen und in einen Korb gelegt, der mit einem Tuch gegen Insektenbefall abgedeckt war. Die Kokons mussten innerhalb von zehn Tagen aufgehaspelt werden, sonst schlüpften die Falter und würden den Seidenfaden zerstören. Alle Kokons, die beschädigt oder infiziert waren, wurden vor dem Aufhaspeln entfernt und einige gesunde Kokons wurden zurückbehalten, um den Brutzyklus aufrechtzuerhalten.

Die Gewinnung der Rohseide setzte sich aus verschiedenen Arbeitsgängen zusammen, dem Ernten der Kokons, dem Abtöten der Puppen durch Hitze, dem Trocknen, Entflocken, Sortieren und Kochen der Kokons zum Aufweichen des „Sericins“ und dem Aufhaspeln, dem Aufwickeln des Seidenfadens. Es wurden jeweils acht bis zehn Konkonfilamente zusammengehaspelt, die anschließend einen einzigen Seidenfaden bildeten. Einzelne Kokonfilamente wiesen eine Länge von achthundert Metern auf. Für die Produktion von einem Kilogramm Rohseide waren zehn bis elf Kilogramm Kokons nötig. Je nach Rasse hatten hundert Seidenraupen während ihrer Lebenszeit bis zu vierhundertfünfzig Kilogramm Maulbeerbaumblätter gefressen. Die Puppen zersetzten den Seidenfaden an einem Ende des Kokons, sodass sie schlüpfen konnten weshalb die Seide solcher Kokons nicht so wertvoll war. Für die Züchter wurde es interessant, wenn die Puppen schlüpften. Entsprechend der Aufgabenstellung, entweder die Erzeugung von Eiern reiner Rassen oder von Eiern durch Kreuzungen, wurden die ausgewählten Kokons entweder auf Rahmen oder Zuchthürden ausgebreitet oder aufgebracht. Bei gezielten Paarungen wurden die Kokons vor dem Schlupf in gekennzeichneten Einzelbehältern, den Isolatoren, untergebracht. Der Weg vom Kokon bis zur Seidenraupe war noch lang. Wie schon erwähnt, wurden die Raupen in den Kokons getötet.

In Indien wurden die Kokons manchmal in der Sonne getrocknet und die Raupen so abgetötet. Im Regelfall wurden die Kokons aber gekocht oder mit heißem Wasserdampf behandelt. Während des Kochens löste sich das „Sericin“ auf, sodass der Faden aufgehaspelt werden konnte. Das heiße Wasser legte die Seidenfilamente frei, sie wurden durch eine gegabelte Weblade gezogen und dann zu einem einzigen Seidenfaden verzwirnt. Der Strang wurde über eine Führungsrolle gezogen und dann auf eine Bambusrolle gewickelt oder in einen Korb gehaspelt. Eine erfahrene Seidenspulerin fühlte, ob sich die Fadenstärke veränderte, wenn sie den Strang durch ihre Finger gleiten ließ. Nahm die Stärke ab, fügte sie neue Filamente hinzu. Handgehaspelte Seide war abgerundet in ihrer Beschaffenheit und hatte eine besondere Ausstrahlung, die wichtig war für den Charakter der Seide.

Das gleichmäßige Erscheinungsbild des Gewebes stellte sicher, dass es sehr gut Farbe annahm, es war die kostbarste Seide. Alle anderen Arten der Seidenherstellung brachten minderwertigere Seide hervor, zum Beispiel wurde Bouretteseide aus Produktionsresten gewonnen. Durch das Kürzen der Fasern enthielt Bouretteseide immer Reste des Kokons und des Seidenleims. Die Schappeseide wurde aus mittleren Faserlängen von bis zu fünfzehn Zentimetern gewonnen. Die Tussahseide hatte einen gröberen goldgelben Faden mit weniger feiner Struktur. Tussahseide war dicker und weniger glänzend. Ihre Farben wirkten gebrochen. Zum Schluss gab Ismail uns ein Merkblatt, auf dem Wissenswertes über Seide festgehalten war, Boris übersetzte.

