Paulo wird Studienrat und reist (2) - HaMuJu - E-Book

Paulo wird Studienrat und reist (2) E-Book

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Beschreibung

Paulo Köhler unternimmt eine Kurzreise und zwei große Fernreisen, auf denen er eine Antwort auf seine Frage nach seinem Lebensziel zu finden hofft, er wird fündig und sieht vieles klarer, als er wieder zu Hause ist und über sich nachdenkt. Er macht die Erfahrung, dass gefestigt geglaubte Freundschaften plötzlich im Urlaub brüchig werden können.

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Paulo wird Studienrat und reist (2)

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Urlaubskonflikte

Bundeswehr

Siegen

Goch Referendariat

El viaje grande

„Pedro und seine Lamas

Kaethe-Kollwitz-Gymnasium

Demonstration

Hommage an Frankreich

Mit Stefan in die Bretagne

Mit Tina ins Zentralmassiv

Mit Joach nach Aix-en-Provence

Charles-August Dutronc

Impressum neobooks

Urlaubskonflikte

Die Reisen hatten eins gezeigt: wahre Freundschaft gründete immer auf intensivste gemeinsame Erlebnisse. Solche Erlebnisse bieten sich am ehesten in gemeinsamen Urlauben. Urlaube zwingen die Teilnehmer, Probleme, die sich stellen, entweder gemeinsam zu lösen, oder aber den Problemen aus dem Wege zu gehen, und das hieß in aller Regel, den Urlaub abzubrechen.

So hatte ich es einmal mit Reinhold Horst erlebt, als wir zusammen nach Schottland geflogen waren und dann weiter trampten, um nach Irland überzusetzen (siehe oben!). Wir gerieten uns schnell in die Haare darüber, dass der eine dachte, er stünde länger an der Straße, um Autos zu stoppen als der andere. Weil sich dieses Problem jeden Tag aufs Neue zeigte, bestand der Konflikt fort und schien letztlich unlösbar. Wir gingen getrennte Wege und guckten uns von da an nicht mehr an. Das verdeutlicht, dass sich in dem im gemeinsamen Urlaub ausgebrochenen Konflikt tiefere Konfliktelemente äußerten, die ihre Wurzeln in früheren Erlebnissen hatten. Bei Reinhold Horst kamen da gar nicht so viel Möglichkeiten in Betracht: die gemeinsame Schulzeit und ein paar gemeinsame Besuche. Ich hatte oben schon angedeutet, dass Reinhold Horst eine besondere Erscheinung war, er war korpulent („stabil“) und gleichzeitig sehr von sich eingenommen. Er hatte eine Art an sich, die viele abstieß, er redete gar nicht mit jedem oder er ließ jemanden direkt spüren, was er von ihm hielt. Oder er wurde angesprochen und nuschelte völlig unverständliches Zeugs zurück. Und dann stand er in sein komisches Cape gehüllt an der Bushaltestelle am Germaniaplatz wie der Ölprinz. Ich lernte sehr schnell andere Leute in dem besagten Urlaub kennen, wildfremde Menschen, die aber offen waren und mit denen man sich dufte unterhalten konnte. Das war mein erster Alleinurlaub und der war klasse. Ich marschierte durch Belfast unmittelbar vor Ausbruch des Nordirlandkonfliktes im Juli 1969. Ich schaute bei einer Polizistenwitwe in Schottland mitten in der Nacht die amerikanische Mondlandung im Fernsehen. Die hatte uns, ich war noch mit dem „Dicken“ zusammen, bei strömendem Regen in der Dunkelheit mitgenommen. Ich hatte in der Republik Irland mein Atlantikerlebnis und ich trampte mit einem Typen aus Wolfsburg durch Südengland und übernachtete mit ihm auf dem Golfplatz in Brighton. Ich hatte noch nie zuvor so einen Rasen gesehen, der wurde gehegt und gepflegt und war wahrscheinlich hundert Jahre alt. Am nächsten Morgen kamen die ersten Golfspieler und ließen uns völlig unbehelligt. Von hier aus trampten wir zur Kanalküste und bestiegen eine Fähre nach Calais In Belgien nahmen wir ein Bähnchen, das die ganze Küste entlang bis nach Holland fuhr. Es war dann nicht weit bis Vlissingen, wo wir meinen Bruder besuchten, der aber noch nicht da wohnte. Mein erster Alleinurlaub endete in der Buslinie zweiundvierzig, die mich in meiner Heimatstadt fast bis nach Hause brachte. Den Rest musste ich, ungefähr vom Schlackeberg aus, laufen. Hinterher sagten mir viele, dass sie das hatten kommen sehen, mit einer so kapriziösen Figur wie Reinhold Horst hätte man doch nicht in Urlaub fahren können, sie wollten mir das nur vorher nicht sagen!

Ein ganz ähnliches Erlebnis hatten Tina und ich mit einem befreundeten Paar, das wir während unserer gemeinsamen Referendarzeit, die immerhin zwei Jahre gedauert hatte, kennen lernten. Wir waren oft zusammen essen, feierten Feten zusammen und spielten Doppelkopf. Es entstand eine dicke Freundschaft. Am Ende der Ausbildungszeit fassten wir den Entschluss, eine gemeinsame zehn Wochen dauernde Südamerikareise zu unternehmen. Wir wollten alles selbst organisieren und nur den Flug zu Hause buchen. Das war natürlich schon ein ziemliches Projekt: zehn Wochen Südamerika. Wir bereiteten sehr vieles zu Hause vor und polierten unsere Spanischkenntnisse auf. Nach der erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung war es dann soweit, wir kauften uns Rucksäcke mit Tragegestell und vernünftige Schlafsäcke, dann ging es los. Wir flogen in neunzehn Stunden über Havanna nach Lima und stiegen dort wie gerädert aus der Maschine. Man durfte übrigens damals noch im Flugzeug rauchen! Von Lima aus fuhren wir mit der Eisenbahn von null auf fast fünftausend Meter hoch bis nach Huancayo. Von dort sind wir über Ayacucho nach Cuzco, nach Machu Picchu, zurück nach Cuzco, an den Titicaca-See, auf die Insel Taquile (als erste Touristen), nach Juliaca, nach Arequipa, zurück nach Lima, nach Trujillo, nach Huanchaco, nach Machala in Equador, von dort nach Guayacil. Von da aus organisierten wir eine einwöchige Reise auf die Galapagos Inseln. Wir flogen mit einer viermotorigen Propellermaschine tausend Kilometer raus auf den Pazifik. Die Machine hatte schöne große Fenster. Auf Baltra, der einzigen bewohnten Insel des Archipels angekommen, bildeten wir eine Gruppe aus acht Personen und charterten ein kleines Schiff, mit dem wir den Archipel erkunden wollten. Zu den festen Leuten an Bord gehörten neben dem Kapitän ein Koch und ein Naturführer, der einem auf den jeweiligen Inseln, die man als Tourist gar nicht betreten durfte, die natürlichen Gegebenheiten erläuterte. Die Leute kamen aus Schweden, aus Südafrika und aus der Schweiz. Mit den Schweizern hatten Tina und ich noch einige Jahre Kontakt. Von den absoluten Besonderheiten, die die Galapagos Inseln zu bieten hatten einmal abgesehen (ich hatte meinen ersten Hai an der Angel!) war dieser Trip sehr unterhaltsam. Man unterhielt sich mit Marco, unserem Naturfüher, oder ich fuhr einmal mit dem Koch raus zum Langustenfangen. Man lag den ganzen Tag auf dem Schiffsdeck in der Äquatorsonne, Tina hatte mit einem mal ganze dicke Fußgelenke. Sie waren wegen der Hitze voll Wasser! Nachdem wir unsere Inseltour beendet hatten und wieder auf Baltra waren, entstand der erste Zoff zwischen uns und unseren Freunden.

Andrea wollte plötzlich von Michael weg und allein weiterreisen.

