Augen wie Beryll - Melisande Arven - E-Book

Augen wie Beryll E-Book

Melisande Arven

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Beschreibung

Eine - 'Die Schöne und das Biest' – Geschichte Er war riesenhaft, schwarz und Gustavas lebendiger Alptraum. Um ihren Vater zu retten, war die schöne junge Frau auf einen Handel eingegangen, der sie für ewig an dieses Ungeheuer, dass sich selbst als Graf bezeichnete band. Sie konnte nicht fort von seinem schrecklichen, düsteren Anwesen, auf dem Nichts normal zu sein schien. Wie sollte sie ahnen, dass sich hinter der monströsen Gestalt des Grafen eine einfühlsame, intelligente und verzweifelte Seele verbarg, welche nur auf Erlösung hoffte. Auf Erlösung von diesem uralten Schicksal und Gustava den Schlüssel dafür in den Händen hielt. Sie musste sich nur unsterblich in diesen schwarzen, unnahbaren Mann verlieben.

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Augen wie Beryll

Für Bärchen,

ich habe Dich geliebt

und werde Dich immer lieben!

Augen wie Beryll von Melisande Arven

Herausgeber: FoxArt Verlag

Postfach 43, 90560 Markt Heroldsberg, 

[email protected]

© 2016 Melisande Arven

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Prolog
Klimper und Fünfarm
Apfelkuchen und Sonnenlicht
Badezeit und Walzertanz
Gabelpiksen und Wundernacht
Epilog

Prolog

Juli 1811

Seltsam.

War es normal, sich an keinen einzigen positiven Gedanken in den letzten Wochen erinnern zu können? An nicht einen?

Nur an Langeweile, gelegentlichen Ärger und an die Sinnlosigkeit des eigenen Daseins.

Auch heute konnte Raphael nichts aufheitern. Nicht einmal die freudige Stimmung der Feierlichkeit zu seinem Geburtstag. Immer nur diese platten Gesichter. Die einfältigen Gespräche. Das dumme Getue und die übertriebenen Glückwünsche. Nicht zum Aushalten!

Raphael hatte sich schnellstmöglich abgesetzt. Sobald ihn diese italienische Comtessa Donatella aus ihren Fingern gelassen hatte. Er sprach ja nur leidlich diese musische Sprache aus dem Süden, aber die Comtessa hatte ohnehin etwas getan, was er auf den Tod nicht leiden konnte. Da hätten alle italienischen Worte nichts genutzt.

Sie hatte ihm in die Haare gelangt!

In seine schwarzglänzende lange Mähne, die ihm weit über den Rücken reichte. Bestimmt hatte das aufdringliche Ding sie verwuschelt.

Kaum war Raphael in seinen Räumen angekommen, hechtete er zum Spiegel. Und zum Donnerwetter, ja! Sein sonst so sorgfältig glatt gestriegelter Zopf, den er für gewöhnlich tief im Nacken zusammengebunden trug, war am Oberkopf unordentlich und ein paar Strähnen standen wirr nach oben. Grummelnd griff der junge Mann nach dem Kamm, um das Malheur zu beseitigen. Als bekennender Narzisst war das einfach nicht zu ertragen. Wenn diese Primadonna ihm noch einmal zu nahe kam!

Raphael blickte sich prüfend in die Augen. Er sah genauso gelangweilt aus, wie er sich fühlte. Irgendwie sogar leblos. Dabei zwinkerten seine Lider und seine Nasenflügel bebten leicht, wenn er die Luft entrüstet ausstieß. Trotzdem. Er wirkte blass und müde. Er reckte sich mühelos und baute sich zu seiner vollen Größe auf. Der Spiegel zeigte ihm eine beachtliche Erscheinung. Die Welt war eigentlich in Ordnung.

Jemand kratzte leise an der Tür. Bei seiner Laune und der vorgerückten Stunde würde das nur einer wagen.

„Komm herein, Jasper!“, rief Raphael, ohne sich umzudrehen.

