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Beschreibung

Leivalett, eine unglückliche Frau aus dem Elchclan, gekrönt als die weiße Herrscherin ihres Volkes ist zum Gehorsam an veraltete Gesetze verdammt. Als sie kurz davor steht ihr Königreich zu verlieren, ist sie gezwungen ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Unterstützt wird sie dabei von ihren exotischen Gefolgsleuten bestehend aus Wölfen, Lachsen, Bären und Adlern. Dieser Hofstaat ist zwar kaum zu bändigen, treibt Leivalett aber zu Höchstleisungen an, um das Unmögliche zu schaffen. Erst Recht nachdem sie alle Standesregeln außer Kraft setzt und ihre große, verbotene Liebe findet. Jetzt muss sie nur noch ihren Thron retten.

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Perlen auf der Haut

Für dich

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Aladdin

Herausgeber: FoxArt Verlag

Postfach 43, 90560 Markt Heroldsberg,

[email protected]

© 2021 Melisande Arven

Alle Rechte vorbehalten.

Kapitelverzeichnis:

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Bergejslanden

Weiße Perlen

Kapitel 1

Zum ersten Mal fiel ihr auf, warum die Leute ständig behaupteten, sie hätte silberne Augen. Sie hatte das immer für Unsinn gehalten. Wer auf der Welt besaß denn so eine Augenfarbe? Aber jetzt schimmerte ihr die Iris tatsächlich in einem Silberhauch aus dem Spiegelbild entgegen. Leivalett beugte sich nach vorne, so dass ihre Nasenspitze beinahe die kalte Fläche berührte. Wahrscheinlich waren die Tränen schuld daran, die ihr in den Augen standen, dass die sonst blaugraue Farbe an poliertes Metall erinnerte.

Leivalett ballte die Finger zu Fäusten und atmete gezielt ein, um die Tränen daran zu hindern zu fließen. Sie weinte nicht! Sie weinte nie!

Niemals.

Mit acht Jahren hatte sie entschieden damit aufgehört. Weinen konnten sich hysterische Kammerzofen erlauben, wenn sie gemaßregelt worden waren. Sie, Leivalett, Hoffnung der Nation, nicht. Sie durfte so manches nicht tun, was für andere normal zu sein schien.

„Hoffnung der Nation“ Leivalett schnaubte durch die Nase.

Welch Ironie!

Die sogenannte Hoffnung war so kurz davor auseinander zu brechen, dass es ihr in den Ohren knirschte. Nur mit Mühe unterdrückte Leivalett die in ihrem Kopf ständig präsenten Lehrsätze ihres Vaters:

„Fühle dich stark, dann bist du stark.“

„Erhebe dein Kinn und niemand wird auf dich herabsehen.“

Leivalett schnaubte erneut.

„Ja, sicher. Wir werden es allen zeigen“, flüsterte sie bissig und strich mit der Hand über ihren Gesichtsschmuck. Ihr Erscheinungsbild war noch nicht vollständig, um der Zeremonie Genüge zu tun.

Wie lästig. Wie überflüssig.

Ihre Zofe Hilgar trat ein und lächelte Leivalett entschuldigend an.

„Euer Kleid wird in Kürze gebracht, Hoheit. Frau Sunar treibt die Mädchen in der Plätterei schon beinahe mit der Peitsche an.“

„Sind wir in Eile?“ fragte Leivalett stirnrunzelnd.

„Tuun meinte gerade, dass ein regelrechter Wettbewerb ausgebrochen ist, wie man sich anlässlich Eurer Krönung am besten den Ar…, den Hin…, also den…, die untere Region der Rückseite…“

„Den Arsch aufreißt, meine Güte, Hilgar“, kam eine tiefe Stimme aus Richtung Tür, gefolgt von einem noch tieferen Lachen, das klang wie das Brummen eines Bären.

Leivalett nahm der Zofe, deren Wangen hochrot glühten, vorsichtig die dampfende Schüssel ab, ehe sie sich verbrühte. Diese strich sich verlegen eine goldblonde Strähne hinter das rechte Ohr und knickste.

„Ich habe vergessen, wie gut Tuun Kajks Ohren sind“, hauchte sie und linste kurz zur Tür.

„Lauschen ist unschön, Tuun“, sagte Leivalett.

Sie hätte gerne gelächelt. Wäre gerne auf die heitere Stimmung aufgesprungen. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu, während Hilgar neben ihr hantierte. Leivalett stählte sich für das, was nun kommen würde. Sie erwiderte ihren eigenen Blick in der Reflektion. Ihre Augen sahen immer noch silbern aus. Diese lästigen Tränen!

„Ich beginne jetzt, Hoheit.“ Hilgar näherte sich Leivaletts Wange mit einer Pinzette.

Eine kleine weiße Kugel klemmte zwischen den Greifärmchen. Bei dem ersten Kontakt mit der Haut zuckte Leivalett zusammen. Das passierte jedes Mal und es störte sie so sehr, dass sie die Zähne aufeinander presste. Eine Erinnerung fegte durch ihre Gedanken. Der Grund, warum sie nicht mehr weinte. Der Tag, an dem das erste Mal in ihrem Leben eine dampfend heiße Perle auf ihrem Gesicht platziert wurde.

Ihr achtjähriges Ich sah in einen Spiegel. Allerdings nicht traurig und am Boden zerstört, sondern freudig und erwartungsvoll.

„Sieh nur, Mutter, was Linga mit meinen Haaren gemacht hat.“ Sie deutete auf ihren eindrucksvollen Turm aus geflochtenen Lianen, der auf ihrem Hinterkopf thronte.

Ihre königliche Mutter trat heran und bewunderte ihre goldbraune Pracht, die sie sonst immer mädchenhaft offen getragen hatte.

„Entzückend, meine kleine Leivalett. Jetzt halte noch eine Weile still, dann bist du bald fertig und kannst dich unseren Gästen zeigen.“

Leivalett nickte gehorsam und rührte sich keinen Fingerbreit, bis die Zofe mit der kleinen weißen Perle ihr zu nah gekommen war.

Schmerz ließ ihre Muskeln erbeben und Hitze, so schlimm wie Feuerhauch wollte sie versengen. Kreischend war Leivalett von ihrem Frisiertisch aufgesprungen, drauf und dran sich hinter den schweren Vorhängen zu verstecken.

„Leivalett! Komm zurück! Ich weiß, die Prozedur ist unangenehm, aber das geht vorbei. Die erste Perle ist immer die Schlimmste. Danach wird es leichter.“

„Das tut weh.“ Leivalett hatte ihre Finger in ihren weißen Rock gegraben und den Stoff hoffnungslos zerknittert.

Alle Frauen im Raum seufzten und die Königin redete nur noch beharrlicher auf sie ein.

„Du willst doch einen guten Eindruck machen, oder nicht? Die Perlen stehen für deine Königswürde. Es wird erwartet, das du sie mit Stolz trägst.“

„Aber dieses Zeug verbrennt mich.“ Leivaletts Stimme erinnerte mehr an ein Fauchen als an die Tonlage eines Kindes.

„Achte auf dein Betragen!“ Der Blick der Mutter war für einen Moment dunkel geworden. Doch als sie sich langsam vor Leivalett auf die Knie niederließ, um ebenfalls ihr langes Kleid zu zerknittern, waren ihre Augen wieder sanftblau geworden.

„Heute sollst du Pyanmer von Hoehenwerth kennenlernen. Hast du das schon vergessen? Du hattest dich so auf ihn gefreut. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.“ Die Mutter streichelte ihr über die Wange und lächelte. „Ich habe es dir bisher nicht gesagt, dass wir uns eine gemeinsame Zukunft für euch wünschen.“

Leivalett runzelte die Stirn.

„Wie meinst du das?“

„Nun, wir hoffen, dass ihr eines Tages einander heiratet.“

Leivalett zuckte zusammen und versuchte zu verstehen, was an einem Jungen so besonders sein konnte, dass sie deshalb Schmerzen erleiden sollte. Sie hatte bisher noch niemals einen getroffen.

„Wird er mein Freund werden?“ fragte sie leise.

Sie hatte keine Spielkameraden. Nur alte Hofdamen, Diener und griesgrämige Gärtner, die verschrumpelte Gesichter zogen, wenn sie den Ball in die Hecken schoss.

„Wenn du das möchtest“, sagte die Mutter.

In Leivaletts Gesicht hatte sich ein Lächeln gezaubert. Eingängig betrachtete sie den Perlenschmuck der Königin. Ihre Stirn und die Wangen waren mit den weißen Kostbarkeiten verziert und dazwischen waren weiße Linien, filigran wie feine Spitze, gezeichnet worden. Ihr honigbraunes Haar war aufwendig frisiert und mit silbernen Bändern durchwebt worden. Mutter war wunderschön. Vater behandelte sie immer liebevoll.

„Wird mir Prinz Pyanmer auch immer zuhören?“ Leivaletts kleines Herz fing an aufgeregt zu flattern. Das hatte sie sich immer gewünscht. Jemand, dem sie alles sagen konnte, der gerne in ihrer Nähe war und mit ihr lachte. Leivalett hatte sich bisher immer furchtbar einsam gefühlt. Ihr Blick ging zu der Schale mit den Perlen auf ihrem Schminktisch.

„Wird dem Prinzen der Schmuck wirklich gefallen?“

„Du bist die Prinzessin unseres Landes, Leivalett. Du solltest dies zeigen und stolz darauf sein.“

Leivalett tat einen tiefen Atemzug und ohne ein weiteres Wort setzte sie sich zurück an den Tisch. Sie ertrug die folgende Tortur tapfer, die Tränen zurückhaltend und beklagte sich nicht, bis die Zofe Perle für Perle, mit heißem Wachs und einer stinkenden Tinktur getränkt, auf ihre Haut gesetzt hatte.