Sie tat immer sehr emanzipiert, schon lange Zeit zu Hause, es stellte sich aber schnell heraus, dass nicht so viel dahinter war. Eigentlich bestand ihre gesamte Emanzipation nur aus hohlen Phrasen, in Wirklichkeit ordnete sie sich in allem dem Diktat Michaels unter. So brach es mal wieder aus Andrea heraus, mit Heulen und Zähneklappern, Michael verstand es dann aber, sie zur Vernunft zu bringen. Der Grundstein für unsere Trennung war damit aber gelegt. Wir reisten von da ab allein weiter durch Equador, Kolumbien und Venezuela. Von Caracas aus flogen wir über Trinidad Tobago nach Barbados. Wir verbrachten noch acht Tage der Entspannung auf Barbados, wo wir bei „Miss Roman“ zwei nebeneinander liegende „Beach Appartments“ mit einem Pärchen aus Stockholm mieteten, Michael und Andrea sahen wir das letzte mal nach der Landung in Luxemburg, wo wir unsere Südamerikareise beendeten.

Diesen Konflikt auf seine tieferen Entstehungsbedingungen hin zu analysieren, bedurfte der Kenntnis von Faktoren, die in dem Verhältnis von Michael und Andrea begründet lagen. Ganz sicher aber gab es auch Bedingungen, die in ihrem Verhältnis zu uns zu sehen waren, was das aber war, wusste von uns niemand. Erst der Urlaub brachte etwas so tief Schlummerndes ans Tageslicht, mit unabänderlichen Konsequenzen! Bis heute hatten wir keinen von beiden wieder gesehen. Ich traf einige ehemalige Schulkameraden wieder, die ich lange Zeit nicht gesehen hatte. Rudi Hajduk war von zu Hause ausgezogen und hatte sich eine kleine Wohnung in einem anderen Stadtteil genommen. Ich besuchte ihn dort einmal zusammen mit meiner Freundin Carola. Später arbeitete Rudi bei der Zeitung, wenn mich nicht alles täuschte, war es die „BILD“-Zeitung. Er hatte jemanden kennengelernt, die aus Eckerförde kam. Der arme Kerl fuhr regelmäßig da hoch, bis die Beziehung zu Ende war. Sein Vater war in der Zwischenzeit gestorben, die Mutter sah man gelegentlich in Borbeck auf einer Bank am Germaniaplatz sitzen und rauchen. Sie war sehr vereinsamt. Rudis Großmutter und sein Onkel waren auch beide tot. Bei einem Gang durch Borbeck traf ich zufällig Joachim Servatius, einen Klassenkameraden aus alten Tagen. Wir kamen sofort ins Gespräch und waren so verblieben, dass er sich wegen eines geplanten Ehemaligentreffens bei mir melden wollte. Ich hörte dann leider nichts mehr von ihm.

Axel Barendonk traf ich mal in einer Kneipe. Er wohnte in Bredeney, vorher in Holsterhausen. Er war von seiner Freundin frisch getrennt und hatte vor, an irgendeine ausländische Schule zu gehen. Ich hörte auch von ihm nichts mehr. Ich hatte bereits erwähnt, dass ich Helmut Sachse als Stationsarzt im Krankenhaus wieder traf. Mit ihm fing ich am Gymnasium an. Seit dem verlor sich jeder Kontakt mit ihm.

Bundeswehr

Für mich stellte sich die Frage, wie es weiter gehen sollte: mir stand der Wehrdienst bevor. Verweigert hatte ich nicht, fast meine komplette Abschlussklasse hatte sich freiwillig zur Bundeswehr gemeldet. Wir wollten die Offizierslaufbahn einschlagen, wenngleich unsere Verpflichtungszeit nur zwei Jahre betrug. Zum Leutnant hätte es gereicht. Die Freiwilligen mussten nach Hannover zu einer Art Einstellungstest. Der verlief über drei Tage. Im Anschluss flatterte irgendwann die normale Einberufung ins Haus, das bedeutete für mich, dass ich mich am ersten Oktober zur Grundausbildung in Goslar einzufinden hatte. Im Nachhinein fragte man sich natürlich: „Warum hattest Du nicht verweigert?“

Der Verweigerungsprozeß wurde zu meiner Zeit rigider gehandhabt, als das heute der Fall ist. Man musste zunächst einmal den schriftlichen Verweigerungsantrag einreichen und wurde dann später zu einer Verweigerungsverhandlung geladen. Man erschien dazu vor einer Art Kammer, die mit Militärangehörigen und Zivilisten besetzt war, sogar Hausfrauen saßen da. Diese Kammer stellte dem Probanden Fragen, mit denen sie dessen Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst überprüfen wollte. Es passierte relativ oft, dass man als Verweigerer vor dieser Kammer nicht bestand. Scheiterte man in letzter Instanz vor dem Oberlandesgericht, bei dem man dann auch die Verhandlung bezahlen musste, musste man zum Bund. Für diese Leute war die Zeit bei der Bundeswehr besonders hart, zumal ja die dann Vorgesetzten wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Manche hatten, nachdem sie ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, noch verweigert, um nicht zu Wehrübungen einberufen zu werden. Über all diese Dinge hatten wir uns als Schüler überhaupt keine Gedanken gemacht.

Bei der Bundeswehr hatte es mir von Anfang an nicht gefallen. Das lag weniger an dem Drill, dem man unterworfen war. Vielmehr waren es die zu menschlicher Führung völlig unqualifizierten Vorgesetzten, die einem nach Gusto Befehle erteilen konnten. Auch war das, was sich während der Grundausbildung Unterricht schimpfte, es nicht wert, so genannt zu werden. Ganz schlimm wurde es, wenn so genannter politischer Unterricht stattfand. Da wurde ein Zeugs gefaselt, dass einem die Haare zu Berge standen. Apropos Haare: Natürlich trugen wir alle unsere langen Haare, als wir zur Bundeswehr gingen. Für eine Übergangszeit mussten wir ein Haarnetz tragen, das den ordnungsgemäßen Sitz von Schiffchen und Stahlhelm garantierte. Dann kam jedoch sehr bald der Haarbefehl, nach dem die Haare kurz zu tragen waren, das hieß, dass die Ohren frei waren und kein Haar den Hemdkragen berühren durfte. Jeden Morgen wurde von da an die Haarlänge beim Appell kontrolliert, das übernahm der Kompaniechef persönlich. Wer seinen Maßstäben nicht genügte, musste den kaserneneigenen Frisör aufsuchen.

Wir waren zu sechst auf einer Stube. Es gab drei Etagenbetten und sechs Spinde. Nach dem Dienst, so gegen vier Uhr dreißig, hielten wir uns auf dem Zimmer auf und erledigten in aller Regel Reinigungsarbeiten, meistens putzten wir unsere Stiefel. Wenn die Tür aufging, kam oft ein Gefreiter mit irgendwelchen Anordnungen. Dann mussten alle aufspringen und stramm stehen, der Stubenälteste meldete dann, mit wie viel Leuten man sich in der Stube aufhielt, und mit welcher Tätigkeit man gerade beschäftigt war.

Es hieß später immer, das sei es, was den Dienst bei der Bundeswehr so wertvoll machte, man musste sich in einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Menschen aus allen Gegenden Deutschlands zurechtfinden. In Wirklichkeit war es doch so, dass derjenige, der etwas weicher war als andere oder der verschlossener oder einfach stiller war, gnadenlos zum Opfer derber Sprüche und übelster Anmache wurde. Ich wurde sogar Zeuge von Schlägereien, die wegen solcher Animosiäten ausgetragen wurden, und die wir schlichten mussten. Jeden Tag begab man sich in die Kantine und soff Bier in zum Teil beträchtlichen Mengen. Manche mussten wir zurück in die Kaserne schleifen, wenn der Zapfenstreich bevorstand. Die Kantine war der einzige Aufenthaltsort, der für Wehrpflichtige an den kurzen Abenden erreichbar und wegen des geringen Soldes finanzierbar war. Das Essen in der Kantine war durchaus genießbar, wenngleich gerade da immer gemeckert wurde. Manchmal nahm ich Berge von Wurst mit nach Hause, wo man sich darüber sehr freute. Wenn man auf dem Weg zur Kantine einen Vorgesetzten traf, musste man ihn grüßen, das bedeutete nicht, dass man ihm einen guten Tag wünschte, sondern ganz vorschriftsmäßig die Hand an das Schiffchen legte, dabei war ein ganz bestimmter Winkel zur Körperachse einzuhalten. Vergaß man das Grüßen, wurde gerufen: “Können Sie nicht grüßen?“ oder „Wir müssen wohl das Grüßen üben!“.