„Monsieur le Comte, es ist jemand für Euch an der Tür.“ Der alte Diener Jasper kam aus der Provence und konnte es sich nicht abgewöhnen, den Titel seines Herrn in der Muttersprache anzuführen. Da es schon bei Raphaels Vater so gehandhabt wurde, sparte sich der jetzige Graf die Mühe ewig zu protestieren.

„Dann lass den Gast doch herein! Heute muss niemand um Erlaubnis fragen.“

„Ich fürchte, hierbei handelt es sich nicht um eine geladene Person. Vielmehr um eine Bittstellerin.“

Nun drehte sich Raphael um.

„Eine Bettlerin?“

„Nun ja, sie erweckt den Anschein.“

„Na dann schick sie weg! Ich habe sonst keine Sympathie für solche Menschen. Wie viel weniger heute.“

„Aber…, Monsieur le Comte, sie ist sehr alt. Der Weg war sicherlich beschwerlich für sie.“

Der junge Graf breitete seine Arme aus.

„Und?“

„Sie hat explizit verlangt mit Euch zu sprechen.“

„Sie hat verlangt?“ Raphael dehnte jedes dieser Worte auseinander und das erneute Beben seiner Nasenflügel verhieß, dass sich frischer Zorn in ihm anstaute.

„Es ist etwas an ihr, dass mich veranlasst hat, Euch zu bemühen. Anders kann ich es nicht sagen.“

„Wo ist sie?“

„Noch vor dem Hauptportal.“

Raphael ging mit großen Schritten an seinem Diener vorbei.

„Wirklich, Jasper! Allmählich wirst du sonderbar!“ Dann stapfte er die Treppenstufen hinab und mit jedem Schritt wuchs sein Unmut. Als er schließlich in der Eingangshalle war, richtete er wirsch seinen sündhaft teuren samtblauen Frack und öffnete mit viel zu viel Kraft die große Flügeltüre. Draußen stand tatsächlich eine unglaublich kleine und uralte Greisin mit so zahlreichen Falten, dass man kaum die Nase von ihren Lippen unterscheiden konnte. Ihr schlohweißes Haar hing ihr wirr über der Stirn und sie stützte sich mit ihren krummen verhutzelten Fingern mühsam auf einen Stock. Sie trug ausschließlich schwarz und obwohl auch ihre Kleidung zweifelsohne fast so alt war wie sie selbst, musste man gestehen, dass sie absolut sauber war. Nicht ein Stäubchen fand sich daran.

Raphael sah auf die Alte herab und ein unbehagliches Gefühl kam in ihm auf, welches seine Wut fast erlöschen ließ.

„Ja?“ fragte er laut und hielt mit der Rechten immer noch den Türknauf umklammert. Die alte Frau sah zu ihm auf und zeigte damit zwei ungewöhnlich helle blaue Augen, die im Gegensatz zu ihrer ganzen Erscheinung ziemlich jung wirkten.

„Herr! Ich bin heute sehr lange gelaufen und meine Beine tragen mich nicht mehr weit. Da der Tag sich dem Ende neigt, wollte ich untertänigst um ein Nachtquartier bitten. Ich brauche nicht viel. Nur einen warmen Platz zum Schlafen. Am frühen Morgen bin ich gleich wieder weg.“

Der Graf schnaubte.

„Bin ich ein gemeinnütziger Verein? Sehe ich so aus, als ob ich gerade heute Laune für so etwas habe?“

„Aber Herr Graf! Ich werde Euch gar keine Mühe machen! Ihr werdet mich gar nicht bemerken.“

„Nein! Ich habe mich entschieden, niemals Bettlervolk hier einzulassen und auch niemals auch nur ein Geldstück an es zu geben. Das spricht sich herum und dann wimmelt es hier von Schmarotzern und armen Pöblern. Geh deiner Wege, Alte!“

Die hellblauen Augen vor ihm wurden weit und flehend.

„Bitte, Herr! Nur für ein paar Stunden.“

Nun überwog wieder der Zorn in Raphaels Brust, wie immer, wenn man seinen Befehlen nicht umgehend nachkam.