Als Leivalett schließlich mit ihren Eltern in den Wintergarten trat, hatte sich ihr schneller Herzschlag immer noch nicht beruhigt. Das Gewicht der Perlen zog an ihren Gesichtsmuskeln, konnte aber nicht verhindern, dass sie strahlend lächelte. Sie fühlte sich wunderhübsch und ein wenig erwachsen.

Das königliche Paar aus dem Nachbarland war hellhäutig und blond, wie es sich für die Bewohner der Talmark gehörte. Der drahtige Junge in ihrer Mitte musterte sie aus tiefgrünen Augen und folgte eher erschrocken denn erfreut der leichten Verbeugung seiner Eltern. Leivalett schaffte es trotzdem optimistisch zu sein und knickste. Pyanmers Sommersprossen waren ja lustig. Ob sie die irgendwann würde zählen dürfen?

„Du siehst aus, als würdest du weiße Warzen im Gesicht haben“, drang seine Stimme flüsterleise zu ihr.

Leivalett zuckte heftig zusammen und nur mit Mühe konnte sie den Kopf unten halten. Das war der Junge, mit dem sie sich hatte befreunden wollen? Hatte sie die quälende Behandlung heute Morgen nur ertragen, um sich auslachen zu lassen? Ihre Nase fing an zu kribbeln und ihr Blick wurde trüb. Sie spürte das versteckte hämische Grinsen mit jeder Faser ihres Körpers.

Das anschließende Essen war reine Folter und Leivalett redete nur, wenn sie direkt angesprochen wurde. Als die Erwachsenen sich an einem Spaziergang im Schlossgarten müßig taten, schwänzelte Pyanmer ständig in ihrer Nähe herum. Er sprach kein Wort, was Leivalett richtig wütend machte. Als die Eltern nicht hinsahen, war sie auf die im See liegenden Steinplatten gesprungen, um die Insel in der Mitte zu erreichen. Ihre Hoffnung, diesen sommersprossigen Prinzennervling dadurch abzuhängen, zerschlug sich allerdings, als sie seine Schritte hinter sich hörte.

„Du vertreibst alle Frösche, wenn du so einen Lärm machst“, giftete sie ihn an und, wie um ihre Behauptung zu untermauern, waren unzählige Platschgeräusche zu hören.

„Du magst Frösche?“ Pyanmer legte den Kopf schief und sah sie voller Überraschung an.

„Was dagegen? Schließlich passen meine weißen Warzen doch ganz gut zu einer Kröte, oder?“ Leivalett spürte bei dieser Erwiderung erneut die Tränen. Doch sie laufen zu lassen würde sie sich vor diesem Kerl niemals erlauben. Sie machte auf dem Absatz kehrt und kletterte in ihrem weißen Kleid auf den Baum, der in der Mitte der Insel stand.

Den Ausblick hatte sie immer gemocht. In der Ferne waren die Pferde zu sehen, die auf die Weide gelassen worden waren. Leivalett hatte schon zahlreiche Reitstunden gehabt und ihre Lehrer waren immer voll des Lobes für sie.

Ein Scheuern und Knirschen verriet, dass der lästige Prinz ebenfalls die Birke erklommen hatte. Ihre Birke! Leivalett war sich zu fein ihm Aufmerksamkeit zu schenken und schnaubte lediglich.

Später konnte keiner von beiden mehr sagen, wie lange sie trotzig schweigend im Baum gesessen hatten. Der Rüge der königlichen Eltern stellten sie sich jedenfalls gemeinsam. Trotzdem waren sie nicht bereit gewesen, sich beim Abendessen höflicher zu begegnen oder mehr zu sprechen. Weil die erhabenen Gäste erst am nächsten Morgen abzureisen gedachten, war es nötig gewesen, dass Leivalett den Perlenschmuck zur Nachtruhe abnahm und vor dem Frühstück wieder anlegte. Es hatte erneut grauenvoll wehgetan und Leivalett waren unzüchtige Schimpfwörter in den Sinn gekommen, die sie Pyanmer an den Kopf werfen wollte und die ihre Mutter sehr ungnädig gestimmt hätten. Sie hatte diese von den Stallburschen gelernt und die verstanden so herrlich frech zu fluchen. Solche Sachen konnte man sich sehr viel leichter merken als die Regeln der höfischen Etikette.

Während der Verabschiedungszeremonie des Königs und der Königin von Hoehenwerth aus der Talmark sah Leivalett Pyanmer nicht einmal an. Sie war damit beschäftigt zu vergessen, dass ihr Wunsch nach einem Freund nicht in Erfüllung gegangen war.

„Stimmt es denn, dass die Perlen deine Haut verbrennen?“ hörte sie eine leise Stimme, die sie aus ihren Gedanken riss.

Leivaletts Blick begegnete dem grünen Augenpaar und eine Gänsehaut rauschte über ihre Arme.

„Ja“, hauchte sie nur.

„Warum?“ Pyanmers grüne Iriden schienen mit goldenen Strahlen durchzogen zu sein.

„Um dich zu ehren“, war Leivaletts schulmeisterliche Antwort.

„Das tut sicher weh.“

Leivalett zuckte mit den Schultern und gab sich bewusst unbeteiligt. Plötzlich zeigte sich ein Zucken in Pyanmers Mundwinkeln. Dann reichte er Leivalett die Hand.

„Entschuldigung.“

Ihr war der Atem gestockt. Diese Bitte um Vergebung konnte für vieles stehen. Für seine Beleidigung am Vortag oder für den Umstand, dass sie wegen ihm diese Folter erlitten hatte. Jedenfalls ergriff Leivalett seine Hand und Pyanmer lächelte sie zum ersten Mal an.

„….heit. Euer Hoheit?“

Leivalett hob den Kopf. Das Gesicht von Hilgar, ihrer Zofe, tauchte vor ihr auf.

„Hm?“

„Wir sind fertig. Tuun möchte wissen, ob er Sunar und ihre Mädchen passieren lassen darf.“

„Mädchen?“ Leivalett hing immer noch in dem Nachhall ihrer Erinnerungen fest.

„Ich meine diese Meute an wildgewordenen Weibern, die angriffslustiger sind als eine ganze Legion, wenn man Eurem Königsfummel zu nahe kommt“, dröhnte die männliche Stimme von draußen herein.

Der zischende Protest der weiblichen Stimmen, der durch den Türspalt klang, riss Leivalett endgültig in die Gegenwart zurück.

„Herein mit der Legion... ähh, mit den Ankleidedamen.“ Leivalett verzog den Mund. Sie musste sich dringend zusammenreißen.

Beim Anblick der Ansammlung an Stoff wollten ihre Knie weich werden. Auf sie wirkte das Gewand eher wie ein Leichentuch als ein Traum aus weißer Seide. Leivalett stellte sich ohne Kommentar in die Mitte des Raumes und streckte die Arme von sich.

Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Tuun rücksichtsvoll die Tür schloss. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte sie sein weißes langes Haar schimmern sehen. Der grinste wahrscheinlich gerade auf die fieseste Art und Weise und war froh, dass eine massive Holztüre zwischen ihm und den übereifrigen Zofen stand.

Leivalett legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie Hilgar ihr den Morgenmantel abnahm. Irgendwelche Hände krabbelten an ihren Fußfesseln entlang, zwangen sie in feingewebte Strümpfe und halfen ihr in die Stiefel. Zum Zeichen ihrer Königswürde war es ihr vorbehalten, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen.

Eine andere Erinnerung zerrte an ihrem Geist. Warum war sie heute so nostalgisch? Wollte ihr das Unterbewusstsein all ihre Fehler unter die Nase reiben oder die Momente aufzeigen, in denen sie besser mal etwas unternommen hätte?

„Deine Zehen sehen aus wie kleine Schweinchen. Rosarot und geschwollen.“

„Du bist immer noch sehr schlecht darin nette Dinge zu sagen.“ Leivalett versetzte dem elfjährigen Pyanmer einen heftigen Stoß, den er nur lachend quittierte. Er kippte übertrieben lässig nach hinten und legte die Arme hinter den Kopf.

„Warum musst du ständig Sachen machen, die wehtun? Du lässt dir Perlen ins Gesicht brennen und jetzt trägst du Schuhe, die echt nicht bequem aussehen.“ Sein Kinn war in Richtung der weißen Lederstiefel gerückt, welche Leivalett kurz zuvor von sich geworfen hatte.

„Mutter sagt immer, dass Schönheit seinen Preis hat.“

„Meine Schönheit ist ganz umsonst.“ Pyanmer streckte die Nase ins Sonnenlicht und Leivalett war wieder versucht, seine Sommersprossen zu zählen.

„Wir sollten langsam zurückgehen“, murmelte sie stattdessen.

Sie waren mit den Pferden bis zu ihrer Lieblingslichtung geritten. Leivalett war am vorherigen Tag zehn Jahre alt geworden und durfte nun hohes Schuhwerk tragen. Auf solchen Stelzen zu marschieren war mehr als unangenehm gewesen und schon ab der Hälfte des Tages hatte sie die Nase gestrichen voll davon gehabt. Selbst im Damensattel hatten ihre Füße geschmerzt.

Pyanmer sprang auf die Beine. Der Angeber hatte natürlich überhaupt kein Problem damit wie ein junges Kitz herumzuhüpfen.

„Komm, Lettie! Sonst gibt es wieder königliches Elterngeschrei.“

„Ist doch irgendwie normal, wenn wir zusammen sind.“ Leivalett grinste unfein und stand mit Hilfe Pyanmers auf.

Er hatte sie im letzten Jahr um einen halben Kopf überholt. Vielleicht hatte er deshalb etwas gegen ihre hohen Stiefel, weil sie damit wieder gleichauf waren. Er zwinkerte ihr zu und wollte wohl etwas sagen, als ein tiefes Knurren sie beide aufschrecken und die Köpfe einziehen ließ.

Schwere Fußtritte drangen zu ihnen herüber. Leivalett war sofort klar, was jetzt passieren würde.