In der Regel kam man dann am frühen Freitagnachmittag raus und fuhr in der sogenannten NATO-Rallye nach Hause oder zur Freundin. Hatte man aber etwas verbockt, zum Beispiel seinen Spind nicht richtig eingeräumt oder sein Bett falsch gemacht, seine Stiefel schlecht geputzt oder eine sonstige Verfehlung begangen, musste man noch den Freitagnachmittag dableiben. Für viele, die von weit herkamen, lohnte sich dann der Nachhauseweg gar nicht mehr. Nach Frankfurt war man von Goslar aus vier Stunden unterwegs! Die NATO-Rallye war eine gefährliche Angelegenheit, man fuhr viel zu schnell und achtete kaum auf den Verkehr. Es gab regelmäßig Unfälle mit Todesfolge. Ich fuhr immer mit Zimmernachbarn nach Bremen, ich nahm dann den Zug zu meiner Freundin. Die anderen mussten noch weiter bis nach Hamburg und zum Teil sogar bis nach Schleswig-Holstein. So ein Wochenende war immer viel zu kurz, ehe man sich versah, war Sonntag und man musste sich wieder auf den Rückweg machen.

Meine Grundausbildung dauerte bis in den Winter hinein. Im Dezember machten wir eine so genannte Sechsunddreißig-Stunden-Übung. Das bedeutete, dass man sich sechsunddreißig Stunden im Gelände tummelte, da militärische Übungen abhielt, vom Verpflegungswagen aus zu essen bekam und im Freien übernachtete. Das, was da so einen Pfadfinderanschein hatte, erwies sich aber bald als harte Probe: wir hatte nachts zwanzig Grad minus, einige waren mit ihrem Schlafsack an den Wänden vorher ausgehobener Gruben festgefroren, manche hatten sogar angefrorene Gliedmaßen. Zum Glück hatte ich die Sache schadlos überstanden. Als es gegen Ende der dreimonatigen Grundausbildung darum ging, die weiteren Verwendungsorte zu bestimmen, konnte man vorher Wünsche äußern. Ich wünschte mir Delmenhorst als weiteren Verwendungsort, weil ich da nahe bei meiner Freundin war. Dem Wunsch wurde entsprochen. So wurden wir alle vor Weihnachten aus Goslar verabschiedet und setzten uns in Richtung Bremen in Bewegung.

Es wurde eigens ein Zug für uns bereit gestellt. Jeder hatte zum Abschied eine Flasche „Jägermeister“ mit einem halben Liter Inhalt geschenkt bekommen! Die war bei der Ankunft in Bremen leer. Entsprechend angeheitert kam ich in der Kaserne in Delmenhorst an. Immerhin war ich noch in der Lage, meine Ankunft vorschriftsmäßig mitzuteilen, ansonsten nahm niemand Notiz von mir. Ich war dort bei einer „Nike-Hercules“-Batterie gelandet, das bedeutete bei einer Batterie, die über Boden-Luft-Raketen verfügte und diese einsatzbereit hielt. Draußen in Adelheide war die Stellung, in der man Dienst versah. Dort waren die Raketen und der dazugehörige Leitbereich.

Die Raketen standen in so genannten „Launchers“, in der Entfernung von einer Meile befand sich der Leitbereich, dessen Aufgabe es war, das Ziel zu erfassen und die Rakete dahin zu lenken. Dazu gab es verschiedene Radargeräte und einen Computer. Letzterer hatte die Größe eines LKW-Anhängers und war ein Röhren-Computer, absolut alte Technik. Ich saß am „Missile-Tracking-Radar“ und machte am Display verschiedene Tests, wie alle anderen auch. Wir versahen unseren Dienst, indem wir die Geräte testeten. Dazu blieben wir drei Schichten lang in der Stellung, um dann eine Woche lang Tagesdienst zu machen. Während meiner Zeit in Delmenhorst hatte ich mit meiner Freundin eine Wohnung im Ostertorviertel in Bremen (Alwinenstraße 49). Das war im Grunde eine schöne Zeit, ich fuhr abends immer nach Hause und hatte während des Schichtdienstes drei freie Tage.

Oft kam ich morgens auf den letzten Drücker zum Appell. Ich hatte inzwischen auch ein Auto, einen Ford 17 m („Badewanne“). Eines Tages wurde die Grundwehrdienstzeit von achtzehn auf fünfzehn Monate herabgesetzt. Ich reduzierte sofort meine vierundzwanzig Monate Verpflichtung auf einundzwanzig Monate! Damit war natürlich die Sache mit dem Leutnant gelaufen, ich entschied mich aber irgendwann, einen Unteroffizierslehrgang zu belegen, einfach um der Langeweile des eingefahrenen Dienstes zu entgehen. Dieser Lehrgang fand in Oldenburg statt und dauerte drei Monate. Das Dasein als Unteroffizier eröffnete einem viele Freiheiten: man hatte ein Einzelzimmer und war Vorgesetzter, das hieß, es konnte einem so gut wie niemand mehr etwas sagen. Das Bett in meinem Zimmer hatte ich nie benutzt.

Irgendwann im Juni beendete ich meine Bundeswehrzeit. Ich muss sagen, dass ich während meiner Soldatenzeit viel Glück hatte. Ich hatte von Freunden gehört, die den normalen Grundwehrdienst bei den Panzerpionieren absolvierten und von Anfang bis Ende nur Druck erfahren hatten. Die mussten aufpassen, dass sie bei der Bundeswehr nicht zerbrachen. Ich war während meiner Soldatenzeit nur ganz selten zu Hause, und wenn ich mal da war, freuten sich die Eltern, einen mal wieder zu sehen. Ich wurde vielfach gefragt, ob ich jemandem empfehlen würde, zur Bundeswehr zu gehen. Ich sagte immer, dass ich die Bundeswehr niemandem empfehlen und stattdessen immer zur Verweigerung raten würde.

Man lernte nichts bei der Bundeswehr; die diffusen Vorstellungen von Kameradschaft, die bei den Menschen verbreitet waren, waren falsch. Es war hundertmal sinnvoller, in einer gesellschaftlich wichtigen Einrichtung als Zivildienstleistender zu arbeiten. Es war ein Fehler, dass ich nicht verweigert hatte. Nach der Bundeswehrzeit hatte ich einen Job auf einem Tennisplatz in der Nähe des Weser-Stadions. Meine Aufgabe bestand darin, die Kreidelinien an den Plätzen nachzuziehen, wenn gespielt worden war. Dazu gab es einen Kreidewagen, der natürlich immer gefüllt werden musste. So einen Kreidewagen benutzten die Platzwarte in den Leichtathletikstadien. Dort konnte man die Muttis beobachten, die nichts zu tun hatten und morgens Tennis spielten. Diesen Job machte ich den ganzen Sommer über. Ich dachte auch immer schon bei meinen Schülerjobs, die ja alle nicht so überzeugend waren, so auch dort, bei meinem Tennisjob, dass ich froh war, so etwas nicht mein Leben lang machen zu müssen. Es gab aber natürlich Arbeiter, die nichts anderes gelernt hatten und deshalb solche Jobs verrichteten. Ich glaubte, dass der Straßenbau am ehesten etwas war, was auch ein bisschen Spaß vermitteln konnte.

Zum Herbstsemester wollte ich ein Studium aufnehmen. Das war eine sehr wichtige Entscheidung in meinem Leben. Es war allerdings lange Zeit nicht klar, was ich wo studieren sollte. Ich hatte mich für Landwirtschaft in Bonn interessiert, landete aber dann in Siegen und studierte auf Lehramt für Gymnasien.

