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Jessica Clare

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Beschreibung

Erst die Hochzeit, dann die Liebe

Reality-TV! Für Milliardär Sebastian Cabral gibt es kaum etwas Schlimmeres. Vor allem, weil seine Mutter der Star einer solchen Show ist und sich in den Kopf gesetzt hat, ihn mit seiner Ex zu verkuppeln, um mehr Drama zu schaffen. Irgendwann ist er so entnervt, dass er seine Bekannte Chelsea bittet, ihn zum Schein zu heiraten. Eigentlich die perfekte Lösung. Nur leider stellt diese Ehe Sebastian vor ganz neue Probleme. Denn die platonische Beziehung zu seiner äußerst reizvollen Ehefrau macht ihn mit jedem Tag ein bisschen mehr verrückt. Genau wie die Tatsache, dass Chelsea etwas vor ihm verbirgt ...

Emotional, mitreißend und sinnlich - der neue Band der Bestseller-Serie PERFECT TOUCH von Jessica Clare


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Seitenzahl: 416

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

1

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Epilog

Anmerkung der Autorin

Über die Autorin

Jessica Clare lebt mit ihrem Mann in Texas. Ihre freie Zeit verbringt sie mit Schreiben, Lesen, Schreiben, Videospielen und noch mehr Schreiben. Sie veröffentlicht Bücher in den unterschiedlichsten Genres unter drei verschiedenen Namen. Als Jessica Clare schreibt sie erotische Liebesgeschichten. Ihre Serie PERFECT PASSION erschien auf den Bestseller-Listen der NEW YORK TIMES, der USA TODAY und des SPIEGELS.Mehr Information unter: www.jillmyles.com

Jessica Clare

PERFECTTOUCH

ERGEBEN

Aus dem amerikanischen Englischvon Kerstin Fricke

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Jessica ClareTitel der amerikanischen Originalausgabe:»The Billionaire takes a Bride«Originalverlag: InterMix Books, New YorkPublished in Agreement with the author, c/o Baror International, Inc.,Armonk, New York, USA

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Mona Gabriel, LeipzigTitelillustration: FAVORITBUERO, München unterVerwendung eines Motivs von © shutterstock/Karolina LUmschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4060-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1

Deine Mutter hat Krebs.«

Sebastian Cabral schlug sich vor Schreck eine Hand vor den Mund. Er wusste nicht, was er denken sollte. Angst und Sorge durchzuckten ihn, und er konnte sich bildlich vorstellen, dass seine Mutter am Boden zerstört gewesen war, als sie diese schreckliche Nachricht erhielt. »Verdammt. Das ist ja furchtbar. Warum hat sie mir denn nichts davon erzählt?«

»Es steht in der Storyline dieser Staffel.« Sein Anwalt besaß den Anstand, peinlich berührt auszusehen. Er schob einen Stapel Papiere zu Sebastian hinüber und deutete auf einen Absatz. »Es steht hier auf Seite sechzehn. ›Mama Precious, gespielt von Elizabeth Cabral, wird sich einer Krebstherapie unterziehen. Dazu wird sie die unterschiedlichsten Behandlungsmethoden ausprobieren, von ganzheitlichen Spas bis hin zu Schamanen.‹ Mir wurde gesagt, dass sie zum Staffelfinale als geheilt gelten wird und dass man versucht, mit diesem Handlungsstrang die Einschaltquoten zu verbessern.«

Sebastian ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken, wollte kaum glauben, was er da hörte. Ihm fiel die Kinnlade herunter. »Augenblick mal. Soll das heißen, dass sich der Sender diese Krebsgeschichte ausgedacht hat und sie damit einverstanden ist? Nur damit sie sich bei einem Schamanen mit Kristallen einreiben kann?«

»Ja, so wurde mir das mitgeteilt.«

»Das ist doch absolut lächerlich.« Er konnte es nicht fassen. Sie erfanden tatsächlich eine Krebserkrankung? Wo so viele Menschen da draußen wirklich unter Krebs litten oder einer ihrer Angehörigen an Krebs erkrankt war? Wo seine eigene Großmutter an Krebs gestorben war? Das war ein Tiefpunkt. Ein absoluter Tiefpunkt.

Aber so lief das nun einmal im Reality-TV.

Sebastian saß in der Kanzlei seines Anwalts im Zentrum von Manhattan und ging mit ihm die Verträge und Planungen für die anstehende Staffel von The Cabral Empire durch. Dabei war es völlig unwichtig, dass er sich weigerte, in der Serie mitzuspielen. Der Rest seiner Familie war dabei, und schon allein aus diesem Grund wurde er in den ganzen Medienhype mit hineingezogen.

Tatsache war nun einmal, dass seine Familie berühmt geworden war, indem sie sich in einer Reality-Fernsehshow lächerlich machte und völlig danebenbenahm. Sein Vater war ein achtzigjähriger portugiesischer Milliardär, der sein Geld geerbt hatte und deshalb »Daddy Money« genannt wurde. Seine Mutter war ein ehemaliges Model in den Fünfzigern, die Dauergast bei Schönheitschirurgen war, verrückte Hobbys hatte, und man nannte sie »Mama Precious«.

Er benutzte diese Namen allerdings nicht. Die ganze Welt nannte sie so, aber für ihn waren sie weiterhin Mom und Dad, so wie bei ganz normalen Menschen.

Doch seine Mutter hatte schon immer berühmt sein wollen. Es reichte ihr nicht aus, als Exmodel mit einem fast doppelt so alten Milliardär verheiratet zu sein. Sie sehnte sich nach Ruhm. Als Sebastian Mitte zwanzig gewesen war, hatte seine Mutter Kontakt zu einem Fernsehproduzenten aufgenommen, der auf der Suche nach Ideen für neue Realityshows war. Sofort hatte Mrs Cabral ihre Familie ins Spiel gebracht. Die erste Staffel hatte sich darum gedreht, wie seine Mutter ein neues Haus für die Familie in New York kaufte und ausgiebige Shoppingtrips machte, bei denen sie das Geld ihres Mannes verprasste. Es war ein dummes, unspektakuläres Fernsehformat, das rasch ihren Alltag bestimmt hatte. Sebastians jüngere Geschwister waren ebenfalls nicht von den Kameras verschont geblieben. Dolph und Cassie gingen auf hiesige Colleges, anstatt wegzuziehen, damit sie Teil der Show bleiben konnten. Amber wurde von einem bekloppten Hauslehrer unterrichtet. Sogar das Hausmädchen war ein fester Bestandteil des Formats.

Es war völlig bescheuert. Die Mitglieder seiner Familie waren ein Haufen Nobodys, die zufälligerweise Geld hatten und es für dämliche Dinge ausgaben. Die Serie hätte eigentlich gar keinen Erfolg haben dürfen. Er hatte damit gerechnet, dass sie nach wenigen Folgen wieder eingestellt würde.

Doch das Schicksal hatte es anders gewollt, und The Cabral Empire hatte eingeschlagen wie eine Bombe.

Mit einem Mal wurde die Cabral-Familie zu schicken Premieren eingeladen, mit Geschenken überhäuft und erschien auf den Titelblättern der Klatschzeitungen. Dabei war es völlig unwichtig, wie peinlich oder unerhört etwas war – sofern es die Bekanntheit steigerte, stürzten sich die Cabrals förmlich darauf. Sebastian war der Einzige, der nichts damit zu tun haben wollte. Er fand das Ganze absolut lächerlich und mehr als nur ein bisschen peinlich.

Das Problem war nur, dass die Produzenten und Fans der Show umso entschlossener waren, ihn in die Serie zu integrieren, je vehementer er sich weigerte. Vorschauen, in denen er seine Mutter besuchte, wurden in Fernsehspots gezeigt. Klatschzeitungen stellten Spekulationen darüber an, welches »Geheimnis« ihn umgab und warum er nicht in der Show mitspielen wollte. Sein Foto und die Tatsache, dass er der Haupterbe des Milliardenvermögens seines Vaters war, brachten ihm mehr Aufmerksamkeit ein, als ihm lieb war. Die Welt wollte unbedingt mehr von dem heißen, unnahbaren, milliardenschweren Cabral-Erben sehen.