„Prinzessin!“ grollte es unheilvoll und sie war versucht gewesen die schmerzenden Beine in die Hand zu nehmen.

„Ich weiß, Unvar. Ich stecke in Schwierigkeiten.“ Sie erhob den Blick zu dem Träger der riesigen Stiefel.

Eisblaue Augen waren auf sie gerichtet. Kalkweiße Haut in einem strengen und dennoch jugendlichen Gesicht. Eine lange Narbe zog sich unter dem rechten Augenlid bis zum Kinn. Unvars platinblondes Haar floss bis zu seinen Schultern und das Deckhaar hatte er zu einem festen Knoten auf dem Hinterkopf festgesteckt.

„Ich darf Euch nicht über das Knie legen.“ Ein Grinsen zog seine Lippen auseinander und entblößte dabei zwei sehr spitze Eckzähne. „Damit es allerdings auch kein anderer tut, sollten Ihre Hoheiten jetzt zurückkehren.“

Leivalett nickte nur und schnappte sich ihre Stiefel. Es war noch nie ratsam gewesen, Unvar Boergerdan zu widersprechen. Er war ein Mitglied des Söldnerclans. Eine Wolfsklaue und eigentlich Mutters persönlicher Leibwächter, aber im letzten Jahr mehr damit beschäftigt Leivalett wieder einzufangen. Sie wusste, je öffentlicher ihr Leben werden würde, desto notwendiger sollte es werden, dass auch sie ihren eigenen Beschützer bekommen musste.

Ganz gemäß der Etikette half ihr Pyanmer in den Damensitz auf ihrem Rappen, was sie insgeheim sehr glücklich machte. Sie konnte reiten wie ein Wirbelwind und vermochte es mühelos Pyanmer und jeden anderen abzuhängen. Aber manchmal war es für sie einfach schön, wie ein zartes Mädchen behandelt zu werden.

Pyanmers lange Finger streichelten kurz über ihr Knie, bevor er sie losließ. Er war ein Rotzbengel, der sich bestens hinter seiner Prinzenwürde verstecken konnte. Nur sie durfte diese Seite von ihm sehen. Er war ihr bester und einziger Freund gewesen.

„Und jetzt bitte kurz den Atem anhalten, Euer Hoheit.“

Leivalett reagierte mehr instinktiv als bewusst. Sie zog ihren Bauchnabel nach innen und hörte auf zu schnaufen. Flinke Hände stülpten ihr den reichbestickten ärmellosen Mantel über die Schultern. Er diente als Obergewand und wurde sogleich sorgsam um ihren Rippenbogen geschlungen und festgezurrt. Weißes Fuchsfell schmiegte sich am Kragen an Leivaletts Haut und sie konnte die Silberfäden aus den Augenwinkeln glitzern sehen. Die Schneiderinnen hatten sich mit Sicherheit selbst übertroffen.

Trotz ihrer Gemütsverfassung entspannten sich Leivaletts Muskeln ein wenig. Ihr war tatsächlich ein bisschen kalt gewesen und nun wärmte das kostbare Kleidungsstück ihre steifen Glieder. Die Ankleidedamen in ihrem Rücken schüttelten die Schleppe aus, während andere ihr die Halskette anlegten und duftendes Öl auf ihren Handgelenken und ihrem Dekolleté verteilten. Dabei drückten sie ungeniert Leivaletts Brüste nach oben und zogen den Ausschnitt zurecht.

Ihr Blick flackerte in Richtung Spiegel. Das Krönungskleid war zweifelsohne gelungen. Ein Traum aus Seide, Damast und aufwendiger Stickerei. Das Unterkleid floss bis zum Boden hinab. Am Saum war es mit Spitze besetzt, an der die talentierten Künstlerinnen des Lachsclans ein Jahr lang gearbeitet haben mussten.

Leivalett musterte ihre Taille. Sehr gekonnt waren hier Pelzeinsätze, silberne Kordeln und der Damast verarbeitet worden. Außerdem zauberte ihr die Schnürung an ihren weiblichen Rundungen einen Traumbusen.

Niemals würde sie den Moment vergessen, in dem Pyanmers Blick zum ersten Mal in ihrem Dekolleté hängen geblieben war.

Das Wetter war an diesem Tag überraschend gnädig. Die Sonne hatte sich gegen die Wolken behauptet und der Wind war nur sanft um die Wipfel der Bäume gestrichen, zwischen denen das alljährliche Sommerpicknick stattfand.

Leivalett war an diesem Mittag fast vor Hunger gestorben. Sie hatte am Morgen einen verbotenen Ruderwettbewerb gegen Pyanmer bestritten. Seit ihrem 13. Lebensjahr hatten die Eltern erlaubt, dass sie sich dem Sport Kejuk widmen durfte. Allerdings nur im Beisein der ollen Hofdamen, die keine nennenswerte Herausforderung darstellten.

Da Pyanmer nur an Jubilaren und sonstigen wichtigen Ereignissen zu Besuch kam, hatte es schon immer gegolten jeden Moment auszukosten. Deshalb hatte Leivalett es in Kauf genommen nicht zu frühstücken und stattdessen gegen den Prinzen der Talmark um ihre Ehre zu rudern.

Als sie sich für das Picknick hatte einkleiden müssen, hatte ihr Magen geknurrt, dass es einen Bären in die Flucht geschlagen hätte. Ihre Zofe von damals war mit der Schnürung ihres Mantels nicht zimperlich gewesen und hatte die Wölbungen, die seit mehreren Monaten Leivaletts 15 jährigen Körper schmückten, herausgelockt.

Erst war sie peinlich berührt vor dem Spiegel gestanden, doch nach einigen zaghaften Bewegungen hatte sie zugeben müssen, dass sie großartig aussah. Sie war Pyanmer unter die Augen getreten und er hatte sie inniger denn je angelächelt und ihre Vorzüge mit seinen Blicken gestreichelt.

„Ich glaube, ich muss in Zukunft auf dich aufpassen“, hatte er gemurmelt und ihr ungefragt einen Teller mit Köstlichkeiten vollgeladen.

Leivalett konnte nur selig lächeln. Sie war längst rettungslos in diesen jungen Mann verliebt. Wie hätte sie das auch verhindern sollen? Er war groß, gut gebaut und sein blondes Haar strahlte wie goldener Weizen. Seine Augen erinnerten an einen Brunnen, der sie auf der Suche nach Schätzen hinabzog. Seine Stimme war tiefer geworden. Sein Witz bissiger. Er hatte sich umfassendes Wissen angelesen und war sehr verlässlich, wenn es um Versprechen ging.

„Dafür müsstest du mich öfter besuchen, Pyanmer“, hatte Leivalett seinen anzüglichen Scherz erwidert.

„Du weißt, dass ich das gerne tun würde, Lettie.“ Er seufzte. „Aber mein Vater hat die Peitsche der Folter geschwungen und meine Leine gekürzt. Ich glaube, wenn es nach ihm ginge, bräuchte ich weder Essen noch Schlaf. Er möchte, dass ich alles auf einmal lerne und begreife.“

„Wie geht es ihm denn?“ Leivalett war ernst geworden.

„Er versucht es zu vertuschen, aber seine Krankheit schreitet voran. Vielleicht muss ich die Königsbürde tragen, ehe ich volljährig bin.“ Pyanmers Augen hatten einen schmerzenden Ausdruck angenommen.

„Das tut mir ehrlich leid.“ Leivalett ergriff seine Hand und drückte sie fest. Seit Jahren war König Raskan von Hoehenwerth unpässlich. Leivalett hoffte inständig, dass er Pyanmer noch so lange wie möglich zur Seite stehen würde.

Sie würde ihm gerne zur Seite stehen. Doch sie würde erst in fünf Jahren ins heiratsfähige Alter kommen. Die Tradition hatte aus gewissen Gründen mehr auf geistige Reife denn gebärfreudige Hüften gesetzt, wenn es um den heiligen Stand der Ehe ging.

„Oh“, raunte Pyanmer und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Sieht so aus, als ob Unvar sich um deinen Schutz ebenfalls Gedanken gemacht hat.“ Er deutete mit dem Zeigefinger an ihrer Schulter vorbei.

Leivalett war jedoch längst auf den riesigen Mann aufmerksam geworden. Der Leibwächter ihrer Mutter war gemächlich in ihre Richtung unterwegs. Er hatte seine dunkelblaue Montur angelegt und trug den üblichen Haarknoten. Als hätte er seinen jüngeren Zwilling dabei, befand sich ein kleiner Junge in seiner Begleitung. Dessen Haut war noch heller als die von Unvar und sein Haar leuchtete nicht hellblond sondern schlohweiß. Seine wasserblauen Augen hatten einen rötlichen Schimmer.

„Ein Albino.“ Pyanmers Feststellung war in Leivaletts Verwunderung geplatzt. „Sagt man denen nicht nach, dass sie schlechte Augen haben? Wie soll der jemals…?“

„Schhhhhh!“ hatte Leivalett gemacht und weiterhin den sonderbaren Jungen betrachtet.

Wenn Unvar Boergerdan einen geeigneten Rekruten seines Clans für fähig befunden hatte ihr Leben zu schützen, dann würde er das nicht ohne eine sorgfältige Prüfung entschieden haben.

Der Junge war ungefähr sieben Jahre alt, aber zweifellos ein Mitglied der Wolfsklauen. Seine Lehrjahre würde er unter strenger Aufsicht am lebenden Objekt leisten. Er war vielleicht noch klein, aber Leivalett wusste, dass er in drei bis vier Jahren stark wie ein Ochse sein würde. Niemand würde die Möglichkeit haben an ihm vorbei zu kommen. Nur über seine Leiche. Die Fähigkeiten und körperlichen Stärken des Wolfclans waren legendär.