„Aus meinen Augen! Oder muss ich erst grob werden?“

Und dann passierte es!

Es war wie ein heftiges Rauschen von Baumkronen. Aber es kam nicht von den umliegenden Eichen, sondern direkt aus dem schwarzen Überwurf dieser winzigen alten Frau. Sie hob den rechten Arm und ein gleißendes Licht breitete sich aus, das Raphael leicht zurück taumeln und seine Augen mit der freien Hand schützen ließ. Er wollte mit aller Kraft fragen, was denn da vor sich ging. Aber kein Laut kam ihm über die Lippen. Er konnte gerade sehen, wie sich der Körper der Greisin immer höher aufrichtete. Irgendwann überragte sie ihn sogar. Die weißen Haarsträhnen verwandelten sich in eine goldene Pracht, die schwarzen Kleider in schimmernden Damast und auch die faltigen Züge strafften sich zu einem überaus schönen Gesicht, in dem nur die hellen Augen an die unscheinbare Gestalt von vorhin erinnerten. Ihre Wimpern waren glitzernd lang, wie Schmetterlingsflügel und die gesamte Erscheinung erschien jung und frisch und doch wusste man, dass sie so alt war wie mindestens hundert Leben.

Raphael starrte auf die völlig veränderte Person, hielt immer noch den Türknauf umklammert und bemerkte nicht, dass er aufgehört hatte zu atmen.

Der alte verdrehte Stock der Frau hatte sich ebenfalls in ein Wunder gewandelt. In den langen, jugendlich zarten Fingern hielt die Dame jetzt einen gläsernen, filigranen Stab, der in den Farben des Regenbogens schillerte. Das Einzige, das den bezaubernd schönen Anblick störte, war der strenge Zug um den kirschroten Mund.

„Ihr seid ein selbstsüchtiger, unbarmherziger Mensch, Herr Graf. Selbst für die Geringsten unter Euch habt Ihr nicht ein freundliches Wort, nicht eine gnädige Geste übrig. Ich habe Euch beobachtet.“

Da wusste Raphael, dass ihn sein Gefühl nicht getäuscht hatte. Diese Angelegenheit würde nicht gut für ihn ausgehen.

„In Eurem Fall bedarf es einer tüchtigen Charakterschule. Vom heutigen Tage an wird das was innen ist, sich außen widerspiegeln. Ihr werdet für jedermann sichtbar das schwarze Herz in Eurer Brust auf der blanken Haut tragen. Bis Ihr gelernt habt, was es heißt, die Bedürfnisse anderer Menschen über Eure eigenen zu stellen. Bis Ihr gelernt habt zu lieben und ein Mädchen gefunden habt, das Euch wiederliebt. So kann nur ein Kuss der wahren, reinen Liebe Euch von diesem Schicksal erlösen.“

Raphael bemerkte nur noch, wie sie ihren dünnen Glasstab hob und bevor er irgend was einwenden konnte, war es, als würden ihm in einem Moment sämtliche Knochen brechen. Eine unerträgliche Hitze breitete sich, von seinem Herzen ausgehend, in jeden Bereich seines Körpers aus. Er spürte, wie der Türhebel unter der Kraft seiner zusammengeballten Hand nachgab und er hörte seinen eigenen unmenschlichen Schrei in den Ohren gellen.

Klimper und Fünfarm

Juli 1911

„Oh nein!“

Polternd fielen glänzende bunte Steine auf den Boden. Einige kullerten sogar unter das Sofa. Sofort sprang das junge Mädchen, welches lesend im Lehnstuhl gesessen hatte, auf.

„Lass nur, Großvater! Ich mach das schon.“

„Entschuldige, Gustava. Mir ist die Schachtel einfach aus den Händen gefallen. Manchmal machen die einfach, was sie wollen.“ Der alte Herr kratzte sich verschämt hinter dem Ohr und Otto Rinkmann schüttelte über sein Missgeschick den Kopf. Seine Enkelin krabbelte auf allen Vieren durch die Stube und grinste zu ihm auf.