Besagter Erbe wollte nur leider nichts mit der Welt zu tun haben.

So saß er jetzt hier bei diesem auf Entertainment spezialisierten Anwalt, um durchzugehen, was sie bei The Cabral Empire über Sebastian zeigen durften und was nicht. Es war nicht erlaubt, Aufnahmen von ihm in einer Vorschau zu zeigen, ebenso wenig wie seine Fotos. Sie durften keine Werbung mit ihm machen, und er stand auch nicht für Marketingzwecke zur Verfügung. Und ganz bestimmt würde es keine Storyline geben, die sich um seine Person drehte. Es war schon schlimm genug, wenn sie ihn bei Familienbesuchen zu Gesicht bekamen, da sich dann immer sofort jemand mit einer Kamera auf ihn stürzte.

Er hätte auch sagen können, dass überhaupt keine Aufnahmen von ihm gezeigt werden durften. Absolut gar nichts. Aber der Sender hatte darauf bestanden, und seine Mutter hatte geweint und ihm gesagt, dass die Verantwortlichen gedroht hätten, die Show ganz einzustellen, wenn er nicht wenigstens ab und zu am Rande zu sehen wäre. Daher hatte er widerwillig zugestimmt, denn auch wenn seine Eltern offenbar völlig verrückt geworden waren, liebte er seine Familie.

Aber Krebs? Das war definitiv ein neuer Tiefpunkt. »Ich weigere mich, Teil irgendeiner Krebsgeschichte zu sein. Dabei mache ich auf gar keinen Fall mit. Meine Richtlinie ist und bleibt: Je weniger ich in der Show auftauche, desto besser.« Die gerade mal drei Minuten, die er während der letzten Staffel zu sehen gewesen war, hatten ausgereicht, um sein Sozialleben auf unabsehbare Zeit zu ruinieren.

Daher wollte Sebastian aus der Show rausbleiben.

»Die Krebsgeschichte ist leider nicht die einzige, die problematisch werden könnte«, sagte sein Anwalt, dessen Miene sich nur als schmerzverzerrt bezeichnen ließ.

Sebastian stöhnte ein weiteres Mal auf. So langsam bekam er Kopfschmerzen. »Was in aller Welt haben sie sich denn noch ausgedacht, das schlimmer ist als eine falsche Krebserkrankung?«

»Sie holen Lisa wieder zurück.«

Ach, das durfte doch nicht wahr sein.

Lisa Pinder-Schloss war vor einigen Jahren, als die Show auf Sendung gegangen war, seine Freundin gewesen. Sie war ein Model und ehemalige NFL-Cheerleaderin mit einem hübschen Gesicht und einem umwerfenden Körper. Eigentlich war sie witzig und lebendig, aber letzten Endes war das Fernsehen ihrer Beziehung zum Verhängnis geworden. Genauer gesagt The Cabral Empire. Sie hatte regelmäßig mitspielen wollen, er nicht. Und so waren sie jedes Mal, wenn sie ausgingen, von Kameras umringt gewesen.

Kurz danach hatten sie sich getrennt. Lisa blieb für eine oder zwei Staffeln ein fester Bestandteil der Show und hatte sich danach »anderen Dingen« zugewandt. Diese schienen sich jedoch nicht so entwickelt zu haben wie erhofft, da sie jetzt wieder zurückkehrte. »Warum kommt sie zurück?«

»Ihre Storyline besagt, dass sie wieder mit Ihnen zusammenkommen will.« Der Anwalt deutete auf den entsprechenden Punkt im Vertrag. »Sie wissen, was das bedeutet.«

Sebastian stöhnte und vergrub den Kopf in den Händen. »Wieso habe ich eigentlich einen ganzen Anwaltsstab und schaffe es trotzdem nicht, mich aus diesem verdammten Fernsehgeschäft rauszuhalten?

»Weil Sie zu Beginn der Show einen sehr ungeheuerlichen Vertrag unterschrieben haben, Mr Cabral, und darin zeitlich unbegrenzte, sehr spezifische Klauseln enthalten sind, die besagen, dass Sie gefilmt werden dürfen, wenn Sie mit einem der Hauptakteure zusammen sind. Und da Sie das unterschrieben haben, kann ich in dieser Beziehung nicht mehr viel ausrichten.«

Er sah seinen Anwalt genervt an. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass meine Mutter mich derart verkaufen würde.«

»Ihre Mutter spielt der ganzen Welt eine Krebserkrankung vor, um bessere Einschaltquoten zu erzielen.«

Verdammt, der Mann hatte recht. »Vor ein paar Jahren war sie noch ganz anders, das kann ich Ihnen versichern.« Sonst hätte er diesen vermaledeiten Vertrag nie unterschrieben, den man ihm vorgelegt hatte, denn das hatte er nur ihr zuliebe getan. Damals hatte er noch geglaubt, die Show würde auf irgendeinem unwichtigen Sender ein paar Wochen vor sich hin dümpeln und dann abgesetzt werden.

So naiv war er jetzt schon lange nicht mehr.

»Sie werden leider in dieser Staffel eine feste Rolle spielen, ob Sie es nun wollen oder nicht. Aus der Krebsgeschichte können Sie sich vermutlich raushalten, aber die Lisa-Storyline bedeutet, dass Sie garantiert mehrmals damit konfrontiert und gefilmt werden.«

Wieder stöhnte Sebastian. Er wollte sich das alles gar nicht ausmalen. »Was habe ich für Optionen?«

»Sie können New York verlassen, während die Staffel gedreht wird. Wenn Sie nicht hier sind, kann man Sie auch nicht filmen.«

Er warf dem Mann einen verärgerten Blick zu. »Ich werde mich nicht monatelang vor der Welt verstecken. Meine Freunde und mein Geschäft sind hier.« Verdammt, er war morgen Abend zu einer Verlobungsparty eingeladen. Doch das würde er hier ganz bestimmt nicht erwähnen, nicht dass sein Anwalt sich noch verplapperte und das einem Mitarbeiter der Show erzählte. Der letzte Anwalt, den er angeheuert hatte, war in dieser Hinsicht nicht besonders zuverlässig gewesen …

… und spielte jetzt regelmäßig bei dieser dämlichen Show mit.

»Sie könnten Ihre Familie in Portugal besuchen? Nach Ihren Wurzeln fahnden? Besitzt Ihr Vater dort nicht ein Schloss?«

»Zwei sogar.« Sebastian trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Die würden mir nur dorthin folgen.«

»Dann schlage ich vor, dass Sie sich auf eine weitere Runde Medienwahnsinn vorbereiten.«

Er starrte den Papierkram in den Händen seines Anwalts an und verspürte den starken Drang, ihn aus lauter Wut einfach zu zerreißen. »Könnte ich nicht eine einstweilige Verfügung gegen Lisa erwirken?«

»Glauben Sie nicht, dass das auch in den Zeitungen auftauchen würde? Die würden sich doch förmlich darauf stürzen, und die Show würde das genüsslich auskosten.«

Okay, da hatte er auch wieder recht.

»Sie brauchen eine Alternative«, erklärte der Anwalt direkt. »Seien Sie kreativ. Es sei denn, Sie möchten wieder mit Miss Pinder-Schloss zusammenkommen?«

»Auf gar keinen Fall.« Lisa hatte sich von einem süßen, wenngleich etwas naiven Mädchen in eine Frau verwandelt, die völlig besessen von ihrem Aussehen war und dafür sorgte, dass jede ihrer Bewegungen von den Paparazzi dokumentiert wurde. »Das mit Lisa und mir war nur eine kurze Affäre. Der einzige Grund, warum es länger als ein paar Wochen gedauert hat, war, dass wir meiner Mutter über den Weg gelaufen sind, als sie gerade gefilmt wurde.« Was natürlich von vorn bis hinten geplant gewesen war, nur hatte er das damals noch nicht gewusst.