„Euer Hoheit, wenn Ihr gestattet, möchte ich Euch Euren zukünftigen Beschützer vorstellen“, dröhnte Unvars Stimme zu ihr. „Das ist Tuun Kajk Jaeger.“ Er machte eine auffordernde Geste zu dem stämmigen Jungen und wirkte sehr entschlossen. „Tuun, deine Herrin. Leivalett Abterkanten, unsere Prinzessin und Thronerbin unter der Gnade des Heiligen.“

Der Junge neigte respektvoll den Kopf, um dann den Mund zu einem wahren Wolfsgrinsen zu verziehen. Seine Zähne waren bereits angespitzt worden.

„Ich werde Euch für immer beschützen“, krächzte er feierlich und wenn Leivalett darüber hätte amüsiert sein wollen, vertrieb seine eideswürdige Darbietung jeden Spottgedanken. Selbst Pyanmer hielt jeden dummen Kommentar zurück. Leivalett wollte den kleinen Krieger soeben bei Hofe willkommen heißen, als ein schriller Schrei die Luft durchschnitt. Die Prinzessin wirbelte herum und sah, wie ihre Mutter zusammenbrach. Leivalett rannte los und schob sich den Weg frei, indem sie Würdenträger und hilflose Zofen zur Seite drängte.

„Mutter, Mutter!“

„Ich sehe nichts. Ich kann nicht sehen“, rief die Königin in Panik und fuchtelte mit den Armen. Leivalett gelang es, ihre Hände zu erwischen. Tränen rannen der Monarchin über die Wangen. Zwei Perlen hatten sich von ihrem Gesicht gelöst und zeigten die kleinen runden Narben darunter.

Irgendjemand hatte eine Kutsche herbeikommandiert und plötzlich war Unvar zur Stelle und nahm die Königin auf seine Arme. Leivalett konnte das alles nur wie eine Statistin beobachten. Sie vermochte nicht einmal vom Boden aufzustehen. Dabei war es ihr einziger Wunsch in diese Kutsche zu steigen und bei ihrer Mutter zu sein.

Auf einmal schoben sich zwei starke Arme unter ihre Achseln. Mit einem Ruck war sie auf die Beine gekommen und jemand hielt sie fest an sich gedrückt.

„Ich kann Euch noch nicht tragen, aber ich bringe Euch zum Wagen.“

Leivalett hätte sich dem festen Griff nicht entziehen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Sie drehte den Kopf und blickte ihrem kleinen Leibwächter in die Augen. Seine Pupillen hatten einen roten Schimmer wie eine verhangene rote Abendsonne. Fest und entschlossen war sein Blick und strahlte eine ungewöhnliche Form von Sicherheit aus. Bevor er sie vorwärts bewegen konnte, wurde Leivalett wieder hochgerissen. Diesmal verlor sie den Boden unter den Füßen.

„Alles wird gut, Lettie.“ Pyanmer hielt sie an sich gepresst und eilte auf die Kutsche zu.

Leivalett glaubte ihm nicht. Trotzdem sank sie in seine Arme und wollte es zumindest hoffen.

„Seid Ihr bereit?“ Hilgar berührte die Hand ihrer zukünftigen Königin.

Sie diente dieser Frau mit Hingabe, weil sie eine Perfektionistin war und die Stellung als Leibzofe schließlich nicht geschenkt bekommen hatte. Außerdem war es leicht der Prinzessin zu dienen. Leivalett Abterkanten war gerecht und von ausgeglichenem Wesen. Auch wenn sie hin und wieder etwas verschroben und ein engstirnig sein konnte, war sie ein Garant für ein friedliches Fortbestehen ihres Königreichs Bergejslanden.

Hilgar wünschte ihr von Herzen Glück. Nicht nur zur bevorstehenden Krönung, sondern auch zu ihrer langersehnten Verlobung. Glückliche Herrscher, glückliches Land. So sagte man.

Die Zofe runzelte die Stirn, als sie die Finger ihrer Herrin fühlte. Sie waren eiskalt. Verstohlen musterte Hilgar ihr Gesicht. Irgendetwas stimmte seit gestern Abend mit ihr nicht. Sie war schweigsam, fast melancholisch. Ihre sonst wachen Augen wirkten tränenverhangen. Dabei hatte sie ihre Prinzessin noch niemals wegen irgendeiner Sache weinen sehen und sie diente ihr immerhin schon zehn Jahre.

„Seid Ihr bereit?“ wiederholte Hilgar ihre Frage.

Die Prinzessin sah sie an und ihre feinen Nasenflügel bebten. Wahrscheinlich war sie einfach nur furchtbar nervös.

„Ja…, lasst uns gehen.“ Sie straffte die Schultern und hob das Kinn.

Hilgar lächelte. Die zukünftige Königin war ein Augenschmaus. Dank der Absätze überragte sie die anderen Frauen. Eine prachtvolle Würdenträgerin mit unmissverständlicher Autorität. Als Geborene des Elchclans hatte sie einen sanften karamellfarbenen Hautton, der golden schimmerte. Sie war feingliedrig, mit schönen Hüften, einem grazilen Hals und einem ebenmäßigen Gesicht, das weder zu schön noch zu gewöhnlich wirkte. Allerdings war Hilgar einer der wenigen Menschen, die Ihre Hoheit je ohne Perlenschmuck sahen.

„Möchtet Ihr noch einen Trunk, bevor ihr hinausgeht?“ Vielleicht würde ihrer Herrin damit ein wenig wärmer werden.

Die Prinzessin schien kurz zu überlegen. Hilgar wusste, dass sie Alkohol nicht sonderlich gut vertrug. Aber sie sollte sich ja nicht betrinken, das wäre sicherlich nicht förderlich, wenn sie eine Rede vor dem Hofstaat halten wollte.

„Ein kleiner Schluck kann nicht schaden“, murmelte die Prinzessin mehr zu sich selbst. Ihre Unterlippe bebte und ihre Stimme klang so dünn wie ein Seidengarn.

Hilgar hechtete zum Spirituosenschrank. Heiliger! Ihr Zustand bereitete ihr immer mehr Sorgen. Wenigstens waren die Ankleidedamen wieder abgerückt. Das brachte Ruhe in den Raum. Während die Prinzessin das halbe Glas leerte, welches Hilgar ihr gereicht hatte, hielt sie die Augen geschlossen, als würde sie den Würzwein inhalieren wollen.

Die Zofe blickte kurz zur Tür. Tuun wartete geduldig auf der Schwelle und beobachtete die Szene. Eine kleine Falte stand zwischen seinen hellen Augenbrauen. Er hatte natürlich bemerkt, dass der Herrin gerade die Nerven durchgingen. Hilgar warf ihm nur ein ratloses Schulterzucken hin. Heute waren die Gesandten des ganzen Königreiches anwesend. Am wichtigsten Tag im Leben der Prinzessin. Sie war kein Übermensch. Auch ihr sollte man ein gewisses Maß an Panik zugestehen dürfen.

Tuun lehnte einen seiner Arme gegen den Türrahmen und verengte die Augen. Er sagte zwar kein Wort, aber Hilgar war sich sicher, dass auch er diese Ansicht teilte. Allerdings war er hier machtlos. Er konnte schließlich nicht alles und jeden mit seinem Schwert abstechen.

„Gehen wir.“

Der Befehl schreckte Hilgar auf. Die Prinzessin knallte den Becher auf den Tisch und schritt entschlossen zur Tür. Tuun glitt augenblicklich geschmeidig zur Seite und neigte den Kopf. Die Schleppe der Herrin wogte glitzernd hinter der schlanken Gestalt her. Hilgar holte tief Luft. Es würde schon alles gutgehen.

Vor genau zehn Jahren hatte sich eine ganz ähnliche Szene abgespielt. Leivalett hatte Würzwein getrunken und war in einem sündhaft teuren Kleid auf die Tür ihrer Kemenate zugeschritten, unfähig ihr Zittern zu verbergen. Tuun erwartete sie in einer wesentlich kleineren Version als die der Gegenwart und doch war es ihm schon möglich gewesen, ihr gerade in die Augen zu blicken. Leivalett hatte sein hüftlanges Haar fixiert, welches sanft hin und herschwang, als er ihr respektvoll Platz machte. „Alles in Ordnung?“ hatte er mit seiner Stimmbruchstimme gefragt und Leivalett war es möglich gewesen huldvoll zu nicken.

Selbst in diesem, von den öffentlichen Räumen weit entfernten Gang hörte man das Rumoren der Hunderten von Gästen. Leivalett war versucht gewesen sich ständig ins Gesicht zu langen, um den Sitz ihrer Perlen zu prüfen, obwohl es noch nie vorgekommen war, dass eine verloren ging.

Tuun war leise, immer einen Schritt hinter ihr gelaufen. Er hatte sich absolut lautlos bewegt, sodass Leivaletts Stiefel die einzigen Geräusche auf dem Marmorboden verursacht hatten. Es war, als würde sie sich damit selbst ankündigen. Der Klumpen in ihrem Magen hatte sich schmerzhaft verfestigt.

Als sie die große Halle über die Treppe betreten hatte, war die Stimme des Herolds wie ein Donnergrollen über die Köpfe der Anwesenden gefegt und hatte auch die letzte Möglichkeit vernichtet, unbemerkt auf dieser Gesellschaft zu erscheinen. Ihrer Volljahrsfeier.

Mit dem Aufgang der Sonne war Leivalett 20 Jahre alt geworden. Sie war nun berechtigt zu heiraten und Staatsgeschäfte zu führen. Wenn ein Mann um ihre Hand anhalten würde, dürfte sie sofort Königin werden. Leivaletts Blick war kurz zu dem leeren Platz an ihres Vaters Seite gegangen. Mutter hatte die sich häufenden Anfälle nicht überlebt und der Sitz zur Rechten des Königs war seitdem unbesetzt geblieben.

Leivalett honorierte das Stimmengewirr, welches aufgrund ihres Erscheinens durch den Saal brandete und dann fing sie ein grünes Augenpaar ein. Pyanmer wartete am Treppenabsatz auf sie. Seit einiger Zeit trug er das Haar länger und er hatte es auch nicht geschnitten, als er gezwungen worden war das Zepter seines Landes zu übernehmen.