Wie kam ich eigentlich auf Siegen, eine Stadt, in der ich nie vorher gewesen war? Es war tatsächlich so, dass ich mir eine Karte ansah und mir die Stadt mit dem meisten Grün aussuchte, das war Siegen. Direkt nach dem Abitur ließ ich mir von der Lufthansa die Unterlagen für die Pilotenausbildung zusenden. Ich ließ davon aber ab und schrieb an die Uni Bonn, um mich nach Agrarwissenschaften zu erkundigen. Auch davon ließ ich ab und ging stattdessen an die Gesamthochschule Siegen.

Siegen

Ich weiß noch genau, wie ich von der Autobahn abfuhr und in dem ersten Dorf nach der Hochschule fragte. Als der Befragte zu reden anfing, glaubte ich, mich in Texas zu befinden. Das Siegerländerisch hatte ich noch nie vernommen, man sprach wirklich ein amerikanisches Englisch auf Deutsch. Die Hochschule lag auf einem Berg, der eine schöne Aussicht bot. Neue Gebäude, lichtdurchflutet. Ich immatrikulierte mich.

Ich war von da an Student in den Fächern Mathematik und Kunst für das Lehramt an Gymnasien. Mitte Oktober fing das Wintersemester an. Bis dahin musste ich eine Wohnung suchen. Ich fand eigentlich sehr schnell eine Wohnung, ich glaube, ich hatte die Adresse vom schwarzen Brett. Meine Freundin, mit der ich in Bremen gewohnt hatte, zog mit mir zusammen. Als der Studienbetrieb losging, musste man sich zunächst an die unterschiedlichen Anfangszeiten der Seminare gewöhnen. Die Anfangszeit s.t. hieß, dass pünktlich zur angegebenen Zeit begonnen wurde, die Anfangszeit c.t. hieß, Anfangszeit plus fünfzehn Minuten. Nichts fing sine tempore an, alles startete cum tempore. Also kam man eigentlich nie zu spät. Mit der Mathematik tat ich mich von Anfang an schwer. Nach zwei Wochen wechselte ich das Fach und studierte von da ab Geschichte und Kunst. Vorausgegangen war in Erlebnis, das ich nie vergessen hatte. Ich besuchte eine Vorlesung in Mathematik, die dazu diente, im Seminar Gelerntes zu vertiefen und zu festigen. Der Assistent, den wir wegen seiner Nase „Feuermelder“ nannten, schrieb alle Tafelflügel voll. Man wagte kaum, Verständnisfragen zu stellen, tat man es doch, wurde man mit strengem Blick gestraft. Als er die komplette Tafel vollgeschrieben hatte, wischte er nicht etwa das Geschriebene aus, sondern nahm rote Kreide, und schrieb an der weißen Wand weiter. Das war für mich der Moment, wo es mir angeraten erschien, das Studienfach zu wechseln. Kunst erwies sich als sehr arbeitsaufwendig. Oft fanden Abendveranstaltungen statt. Wenn andere schon in der Kneipe saßen und Bier tranken, machten wir uns auf und begaben uns an die Hochschule. Ich studierte Kunst genau vier Semester, dann wechselte ich auch dieses Fach. Ich studierte von da an Geschichte und Sozialwissenschaften. Diese Fächerkombination führte ich zu Ende und schloss mit dem ersten Staatsexamen ab. Ich schaffte es auch, in der Regelstudienzeit fertig zu werden.

Im folgenden Sommer endete meine Beziehung zu meiner Freundin. Ich war ziemlich fertig. Mein Vater sagte: „Paulo, Frauen gibt es wie Sand am Meer!“, womit er natürlich recht hatte, wie ich aber erst später feststellte. Ich lebte sehr kurze Zeit allein, bis ein Bekannter aus Bremen nach Siegen kam, um dort zu studieren. Er zog bei mir ein. Wir machten Deckel in der Kneipe, zum ersten Mal in meinem Leben zahlte ich einen Deckel in Höhe von dreihundert Mark, allerdings mit meinem Bekannten zusammen und für drei Monate. Wir lernten Mädchen kennen und machten allerhand Unsinn. Aber wir studierten!

Gegen Ende des Jahres wollte uns unsere Vermieterin nicht mehr haben und kündigte uns. Wir fanden sehr schnell etwas anderes, einen Altbau mit leer stehender erster und zweiter Etage. Wir nahmen die zweite. Wir hatten jeder zwei Zimmer und eine Küche. In der Küche stand ein alter Ofen, so wie wir ihn zu Hause hatten, mit Kohle geheizt. In den Zimmern gab es Ölöfen. Wir hatten im Keller ein Ölfass, von dem wir uns eine Kanne abzapfen mussten. Beim Einschütten in den Ofentank ging immer ein Tropfen daneben, das ließ sich gar nicht verhindern. Also stank es im Zimmer nach Öl. Die Öfen brannten aber gut.

Eine Zeit lang holten wir im Sägewerk säckeweise Holzabfälle, mit denen wir unseren Küchenofen befeuerten. Dann organisierte ich zu Hause eine Tonne Kohlen. Die musste natürlich nach Siegen gebracht werden. Also liehen wir uns einen Ford Transit und fuhren schaukelnd mit einer Tonne Kohlen über die Autobahn. Als wir einmal das lange Ofenrohr säuberten, zog der Ofen noch mal so gut, und wir hatten immer eine angenehme Wärme.

In diesem Winter reisten wir nach Österreich in das Haus von Mädchen, die wir kennengelernt hatten. Eine ganze Menge Leute versammelte sich da. Das war eine Weingegend in der Nähe von Spielfeld. Wir lernten Uwe und seine Familie kennen und erzählten von der leer stehenden Etage unter uns. Sofort war er Feuer und Flamme und zog im Frühjahr ein. So begann die Zeit der legendären Wohngemeinschaft. Lutz zog noch dazu und für eine Zeit auch noch Ulli Müller, der Hauptschullehrer war.

Die endgültige Zusammensetzung der Wohngemeinschaft war: oben wir zusammen mit Henni, der aus Bremen nach Siegen gekommen war und in unserer Küche lebte, unter uns Uwe mit Frau und Kind, Lutz mit Freundin und später Alice mit zwei Kindern.

Wir kauften für alle ein und kochten für alle. Wir hatten auf Uwes Etage einen Gemeinschaftsraum, in dem wir abends immer saßen und wo so manche Fete gefeiert wurde. Türmeweise stand das Bier im Flur. Die Leute gingen bei uns ein und aus und fühlten sich wohl. Ich glaube, dass die Kinder eine gute Zeit bei uns hatten. Einmal besuchten mich meine Eltern mit meinem ältesten Bruder. Ich denke, sie waren ganz angetan. Oben auf dem Speicher hatten wir eine Tischtennisplatte aufgebaut. Wenn zum Essen gerufen wurde, kamen die Leute aus allen Löchern herbeigeströmt. Das war die intensivste Zeit meines Lebens.

Siegen war Universitätsstadt geworden, das hatte sie Ministerpräsident Rau zu verdanken. Das Bild der Stadt wurde eigentlich durch den Stahl geprägt. Es gab eine Stahlhütte im Ortsteil Geisweid, es gab viele Maschinenbaufabriken oder überhaupt Metallbetriebe. Es fehlten also nur die Menschen für die Kopfarbeit. Die Zahl der Studenten war am Anfang natürlich sehr klein, ich glaube etwas über 10000. Das entwickelte sich aber. Ich fühlte mich von Anfang an sehr wohl. Nachdem ich eine Zeit lang mit meiner Freundin Carola zusammengelebt hatte, wohnte ich jetzt in einer Wohngemeinschaft zusammen mit Dieter, Henni, Uwe, Bärbel, Matthija, Lutz, Annette, Alice, Claudia und Markus.