Doch auch in dieser Beziehung war er nicht mehr so naiv wie früher.

»Dann brauchen Sie etwas, das Ihnen diese Frau vom Hals hält.«

Das stimmte. Aber was?

***

Er dachte noch immer darüber nach, als der Termin schon längst beendet war und er sich von seinem Fahrer in sein Stadthaus zurückbringen ließ. Die meisten Räume waren kunstvoll karg gehalten und nur minimalistisch dekoriert. Dafür hatte er extra Innenarchitekten engagiert, die besten, die Manhattan zu bieten hatte. Jetzt ignorierte er den Rest des ansehnlich eingerichteten Hauses und ging direkt in sein Arbeitszimmer, das er gern als sein »Denkzimmer« bezeichnete. Die Tür schloss er immer ab, damit die Hausmädchen nicht einfach reinplatzen oder seine Bilder durchsehen konnten.

Denn wie jeder siebenjährige Junge auf der Welt hatte auch der kleine Sebastian Cabral gern gemalt. Doch anders als andere Kinder war er dieser Phase nie entwachsen. Seine Familie interessierte sich eher für Geld oder gesellschaftliche Ereignisse und hatte seinen Drang zu »kritzeln« nie nachvollziehen können.

Aber Sebastian empfand es als sehr entspannend, etwas mit seinen Händen zu erschaffen. Zuweilen arbeitete er an Skulpturen, hin und wieder schuf er Gemälde, aber meistens zeichnete er. Allerdings keine Landschaften, fantastische Monster oder dergleichen.

Sebastian zeichnete gern Frauen. Er vermutete, dass der heißblütige Mann in ihm einfach die weibliche Gestalt in all ihren Aspekten zu schätzen wusste, seien es nun dünne, elfenartige Mädchen mit großen Augen oder kurvige, vollbusige Frauen. Er zeichnete sie alle gern.

Er setzte sich an seinen Zeichentisch und schob einen Stapel halb fertiger Skizzen beiseite. An den Wänden des kleinen Zimmers hingen weitere Skizzen wild durcheinander. Er holte seine Kreidestifte und ein neues Blatt Papier hervor und begann mit dem sanft geschwungenen Umriss der Wange einer Frau, um dann die Augen, die Nase und den Haaransatz hinzuzufügen. Es sollte keine bestimmte Frau werden, doch mit der richtigen Frisur hätte sie Bettie Page sehr ähnlich gesehen. Er liebte es, sich beim Zeichnen zu entspannen. Manchmal malte er auch die Frauen, mit denen er ausging.

Lisa hatte er allerdings nie gezeichnet.

Und er verspürte nicht den Drang, jetzt damit anzufangen.

2

Chelsea Hall rückte ihre Knieschoner zurecht und überprüfte ein letztes Mal ihren Ellenbogen- und Handgelenkschutz. Sie wackelte probehalber mit den Fußknöcheln, aber ihre Rollerskates waren fest zugeschnürt. Das Spiel konnte losgehen.

Kid Vicious, die neben ihr stand, schlug Chelsea auf den lilafarbenen Helm. »Bist du bereit, sie fertigzumachen, Chesty LaRude?«

»Ich wurde schon bereit geboren, Baby«, erwiderte Chelsea und schubste ihre Teamkameradin mit dem Ellenbogen zur Seite.

Kid Vicious knurrte. »Das ist unfair.«

»Fairness hebe ich mir für die Party nach dem Spiel auf.«

Die Musik setzte ein, und die Stimme des Sprechers hallte durch die Arena. »Ich bitte um einen herzlichen Applaus für die Broadway Rag Queens!«

Jubelnd rollten Chelsea und die anderen Frauen aus ihrem Derbyteam zu den Klängen von Destiny’s Childs Bootylicious in die Arena. Sie drehten einige Runden, spannten die Arme an und gaben eine Kostprobe ihres Könnens. Dabei wurden nacheinander ihre Namen verkündet.

»Good Whip Lollipop, Nummer eins!«

»Morning Whorey, Nummer drei Punkt vierzehn!«

»Lady ChaCha, Nummer achtzehn!«

»Chesty LaRude, Nummer vierunddreißig DD!«

Chelsea hob die Arme und warf Kusshände ins Publikum. Sie wackelte mit dem Hintern, fuhr auf einem Bein, dann auf dem anderen und machte Faxen für die Zuschauer. Ihre kleinen Zöpfe flatterten auf ihren Schultern, und sie hob den Rock hoch und zeigte ihr knallgelbes Höschen mit dem »Durchfahrt verboten«-Straßenschild. Es machte einen Heidenspaß, so mit dem Publikum zu schäkern. Roller Derby war ein Sport, doch dabei ging es auch um Selbstsicherheit und Spaß.

»Kid Vicious! Sandra Flea! Tail Her Swift! Gilmore Hurls! Cherry Fly! Rosa B Ready! China Brawl! Pisa Hit! Grief Kelly!«

Nachdem das Team vorgestellt worden war, verließen alle die Bahn und begaben sich zu ihrer Bank. Das gegnerische Team, die Diamond Devils, kam in die Arena und wurde dem Publikum ebenfalls präsentiert. Chelsea setzte ihren Mundschutz ein, und ihr Coach, Black HellVet, deutete auf sie. »Okay, Ladys. Unsere ersten Blocker sind Chesty, Grief und Pisa. Vicious, du bist der Pivot, und Lollipop ist der Jammer. Noch irgendwelche Fragen? Nein? Gut. Dann raus mit euch.«

Sie stießen sich mit den Unterarmen an und nahmen johlend und kreischend ihre Plätze auf der Bahn ein.

Chelsea war eine der Blockerinnen und somit keiner der »Stars« des Teams. Damit hatte sie jedoch kein Problem. Blocker hatten auf der Strecke den meisten Körperkontakt. Während die Jammer vorausrollten und alles daransetzten, Punkte zu machen, und die Pivots die Geschwindigkeit vorgaben, versuchten die Blocker, ein möglichst großes Chaos anzurichten, und genau das machte Chelsea am meisten Spaß. Als die Pfeife zu hören war, rammte sie sofort die Diamond-Spielerin neben sich und fuhr dann vorwärts. Sie war bekannt dafür, auf der Strecke brutal vorzugehen, und sie gab wie immer alles.

Das war nun einmal ihr Stil. Während der nächsten halben Stunde blockte sie, was sie konnte, durchkreiste die Arena, warf sich gegen ihre Gegenspielerinnen und ging volles Risiko, wenn nichts anderes funktionierte. Sie würde am nächsten Morgen jede Menge blaue Flecke haben, doch jetzt zählte nur das Spiel. Die Rag Queens führten mit vier Punkten, aber das war nicht viel. Ein guter Jam, und schon wären die Diamonds wieder in Führung. Aus diesem Grund blockte sie etwas intensiver und schaffte es sogar, eines der Mädchen aus der Spur zu bringen.

Dann war Halbzeitpause, und alle zogen sich in die Kabinen zurück. Sie versammelten sich und wollten schon die Strategie für die zweite Halbzeit besprechen, doch dann merkte Chelsea, dass sie vor dem Spiel zu viel Wasser getrunken hatte. »Ich muss auf die Toilette«, kündigte sie an. »Besprecht euch ja nicht ohne mich.«

Cherry Fly stöhnte. »Musst du schon wieder pinkeln? Ist ja nicht wahr.«

»Ich kann es doch nicht ändern. Das Blocken wirkt nun mal so bei mir.«

Cherry hielt inne. »Soll ich mitkommen?«

Chelsea schüttelte den Kopf. Sie wollte ja nur kurz auf die Toilette, da würde schon nichts passieren. Sie zwinkerte den anderen zu, legte ihren rosafarbenen Mundschutz in die dazugehörige Schachtel und rollte aus der Kabine in Richtung Toiletten. Eigentlich gab es auch eine Toilette in der Kabine, aber da wurde gerade gebaut, und es stank dort wie in Sandra Fleas alten Knieschonern. Deshalb steuerte sie die öffentlichen Toiletten an. Da gerade Pause war, würde dort bestimmt ein ziemlicher Andrang herrschen, aber normalerweise wurden die Spielerinnen vorgelassen.