„Euer Majestät.“ Leivalett ergriff seine ausgestreckte Hand.

„Ein gelungener Auftritt, Prinzessin. Du hast es geschafft nicht die Treppe hinunterzusegeln.“ Pyanmer küsste ihren Handrücken und ließ damit ihren Puls durch den Saal galoppieren.

„Du bist und bleibst ein Rotzbengel“, schimpfte sie flüsternd.

„Sei nur so gut und verrate mich nicht.“

„Kommt darauf an, ob du dich heute benimmst.“

Pyanmer wiegte mit dem Kopf und ersetzte sein freches Grinsen durch ein gesetztes etikettengemäßes Lächeln.

„Lass es darauf ankommen.“

Der Mistkerl! Aber Leivalett liebte Herausforderungen und Pyanmer war natürlich klar gewesen, dass sie nicht würde widerstehen können. Und das, obwohl sie so große Hoffnungen an diesen Abend knüpfte.

An ihn.

Leivalett tanzte bis in die Nacht hinein und scherzte mit jedermann. Die ledigen edlen Herren waren ihrer Pflicht nachgekommen und hatten sie mit Glückwünschen und Komplimenten überschüttet. Doch keiner wagte es sie auf den Balkon zu einem Gespräch unter vier Augen zu entführen. Schließlich fand sie sich selbst dort wieder. Ausgelaugt und von den Eindrücken überwältigt. Das Glas Punsch bebte in ihrer Hand, während sie in die Nacht hinausblickte.

Das Fest würde noch lange währen und Leivalett konnte sich noch nicht zurückziehen. Es war immer noch eine Sache, die ausstand. Ihr größter und innigster Wunsch.

„Darf ich eine Frage stellen?“

Leivalett drehte sich zu Tuun um, der unaufdringlich im Mauerschatten stand.

„Natürlich. Komm nur.“

Der Junge glitt aus der Dunkelheit und trat näher. Er lächelte Leivalett an, wie er es immer tat, und seine Wolfszähne blitzten im Mondlicht.

„Was möchtest du wissen, Tuun?“

„Es wird gemunkelt, dass Ihr Euch heute Nacht verlobt. Ist das wahr?“

Leivalett war über seine Worte nicht echauffiert. Der Kleine sagte immer rundheraus, was er dachte.

„Nun, es wäre ein wünschenswerter Ausgang dieser Feierlichkeit“, sagte Leivalett und gab damit ihre Hoffnung laut zu.

„Es ist König Pyanmer, nicht wahr?“ Tuun versuchte wohl seine Missgunst zu verbergen, scheiterte aber schrecklich. Es war ihm nie leichtgefallen andere Menschen, mit Ausnahme der Zofen, in ihre Nähe zu lassen. Unvar hatte ihm einen fast schon manischen Beschützerinstinkt eingeimpft.

„Im besten Fall.“ Sie strich sich verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr.

„Ist es dann wirklich wahr, dass Eure künftige Regentschaft vom Ehestand abhängig ist?“ Tuun trat noch näher. Sein Gesicht voller Wissbegier.

Leivalett lachte gütig und stellte ihr Glas beiseite.

„Was weißt du über die Entstehung unseres Reiches?“

„Nicht viel. Unvar sagt, wir Wölfe sollen nicht politisch denken. Für uns ist es nur wichtig im entscheidenden Moment zuzuschlagen.“

„Eine für ihn charakteristische Aussage.“ Leivalett kicherte. „Also, gib acht. Der Gründervater von Bergejslanden war ursprünglich nie dazu ausersehen gewesen ein Herrscher zu sein. Vor vielen hundert Jahren waren all unsere Nachbarstaaten ein einziges Reich. Ein riesiges Imperium. König Sigor hatte allerdings Schwierigkeiten es zusammenzuhalten. Also übertrug er jedem seiner Söhne Hoheitsgewalt über eine Region. Er hatte aber noch einen unehelichen Sohn, Bergejn. Für alle nur der ungeliebte Bastard. Er bat seinen Vater auch ihm die Möglichkeit zu geben sich zu beweisen und vor seinen Halbbrüdern bestehen zu können. Also grenzte König Sigor für ihn ein Gebiet genau in der Mitte des Reiches ab, dort, wo alle Ländergrenzen der anderen Prinzen zusammentrafen.“ Leivalett grinste ihren Leibwächter an. „Der König gönnte seinem unwürdigen Sprössling praktisch die Restschnipsel seines Erbes. Allerdings unter harten Auflagen, um die anderen Söhne milder zu stimmen, und hier kommt nun mein Schicksal ins Spiel.“ Leivalett führte einen überschwänglichen Knicks aus.

Der Punsch war ihr nun doch in den Kopf gestiegen.

„Um an der Macht über sein kleines Reich bleiben zu dürfen und die Herrschaft seiner Nachkommen zu sichern, muss der Regent von Bergejslanden verheiratet sein, bevor es ihm erlaubt ist den Thron zu besteigen. Was jetzt nicht so unmöglich klingt, war für Bergejn damals eine Herausforderung. Man sagt ihm nach, ausnehmend hässlich und auch noch halb blind gewesen zu sein. Welche Adlige hätte ihn schon freiwillig gewählt?“

Tuun hatte unfein wie eine Ziege gemeckert. Während er sich über die Augenwinkel strich, war schon die nächste Frage seinem Mundwerk entwischt:

„Und wenn nun ein königlicher Sprössling keinen Ehepartner findet? Wer wird dann König oder Königin?“

Leivalett lehnte sich an das Balkongeländer und atmete tief durch.

„Da diese Auflagen als pure Schikane gedacht waren, besagen die Gesetze, dass…“

„Hier bist du also?“ Pyanmer trat ins Freie. So wie seine Augen glänzten, war er auch nicht mehr ganz nüchtern.

„Ich erkläre dir den Rest später, Kajk“, flüsterte Leivalett ihrem Leibwächter zu. Sie benutzte absichtlich seinen Zweitnamen, der etwas mehr Fürsorge ausdrückte. Tuun war immer ein wenig bissig, wenn Pyanmer sich in der Nähe aufhielt.

„Hast du dich versteckt, Lettie?“ Der König der Talmark hatte sich zwischen sie und Tuun gedrängt und griff nach ihren Händen. „Wir hatten nicht viel Zeit miteinander an diesem Abend.“ Seine Körperwärme drang zu ihr und sein Atem strich über ihr Gesicht. Leivalett konnte nicht anders, als ihn anzuhimmeln und, ohne dass sie es zuvor bemerkt hatte, war sie von ihm in eine Drehung geführt worden. „Scheinbar sind wir nicht mehr die schlechtesten Tänzer der Welt“, raunte er.

„Ja. Meine Zehen frohlocken jetzt schon.“

Und plötzlich war es passiert. Ihrer beider Lachen wurde verschluckt und sie blickten sich selbstvergessen in die Augen, schunkelnd und wiegend unter einem eissilbernen Mond.

Pyanmers Fingerspitzen strichen sacht über ihre Wange.

Ein Kuss, ein Wort, eine Frage.

Es wäre so einfach gewesen. Aber Leivalett wartete vergeblich.

„Ihr vergesst aber nicht zu atmen, oder Hoheit?“

Leivalett sah auf. Sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um Tuuns Augen zu begegnen.

„Langsam hatte ich Angst, Ihr würdet blau anlaufen.“

„Ich schaffe das nicht, Kajk“, wimmerte Leivalett.

Im nächsten Moment schalt sie sich selbst. Wie konnte sie diese Schwäche vor ihren Untergebenen zugeben? Sie holte Luft wie eine Ertrinkende und war kurz davor sich eine Ohrfeige zu verpassen.

„Doch das werdet Ihr.“ Tuuns mächtiger Brustkorb schob sich in ihr Blickfeld, als er näher getreten war. In seinem Blick lag eine Zuversicht, die sie selbst nicht einmal ansatzweise spürte.

„Dann bist du heute einmal verlässlicher als ich“, schnaubte sie trotzig.

„Ich bin immer zuverlässig.“ Tuun gab sich beleidigt.

Leivalett wusste, dass er sie anstacheln wollte ihren Schneid zu finden. An anderen Tagen hätte sie ihm das hoch angerechnet, aber heute war alles anders.

„Leivalett. So langsam tut Zeit Not.“ Ein hagerer Mann kam die Treppe hinauf. Er trug ein grünes mit goldenen Ornamenten besetztes Gewand. Seine Glatze wurde von einem Rest nussbrauner Haare umrahmt und ein gepflegter Bart zierte sein spitzes Kinn. Er sah in Leivaletts Gesicht und blieb abrupt stehen.

„Gibt es ein Problem?“

Leivalett seufzte.

„Kein Problem, Oheim Born.“

Das fehlte noch, dass ihr Mentor sich Sorgen machte und über ihr Gehabe die Stirn runzelte. Der Mann versuchte es stattdessen mit einem leichten Lächeln. Ihm fehlte ein Schneidezahn. Gerüchte sagten, dass ihre Tante selig ihm diesen während eines Streits ausgeschlagen hatte.

„Dann darf ich bitten, Leivalett? Deine Ehrengäste warten.“ Er reichte ihr den Arm und die Prinzessin fügte sich in das Unvermeidliche.

Ihr Herz pochte so laut, dass es beinahe alle Geräusche übertönte. Sie linste kurz zu ihrem Begleiter. Dieser Mann hatte seinen ganzen Eifer, seine Liebe und Geduld in ihre Erziehung gelegt, seitdem Mutter nicht mehr war. Heute würde sie ihn enttäuschen.

Sie würde alle enttäuschen.