Ein halbes Kilogramm Raupen fraß im Laufe seines Lebens bis zu 12000 Kilogramm Maulbeebaumblätter, ein Seidenspinner verzehrte von seiner Geburt bis zu seiner Verpuppung das 40000-fache seines Körpergewichtes, der Faden des Kokons hatte eine durchschnittliche Stärke von zwanzig Mikrometern, die Länge eine Kokonfadens konnte viertausend Meter erreichen, man benötigte mehr als fünfundzwanzig Maulbeerbäume, um drei Kilogramm Seide zu gewinnen, ein Seidenspinner konnte bis zu fünfzehn Meter pro Minute spinnen, er steigerte innerhalb der vier Wochen nach seiner Geburt sein Gewicht um das 12000-Fache, er steigerte innerhalb dieses Zeitraumes seine Größe um das Fünfundzwanzigfache. Dann erzählte Ismail von Thailand, wo die Seidenraupen gegessen wurden, in armen Dörfern waren die Seidenraupen eine wichtige Proteinquelle für die Kinder und Erwachsenen. Oftmals wurden die Raupen zu einer Paste verarbeitet und mit Chili, Knoblauch, Salz und Schalotten angereichert. Oder sie wurden in Bananenblättern mit Kräutern und Gewürzen geröstet. In China wurden die Puppen im Backofen gebacken, bis sie trocken waren, dann wurden sie mit Ingwer, Zwiebeln, Reiswein und Knoblauch gebraten. Man war dort davon überzeugt, dass das Essen von Seidenraupen gegen Rheumatismus half. Die Reste der Seidenproduktion wurden auch genutzt, so nahm man Blattreste, Raupenbast und Häutungshüllen als Schweinefutter, die ausgesonderten Puppen gab man dem Geflügel.

Wir liefen wieder zum Wohnhaus zurück, ich bedankte mich bei Ismail für drei sehr lehrreiche Tage. Ismails Frau hatte ein Feuer im Kamin gemacht, es war angenehm warm im Raum. Wir saßen bei Tee und Gebäck, als Ismail sagte, dass Fjodora mir alles über die Seidenweberei erzählen könnte, er wäre nur für die Kokons zuständig. Ab und zu würde er eine Rolle Seide aufhaspeln und seine Frau würde daraus etwas weben. Sie hätten im Nebenzimmer noch einen alten, aber voll funktionsfähigen Webstuhl stehen. Seine Frau hätte schon vieles gewebt, das schönste wäre ein Kleid, an dem sie fast zwei Jahre gesessen hätte. Wir baten sie, ihr Kleid doch einmal anzuziehen. Sie zierte sich zuerst und wollte nicht so richtig. Nach langem Überreden ging sie schließlich in ihr Schlafzimmer und zog ihr kostbares Kleid an.

Als sie wieder erschien, stockte mir fast der Atem, ich hatte noch nie ein so schönes Kleid gesehen. Die Farben leuchteten in ihrer Intensität, ein solch kräftiges Blau, Rot, Gelb und Grün, ein einziges intensives Farbspiel. Ismails Frau drehte sich, um uns ihr Kleid von allen Seiten zu zeigen. Auch Fjodora war außer sich vor Bewunderung und Staunen. Sie fragte Ismails Frau, ob sie das Kleid einmal anprobieren dürfte. Dann verschwanden die beiden Frauen im Schlafzimmer. Fjodora saß das Kleid wie angegossen, es betonte ihre an sich gute Figur. Boris machte seiner Frau Komplimente. Ich fragte, was so ein Kleid wohl kosten würde.

Ismail sagte, dass in dem Kleid so viel Arbeit steckte, dass es praktisch unbezahlbar wäre.

Das also war Seide, der kostbare Stoff, von dem die Seidenstraße ihren Namen hatte.

Der Seidenstoff wurden natürlich gewebt, was die eigentliche Arbeit der Seidenproduzenten war, sie stellten die Stoffe her, hinter denen alle her waren. In satten Farben erstrahlten die Stoffe. An Holzstangen hängend tauchten die Färber die Stoffe in das brodelnde Färbebad. Sie wendeten das Material von Zeit zu Zeit, damit sich eine gleichmäßige Farbsättigung ergab. Die Arbeit des Färbers war nicht leicht und auch nicht ungefährlich.

Die Farben waren zwar Naturfarben, ihre beizenden Zusatzstoffe griffen aber die Schleimhäute an. Nach entsprechender Vorbereitung war die Seide extrem aufnahmefähig für Farben. Zusammen mit dem Glanz des Materials ergab sich eine Leuchtkraft, die unerreicht war.

Wir bedankten uns bei Ismail und seiner Frau und verließen die beiden dann. Wir hatten einen dreitägigen Fortbildungskurs zur Seidenherstellung hinter uns gebracht. Für Fjodora als Fachfrau war das eine Auffrischung ihrer Kenntnisse, für Boris und mich, aber besonders für mich, war es das Betreten von Neuland. Wir fuhren durch die ausgedehnten Pflanzungen von Maulbeerbäumen nach Margilan zurück. Ich hatte beschlossen, am nächsten Tag zu Rafik hinauszufahren und mit ihm das Denkmal zu besuchen. Als wir bei Fjodora und Boris angekommen waren, rief ich Rafik an und verabredete mich mit ihm, Boris übersetzte für mich. Ilja saß schon wieder am PC und übte Tippen. Er war ein verbissener Typ, der, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, so lange daran arbeitete, bis es beendet war. So war das auch mit seinem Tipptraining. Niemand durfte Ilja in dem Moment stören.