Die Halbzeitshow schien jedoch sehr gut zu sein, denn vor den Toiletten war überhaupt keine Schlange zu sehen. Chelsea vermutete, dass gerade eine Verlosung stattfand, und zog die Tür der Damentoilette auf.

Da tippte ihr eine gebräunte Hand auf die Schulter. »Entschuldigung, Miss?«

Sie erstarrte am ganzen Körper. Ihre Muskeln machten einfach zu. Der Rand ihres Sichtfelds färbte sich schwarz, und einen Augenblick lang glaubte Chelsea schon, sie würde ohnmächtig werden.

Nein, nein, nein. Das kannst du nicht machen. Das wäre genau das, was er will.

Daher zwang sie sich, den Arm abzuschütteln und sich zu dem Mann umzudrehen. Sie kannte ihn nicht. Er war ein Fremder. So ein Kerl in einem Band-T-Shirt und mit Baseballkappe. Er sah aus wie ein Collegestudent.

Bei seinem Anblick bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Bist du Chesty LaRude?« Er hielt eine ihrer Sammelkarten hoch. »Ich bin ein großer Fan. Kann ich ein Autogramm haben?«

Sie bewegte die Lippen, ohne einen Ton herauszubekommen. Normalerweise begleitete sie Pisa, ihre beste Freundin, immer, wenn sie die Kabine verließ. Sie wusste ganz genau, dass sie Chelsea nicht allein lassen durfte. Aber das Spiel brachte immer eine Menge Endorphine mit sich, und im Überschwang des Rausches hatte Chelsea Pisa zurückgelassen, die gerade die Schrauben an ihren Rollerskates nachgezogen hatte.

Und jetzt stand sie hier mit diesem fremden Mann allein im Gang.

Ihr stockte der Atem. Sie geriet zunehmend in Panik. Ihr klebte das schweißnasse Haar im Nacken, und es gelang ihr gerade so, den Kopf zu schütteln. Sie bezweifelte, dass sie im Augenblick überhaupt einen Stift in der Hand halten konnte, selbst wenn sie es versuchen würde.

Bei ihrer Weigerung verzog er das Gesicht. »Glaubst du etwa, du wärst zu gut für so was? Scheiß auf dich!«

Sie wollte etwas sagen. Protestieren. Ihm sagen, er könne sich zum Teufel scheren. Aber sie bekam keinen Ton heraus. Chelsea war wie erstarrt.

Sie musste hier weg. Schnellstmöglich. Als sie vorwärtstaumelte, knallte sie gegen die Schwingtür der Toilette. »Lass mich in Ruhe«, bekam sie mit Mühe und Not heraus.

»Blöde Kuh«, rief er ihr hinterher.

Sie rollte in den Vorraum zur Toilette, mit ruckartigen Bewegungen und völlig verzweifelt.

Einen Augenblick später hörte sie, wie die Tür erneut geöffnet wurde, und einen Schreckmoment lang glaubte sie schon, der Mann wäre ihr gefolgt.

Es würde genauso ablaufen wie beim letzten Mal. Nicht schon wieder. Bitte, nicht schon wieder. Bitte nicht!

Das Licht ging aus, und sie hörte ein albernes jugendliches Lachen. Dann fiel die Tür wieder zu.

Es war ein Streich. Nichts weiter. Er wollte sie nur ärgern.

Aber es war genauso schlimm, vielleicht sogar noch schlimmer, wie von einem Fremden berührt zu werden, dass das Licht aus war. Chelsea wimmerte, ging zu Boden und zog die Knie an die Brust. Ihre Rollschuhe rollten nach vorn und stießen gegen die Wand. Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die andere Wand sinken und machte sich ganz klein, während ihr heiße Tränen die Wangen herunterliefen.

Es war dunkel.

Sie hasste die Dunkelheit.

Jemand musste herkommen. Ihr helfen. Bitte. Ich bin hier. Warum kommt denn niemand? Die Worte wirbelten durch ihren Kopf, kamen ihr jedoch nicht über die Lippen. Es mochten zehn Minuten vergangen sein oder einhundert. Chelsea saß einfach nur da, war wie erstarrt vor Angst und konnte sich nicht bewegen.

»Chesty? Chels?«

Es war Pisas Stimme. Aber sie konnte ihr nicht antworten. Ihre Erstarrung hielt sie noch immer in den Klauen.

Das Licht in der Toilette ging wieder an. Einen Augenblick später kam Pisa hereingerollt und riss die Augen auf, als sie Chelsea sah. »Großer Gott! Ist alles okay?«

»Jemand hat das Licht ausgemacht«, sagte Chelsea mit erstickter Stimme. Sie schniefte und wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. »Tut mir leid.«

»Ach, Süße, das ist schon okay.« Pisa setzte sich neben sie und drückte sie an sich. »Wir haben uns nur alle gefragt, wo du steckst. Hat … Hat dich jemand angefasst?«

Pisa kannte Chelseas Geheimnis. Den Grund dafür, warum es ihr jetzt so ging. Den Grund dafür, dass sie sich im Dunkeln fürchtete. Sie begriff, warum Chelsea in einer öffentlichen Toilette zusammengebrochen war.

Chelsea schüttelte den Kopf. »Da war nur ein Fan, der ein Autogramm haben wollte. Er … Er hat mich erschreckt.«

»Dieses Arschloch.« Pisa blieb neben Chelsea sitzen und rieb ihren Arm. »Du zitterst ja wie Espenlaub. Brauchst du deine Tabletten?«

»Es geht mir gut«, versicherte ihr Chelsea. »Ganz ehrlich.«

»Ja, klar«, murmelte Pisa, stand auf und half Chelsea wieder auf die Beine. »Du kannst mich ja für verrückt halten, aber das kaufe ich dir nicht ab.« Pisa beugte sich vor und wischte in Chelseas Gesicht herum. »Dein Eyeliner ist völlig verschmiert, Süße. Black HellVet muss dich nur ansehen, dann lässt er dich für den Rest des Spiels auf der Bank. Du solltest dich lieber ein bisschen frisch machen.«

Chelsea nickte. »Ich werde mich zusammenreißen. Versprochen.« Irgendwie …

»Du hättest auf mich warten sollen«, meinte Pisa, nahm ein paar Papiertücher und befeuchtete sie, um Chelseas Gesicht damit abzuwischen.

Auch wenn Chelsea erneut nickte, verabscheute sie sich gleichzeitig ein wenig. Warum konnte sie nicht cool bleiben, damit ihre Freunde sie nicht wie ein Baby behandeln mussten? Warum drehte sie in dem Augenblick schon durch, in dem sie ein Mann auch nur berührte? Hatte die jahrelange Therapie denn überhaupt nichts gebracht?

Es musste doch einen Weg geben, wie sie darüber hinwegkommen konnte. Das musste doch möglich sein.

Ansonsten wäre sie für den Rest ihres Lebens wirklich ein hoffnungsloser Fall.

3

Gretchen wollte Chelsea gar nicht mehr loslassen, als sie sich in der Tür des Buchanan-Herrenhauses in den Armen lagen. »Ich kann es einfach nicht fassen, dass wir uns schon drei Jahre nicht gesehen haben. Da muss ich erst heiraten, um dich aus deinem Versteck zu locken!«

Chelsea lachte und drückte ihre alte Freundin und ehemalige Mitbewohnerin fest an sich. »Jetzt hör aber auf! Ich verstecke mich nicht, ich hatte nur viele Spiele. Du bist doch diejenige, die sich hinter ihren vielen Buchabgabeterminen verkrochen hat. Ich wusste ja nicht einmal, dass du einen Freund hast.«

»Ah, du hast mir auch gefehlt.« Gretchen rückte ihre Nerdbrille zurecht und begutachtete Chelsea von Kopf bis Fuß. »Du siehst übrigens umwerfend aus.«

»Danke. Du musst dich auch nicht gerade hinter dem Ofen verstecken.« Gretchen trug ein schlichtes schwarzes Cocktailkleid mit langen Rüschen an der Hüfte, in dem sie eigentlich gedrungen hätte wirken müssen. Stattdessen sah sie kurvig und drall aus. Mit ihrem knallroten Haar und der Brille war sie eine bezaubernde Frau.