Was hatte sie nur falsch gemacht? Was hätte sie ändern können? Hatte es jemals eine Möglichkeit gegeben, dem heutigen Tag einen anderen Ausgang zu bescheren? Als wäre ihr Unterbewusstsein immer noch dabei nach solchen Momenten zu bohren, flackerten Oheim Borns Mahnungen durch ihre Gedanken:

„Du musst ihn mehr ermutigen.“

Wie oft hatte er ihr das gesagt? Wie hätte sie das denn bitte anstellen sollen? Hätte sie sich die Kleider vom Leib reißen müssen? Alles andere als ihre nackte Haut kannte Pyanmer doch bereits. All ihre Vorlieben und Abneigungen. Jeden ihrer Gedanken. Ihre Wünsche, Träume, ihre Ängste. Sie hätte sich ihm nicht anbieten können wie billiges Brot.

Unvar Boergerdan nickte der Prinzessin bestätigend zu. Seine Mannen waren auf dem Posten. Leivaletts Sicherheit war gewährleistet. Born Abterkanten machte sich da keine Sorgen.

Der Hauptmann hatte seine Leute im Griff. Nach dem Ableben der Königin hatte der Leibwächter sich wie ein Irrer hochgearbeitet und führte nun das Rudel der Palastwache an wie ein unbarmherziger Feldherr.

„Wie geht es Vater?“ fragte Leivalett leise, während sie auf die Halle zusteuerten.

„Er hat sich vorgenommen von der Empore aus zugegen zu sein.“

„Was?“ Seine Nichte fuhr herum. „Um Himmelswillen, Oheim, das musst du verhindern.“ Leivaletts Finger kniffen in seinen Arm.

„Aber meine Liebe, was ist denn nur los?“

„Er soll im Bett bleiben. Er darf nicht sehen, dass…“ Leivalett taumelte zurück und Born griff wie von selbst nach ihr.

„Er mag krank sein, mein gutes Kind, aber er würde doch niemals deinen Krönungstag verpassen. Dafür würde er Bäume ausreißen. Ich mache mir eher Gedanken, ob du bei Gesundheit bist, Leivalett.“ Er hielt seine Nichte bei den Armen gefasst und linste schnell zu der großen Flügeltür, die sie noch vor hunderten Augenpaaren trennten. Nicht auszudenken, wenn die zukünftige Königin in diesem Zustand vor ihre Untertanen treten würde.

„Leivalett.“ Er sah ihr eindringlich in die Augen. „Du bist stark. Behalte die Nerven.“ Er berührte vorsichtig ihr üppiges Haar. „Soll ich Pyanmer von Hoehenwerth an deine Seite bitten? Würde das…?“

Etwas geschah in Leivaletts Gesicht.

Ihre Mimik wurde ausdruckslos. Die silbernen Augen verloren ihre Tiefe. Wie ein seelenloser Sumpf blickte sie ihn daraus an. Born kroch eine ungekannte Kälte den Rücken hinauf.

„Was zum…?“

Mit einem Mal hob die Prinzessin die Hand und legte sie zärtlich an seine Wange.

„Weißt du noch, als du mir gesagt hast, dass das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann, die Einsamkeit ist?“ Leivaletts Stimme war nur ein Flüstern. „Bis gestern Abend habe ich nicht verstanden, was du damit gemeint hast.“ Sie lächelte. Es erreichte ihre Augen nicht. „Ich habe dir so viel zu verdanken, Oheim. Du hast mir alles beigebracht, was ich weiß. Das wird mir während meiner Regentschaft gute Dienste leisten.“

Born wollte etwas erwidern. Er war mittlerweile vollkommen verwirrt. Aber ehe er etwas herausbekommen konnte, ging ein Ruck durch seine Nichte und sie richtete sich auf.

„Die Krone wartet auf mich.“ Sie wandte sich kerzengerade zur Tür und schritt in den überfüllten Saal, als hätte sie ihren Verstand wieder gefunden.

Der Herold brüllte ihren vollständigen Namen. Zum letzten Mal in ihrem Leben mit dem Nimbus Prinzessin. Leivalett folgte dem Weg bis zum Thron wie an einem unsichtbaren Faden. Ihre Gedankenfetzen kamen immer heftiger, kürzer, wie Blitzeinschläge. Jeder versetzte ihr einen Stoß, der sie von den Füßen holen wollte.

„Und wenn ein königlicher Sprössling keinen Ehepartner findet? Wer wird dann König oder Königin?“ Die Stimme des zwölfjährigen Tuun krächzte durch ihren Geist. Sie hatte ihrem Leibwächter vor Jahren eine Antwort auf diese Frage gegeben. Jeder Mensch in Bergejslanden kannte die Antwort darauf.

„Du musst ihn mehr ermutigen“, donnerte Borns Aufforderung wie eine verbale Ohrfeige auf sie ein. „Oder du wirst dazu verdammt sein dein restliches Leben allein zu verbringen.“

Leivalett hatte den Thron erreicht. Der Hofstaat war bereit. Sie wäre es schon seit Jahren gewesen.

Bereit.

Der Senneschall hatte angefangen die Einführungsworte zu verlesen. Krone und Zepter waren zur Rechten Leivaletts aufgebahrt. Ihr war es, als spürte sie den Blick ihres Vaters auf sich. Sie sah ihn selten, seit er nicht mehr so rüstig war. Ihm schien dieser Zustand peinlich zu sein und sie hatte sich immer geschämt, dass sie ihm die Last der Regierungsgeschäfte nicht abnehmen konnte. Sie hatte immer seinen Vorwurf gefürchtet.

Leivalett zwang sich die Anwesenden zu ignorieren. Niemals würde sie ihren Blick in einem Aufbäumen der Hoffnung durch die Reihen schweifen lassen.

Der Senneschall war fertig.

„Die Bösartigkeit von König Sigor ließ ein Hintertürchen offen, seinen rechtmäßigen Söhnen ihre Ländereien zurückzugeben.“

Diese Geschichte hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben von Mutter gehört. Deshalb flüsterte ihre Stimme jetzt in all ihre Empfindlichkeiten.

„Sein Bastardsohn Bergejn durfte erst ab seinem 20.Lebensjahr eine Gattin heimführen. Jedoch war es ihm nicht gestattet eine Dame zu umwerben. Ihm musste die Ehe angetragen werden. Er hatte selbst nicht das Recht dazu und auch nicht seine Nachkommen fortan. Erst im heiligen Ehestand durften die Regierungspflichten aufgenommen werden. Sollte der Thronanwärter sein 30. Lebensjahr erreichen und noch nicht verheiratet sein…“

Die Bilder in ihren Gedanken wollten sich überschlagen.

Leivalett ließ sich von Pyanmer die Fingerknöchel küssen. Er lächelte. Allerdings war es nicht sein Grübchenlächeln.

„Ich weiß, es ist schon spät, aber wir müssen reden, Lettie.“

Die Würdenträger aus den Provinzen traten nach vorne, brachten Geschenke und ergingen sich in ihrem Sermon an protokollgemäßem Geschwafel.

Leivalett saß auf dem Schoß der Mutter und sah sie mit großen Augen an.

„Was passiert dann? Was passiert denn mit dem uralten Thronanwärter, wenn er nicht verheiratet ist?“

Die Königin strich ihr durch die Haare und kicherte wegen ihrer Wortwahl.

„Mit Erreichen des 30.Lebensjahres muss der Erbe sofort die Königswürde annehmen. Aber er darf niemals heiraten und niemals Kinder haben. Seine Linie wird aussterben und nach seinem Ableben wird das Reich Bergejslanden in seine ursprünglichen Provinzen aufgeteilt und somit seinen Nachbarländern zurückgegeben. Bergejslanden wird aufhören zu existieren.“

Born Abterkanten nahm das Zepter und reichte es Leivalett. Seine Eminenz Tornsen war vor sie getreten und hüllte sie in eine Wolke voller Räucherwerk. Würde sie nicht längst glauben von Halluzinationen gequält zu werden, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt damit anzufangen.

Pyanmer war ans Fenster getreten. Sein breiter Rücken wurde durch einen tiefen Seufzer erschüttert. Leivalett schlug ihre Stola fester um die Schultern.

„Was möchtest du mir sagen?“ Sie linste auf das Stundenglas. Eigentlich wollte sie längst im Bett liegen.

Nein.

Eigentlich wollte sie sich begraben lassen. Sie war nur noch ein paar Stunden 29 Jahre alt. Doch nun war Pyanmer gekommen. Jetzt wollte sie vor Glück durch den Raum tanzen.

Doch Moment!

Pyanmer hatte herzzerreißend geseufzt, oder nicht?

„Lettie, du bist der wichtigste Mensch auf Erden für mich.“

Born hielt ihr die Krone symbolisch an die Schulter, denn das schwere Ungetüm würde jeden noch so robusten Kopf zerdrücken. Der Weihrauchdunst nahm zu.

Pyanmer drehte sich um.

„Leider spielt es keine Rolle, was ich für dich empfinde.“ Es zuckte in seinen Wangen. „Ich kann dich nicht heiraten.“

Leivaletts Welt brach in sich zusammen.

„Euer Verlobter, Majestät. Ihr müsst ihn dem Volk präsentieren und vor allen den Bund der Ehe schließen.“ Seine Eminenz sah im Schleier des heiligen Rauchs ganz verzerrt aus. Aber Leivalett sah, dass er auffordernd lächelte.

„Du willst mich nicht… du, warum?“ Leivalett war auf den Boden gesunken.

Ein Häuflein Elend.

„Weißt du nicht, wie sehr ich dich liebe? Schon so lange gehört dir mein Herz.“

„Ich weiß, Lettie.“ Pyanmer kniete sich vor sie. Seine Augen wirkten dunkler als sonst. „Ich wollte dir niemals wehtun. Niemals. Aber, oder gerade deswegen habe ich es nie geschafft, dir zu sagen, dass….“

„Was nicht geschafft?“ Leivalett konnte nicht anders als zu schreien. „Du wirst mich meinem Volk zum Fraß vorwerfen? Du wirst allen Ernstes zusehen, wie…?“

„Nein. Ich werde noch heute Nacht abreisen.“

„Euer Bräutigam, Majestät. Lasst ihn zu Euch treten.“ Der Geistliche ließ es endlich sein, das Räuchergefäß zu schwenken.