Diese Wohngemeinschaft formte alle Beteiligten, sie war für viele Dreh- und Angelpunkt allen Geschehens, und tatsächlich liefen da auch Dinge, wie sie sonst wohl nirgendwo passierten. Dieter und ich hatten in dem alten Haus im Stadtteil Weidenau die oberste Etage. Jeder hatte zwei Zimmer, dazu gab es eine Küche mit altem Herd, in der später Henni lebte und einen Tischtennisraum auf dem Dachboden, wo sich noch so manche Schätzchen der Vermieter verbargen. Der Rest der Wohngemeinschaft lebte eine Etage tiefer. Der Hund der Wohngemeinschaft hieß Pollux. Eigentlich war er Uwes Hund, es kümmerte sich aber jeder um ihn. Pollux war eine wuschelige Promenadenmischung mit hoher Auffassungsgabe. Alle mochten ihn. Die Mitglieder der Wohngemeinschaft gingen unterschiedlichsten Beschäftigungen nach: Dieter, Lutz, Henni und ich studierten, Uwe manchmal auch. Bärbel arbeitete in der Krankenhauswäscherei, Annette verdiente ihr Geld in einer Parfümerie, Alice hatte anfangs einen Job in einer Schraubenfabrik, Matthija, Claudia und Markus waren Kinder und wurden von uns abwechselnd in den Kindergarten gefahren. Der Kindergarten lag etwas entfernt, man musste mit dem Auto am Einkaufszentrum vorbei und dann rechts den Giersberg hoch. Niemand fuhr die Kinder gern dahin, denn das hieß: früh aufstehen, anziehen und los. Die Kinder weckten denjenigen, der dran war, und wenn man eine Frühveranstaltung an der Hochschule hatte, machte das ja auch nichts, aber in den Semesterferien!

Auf der unteren Etage lagen das Badezimmer und die Küche. Noch eine halbe Treppe tiefer war das Klo für Dieter, Henni und mich. Wir organisierten einen gemeinsamen Einkaufs- und Kochdienst, damit wir alle zusammen abends essen konnten. Eingekauft wurde im „Globus“ und im „Aldi“. Auf der Innenseite der Küchentür hing eine Tafel, auf der die Ausgaben eines jeden vermerkt waren. So musste man nur darauf achten, dass in etwa ein gleicher Ausgabenstand erreicht wurde. Das klappte eigentlich immer sehr gut. Manchmal musste jemand daran erinnert werden, dass er ein paar Mark im Rückstand war, dann wurde aber wieder ausgeglichen. Im „Globus“ gab es alles, was gebraucht wurde, zu relativ günstigen Preisen. Als ganz hervorragend waren bei uns die Fleischwurst und das Siegerländer Schwarzbrot in Erinnerung. Auch das Fleisch war von guter Qualität. Manchmal stellte man einen Kasten Bier unten auf den Einkaufswagen und vergaß, den an der Kasse zu bezahlen.

Die Kassiererinnen schauten damals noch nicht so genau. Bei Aldi ging es damals noch etwas herber zu als heute, auch war die Produktpalette noch nicht so vielfältig. Wir kauften dort vor allem Reinigungsmittel, Wein und Kaffee. Aldi befand sich im Einkaufszentrum von Weidenau. Das EKZ war Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger aus dem Boden gestampft worden und versprühte den Charme unpersönlicher Nachkriegsarchitektur. In der Mitte der ganzen Anlage prangte das Kaufhaus Hertie. Drumherum angesiedelt waren Geschäfte wie Nordsee, Penny und eben Aldi. Das Einkaufszentrum war gut zu Fuß zu erreichen. Morgens holte man dort Brötchen. Vor unserem Haus verlief die vierspurige Weidenauer Straße, auf der sich natürlich ein beträchtlicher Verkehr abspielte, der aber nicht weiter störte. Von der Straße aus passierte man eine Hausdurchfahrt und gelangte auf unseren Hof. Hier gab es die Druckerei Tackenberg, die auch das Erdgeschoss unseres Hauses mitbenutzte. Im Hause befand sich deren Lager, der eigentliche Betrieb aber war ein Flachbau auf dem Hof. Die Leute von Tackenberg sah man gelegentlich und grüßte sie, Herr Tackenberg war immer sehr nett zu uns. Uwe hatte auf dem Hof eine Garage, an den Hof grenzte ein winziges Stück Garten, in dem Rasen wuchs. Ganz selten hatte bei uns Sonnenschein mal dahin gelangt. Lutz hatte eine alte 250er BMW mit hohem Lenker („Easy Rider“), mit der ich auch mal fahren durfte. Ein Motorradpolizist verfolgte mich bis auf den Hof. Lutz hatte seine ganzen An- und Umbauten natürlich nicht eintragen lassen, auch nicht den hochgezogenen Auspuff. Also war eine Strafe fällig, ich weiß nicht mehr, wie viel wir bezahlen mussten.

Wir waren alle „Entenfahrer“, nur Henni hatte eine „Diane“, Dieter fuhr anfangs noch einen „VW 1302“. Da die Preise damals in den Werkstätten für uns unerschwinglich waren - besonders Citroen - brachten wir uns alles, was an der „Ente“ zu schrauben war, selbst bei. Zuerst bemühte man noch „Jetzt helfe ich mir selbst“ von Dieter Korb, dann klappte es ohne Unterstützung. Teile für die anstehenden Reparaturen lagen bei uns im Keller, vom Kotflügel über Schwingarme bis zum ganzen Motor. Hatte man aber das gesuchte Teil nicht vorrätig, fuhr man zu Bernd Schmidt. Bernd war der große Meister unter den „Entenschraubern“. Er hatte eine Werkstatt im Charlottental gemietet und war eigentlich samstags vormittags immer da anzutreffen. Bernd war so fit, dass er Motoren auseinanderschraubte, Kolben austauschte, Pleuellager überholte und ganze Kurbelwellen ersetzte. Er hatte auch jedes Spezialwerkzeug, das man brauchte. Citroen Ernst in Birlenbach wurde nur aufgesucht, wenn man Kleinteile brauchte wie Unterbrecherkontakte, Teile von Radbremszylindern und Bremsbeläge. Meine Güte, was hatte ich an den „Enten“ herumoperiert. Nach und nach hatte man dann auch einen Werkzeugkasten zusammengekauft. Wichtig war eine Fühlerlehre, eine Kontrolllampe für die Zündung und ein guter Knarrenkasten, natürlich auch Schraubenzieher und Zangen. Für die Demontage des hinteren Bremssattels war eine 46er Nuss nötig, die hatte sich Lutz mal anfertigen lassen. Er hatte auch eine halb aufgeschnittene Bremstrommel, die sich zum Justieren der Bremsbeläge sehr gut eignete. An der „Ente“ – genau gesagt am „2 CV“ (zwei Pferde) – war so ziemlich alles geschraubt. Das einzige, was geschweißt war, war der Rahmen, an den das ganze Auto mit 11er und 12er Schrauben befestigt war. Selbst die Fahrerkabine, „das Häuschen“, wie wir sie nannten, war geschraubt. Man konnte sie leicht zu zweit hochheben. Reparaturen, die sehr häufig anfielen, waren vor allem an der Zündung und an der Bremsanlage zu erledigen. Auch der Lichtmaschinenregler von Marchall war oft kaputt. Das Hauptproblem aber war der Rost. Man konnte froh sein, die Schrauben noch bewegen zu können, bevor sie ganz dem Rost zum Opfer gefallen waren. Da aber vieles geschraubt war, ersetzte man durchgerostete Teile einfach durch neue aus dem Keller. Lediglich das Bodenblech des Häuschens musste geschweißt werden. Diese Kunst beherrschte aus unserem Bekanntenkreis nur Lutz. Schutzgasschweißen gab es noch nicht. E–Schweißen eignete sich wegen des dünnen Bleches nicht, da blieb nur vorsichtiges Azetylenschweißen, das konnte Lutz. Manchmal ging man runter auf den Hof und stellte die Zündung am Wagen ein, obwohl das nicht nötig war. Man löste dazu das Kästchen, in dem sich der Unterbrecherkontakt befand und drehte es, bis der richtige Zündzeitpunkt eingestellt war. Vorher entfernte man das „Flattergehäuse“, um dann die zwei 11er Schrauben zu lockern. In der Regel sprang die Ente dann gut an. Eine aufwendige Sache war das Belegen der vorderen Bremsen. Die Bremsbacken saßen direkt am Getriebe, statt wie bei anderen Autos am Rad, sodass sie entsprechend zugebaut waren. Man musste zuerst die Antriebswellen ausbauen, danach die Bremstrommel abnehmen. Die Bremsbacken wurden von einer Feder in ihrer Halterung befestigt, die von einem um neunzig Grad verdrehten Stift gehalten wurde. Dieser Stift war das größte Problem, denn man musste ihn aus Platzgründen an der Getriebeseite herausfriemeln. Hier gab es Spezialisten, die mit Seilchen und was weiß ich nicht noch allem arbeiteten. Auf jeden Fall war das ganze eine unglaubliche Plackerei. Waren die Bremsbacken eingebaut, kam die halbe Bremstrommel von Lutz ins Spiel, mit deren Hilfe ließen sich die Brembacken wunderbar zentrieren. Wenn dann alles funktionierte, war man stolz wie bei allem, was einem gelang. Der KFZ - Brief einer Ente war immer nur auf den Rahmen ausgestellt, alles andere war daran gebaut. So kaufte ich mir mal einen intakten Rahmen mit Brief, ich glaube von Bernd Schmidt und begann, Teile für meine noch zusammenzusetzende Ente zu suchen. Der Rahmen war wirklich nur ein viereckiges Stück Metall, zwei Doppel–T–Träger, durch Bodenbleche miteinander verbunden, zwischen den Rahmenteilen saß hinten der Tank. Vorne saß auf einem Querträger die Rahmennummer, die war wichtig, denn darauf war der Brief ausgestellt.