»Nein, ganz im Ernst.« Gretchen hielt Chelseas Hand fest, damit sich diese wie eine Ballerina drehen konnte. »Dieses Kleid könnte auch aufgemalt sein. Und sieh dir nur deine Beine an! Meine Fresse!«

»Ich trainiere viel«, erwiderte Chelsea grinsend. Sie trug ihr lockiges blondes Haar offen, sodass es ihr auf die Schultern fiel und ihre gebräunte Haut noch besser zur Geltung brachte. Ihr Kleid war ärmellos, champagnerfarben und hauteng, und es umschmeichelte ihre schlanke Gestalt sehr vorteilhaft. Dazu trug sie nudefarbene Pumps und einen schmalen Armreif. »Eigentlich stehe ich fast immer auf meinen Rollerskates. Die hochhackigen Schuhe kommen mir richtig komisch vor, weil ich eigentlich Rollen erwarte.«

»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Gretchen. Sie schüttelte den Kopf und deutete dann auf das Herrenhaus. »Willkommen in meinem neuen Zuhause. Was die Mitbewohner betrifft, habe ich mich seit dir verbessert. Der hier ist richtig gut im Bett.«

Chelsea grinste schief, als sie das gewaltige Haus betrat. »Du wohnst nur ziemlich ab vom Schuss.«

»Das macht mir nichts aus. Und, mit wem wohnst du jetzt zusammen?«

»Mit Pisa Hit. Sie ist meine Derbyfrau.«

Gretchen blinzelte. »Hast du die Seiten gewechselt, und ich habe es nicht mitbekommen? Denn ich habe heute Abend immer einen Mann neben eine Frau gesetzt, kann das aber gern noch ändern …«

Chelsea winkte ab. »Das ist nur eine andere Bezeichnung für die beste Freundin. Pisa ist meine Mitbewohnerin, und wir machen sehr viel zusammen. Ihr richtiger Name lautet Felicity.« Nicht dass sie irgendjemand so nannte. Pisa würde ihr einen blauen Fleck verpassen, wenn sie nur daran dächte. Da Chelsea aber wusste, dass ihre Derbygeschichten eigentlich nur andere Spielerinnen interessierten, wechselte sie das Thema. »Und … Was schreibst du gerade? Wieder so eine Weltraumgeschichte?«

Gretchen verzog das Gesicht und führte Chelsea durch das riesige Foyer. »Großer Gott, nein. Ich schreibe zurzeit überhaupt nichts, und das tut mir wahnsinnig gut. Zwar liebäugele ich mit der Idee, ein Kochbuch zu schreiben, aber vorerst lasse ich mich aushalten. Aber erzähl das ja nicht Audrey.«

Chelsea musste grinsen. »Wie geht es deiner Schwester denn?«

»Sie ist hochschwanger und platzt bald.«

Das waren ja erschreckende Neuigkeiten. »Augenblick mal. Hat sie etwa auch geheiratet?«

»Ja, aber ihre Hochzeit war eher eine familiäre Angelegenheit.« Gretchen drückte Chelseas Arm. »Ich habe dir doch gesagt, dass du in letzter Zeit nichts mitbekommen hast.«

»Sieht ganz danach aus. Das Roller Derby nimmt ziemlich viel Zeit in Anspruch«, erwiderte Chelsea ausweichend. Tatsächlich bot ihr der Sport eine gute Ausrede, um sich vor Freunden und gesellschaftlichen Ereignissen drücken zu können. Sie musste nicht an jedem Wochentag trainieren, aber sie tat es dennoch. Sie musste sich nicht freiwillig für jedes Ereignis, jedes Training, jedes Auswärtsspiel melden und machte es trotzdem. Solange sie nicht allein sein musste, war ihr alles recht. Damit wurde sie fertig. Doch sobald sie nicht länger von anderen Menschen umgeben war, kehrte die Angst zurück.

»Und, hast du momentan einen Freund?«

»Nein, im Moment nicht.« Dies war die erste »Party« seit einer ganzen Weile, die sie ohne Pisa an ihrer Seite besuchte, und das machte sie ein bisschen nervös. Normalerweise regelte Pisa viele Dinge für sie, aber sie konnte ihre Freundin ja wohl kaum mit zu einer Verlobungsfeier schleifen, zu der sie nicht eingeladen war. Aus diesem Grund hatten sie sich einen Plan ausgedacht, der Chelsea bei ihren Problemen helfen sollte: Sie würde so tun, als wäre sie auf der Suche nach einem neuen Freund, damit ihr sofort alle Singlemänner vorgestellt wurden. Dann waren diese keine Fremden mehr, und ihr Körper und ihr Verstand würden nicht ausflippen.

Alles wäre gut.

Daher setzte Chelsea ihr kessestes Grinsen auf. »Ich bin ein ausgesprochen einsamer Single, und du wirst mir doch bestimmt gern einen Haufen brauchbarer Kerle vorstellen, die der Hochzeitsgesellschaft angehören, nicht wahr?«

»Kann schon sein«, entgegnete Gretchen, die versuchte, sich ihre Begeisterung nicht anmerken zu lassen. »Wenn das für dich okay ist?«

»Nur wenn sie heiß sind und einen vernünftigen Job haben. Ich stelle Seifen her, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, also sollte wenigstens einer von uns ein bisschen Geld nach Hause bringen.« Sie zwinkerte ihrer Freundin zu. »Aber … Bitte erwähne lieber nicht, dass ich Roller Derby spiele, okay?«

»Warum denn, ist das jetzt etwa ein schmutziges Geheimnis? Ich fand es immer cool.«

»Du solltest wirklich mal spielen«, schlug Chelsea vor. »Es ist eine sehr gute Therapie, jemanden mit der Schulter von der Strecke zu stoßen.«

»Lieber nicht. Ich habe Angst vor Schmerzen.« Gretchen rümpfte die Nase. »Gut, dann sage ich kein Wort vom Roller Derby.«

»Das wäre sehr nett von dir. Manche Männer fühlen sich davon abgeschreckt. Sie denken entweder, wir wären Stripperinnen auf Rollschuhen, oder sie können es nicht ausstehen, dass der Sport einen Großteil unserer Zeit verschlingt. Pisas letzter Freund hat sie gezwungen, sich zwischen ihm und dem Roller Derby zu entscheiden.«

Gretchen zog die Augenbrauen so hoch, dass sie über ihrer Brille zu sehen waren. »Und?«

»Sie hat mir erzählt, er wäre sowieso eine Niete im Bett gewesen.« Chelsea zuckte mit den Achseln. »Und ich habe festgestellt, dass es besser ist, beim ersten Kennenlernen nichts davon zu erwähnen. Wenn jemand etwas über mich wissen will, dann sag, dass ich Seife herstelle und Filme liebe.«

Gretchen kicherte. »Und dass du darauf stehst, anderen Frauen eine zu verpassen, aber das behalten wir lieber für uns.«

»Ja, das wäre besser.« Chelsea grinste breit und hakte sich bei Gretchen unter. »Dann zeig mir doch mal all die heißen Singlemänner.«

***

Kurze Zeit später hatte sie die ganze Hochzeitsgesellschaft kennengelernt. Da war Hunter, der Bräutigam, den Gretchen die ganze Zeit hingebungsvoll anstarrte, wenn sie ihm nicht gerade an den Hintern fasste. Er hatte recht deutliche Narben, aber Gretchen hatte schon immer eine Vorliebe für Männer mit einer Geschichte gehabt, und Chelsea vermutete, dass seine ziemlich interessant war. Er schien Gretchen zu vergöttern, und das machte ihn in Chelseas Augen zu einem wahren Schatz.