Leivalett sah zu Born hinüber, der die Krone immer noch in Position hielt. Ihr Kinn fing an zu zittern.

„Das kannst du doch unmöglich so meinen.“

„Es tut mir leid, Leivalett“ Pyanmer wollte nach ihrer Hand fassen.

„Was tut dir leid? Dass du mich zu einem Leben verdonnerst, das ich als alte Jungfer fristen darf? Du kennst die Gesetze. Du weißt, dass ich niemals mehr heiraten darf. Ich werde niemals Kinder haben. Wie kannst du mir das antun?“

Er senkte die Augen. Seine Haarspitzen berührten seine Nasenwurzel. Leivalett war entsetzt, dass sie selbst jetzt noch auf diese Kleinigkeiten achtete.

„Wie kannst du mir das antun?“ wiederholte sie lauter. „Ich werde mein Land verlieren. Das Erbe meiner Eltern. Warum hast du es soweit kommen lassen? Jeder Mann hat sich im Hinblick auf uns zurückgehalten. Kein anderer Galan ist mir je zu nahe gekommen, weil es für alle festgeschrieben stand, dass du und ich… dass wir, … wir…“ Leivalett sank in sich zusammen.

„Es tut mir unendlich leid, Lettie“, hörte sie ihn sagen. „Aber diesen Weg können wir nicht gemeinsam gehen.“

„Tretet zur Seite, Eminenz!“ Leivalett wischte den Mann mit einer herrischen Geste von seinem Platz.

Im Saal herrschte absolute Stille.

Jedermann wartete auf ihre Worte. Leivalett würde sich ein letztes Mal zusammennehmen. Sie sammelte all ihren Mut, ihren Zorn und ihren Trotz, der sich wie ein Feuerball in ihrem Innern anfühlte, und hob zu ihrer ersten Rede als Königin von Bergejslanden an:

„Der Ehre, welche mir heute zuteilwird, werde ich mich würdig erweisen. So wahr mir Gott helfe, gelobe ich unserem Land eine fürsorgliche Mutter zu sein. Allerdings… stehe ich heute alleine hier vor euch. Und der Platz an meiner Seite wird leer bleiben. Es ist mir bewusst, was das bedeutet.“ Leivalett spürte Tuun hinter sich zusammenzucken. Born und seine Eminenz Tornsen fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.

Leivalett schob den Gedanken an Flucht beiseite. Gerade noch erhitzt, fühlte sich ihr Körper jetzt an wie in Eiswasser getaucht. Ihre Glieder wurden taub. Trotzdem zwang sie sich weiterzusprechen. Wenn das Volk mit faulem Obst werfen wollte, mit Mistgabeln anrückte oder ihre Unfähigkeit verfluchte, sie würde es so würdevoll wie nur möglich hinnehmen.

Hilgar war so heftig über die Worte der Königin erschrocken, dass sie einen quiekenden Laut von sich gegeben und die Hände vor den Mund geschlagen hatte. Mit dieser Reaktion war sie nicht alleine im Saal. Gemurmel erhob sich. Die Würdenträger drängten sich unruhig zusammen. Dann wurde Hilgars Aufmerksamkeit wieder durch ein bestimmtes Geräusch nach vorne gerichtet. Es war ein kurzes, unsagbar leidvolles Luftholen. Leivalett Abterkanten rannen die Tränen über die Wangen. Verfingen sich in den Perlen, tropften an ihnen herab und lösten sich im Fallen auf. Der Königin schien es nicht einmal bewusst zu sein, dass sie weinte.

Die Unruhe war augenblicklich verschwunden. Ihre Majestät sah in ihrer Gefühlsregung atemberaubend aus.

„Ich liebe dieses Land und habe mir immer das Beste für unser Volk gewünscht. Jetzt mag es den Anschein erwecken, als ob die Zukunft mit mir endet. Aber seht unser Land an! Über die Jahre hat keines unserer Nachbarstaaten so ein hohes Maß an Vielfältigkeit entwickelt. Es war immer so, als ob wir nach dem Höchsten und Besten strebten, weil wir eigentlich nicht als Land existieren sollten. Die Baukünste des Bärenclans haben bisher noch keine nennenswerte Konkurrenz gefunden. Das Kulturwesen und das Kunsthandwerk des Lachsclans sind bis über das Eismeer bekannt. Über die Stärke und Heldentaten des Wolfclans werden seit Generationen Geschichten und Lieder geschrieben. Der Elchclan war und ist dafür verantwortlich, dass unser kleines Land wirtschaftlich blüht und als finanzkräftiger Partner von den Nachbarstaaten ernst genommen wird. Der Adlerclan schützt seit einer halben Ewigkeit unsere Grenzen an den Dunkelmeeren und hat eine Invasion seitens der Kerkinger immer verhindern können.“

Der Blick aus den silberglänzenden Augen der Königin ging durch den Saal. Ihre Tränen flossen immer noch.

„Ich bin davon überzeugt, dass der Familienstand eurer Königin nicht daran schuld sein kann, ein Land wie das unsere in die Knie zu zwingen. Das würde die Anstrengungen unserer Vorfahren Lügen strafen. Ich bitte euch Vertrauen in euch zu haben und habt auch Vertrauen in mich.“ Die Herrscherin schwankte leicht. Es war nur eine winzige Bewegung und durch die üppige Robe kaum zu sehen.

Hilgar zuckte trotzdem sofort hilfsbereit in die Richtung ihrer Herrin. Doch Graf Born war schneller zur Stelle und hielt seine Nichte am Ellenbogen fest. Beim Nähertreten bemerkte Hilgar, wie blass die Königin wirklich geworden war.

„Wir bringen sie in ihre Gemächer zurück“, raunte der Graf Hilgar zu.

Sie nickte und ergriff wie selbstverständlich die Schleppe des Krönungskleides. Tuun setzte sich ebenfalls in Bewegung. Zu viert bildeten sie eine feste Entourage, die gewollt und verbindlich aussah. Die Menge der Anwesenden teilte sich vor ihrem Quartett und die Königin hielt sich dem Heiligen sei Dank auf den Beinen.

„Dann wird der Hochzeitsschmaus wohl ausbleiben“, hörte Hilgar jemanden spotten.

Sie traute sich nicht, in die Richtung des Sprechers zu blicken um ihn anzustarren. Die Zofe befürchtete allerdings, dass solche fiesen Stimmen sich häufen würden. Sie selbst würde sich am liebsten unter der weißen Schleppe verstecken, um all den Blicken zu entgehen. Wie musste sich die Königin fühlen?

Unvar Boergerdan stieß die Flügeltüre mit seinen breiten Schultern auf. Sein kantiges Gesicht war eine unbewegte Maske. Trotzdem schlug Hilgars Herz sofort schneller. Dieser Mann war so ungemein faszinierend. Hilgar drückte sich im Schatten der Königin an dem Hauptmann vorbei und mahnte sich an ihre Pflichten zu denken.

In den Gängen schien Graf Born seine Nichte wesentlich schneller zu führen. Die Zofe hatte Schwierigkeiten die Stoffmassen zu bändigen. Irgendwann ließ sie die Schleppe fallen und trabte hinterher. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Kaum hatte die Herrin ihre Räume betreten, sackte sie in die Knie und ein spitzer Schrei hallte an den Wänden wieder, bis schließlich dumpfe Schluchzer zu hören waren.

Hilgar biss sich auf die Lippe. Verstohlen blickte sie den Grafen und Tuun Kajk an. Sie wusste beim besten Willen nicht, was man tun könnte. Ihre Majestät an ihrem Gefühlsausbruch zu hindern, nachdem sie vorhin so tapfer gewesen war, erschien ihr irgendwie ungerecht. Der weinenden Frau ein warmes Bad vorzuschlagen wollte der Zofe auch nicht über die Lippen kommen. Plötzlich setzte sich der Graf einfach auf den Teppich und legte die Hände in den Schoß und wartete. Da Tuun kurz darauf seinem Beispiel folgte, schloss sich Hilgar den Männern an. In dieser seltsamen Runde harrte sie aus, in der Hoffnung, dass Leivalett Abterkanten sich wieder fangen würde.

Kapitel 2

Ein kalter Wind brachte sie am ganzen Körper zum Zittern. Die klamme Luft hatten ihre Haare feucht werden lassen. Wie konnte das sein, da es sich doch so anfühlte, als ob sie in ihrem Bett liegen würde?

Leivalett öffnete langsam die Augen. Warme Felle, Kissen, Decken. Ja, sie war ohne Zweifel in ihrem Schlafgemach. Ihre Nachtlampe flackerte auf dem Beistelltisch. Die Glashaube darüber war beschlagen. In ihrem Zimmer herrschten frostige Temperaturen. Leivalett richtete sich auf. Das Fenster stand offen. Morgendunst waberte herein, der Boden war nass vom Regen und unzähliges Laub hatte der Wind in das Zimmer getragen.

Leivalett erinnerte sich. Irgendwann in der Nacht hatte sie das Fenster aufgerissen und hatte stundenlang in den Regen gestarrt, bis sie vor Erschöpfung fast umgefallen wäre. Obwohl ihr wirklich kalt war, hatte sie jetzt keine Lust aufzustehen um das Fenster zu schließen.

Stattdessen zog sie sich die Decke über den Kopf. Sie zweifelte ohnehin daran, dass sie das Bett heute verlassen würde. Sie schloss wieder die Augen. Ihre Nerven fühlten sich taub an. Ausgelutscht und abgestumpft. Ebenso wie ihr Herz. Sie hatte es zu Tode geliebt. Jetzt weigerte es sich noch irgendetwas zu empfinden.