Ich weiß gar nicht mehr, wo ich überall die Teile für meine Ente organisiert hatte, ich brauchte ja alles, Räder, Schwingarme, Häuschen, Motor, Auspuff usw.

Lutz schweißte mir ein paar Bleche am Häuschen zusammen, man konnte es im ausgebauten Zustand prima auf die Seite legen. Nachdem ich alles zusammen hatte, fing ich an, die Teile zusammenzubauen. Vorher instruierte ich die Kinder, meine halb zusammengesetzte „Ente“ nicht als Spielplatz zu benutzen. Als ich sie dann doch dabei erwischte, wie sie in meinem roh daliegendes Häuschen Fahren übten, riss mir der Geduldsfaden und ich gab Matthija und Claudia einen Klaps auf den Po, ganz leicht, wie ich glaubte. Das Geschrei war riesig, als hätte ich beide richtig gehend vertrümmt. Dann wurde mir noch der Vorwurf gemacht, ich hätte den einen viel fester gehauen als den anderen. Das mit dem Klaps war nicht in Ordnung, so viel sah ich hinterher ein, aber hinterer scharrten die Hühner!

Ich pinselte mein neues Häuschen ordentlich mit Unterbodenschutz ein, dann kamen die anderen Sachen an die Reihe. Der Rahmen bekam vier Schwingarme mit vier Rädern verpasst, immerhin stand so schon mal eine vierrädriges Etwas da. Dann wurde das Häuschen draufgesetzt, jetzt war schon ein richtiges Auto zu erkennen. Die Türen wurden in Aufnahmeschienen gesteckt, die Sitze mit ihren Haken in dafür vorgesehene Bodenlöcher geschoben, ebenso die Rückbank, die mit einem Bügel noch verriegelt wurde. Das „Häuschen“ wurde dann mit einer Fülle von 11er Schrauben mit dem Rahmen verbunden. Die Montage von Motor, Getriebe und Achswellen war kein großes Problem. Zum Schluss wurden noch die Kotflügel montiert und fertig war meine „Ente“.

Ich lackierte meine „Ente“ grün und war stolz, mein eigenes Auto zusammengebaut zu haben. Die größte Hürde stand aber noch bevor: der TÜV! Erstmal musste ich zum Straßenverkehrsamt, den Wagen zulassen. Das Straßenverkehrsamt war bei allen verhasst, das lag an den missmutigen Beschäftigten, mit denen man da zu tun hatte. Es bildeten sich immer riesige Schlangen an den Schaltern, die Mitarbeiter kosteten ihre Machtposition richtig aus und schickten einen manchmal, wenn man endlich dran war, zurück zur Kassenschlange, wo man wieder anstehen musste. Stunden verbrachte man auf diesem Amt und war froh, endlich durch zu sein.

Ähnliche Machtdünkel erlebte man beim TÜV, je nachdem, an wen man geriet. Ich hatte das Glück, einen netten Prüfer zu haben, meine Ente passierte den TÜV auf Anhieb. Meine Güte, war ich glücklich. Mein selbst zusammengesetztes Auto war durch den TÜV gekommen, Wahnsinn! Auch die anderen staunten nicht schlecht, als ich zur Wohngemeinschaft zurückkam. Nachdem Dieter seinen Käfer abgegeben hatte, fuhr auch er eine „Ente“, die ich ihm dann später abkaufte. Bei meiner „Ente“ konnte man schon nach einem halben Jahr vom Fahrersitz aus durch das Bodenblech auf die Straße gucken.

Unser Hof stand immer voller Autos, irgendein Wagen war immer zu reparieren. Die „Ente“ war ein Einfachauto, wenn man sich mit Reparaturen auskannte und immer Werkzeug an Bord hatte, machte das „Entenfahren“ unheimlichen Spaß. Lutz hatte eine weiße „Ente“ mit blauen Kotflügeln. Was der so richtig machte, war mir nie ganz klar. Er studierte eine Zeit lang mit Henni Elektrotechnik, dann war er am Siegerlandkolleg, um sein Abitur zu machen. Er war ein Frauentyp, und das wusste er auch. Manchmal ging der Narziss mit ihm durch, aber das hielt sich alles noch in Grenzen. Er war sehr körperbedacht und achtete auf eine gute Figur. Er hatte einen astreinen Body. Im Keller hatte er große Gärflaschen mit Apfelwein stehen, die wir alle leertranken. Die meiste Zeit war er mit seiner Freundin Annette zusammen. Es gab aber auch mal andere Frauen, Gudrun und Martina zum Beispiel. Lutz hörte gerne gute Musik, wie wir alle, und er spielte oft auf seinen Kongas.

Annette war aufs Äußerste auf ihre Erscheinung bedacht. Sie war sehr gepflegt, schminkte sich, trug moderne enge Jeans und dazu die höchsten Highheels. die ich je gesehen hatte. Ich glaubte, sie konnte schon nicht mehr normal barfuß laufen, so hatten ihre Schuhe ihre Füße verformt. Sie hatte ein lustiges Naturell und konnte dermaßen laut lachen, dass die Wände wackelten. Wenn sie mit ihren hochhackigen Schuhen lief, wackelte ihr Hintern, was sie natürlich wusste. Sie war in ihrem Wesen sehr nett, allerdings manchmal auch recht einfachen Geistes. Annette verließ die Wohngemeinschaft dann früher als wir anderen.

Uwe war der Älteste von uns allen. Seine „Ente“ hatte eine grünliche Farbe. Er war in aller Augen der Siegerländer Prototyp: sehr verschlossen, um nicht zu sagen stur, nicht sehr wortgewaltig. Er war sehr groß und ging nach vorne gebeugt, als hätte er einen Buckel. Er drehte „Samson“ - Zigaretten, was damals noch recht billig war. Er mischte auch ganz gern ein Stückchen Shit unter den Tabak. Uwe war ein herzensguter Mensch, der auch gerne lachte. Seiner Frau Bärbel gegenüber verhielt er sich immer fair, obwohl er auch gerne nach anderen Frauen schielte. Er studierte eine Zeit lang, was weiß ich nicht mehr, er hatte die Begabtensonderprüfung gemacht, ein Sonderweg zur Hochschule für Leute ohne Abitur, den es damals nur in Nordrhein–Westfalen gab. Bärbel war die liebste Frau, die ich damals kannte. Sie arbeitete in der Wäscherei des Krankenhauses und kümmerte sich um ihren Sohn Matthija. Ich denke, dass sich Bärbel so manches Mal ihre Gedanken gemacht hatte, wenn sie uns Nichtstuer so in der Gegend herumhängen sah. Sie machte aber niemandem einen Vorwurf und war die einzige, die versuchte, so etwas wie einen normalen Haushalt zu gestalten. Manchmal, wenn wir bei Kaffee und Brötchen am Tisch saßen, zog Bärbel mit dem Staubsauger durchs Gemeinschaftszimmer. Man konnte immer mit ihr über alles reden. Sie war das gute Herz der Wohngemeinschaft.