„Dann bleibe ich wenigstens in Bewegung.“

„Du meinst, im Gegensatz zu mir.“

Ein glockenklares Lachen drang vom Boden in seine Ohren. Es klang wie Musik, wie ein kurzer Gesang und der alte Rinkmann musste unweigerlich mitlachen. Gustava kroch derweil unter das Sofa und ihre weißen Söckchen spitzten keck unter ihrem dunkelgrünen Rocksaum hervor.

„Das erinnert mich daran…“, kam dumpf ihre Stimme, „…hier mal wieder ordentlich Staub zu wischen.“ Als sie alle Steinchen erwischt hatte, half sie diese wieder in das Setzkästchen einzusortieren. Der Großvater hatte es auf den runden Tisch unter der Lampe gestellt und sah prüfend auf die kleinen Kostbarkeiten.

„Ach Herrje! Eines fehlt.“, meinte er dann.

Tatsächlich war ein Kämmerchen frei geblieben.

„Welcher ist es?“, fragte das Mädchen.

„Es muss ein Amethyst gewesen sein.“

„Gut. Dann such ich nach was Lilafarbenem.“ Gustava wandte sich erneut dem Dielenboden zu. „Vielleicht ist er unter den Teppich gerollt.“ Sie schlug ihr schönes, nussbraunes Haar zurück und machte sich an dem Vorleger zu schaffen.

Gustava war erst vorherige Woche siebzehn Jahre alt geworden. Da sie noch unverheiratet war, durfte sie ihre Frisur noch recht mädchenhaft und locker gestalten. So hatte sie die Haare lediglich mit einem kleinen Hornkamm weggesteckt und die übrigen sanften Wellen fielen ihr sanft über den Rücken. Seit nunmehr einem Jahr trug sie ein Korsett. Aber es schränkte sie in ihrer gewohnten Freiheit so sehr ein, dass sie sich ernsthaft überlegte, ob sie nicht lieber auf die Reformkleider wechseln sollte, die einen wesentlich angenehmeren Tragekomfort versprachen. Leider hatten sich diese Modelle noch nicht durchschlagend in der Modewelt etabliert. Allerdings schimpfte Herr Engelhardt, der Apotheker von gegenüber, immer über die rückenschädlichen „Zwinger“. Und Gustava musste feststellen, seitdem sie dieses damenhafte Wäschestück trug, wurde sie von der Herrenwelt ganz anders wahrgenommen. Und zwar nicht nur vom schüchternen Stefan Engelhardt Junior, den sie seit früher Kindheit kannte. Sondern, sehr zu ihrem Leidwesen auch vom Grübelmayer Anton, dem Sohn des Bürgermeisters. Diesem Geck, der wie ein Pfau durch die Straßen stolzierte und bunt gestreifte Jacken trug. Sie hatte dem Vater ihren Unmut darüber geklagt. Der hatte lächelnd ihre Wange getätschelt und gesagt:

„Du bist so wunderschön wie deine Mutter Selig. Da ist es schon egal, was du trägst. Und wenn es ein Kartoffelsack wäre.“

Gustava fand etwas Schimmerndes in der hinteren Ecke, in der Kater Onesimus‘ Schmusekissen lag. Es entpuppte sich wirklich als der fehlende Edelstein und Gustava hob ihn erleichtert auf.

„Na Gott sei Dank!“, rief der Senior des Hauses und strich über den Kopf des Mädchens. „Du bist ein Engelchen.“

Dieses rümpfte die Nase.

„Was hab ich dir über Kosenamen gesagt?“

„Ja, ja. Es war ein langer Vortrag gewesen. Ich erinnere mich. Ich sollte es besser wissen.“

Gustava lachte wieder ihr ansteckendes Lachen und dann hörte sie, dass jemand ihren Namen rief. Sie sprang die Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Dort wartete ein großer schlanker Mann mit gepflegtem graumeliertem Bart und sanften Augen.