Leivalett krallte ihre Finger in das nächste Kissen. Pyanmer war tatsächlich in der Nacht vor ihrer Krönung abgereist. Still und heimlich. Er hatte es schlau angestellt, indem nur er und seine Leibgarde verschwunden waren. Der Großteil seiner Gefolgsleute war am Hofe geblieben und somit war seine Abwesenheit nicht aufgefallen und Leivalett hatte sich die öffentliche Schmach schön bis zur eigentlichen Krönung aufgeben können.

Sie konnte es einfach nicht verstehen. Pyanmer war stolz und selbstbewusst. Aber er war nicht bösartig. Er hatte ihr nie etwas verheimlicht. So hatte sie jedenfalls bisher gedacht. War er tatsächlich nie verliebt in sie gewesen? Er hatte sie niemals geküsst oder länger berührt, dass es unsittlich gewesen wäre. Nur seine Blicke hatten offene Versprechen gemacht und seine schmeichelnde Stimme waren ihr meist intimer vorgekommen als jede Berührung.

Leivalett wimmerte.

Sie konnte nichts dagegen tun. Scheinbar quetschte ihr Herz doch noch jede Menge Gefühle aus ihr heraus. Leivalett biss sich in die Faust.

Sie war ja so jämmerlich.

Eine uralte Jungfrau.

Eine Enttäuschung von einer Königin.

Sie hatte nach ihrer Ernennung große Worte geschwungen. Jetzt klangen sie in ihren eigenen Ohren wie blanker Hohn. Was konnte sie schon gegen das Recht ihrer Nachbarländer ausrichten? Wahrscheinlich rieben sich dort schon alle die Hände. Und Pyanmer mit ihnen.

Der edle Lachsclan in der Gegend der tausend Seen hatte ursprünglich zu seinen Ländereien gehört. Die Talmark um Bergejslandens Quelle der Kunst und des Handwerks zu bereichern, war sicherlich erstrebenswert.

Leivalett warf wie irre den Kopf hin und her. Das machte keinen Sinn!

Pyanmer hätte ganz Bergejslanden gewonnen, wenn er sie geheiratet hätte. Vater und auch Oheim Born waren sich bewusst gewesen, dass die Gier der umliegenden Länder nach dem Reichtum Bergejslandens größer geworden war. Durch die Vereinigung mit dem Hause Hoehenwerth wollte Vater seine Position stärken und einen mächtigen Verbündeten gewinnen.

Leivalett wimmerte erneut.

Das war jetzt auch egal.

„Verdammt!“ Born knallte das Zeitungsblatt auf den Tisch, dass seine Frühstückseier davon kullerten.

Er hatte damit gerechnet, dass man Leivaletts Namen durch den Dreck ziehen würde. Trotzdem erschütterte ihn der Gedanke, was das mit dem Selbstbewusstsein seiner Nichte anstellen würde. Born strich sich tief durchatmend über den Bart. Es musste etwas getan werden. Angst und tiefe Unsicherheit zogen wie eine Krankheit durch das Land. Eine nie dagewesene Situation seit Bestehen von Bergejslanden hatte sich eingestellt.

Kein Wunder, dass Unvar Boergerdan um eine Unterredung bat. Die riesige Wolfsklaue polterte ins Zimmer und scherte sich nicht um Borns Frühstückseier, die bei seinen Schritten auf der Tischplatte hüpften.

„Graf. Auf ein Wort.“ Er verschränkte die Arme vor seinem Brustkorb, der so breit war wie Borns Tür. „Die Königin ist nicht bereit mir Gehör zu schenken. Doch um ihrer Sicherheit Willen muss ich Maßnahmen ergreifen.“

Born zog die Augenbrauen zusammen.

„Ist etwas vorgefallen?“

„Noch nicht. Aber das wird sich ändern.“ Unvar tippte auf die Zeitung, deren Inhalt vor Spott und Panikmache triefte.

„Worauf willst du hinaus, Hauptmann?“

„Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir…“

Beide Männer wurden unterbrochen, als ein schnaufender Dienstbote hereinplatzte. Seine Kleidung war ganz nass und seine Schuhe quietschten bei jedem Schritt.

„Vergebung, Graf Born, aber Ihr müsst Euch unverzüglich in den Westflügel bemühen. Der Altkönig stirbt.“

„Was?“ Born sprang auf und warf dabei fast den Tisch um. „Was ist geschehen, Mann?“

„Die Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Ich soll nur zur Eile mahnen.“ Der junge Bote warf sich regelrecht wieder aus der Tür, ohne einen Kommentar abzuwarten.

Born setzte ihm hinterher und auch Unvar hatte schnell aufgeholt.

„Wo ist Ihre Majestät, die Königin?“

„Ihr wurde soeben Kunde erteilt, werter Graf. Der Leibarzt hofft, dass es nicht schon zu spät ist“, japste der Bedienstete.

„Grundgütiger! Als ob die jüngsten Neuigkeiten nicht reichen würden“, knirschte Born und tauschte einen Blick mit dem Hauptmann, der die Zähne fletschte.

Der Dienstbote führte sie beide gleich über den Hof. Dieser Umstand verriet, warum er so durchnässt war. Er hatte keine Umwege gemacht und den direkten Weg zu Borns Gemächern genommen.

Der Herbst war dieses Jahr aber auch unbarmherzig. Es regnete seit Tagen. Born ballte im Laufen die Fäuste. War das Wetter am Zustand seines älteren Bruders schuld? Bei allen Heiligen, sollte er ihn heute tatsächlich verlieren?

Er stürmte die Treppen in den Westflügel hinauf. Die Lüster waren alle erleuchtet, als wollte man damit der Düsternis der Jahreszeit trotzen. Der grauweiße Marmor schillerte im Kerzenschein und goldene Sternmuster wiesen den Weg zur großen Tür am Ende des Ganges.

Fußgetrappel ertönte hinter Born. Das Flattern von Kleidung verriet, dass sich Damen in großer Eile näherten. Seine Ahnung bestätigte sich. Leivalett rannte mit gehetztem Blick an ihm vorbei. Born brauchte einen Moment, um ihren Anblick zu verarbeiten. Sie war im Nachtgewand, ihr Haar flatterte offen hinter ihr her und sie trug offenbar keine Schuhe.

Ihr Gesicht war auch nicht zurechtgemacht. Born schob diese überflüssige Tatsache beiseite und riss seiner Nichte die Tür zum Schafgemach ihres Vaters auf. Er folgte ihr sofort und musste feststellen, dass sein Bruder offensichtlich neben seinem Schreibtisch zusammengebrochen war.

Der Leibarzt hielt seinen Arm am Handgelenk umfasst. Dieser Mistkerl von einem Heiler schien heute mal bei Verstand zu sein. Vielleicht hatte er heute keine Zeit gehabt seine Tinkturen an sich selbst auszuprobieren.

Leivalett kauerte sich an seine Seite und legte ihre Finger vorsichtig auf die Brust des Altkönigs.

„Vater.“ Ihre Stimme war nur ein erstickter Hauch, als könne sie gar nicht glauben, dass das hier geschah.

Orig Abterkanten machte einen pfeifenden Atemzug. Seine Augen öffneten sich einen Spalt und rollten dabei fast in die Augenhöhlen zurück.

„Ich bin hier, Vater.“ Leivalett beugte sich näher zu ihm hinunter.

Born kniete sich neben seinen Bruder. Er fühlte sich verloren und unsinnigerweise fehl am Platz. Die Schreibtischkante drückte ihm schmerzhaft in den Rücken und erinnerte ihn daran, dass er sich in der Wirklichkeit befand.

Orig fixierte Leivalett. Seine freie Hand pendelte unkontrolliert hin und her. Leivalett griff danach und versuchte sich an einem Lächeln.

„Du…“ Ihr Vater zwang sich zu einem weiteren röchelnden Atemzug. „Du… Unfähige.“

Damit starb er.

Einfach so.

Born spürte einen seltsamen Schmerz. Zusammen mit einem schalen Geschmack im Mund. Sein Bruder war gegangen. Der Mann, mit dem er lange tiefe Gespräche geführt, sich oft sinnlos betrunken und im Jugendalter Frauen unter den Rock geschaut hatte.

Der letzte Schlag seines Herzens war es ihm nur wert gewesen seine Tochter zu verurteilen. Born musste sich beherrschen nicht den Kopf zu schütteln und seinen Bruder wüst zu beschimpfen.

Eine furchtbare Stille war eingetreten.

Alle im Raum starrten Leivalett an, die wie versteinert neben ihrem Vater und dem Heiler saß und immer noch die leblose Hand umfasst hielt.

„Mein gutes Kind…“, versuchte sich Born an steifen Trostworten.

„Nein!“ Leivalett war mit einem Ruck auf den Beinen. „Nicht! Versuche es gar nicht.“ Sie verneigte sich gemäß der Etikette vor dem letzten König Bergejslandens und verließ den Raum.

Hilgar stellte das Tablett mit der mit Gewürzen angereicherten Milch seufzend ab. Ihre Majestät hatte den ganzen Tag nichts gegessen und bis auf wenige Schlucke nichts getrunken. Die Milch hatte sie nur mit einem Nicken abgetan.

Es klopfte.

Hilgar warf einen Blick auf den Rücken ihrer Herrin. Sie stand unbewegt am Fenster. Es würde sie wohl kaum kümmern, wer vor der Tür stand. Tuun stieß sich von der Wand ab und nahm den großen Napf Milch vom Tablett.

„Geh an die Tür und sieh nach. Ich passe schon auf.“

Hilgar nickte. Sie wischte sich nervös über den Rock während sie zur Tür ging. Sie hasste es, in die öffentlichen Belange hineingezogen zu werden. Sie versteckte sich lieber hinter Kosmetikartikeln und Haarklammern. Sie war nur eine Zofe. Das reichte ihr vollkommen.

Hilgar riss die Augen auf, als sie den Hauptmann auf der Schwelle erkannte.

„Ob ich gerade unpassend erscheine oder nicht, ist mir egal. Ich muss Ihre Majestät sprechen. Jetzt!“