Alice war von ihrem Mann Klaus geschieden und lebte mit ihren zwei Kindern bei uns. Man hatte immer den Eindruck, als hätte sie etwas nachzuholen, was ihr in den Jahren ihrer Ehe vorenthalten worden war. Alice war groß und hatte langes dunkles Haar. Sie war attraktiv. Sie war ein offener und herzlicher Mensch. Man ging gerne mit ihr aus. Ich war einmal mit ihr und ihren Kindern in den Kölner Zoo gefahren.

Bei unseren Kneipenzügen war Alice immer dabei. Um zur Arbeit zu kommen, sie war gelernte Säuglingsschwester, lieh sie sich von irgendjemandem ein Auto aus. Um die Erziehung ihrer Kinder kümmerten wir uns alle, das klappte sehr gut, und ich glaube, dass die Kinder nicht zu kurz gekommen waren.

Dieter kannte ich am längsten. Ich hatte schon vieles mit ihm unternommen. Auch er war ein kleiner Narziss, aber so ein bisschen war das wohl jeder von uns. Dieter spielte sehr gut Gitarre, Fingerpicking. Seine Lieblingsmusik war Bob Dylan, er spielte diese Musik immer mit Gitarre und Mundharmonika nach. Dieter war nicht sehr groß, er drehte, wie wir alle, Zigaretten. Er rauchte aber auch Pfeife, wie Uwe und ich. Zuerst rauchten wir „Mc Barens Burley“, dann „Mc Barens Mixture“, den sehr viele Pfeifenraucher nahmen. Dieter war entweder sehr offen und für alles zu haben, oder er zog sich zurück und war nicht ansprechbar. Er war ein bisschen kapriziös. Man konnte aber alles von ihm haben. Mehrere Frauen spielten damals in Dieters Leben eine Rolle, ich kann die gar nicht alle aufzählen. Bevor Dieter und ich in die Wohngemeinschaft zogen, waren wir zu zwei Siegener Mädchen nach Österreich gefahren, die Familie des einen hatte ein Ferienhaus in der Nähe von Spielfeld. In diesem Kurzurlaub lernten wir alle unseren späteren Wohngemeinschaftsgenossen kennen. Dieter studierte Architektur und brachte es bis zum Diplom. Ich weiß noch, dass er sehr viel zu zeichnen hatte.

Henni war ursprünglich aus Dieters Heimat Ritterhude nach Siegen gekommen. Dieter und er kannten sich von früher. Henni war ein sehr stiller Mensch, der, wenn er aufgewacht war, sehr lustig sein konnte. Sein Lachen glich einem Gickern. Henni lebte bei Dieter und mir oben in der ehemaligen Küche. Er studierte kurzzeitig Elektrotechnik mit Lutz zusammen, was er dann machte, weiß ich nicht mehr. Henni war in Ordnung, Ich bin einmal mit ihm und seiner Diane bis nach Portugal gefahren. Manchmal sah ich abends bei ihm in der Küche fern. Er war eine Zeit lang mit Maria befreundet, wenn Evelyn aus Frankreich zu Besuch war, dann auch mit ihr.

Markus war das aufgeweckteste der drei Kinder. Er war acht Jahre alt und der Bruder von Claudia. Markus sah gut aus, hatte dunkles wuscheliges Haar, war groß und nicht dick. Er machte einen sehr intelligenten Eindruck und besuchte später das Gymnasium. (Heute ist er Oberarzt). Markus verstand es immer, die leichte Überforderung, die auf die Kinder einströmte, für sich umzusetzen und sein aufgeschlossenes Wesen und seine Lustigkeit zu bewahren. Er war den beiden anderen Kindern weit überlegen.

Caudia war mit ihren fünf Jahren noch sehr jung. Aber auch sie wirkte ausgeglichen und zeigte uns Erwachsenen gegenüber keinerlei Scheu. Sie war leicht pummelig, sah aber gut aus. Claudia wurde manchmal von Markus getriezt. Sie hatte in Matthija ihren Spielkameraden.

Matthija war sehr schüchtern. Diese Eigenart hatte er von seinem Vater Uwe übernommen. Er wirkte insgesamt schmächtig, zurückhaltend und still. Aber auch er zeigte uns Erwachsenen gegenüber keinerlei Distanz. Claudia und er ließen sich jeden Morgen in den Kindergarten bringen, sie waren gleichaltrig.

Mit all diesen Leuten lebte ich, Paulo Köhler, in der Wohngemeinschaft zusammen und fühlte mich sehr wohl dabei. Ich glaubte, dass uns damals so mancher um unsere Lebensweise beneidet hatte. Es war nicht immer sehr sauber bei uns, aber darauf kam es doch nicht an! Unser Haus war schon relativ alt. Das Treppenhaus gab knarzende Geräusche von sich, wenn jemand herauf- oder hinunterging. Besonders wenn zum Essen gerufen wurde und die Leute vom Tischtennisraum heruntergetrampelt kamen. Lutz trampelte mit seinen Bundeswehrstiefeln besonders laut.

Die Musik spielte bei uns eine besondere Rolle. Dieter spielte Gitarre, Lutz Kongas, jeder hatte einen Plattenspieler. Und im Gemeinschaftsraum dudelte immer eine Platte. Da, wo wir aßen, stand ein Radio. Wir hörten um neunzehn Uhr immer „Popshop“ auf „SWF 3“ mit Frank Laufenberg. Oben bei Dieter gab es Bob Dylan, sehr angesagt waren aber auch Crosby, Stills Nash & Young, Leo Kottke, Stephan Grossmann, Werner Lämmerhirt. Im Gemeinschaftsraum liefen aber auch Heads, Hands and Feet, Neil Young, Rolling Stones, Beatles, Led Zeppelin, Derek and the Dominos und Pink Floyd. Wir hingen dort oft nachmittags rum und redeten und redeten. Oft kam irgendjemand zu Besuch und trank mit uns Kaffee oder Bier. Sehr häufig kamen Frieder und Jutta, Dieter und Susanne aber auch Opa. Der ließ sich ein Bier geben und legte sich dann bis zum nächsten Morgen aufs Sofa. In der Mensa wartete er, bis er drei Gesinnungsgenossen zum Doppelkopf zusammen hatte, soff dann mit denen bis zum Mittag Bier und kam dann wieder zu uns. Natürlich spielten auch die Eagles und John Denver bei uns eine Rolle. Mimo spielte mit Vorliebe die paar Barreegriffe zu John Denver´s „Country Roads“, der letzte Schmalz. Er war der Sohn des Hausmeisters der „Puddingschule“ und hatte eine „Kastenente“, etwas ganz Besonderes.

Wir fuhren manchmal alle hoch zum Landeskroner Weiher, badeten und machten Musik. Wir hatten dann Wein dabei und rauchten Gras. Mit uns fuhren auch viele Mädchen, die wir inzwischen kennengelernt hatten, vor allem Gabi, Annette L. und Dagmar.

Mit der Ente musste man auf dem letzten Stück zum Weiher hoch den zweiten Gang einlegen. Auf dem Weg nach Wilnsdorf kam man an der Eremitage vorbei, wo wir schon mal Bier auf der Terrasse getrunken hatten.