„Gustava! Ich habe gerade erfahren, dass mein langersehntes Päckchen endlich bei der Post eingetroffen ist. Herr Müller hat es mir soeben über die Straße herübergerufen. Lauf doch mal schnell zur Poststation und hole es für mich ab!“

„Ist es die goldene Uhr von Mama?“

„Es muss sie sein!“

Gustava stülpte sich schnell ihren Hut auf und schob sich, schon im Laufen, die Hutnadeln durch. Die Kundenglocke bimmelte, als sie durch die Tür auf die Straße trat. Über ihr prangte das Ladenschild in goldenen Buchstaben.

Juwelier Rinkmann – An- und Verkauf

Der Eingang war auch zugleich die einzige Möglichkeit, in die kleine Wohnung im ersten Stock zu gelangen. Was es furchtbar schwer machte, diverse Sachen an Vater und Großvater vorbei zu schmuggeln. Nicht, dass Gustava verschwenderisch wäre. Aber als einzige Frau im Rinkmannschen Haushalt war es oft schwer, Verständnis für manche Anschaffungen zu erlangen, die Männer für absolut überflüssig hielten. Die gute Henriette, die Köchin und Haushälterin war dabei auch keine große Hilfe, denn sie schien nichts anderes als Kochtöpfe und Bügelwäsche im Kopf zu haben.

Heute allerdings musste Gustava sich um das, was sie heimbringen würde, keine Sorgen machen. Zwei Monate hatten sie auf die Lieferung der teuren kleinen Tischuhr gewartet. Sie war schon länger kaputt gewesen und besaß offenbar ein so kompliziertes Uhrwerk, dass Leander Rinkmann und selbst die ortsansässigen Uhrmacher es nicht wieder zum Laufen brachten. Daher hatte der Vater das Familienerbstück seiner verstorbenen Frau schließlich in die Schweiz zu einem Spezialisten geschickt. Gustava lief die Hauptstraße zum Marktplatz hinunter und winkte hier und da ein paar Leuten, die sie kannte. Als sie die Postfiliale fast erreicht hatte, kam doch tatsächlich der Grübelmayer auf sie zu.

„Fräulein Gustava. Wohin des Weges?“

„Guten Morgen, Herr Anton.“ Freundlichkeit war eine starke Waffe, pflegte der Großvater immer zu sagen. „Ich gehe zur Post.“

„Oh, darf ich Sie begleiten?“

Wie weit ging nun die Freundlichkeit, bis sie lächerlich wurde? Das hatte Opa nie erwähnt. Aber der Bürgermeisterssohn hielt schon die Tür zur besagten Packstelle auf und seine Frage erübrigte sich. Gustava schnaufte lediglich, als sie an Anton vorbei geschritten war und straffte die Schultern. Sie zog ihr Sonnenschirmchen zusammen und ging an den Schalter. Der Postbeamte hatte sie schon gesehen.

„Grüß Gott, Fräulein Rinkmann. Da wird sich der Herr Papa aber freuen, jetzt da er doch so lange gewartet hat.“ Und er lachte so heiter, dass der dicke Bauch unter seiner Uniform wackelte. Gustava nickte lächelnd. Herr Tunke war einer der nettesten Menschen, die sie kannte und einer der lautesten Kirchensänger, den man sich vorstellen konnte. Deswegen blieb ein gewisser Radius in der Kirchenbank um ihn herum immer frei, was wie gesagt nicht an seiner Persönlichkeit lag. Nun händigte er Gustava ein gut verpacktes Kistchen aus und ließ die Rinkmann Herren schön grüßen. Anton Grübelmayer hatte den Anstand nicht nach dem Inhalt zu fragen, aber er bot an, das Päckchen zu tragen. Da es doch ein beträchtliches Gewicht hatte, willigte Gustava ein. Zum Glück war der Weg ja nicht allzu weit. Das städtische Sommerfest stand vor der Tür und über dem Hauptmarkt wurden bunte Bänder mit Fähnchen gespannt.

„Sind sie denn auch beim Tanzabend dabei, Fräulein Gustava? Es ist für einen guten Zweck.“

Die junge Frau drehte nachdenklich den Knauf ihres Schirms.

„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.“ Und Vater hatte sie auch noch nicht gefragt.