Dann war da Edie, eine recht sauertöpfische Frau, und ihre Schwester Bianca, die ganz nett zu sein schien, aber nicht das geringste Interesse hatte, sich mit Frauen zu unterhalten. Bianca hatte sich bereits einen Mann geangelt und schien ihn nicht mehr loslassen zu wollen. Chelsea schätzte sie als eine dieser Frauen ein, die alle anderen für Konkurrentinnen hielten. Für Chelsea galt das nur, wenn sie sich mit ihnen auf der Rollschuhbahn befand.

Außerdem waren da die anderen Brautjungfern: Greer, eine alte Freundin und ehemalige Mitbewohnerin aus der Zeit, als Gretchen und sie noch eine dritte Zimmergenossin gehabt hatten. Audrey, Gretchens hochschwangere Schwester, die überglücklich wirkte und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Taylor, ihre Collegefreundin, die auch ein Computernerd war und vermutlich lieber vor ihrem Laptop gesessen hätte, als sich auf dieser Feier aufzuhalten, und Kat, Gretchens großspurige Literaturagentin. Chelsea war den meisten schon einmal begegnet, allerdings bereits vor mehreren Jahren. Es gab doch nichts Besseres als eine Hochzeit, um alte Freunde wieder zusammenzubringen. Nach allem, was Chelsea wusste, konnte es aber durchaus sein, dass sich die anderen jedes Wochenende trafen, während sie bei irgendeinem Roller-Derby-Spiel ihren Gegnerinnen das Leben schwer machte.

Chelsea war die Freundin, die sich aus allem zurückgezogen hatte, nicht Gretchen.

Aber sie hatte ihre Gründe dafür gehabt. Bei denen es sich eigentlich um Bewältigungsmechanismen handelte. Aber es waren dennoch gute Gründe gewesen.

Die Männer stellten eine interessante Mischung dar. Asher war einer der Trauzeugen, wie Chelsea mit Freude feststellte. Sie umarmte ihn herzlich. Er war ein alter Freund und hatte früher zu ihrer Clique gehört, als sie zusammen mit Gretchen, Greer und Taylor die Straßen von New York unsicher gemacht hatte. Er war inzwischen ein paar Jahre älter, sehr viel reicher und bei Weitem nicht mehr so offen und freundlich wie früher. Irgendetwas musste mit ihm passiert sein. Sie fragte sich kurz, ob Greer noch immer in ihn verliebt war. Vor einigen Jahren war Asher jeden Morgen Greers erster Gedanke gewesen, und er … Er hatte nicht einmal wirklich gewusst, dass sie existierte. Aber möglicherweise war sie ja mittlerweile darüber hinweg.

Die meisten Menschen änderten sich im Laufe der Zeit.

Außerdem war da Magnus, ein großer, kräftig gebauter Mann, der irgendetwas mit Videospielen machte und durchdringende grüne Augen besaß. Sein Bruder Levi gehörte der Hochzeitsgesellschaft ebenfalls an und hatte nur noch Augen für Edies Schwester Bianca, sodass Chelsea ihm zur Begrüßung gerade mal zwei Worte sagen konnte.

Dann war da noch ihr alter Freund Cooper, der Erste aus ihrer »Bande«, der einen richtigen Job bekommen hatte … und einen zurückweichenden Haaransatz. Sie umarmte ihn und strich über seinen kahler werdenden Schädel. »Du siehst heiß aus, Coop!«

»Du änderst dich wohl nie, Chels. Und du bist so hübsch wie immer. Wie geht es dir? Was macht das Seifengeschäft?«

»Ach … Du weißt schon. Träge wie immer.« Sie hob die Augenbrauen. »Und wie läuft dein Café?«

»Das läuft super. Das Geschäft brummt. Falls du mal einen Job brauchst, kann ich dich bestimmt irgendwo unterbringen.« Er strahlte sie an, doch dann wanderte sein Blick ebenfalls zu Bianca hinüber.

»Ach, danke dir. Vielleicht komme ich darauf zurück«, flunkerte sie. Hier waren einfach zu viele Menschen. Zu viele Fremde. Zu viele Gelegenheiten, bei denen jemand etwas Dummes versuchen konnte. Da war sie ja beim Derby besser geschützt, wo sich die Frauen freundschaftlich (und manchmal nicht ganz so freundschaftlich) schubsten und knufften und immer in Paaren auftraten. Aber als Gretchen Chelsea weiterschob, um ihr den Rest der Anwesenden vorzustellen, war sie ganz froh darüber, von Cooper wegzukommen. Schließlich konnte sich jeder aus ihrer Vergangenheit danach erkundigen, warum sie sich so lange nicht hatte blicken lassen, und sie war noch längst nicht bereit, diese Fragen zu beantworten.

Danach lernte sie Reese kennen, Audreys frisch Angetrauten, bei dem es sich um ein ziemliches Schlitzohr mit Schnurrbart und einem frechen Grinsen handelte. Er gehörte zu der Sorte Mann, die sie seit dem Ereignis in jeder Situation außerordentlich nervös machte. Das lag an seiner Selbstsicherheit, seiner unbekümmerten Art und seiner Frauenhelden-Mentalität. Nur die Tatsache, dass er sich liebevoll um seine schwangere Frau kümmerte, bewirkte, dass sich Chelsea in seiner Gegenwart nicht unwohl fühlte, aber sie bemühte sich dennoch, die Unterhaltung kurz zu halten.

Gretchen schleifte sie weiter durch den Raum voller Menschen und runzelte die Stirn. »Ich kann Sebastian nirgends entdecken. Er ist einer von Hunters Freunden.« Sie schnitt eine Grimasse. »Na ja, soweit er eben Freunde hat. Es sind eher Leute, die er von der Arbeit kennt und eben nicht ganz schrecklich findet. Wir wollten in der Hochzeitsgesellschaft nicht nur seine Kumpel vom College haben, weil das bei der letzten Hochzeit auch schon so war. Daher haben wir uns nach anderen Trauzeugen umgesehen, und Sebastian ist ein Bekannter, der aus einer reichen Familie kommt. Seine Familie ist allerdings ziemlich durchgedreht.« Sie warf Chelsea einen entschuldigenden Blick zu. »Ich habe ihn für den ganzen Hochzeitskram als deinen Partner vorgesehen und hoffe, das geht für dich in Ordnung. Es gab nur die Wahl zwischen ihm oder Magnus, und ich fand, dass ihr farblich besser zusammenpasst, weil er dunkel ist und du sooooo süß und blond. Würg.« Sie nahm lachend zwei Champagnerflöten von dem Tablett, das ihnen ein Butler reichte, und gab eine Chelsea. »Trink etwas. Ich weiß doch, wie sehr du dieses Blubberwasser magst.«

Chelseas Lächeln wurde angespannt, aber sie nahm das Glas entgegen, um nicht unhöflich zu sein, auch wenn sie es lieber abgelehnt hätte. »Danke.«

»So, wir werden uns jetzt alle hinsetzen und essen«, erklärte Gretchen und ließ Chelseas Arm los. »Komm mit. Sebastian wird bestimmt gleich da sein.«

»Ich komme gleich«, erwiderte Chelsea, deren Panik immer größer wurde. Eigentlich war das völliger Blödsinn. Sie sollte nicht so nervös werden, nur weil sie in einem Raum voller Freunde neben einem ihr unbekannten Mann sitzen würde. Aber Pisa war nicht hier, um ihr beizustehen. Sie war ganz auf sich allein gestellt. Und wer wusste schon, was dann alles passieren konnte?