Das Studium vollzog sich trotz aller Eskapaden in geordneten Bahnen. Ich hatte sogar ein Urlaubssemester eingelegt. In dieser studienfreien Zeit spielten wir oft Karten und tranken den Apfelwein von Lutz. Entsprechend lange schlief man danach. Mein Urlaubssemester war ein Wintersemester, es wurde kurz nach dem Aufstehen schon wieder dunkel. Legendär waren unsere Kneipengänge. Kneipen, die bei mir eine Rolle spielten, waren das „Black & White“ nebenan, das Ulli, Stephan und ich mit aufgebaut hatten. Schnüffi und Porky hatten ein altes Siegerländer Haus gekauft und es völlig entkernt. Das Fachwerk im Innern blieb erhalten und wurde aufwendig saniert. Die Kaffeekanne, die ich jeden Morgen auf die Baustelle trug, habe ich heute noch. Nach ganz kurzer Betriebszeit brannte das „Black & White“ ab. Böse Zungen sprachen von Brandstiftung.

Etwas weiter weg war das „Belle Epoque“, Richtung Globus gelegen. Es bestand aus zwei Räumen, von denen der erste von einer großen Theke beherrscht wurde. Über der Theke verlief an der Decke ein Regal, auf dem aller Schnaps stand, der dort angeboten wurde. Einmal nahm ich eine Flasche, um sie mitgehen zu lassen. Sie rutschte mir aus der Hand und fiel auf den Plattenspieler. Die augenblickliche Stille verriet sofort den Übeltäter, mein Gott, war das peinlich. Hätte ich nicht schon mehrere Hundert Mark im „Belle Epoque“ für Bier ausgegeben, wäre ich mit Sicherheit rausgeflogen. Im „Belle Epoque“ traf man fast immer alle Bekannten. Wenn dort um ein Uhr nachts zugemacht wurde, gab es nicht mehr viele Möglichkeiten. Entweder ging man dann zum „Herrengarten“, zur „Siegerlandhalle“ oder ins „Studio“, das lag Richtung Eiserfeld und hatte bis vier Uhr morgens geöffnet, natürlich gab es auch noch Bier! Sonny war der heißeste Tänzer! Ich erinnere mich noch an „Woman, take me in your arms, rock me Baby“! Vor dem „Belle Epoque“ hatten Tina und ich mal mit der Stoßstange ihrer „Ente“ beim Rückwärtsfahren die Rallyelampen eines „NSU 1000“ zerstört. Als wir zu Hause waren, plagte uns das schlechte Gewissen und wir waren noch mal zurück gefahren.

In der Frankfurter Straße lag das „Chaiselongue“, das gehörte dem Langen (Peter) und Gerd. Ich hatte dort mal gezapft und bedient. Von der Wohngemeinschaft aus waren wir da nicht so oft. Ich erinnere mich, wie Alice dort ihre Hochzeit mit Ulli feierte, da wohnte ich schon in der Frankfurter Straße mit Achim und Volker zusammen. Wir waren hinterher so besoffen, dass Tina mich nach Hause bringen und sogar ausziehen musste.

Der Lange hatte mal einen tollen Witz erzählt: ob wir wüssten, wie Eskimos pinkelten? Dann ließ er zwischen seinen Beinen Eiswürfel runterfallen. Er war der Typ, der einen Witz nah dem anderen erzählen konnte. Er fuhr einen „Citroen CX Kombi“. Ich hatte ihn später aus den Augen verloren.

Manchmal bekamen wir Besuch aus Frankreich: Evelyn, Francoise, Kattel und Juanita war auch einmal dabei. Die ersten drei Mädchen hatte Dieter in irgendeinem Italienurlaub kennengelernt, Juanita hatte es mir besonders angetan. Ich hatte sie nie mehr wiedergesehen. Auch Francoise war sehr nett. Henni kümmerte sich um Evelyn und Dieter um Kattel.

Ganz kurz, bevor wir in die Wohngemeinschaft gezogen waren, hatte ich mir von Dr. Fend die Nasenscheidewand richten lassen. Ich saß in seiner Praxis in einem Stuhl, bekam zwei Betäubungsspritzen in den Nasenkorpel und musste eine Nierenschale unter die Nase halten. Dr. Fend arbeitete mit einer Art Kneifzange Knochen heraus, die tönend in die Schale fielen. Anschließend stopfte er mir Tamponade in die Nasenlöcher und steckte mich eine Woche lang in das Weidenauer Krankenhaus. Das Entfernen der Tamponade nach einer Woche war unangenehm. Eine ähnlich gelagerte HNO–Geschichte war die Erweiterung meines linken Gehörganges. Das wurde im Jung–Stilling–Krankenhaus bei Dr. Gerlach durchgeführt. Die Operation dauerte drei Stunden bei Vollnarkose, mein ganzer Kopf verschwand anschließend in einem Verband.

Ich weiß noch, wie wir zu sechst auf dem Krankenzimmer Bier tranken, Tina hatte mich immer besucht. Auch dort musste ich eine Woche bleiben.

Ich hatte an der Hochschule das Fach Kunst gegen Sozialwissenschaften getauscht, eine richtige Entscheidung. Prof. Dr. L. F. Neumann war ein angenehmer Mensch, noch sehr jung und dynamisch. Er war unglaublich intelligent und rühmte sich damit, mit Sir Karl Popper schon einmal Tennis gespielt zu haben. Damit hatte ich meine endgültige Fächerkombination. Trotz Urlaubssemester machte ich innerhalb der Regelstudienzeit mein Examen. Damals bedeutete das, dass ich nichts von dem BAFöG, das ich bekam, zurückzahlen musste! Das BAFöG-Amt war im Einkaufszentrum in Weidenau. Ich musste jedes Semester dahin und BAFöG beantragen. Ich kam damals mit ungefähr sechshundert DM aus. Das Auto war nicht teuer, Benzin kostete circa achtzig Pfennige pro Liter. Die Wohnungsmiete war lächerlich gering, ich glaube wir zahlten zweihundert DM zu Dritt! Das Essen kostete auch nicht die Welt, weil wir zusammen einkauften oder in der Mensa aßen. So blieb dann noch genügend übrig für unsere abendlichen Kneipengänge.

Die „Dose“ war früher die Anlaufstelle von Dieter und mir. Die war aber dann irgendwann zu. In der Oberstadt gingen wir manchmal ins „Zeughaus“, das lag am Schloss oder in den „Stachel“. Der „Stachel“ lag etwas versteckt in der Altstadt. Wenn man mit der „Ente“ in die Oberstadt fuhr, musste man auf dem letzten Stück der Kölner Straße den zweiten Gang einlegen. In der Oberstadt befanden sich früher die Geschäfte, die für uns früher von Belang waren. Dort oben war der „Kaufhof“, gegenüber war die „Montanus“-Buchhandlung, ein Stück weiter war das „Eiscafe Garda“, das in der oberen Etage eine Pizzeria hatte. Wenn man die Fußgängerzone hinunterlief kam man am „Schuhhaus Schreiber“ vorbei, gegenüber von „Karstadt“ lag die „Bücherei Ruth Nohl“, ganz unten war das Bekleidungshaus „Werner und Ullrich“. Dann ging man über die Straße auf die Siegplatte. Dort hatte Harald Hecken einen HiFi-Laden. Harald hatte Wasserbau studiert und machte jetzt in HiFi-Sachen. Ich hatte ihn früher mit meiner Freundin öfter besucht. Er hatte sich Lautsprecherboxen aus Beton gegossen. Die Überlegung dabei war, dass er die Eigenschwingungen der Boxen minimieren wollte. Sie klangen auch ganz gut, aber ganz so viel Brimborium wie die anderen um ihre Boxen, Lautsprecher und Verstärker trieben, hatte ich nie gemacht. Hinter der Siegplatte lag die Bahnhofstraße. Dort gab es „Cafe Haar“ und ein sehr gutes jugoslawisches Restaurant. In der Bahnhofstraße hielten wir uns aber kaum einmal auf.

Wenn keine Semesterferien waren, fuhr ich jeden Tag hoch zu den Veranstaltungen. Das Studium hatte einen Gesamtumfang von einhundertundsechzig Semersterwochenstunden, also zwanzig Wochenstunden pro Semester.

Das machte, wenn man die Veranstaltungen gut verteilen konnte, zwei Veranstaltungen pro Tag.