„Ich könnte für Sie und Ihre Familie einen Platz am besten Tisch reservieren lassen. Das ist überhaupt keine große Sache.“

„Wie freundlich von Ihnen, Herr Anton.“

„Es versteht sich doch von selbst, dass Sie nur in bessere Kreise gehören, werteste Gustava.“ Und Anton schmachtete sie mit seinem gut einstudierten Hundeblick an, der bei den Mädels für gewöhnlich zog. Gustava quittierte es mit einer kurzen Kopfbewegung. Hundeblick hin- oder her. Sie war doch mehr der Katzenliebhaber. Vor dem Juweliergeschäft streckte sie demonstrativ die Hände aus.

„Vielen Dank fürs Tragen.“ Da die väterlichen Augen ganz in der Nähe waren, gab Grübelmayer seine Last ohne weitere Fragen zurück und entfernte sich mit herzlichem Hutschwenken.

„Was hast du denn mit diesem Pompus zu schaffen?“, fragte Leander Rinkmann, als sie eintrat.

„Er hat mir das Paket getragen. Keine Sorge, Papa, für so einen interessiere ich mich nicht.“

Der Juwelier seufzte und es klang fast wie ein ‚Gott sei Dank!‘, aber Gustava war sich nicht sicher. Da gerade keine Kundschaft im Laden war, öffnete er die Sendung sofort. Die Tochter lehnte sich gespannt über den Ladentisch und folgte jeder Bewegung seiner Finger. Herr Rinkmann schob das Füllmaterial beiseite und wollte soeben in die Schachtel greifen, um den Inhalt vorsichtig heraus zu heben, als er abrupt inne hielt. Gustava neigte sich noch weiter vor und konnte nun auch hinein sehen.

„Oh, Papa!“ entfuhr es ihr und dann presste sie eine Hand vor den Mund.

In der grauweißen Wolle lag ein undefinierbarer Haufen von goldenen Kleinteilen aus Schräubchen, Rädchen und Glas, der sehr wenig mit einer funktionierenden Uhr zu tun hatte. Leander Rinkmann rang sichtlich mit seiner Fassung und Gustava griff ihn zärtlich am Arm.

„Nicht traurig sein, Papa! Das kann man ganz bestimmt wieder richten.“

Er räusperte sich lauter als gewöhnlich und versuchte zu lächeln.

„Sicher. Das ist… das kriegt man wieder hin. Bestimmt ist das Paket schlimm herunter gefallen. Denn gedämmt war es eigentlich gut.“

Den ganzen restlichen Tag war der Papa ziemlich still. Egal was Gustava unternahm, er ließ sich nicht wirklich aufheitern und gemessen daran, wie viel ihm die Uhr bedeutete, war das natürlich verständlich. Das Mädchen hatte ihre Mama nie kennengelernt. Und obwohl sie diese wichtige Person in ihrem Leben schmerzlich vermisste, so hatte sie nicht denselben Bezug zu dem Schmuckstück wie die Herren des Hauses. Aber da ihr heißgeliebter Vater so daran hing, tat es ihr ungeheuer weh, ihn so niedergeschlagen zu sehen.

Bis in den Abend grübelte sie, was man tun könnte, um ihn aufzumuntern. Als sie schon im Nachthemd war und kurz vor dem Schlafengehen in die Küche huschte, um sich etwas zu trinken zu holen, hörte sie noch den Vater mit dem Großvater in der Stube miteinander sprechen. Sie redeten sehr leise, wohl um sie nicht zu wecken. Aber es ging um die Uhr.

Eigentlich war es nicht Gustavas Art zu lauschen, aber sie vernahm, dass Pläne für eine Reise nach Bern geschmiedet wurden. Mit dem Zug. Gustava hatte eine große Vorliebe für das Reisen und war begierig darauf, andere Orte und Kulturen zu sehen. Natürlich war die Schweiz nun nicht ungemein exotisch, aber nach allem, was das Mädchen gelesen hatte, war das Land ein wunderschönes Fleckchen Erde und Gustava fragte sich, ob Papa sie vielleicht sogar mitnehmen würde.