Hör auf damit, schalt sie sich. Das sind deine Freunde. Diesen Raum zu betreten und so viele bekannte Gesichter zu sehen war ein bisschen wie einen entfernten Verwandten zu umarmen: angenehm, aber irgendwie auch seltsam. Sie durfte jetzt nicht ausflippen, sie brauchte einen Augenblick, um sich zu beruhigen, wieder runterzukommen und einen klaren Kopf zu kriegen.

Und um ihr verdammtes Getränk zu entsorgen, da sie es nicht mit sich herumschleppen, aber erst recht nicht trinken wollte.

So entschuldigte sie sich und strebte auf die Toilette zu. Dort fand sie allerdings jemand anderen vor. Zu ihrer Überraschung stand die winzig kleine Greer vor dem Spiegel und versuchte verzweifelt, ihr Make-up zu richten. Ihr rechtes Auge sah irgendwie … merkwürdig aus.

Greer warf Chelsea einen panischen Blick zu, als sie hereinkam. »Chels! Oh. Gott sei Dank. Ich brauche deine Hilfe.« Sie deutete auf ihr Auge. »Meine Wimpern sind weg. Sieht das schlimm aus?«

Chelsea starrte ihr ins Gesicht. »Na ja, es sieht so aus, als wäre das eine Auge kahler als das andere. Meinst du das mit ›schlimm‹?«

»Oh nein.« Greer stöhnte, beugte sich vor und starrte in den Spiegel. »Ich kann es nicht genau erkennen, weil ich meine Brille nicht aufhabe.«

»Äh, und warum nicht?« Ihres Wissens nach brauchte die arme Greer eine sehr starke Brille. Sie war schon immer ein wenig schüchtern und scheu gewesen, süß, aber auch unscheinbar und unauffällig. »Brauchst du sie denn nicht? Oder hast du dich lasern lassen?«

»Nein, ich habe mich nicht lasern lassen, und ja, eigentlich brauche ich sie.« Greer sah sie unglücklich an. »Asher ist doch heute hier, und ich wollte … hübsch aussehen.«

»Ach, Süße.« Greer war eine ganz Nette, aber sie war einfach nicht Ashers Typ. Stand sie wirklich noch immer auf diesen arroganten Mistkerl? Er mochte seine Frauen groß, langbeinig und vollbusig. Tatsächlich fiel Chelsea genau in sein Beuteschema, doch Asher war ein alter Freund, und sie fand die Vorstellung, mit ihm auszugehen, irgendwie abartig.

»Bitte«, sagte Greer kaum lauter als ein Flüstern. »Könntest du sie bitte suchen? Ich war vorhin in der Bibliothek. Dort müssen sie runtergefallen sein. Ich kann doch nicht so am Esstisch erscheinen. Bitte. Bitte, bitte, bitte.«

»Ist ja schon gut.« Das konnte eine Weile dauern, und vielleicht käme sie dadurch zu spät zum Essen, aber diese Aufgabe würde ihr auch helfen, sich abzulenken und ihre Nerven zu beruhigen. Außerdem konnte sie Greer damit einen Gefallen tun. Und wem wollte sie hier etwas vormachen? Sie war sehr froh darüber, sich noch nicht sofort an den Esstisch setzen zu müssen. »Aber nur unter einer Bedingung.«

»Schieß los.«

Sie reichte Greer ihr Champagnerglas. »Trink das.«

Greer runzelte die Stirn und sah erst Chelsea und dann das Glas misstrauisch an. »Warum denn, schmeckt er etwa nicht?«

»Keine Ahnung. Ich wollte ihn eigentlich gar nicht, aber mir ist keine Möglichkeit eingefallen, wie ich das Glas höflich ablehnen konnte.«

»Hmm. Okay.« Greer nahm das Glas und trank einen großen Schluck. Dann presste sie ihre kleine Hand vor den Mund und rülpste leise. »So, jetzt geh meine Wimpern suchen. In der Bibliothek.«

»Alles klar. Zeig mir nur die Bibliothek, dann zeig ich dir eine Wimpernjägerin!«

Es dauerte drei Anläufe, bis Greer den richtigen Raum gefunden hatte. Sie war jetzt nicht nur halb blind, sondern dank Chelseas Champagner auch noch beschwipst. Sie vertrug einfach keinen Alkohol. Doch als die beiden die Bibliothek gefunden hatten, blieb Chelsea davor stehen. Sie konnte die Hochzeitsgesellschaft etwas weiter den Flur entlang hören, wo sie sich vermutlich gerade alle zum Essen versammelten. »Kommst du mit rein und hilfst mir suchen? Ich könnte Gesellschaft gebrauchen.« Sie war nun einmal nicht gern allein.

Greer schnaubte. »Ich kann keine zwei Meter weit sehen, aber ich komme gern mit rein und ›helfe‹ dir.« Sie malte die Anführungsstriche in die Luft und folgte Chelsea dann auf leicht wackligen Beinen. »Ich werde mich nicht mit einem kahlen Auge neben Asher setzen, so viel steht fest.«

Die hübschen Tiffany-Lampen in der verlassenen Bibliothek tauchten den Raum in ein schummriges Licht. Ansonsten befanden sich dort nur Sessel und Regale, und es war dunkler, als es Chelsea lieb war. Sie wurde noch nervöser und ging rasch durch den Raum, um sämtliche Lampen anzuschalten.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die ganze Zeit vor dem Kamin gestanden habe«, sagte Greer.

»Ich sorge trotzdem lieber dafür, dass es so hell wie möglich ist«, entgegnete Chelsea. Sie hasste die Dunkelheit. Im Dunkeln funktionierte sie einfach nicht. Licht stand für Wärme und Sicherheit. Sobald alle Lampen brannten, entspannte sie sich ein wenig.

Greer ließ sich in einen Sessel fallen und fächelte sich Luft zu. »Ziemlich heiß hier drin, was?«

»Eigentlich nicht.« Chelsea ging hinüber zum Kamin. »Hast du ungefähr hier gestanden?« Davor lag ein dichter Perserteppich, und es würde nicht leicht werden, auf diesem Muster ein paar falsche Wimpern zu finden, aber das störte Chelsea nicht weiter. Dadurch würde Zeit verstreichen, und das war genau das, was sie im Moment wollte und brauchte.

»Ich glaube schon«, hauchte Greer. Dann stieß sie leise auf. »Mir ist irgendwie nicht gut.«

»Ähm.« Chelsea blickte auf den teuren Teppich hinab, auf dem sie kniete. »Steht hier irgendwo ein Mülleimer?«

»Mir ist gar nicht gut.« Greer presste die Finger vor den Mund.

Das war übel. Im wahrsten Sinne des Wortes. »Warum gehst du nicht zurück ins Bad, und ich suche weiter?« Wieder flackerte ihre Angst vor dem Alleinsein auf, aber sie konnte die anderen Gäste in der Nähe hören, und sie wollte nicht, dass sich Greer in der Bibliothek erbrach. Da war sie lieber eine Minute lang allein. Aber auch nur eine. »Ich komme zu dir, sobald ich sie gefunden habe.«

Greer nickte und lief taumelnd davon. Jetzt war Chelsea allein. Sie ging auf Hände und Knie und wischte vorsichtig mit den Handflächen über den Teppich. Ganz langsam bewegte sie sich vorwärts und durchquerte den Raum.

Es dauerte einige Minuten, bis sie Erfolg hatte. Unter dem Schreibtisch entdeckte sie schließlich etwas, das wie eine stachelige Raupe aussah. Wie in aller Welt hatte Greer hier ihre Wimpern verlieren können? Chelsea rutschte auf den Knien vorwärts und klemmte ihren Rocksaum zwischen die Beine. Doch sie kam einfach nicht an die Wimpern heran und musste wohl oder übel unter den Tisch kriechen.

Sie befand sich halb unter dem großen Holzschreibtisch, als jemand den Raum betrat. Nach kurzem Erstarren rutschte sie noch weiter darunter, um ja nicht gesehen zu werden.

Doch der Plan ging nach hinten los. Einige Sekunden später setzte sich ein Mann auf den Stuhl, der hinter dem Schreibtisch stand, und sie hatte zwei lange Beine vor sich und zwei riesige Füße, die in teuren italienischen Slippern steckten.

Puh … Das war jetzt aber eine wirklich blöde Situation.

Chelsea umklammerte die Wimpern und wusste nicht, was sie tun sollte. Aus irgendeinem Grund geriet sie nicht in Panik. Möglicherweise lag es an der Tatsache, dass die Wimpern einer anderen Frau an ihren Fingern klebten und sie unter einem Schreibtisch in Schritthöhe eines Mannes hockte, was diese ganze Situation ziemlich surreal machte.

Es konnte aber auch an dem leisen Lachen und dem Stimmengewirr liegen, das aus einiger Entfernung zu hören war.

Sie wusste nicht genau, woran es lag, war aber froh, dass sie nicht ausflippte. Als sie hörte, wie der Mann auf seinem Handy herumtippte, fragte sie sich, wann sie ihn auf sich aufmerksam machen sollte.

Ein Augenblick verstrich. Dann noch ein zweiter.

Er würde sie doch irgendwann bemerken, oder nicht?

Der Fremde seufzte und tippte schneller. Er drehte sich auf dem Stuhl herum und stieß ihr dabei beinahe mit dem Knie gegen die Brust.

Okay, eventuell bemerkte er sie doch nicht.

Es wurde Zeit, dass sie etwas unternahm. Als sich der Mann nicht bewegte, stemmte sie die Hände auf seine Oberschenkel, schob seinen Stuhl nach hinten und glitt unter dem Schreibtisch hervor.

Ein schneller Blick verriet ihr, dass sie Sebastian vor sich haben musste, den Mann, der bei allen Hochzeitsaktivitäten, die Gretchen so plante, an ihrer Seite sein würde. Sie musste zugeben, dass Gretchen einen guten Geschmack hatte. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass Chelsea den Männern für immer abgeschworen hatte, wäre er genau ihr Fall gewesen. Er hatte dunkles, dichtes Haar, das ganz leicht gewellt war und das er nach hinten gekämmt trug. Sein Gesicht war markant, mit dichten Augenbrauen und einer fast schon zu großen Nase. Sein Mund war sinnlich, seine Lippen voll, aber das Erstaunlichste an ihm waren seine grünen Augen, die einen deutlichen Kontrast zu seiner olivfarbenen Haut bildeten. Außerdem war er sehr groß, und sein dunkelblauer Anzug war maßgeschneidert und ließ breite Schultern erkennen.

Er sah sie schockiert an, als sie unter dem Schreibtisch hervor- und auf seinen Schoß krabbelte. Nein, eigentlich ließ sich seine Miene mit erschrocken gerade mal ansatzweise beschreiben. Er wirkte entsetzt, möglicherweise sogar abgestoßen.

Sie fühlte sich sofort besser. Nun hatte sie das Heft in der Hand. Er machte nicht den Eindruck, als wollte er die Kontrolle über die Situation – und sie – an sich reißen. Vielmehr sah er so aus, als hätte er am liebsten Reißaus genommen.

Das verlieh ihr Selbstsicherheit. Daher schenkte sie ihm ein keckes Lächeln. »Hallo.«

4

Als sich Sebastian in die Bibliothek setzte, um seine vielen Nachrichten zu beantworten – sein Handy hörte schon seit einiger Zeit nicht mehr auf zu vibrieren –, glaubte er, er könnte einige Minuten lang seine Ruhe haben. Er hatte sich bereits bei der Gastgeberin, Hunters eigentümlicher, aber sehr temperamentvollen Verlobten, entschuldigt und plante, bald wieder zu den anderen Gästen dazuzustoßen.

Mutter: Antworte mir, Sebastian. Warum versuchst du, mir mit den Verträgen einen reinzuwürgen???

Sie hatte siebzehn Mal dieselbe Nachricht geschickt, und so, wie er seine Mutter kannte, hatte sie ihr Handy garantiert einer Assistentin gereicht, die immer wieder auf Senden drücken musste. Es war unglaublich nervig, aber seine Mutter wusste nun mal wie kein anderer, wie sie ihn auf die Palme bringen konnte. Daher schrieb er zurück.

SC: Ma. Wenn du nicht aufhörst, mir Nachrichten zu schicken, schalte ich mein Handy aus. Ich rede gern im Beisein meines Anwalts mit dir über die Verträge, aber auf keinen Fall ohne ihn.

Mutter: Traust du mir nicht? Deiner eigenen Mutter?!? Und nenn mich nicht Ma! Ich bin zweiundfünfzig und keine achtzig. Nenn mich Mama Precious.

SC: Du weißt ganz genau, dass ich das nicht tun werde. Und ich vertraue dir, Ma. Aber ich traue dem Sender nicht, und wir wissen doch beide, dass mir jemand eine Kamera vor die Nase halten wird, sobald ich bei euch auftauche. Daher werde ich das erst tun, wenn alles unterschrieben ist. Das ist nichts Persönliches. Du weißt doch, dass ich dich liebe.

Mutter: Nugget, das ist eine einmalige Gelegenheit. Wann wird dir so etwas noch einmal passieren?

Er war gerade dabei, eine wütende Antwort zu tippen und zu protestieren, weil er nicht Nugget genannt werden wollte – diesen Spitznamen hatte sie erst im Laufe der Serie erfunden –, als auf einmal zwei Hände unter dem Schreibtisch auftauchten und sein Stuhl nach hinten geschoben wurde. Schockiert starrte Sebastian die wunderschöne Blondine an, die unter dem Tisch hervorkam und sich praktisch auf seinen Schoß warf.

Sie war perfekt. Durch und durch perfekt.

Er starrte noch immer, als die Frau aufstand und ihr knappes trägerloses Kleid zurechtrückte. Es hatte eine seltsame Farbe und schien sehr elastisch zu sein, und wenn er ein wenig die Augen zusammenkniff, sah es fast so aus wie nackte Haut. Sehr viel nackte Haut. Sie war groß, wunderschön und durchtrainiert, hatte beachtliche Brüste und umwerfende Beine. Außerdem besaß sie ein herzförmiges Gesicht, große blaue Augen und herrliche blonde Locken. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, wirkte überaus schelmisch und ganz und gar nicht verlegen.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt. Ich hab versucht, den besten Zeitpunkt zu erwischen, um da rauszukommen.«

»Was …«

Sie hielt einen Finger hoch und zeigte ihm etwas, das irritierend spinnenartig aussah. »Ich war auf einer Wimpern-Suchmission.« Sie hob neckisch die Augenbrauen, stieg mit einem großen Schritt über seine Beine, stand kurz rittlings über ihm und ging dann an ihm vorbei, wobei er kurz einen Blick auf einen sehr knackigen Hintern werfen konnte …

Und einen großen blauen Fleck auf ihrem Oberschenkel, der sofort wieder unter ihrem Rocksaum verschwand.

Das verpasste der Erektion, die er spontan bekommen hatte, einen Dämpfer. Wo hatte sie denn so einen blauen Fleck her? Und noch dazu an dieser Stelle? Doch die Höflichkeit gebot, sich lieber nicht danach zu erkundigen.

»Und, sind sie alle da draußen?« Sie wackelte ein wenig mit dem Hintern und zupfte ihr kurzes Kleid zurecht, sodass der blaue Fleck nicht mehr zu sehen war.

»Soweit ich weiß, ja.« Sebastian runzelte die Stirn. Sollte er sich vorstellen? Sie fragen, was sie unter dem Schreibtisch gemacht hatte? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er in dieser Situation reagieren sollte. Sie war in einer fast schon sexuellen Pose aufgetaucht und hatte dann so getan, als hätte das überhaupt nichts zu bedeuten. Himmel, noch vor dreißig Sekunden hatte sie beinahe den Kopf in seinem Schoß gehabt. Er deutete mit dem Kopf auf die falschen Wimpern, die an ihrem Finger klebten. »Sind das Ihre?«