Das redete Herr Rinkmann seiner Tochter gleich am Frühstückstisch gründlich aus. Zumindest versuchte er es. Gustava verschränkte die Arme vor der Brust und zog ein trotziges Gesicht. Sie hatte sich schon gedacht, dass es nicht leicht würde ihn umzustimmen. Aber dass er auch, nachdem sie alle Register gezogen hatte, immer noch stur blieb, das hatte sie nicht geglaubt.

Großvater war die ganze Debatte über weise still geblieben. Eigentlich wollte er nun einschreiten und zu Gunsten seiner Enkelin sprechen, aber das entschlossene Gesicht seines Sohnes ließ ihn klüger sein. Er warf Gustava einen verständnisvollen Blick zu. Die junge Frau quittierte es mit einem leichten Augenzucken und wischte ein unsichtbares Staubkorn vom Rock.

Sie sah heute besonders hübsch und sommerhaft frisch aus in ihrer altrosafarbenen Bluse mit kleinem Spitzenbesatz und dem langen beigen Rock. Dazu trug sie, wie jeden Tag den dezenten Perlenschmuck ihrer Mama. Sie war ihr ohnehin schon so ähnlich, besonders wenn sie sich beleidigt das Haar hinter das Ohr klemmte und sich dazu entschied, für die nächste Stunde nur noch knappe Antworten zu geben.

Der Vater würde also nach Bern fahren, die zertrümmerte Uhr gut verpackt im Koffer, damit weiterer Schaden verhindert und bestehender behoben wurde.

Gustava stand wie betäubt im Türrahmen. Sie fühlte nur, dass ihre Zehen kalt waren. Das passierte ihr immer, wenn sie sehr aufgewühlt war.

„Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Fräulein Rinkmann?“ Die tiefe Stimme ließ sie wieder aufsehen. Schutzmann Bergdiel fasste sie leicht am Ärmel.

„Ja, ich glaube schon.“ Gustava schüttelte sie leicht.

Der Laden hatte noch zu. Großvater war oben. Es war gerade mal sieben Uhr früh und das Teewasser kochte auf dem Herd.

„Was wird nun geschehen? Sucht man nach ihm?“, presste Gustava hervor.

„Natürlich. Es wird alles unternommen um Ihren Vater zu finden. Die Einsatzkräfte sind vor Ort. Es ist ja im Grunde und Gott sei Dank nichts allzu Ernstes passiert. Es kam niemand zu Tode und die Verletzten werden alle wieder genesen. Umso mehr ist es unbegreiflich, wo ihr Herr Vater denn nur abgeblieben ist.“

Gustava biss sich auf die Lippe. Auf dem Tresen lag noch die Zeitung von gestern.

Zug entgleist, Passagiere verletzt

Und es war gerade die Fahrt, die Herr Rinkmann nach München nehmen wollte, um dort umzusteigen! Gustava und ihr Großvater hatten sofort alles unternommen, um herauszufinden, ob er im Krankenhaus, im nächsten Bahnhof, irgendwo bei der Polizei oder gar auf dem Weg nachhause war. Aber niemand wusste etwas über seinen Verbleib. Man hatte schließlich seinen Koffer gefunden. Was bewies, dass er wirklich in dem Zug gesessen hatte.

„Ich verstehe das einfach nicht.“, stammelte Gustava. „Papa ist ein überaus vorsichtiger Mensch. Niemals wäre er einfach auf eigene Faust losgezogen und bei Dunkelheit durch den Wald marschiert. Zumal er ja nicht alleine war und Hilfe schon alarmiert wurde.“

Der Schutzmann nickte und zuckte mitfühlend mit den Schultern. Gustava begann auf und ab zu gehen und kaute unruhig auf ihrer Daumenkuppe.

„Und dann sein Koffer! Wissen Sie, Herr Bergdiel, er hatte etwas sehr Kostbares bei sich. Nie im Leben würde er sich davon freiwillig getrennt haben.“ In Gustavas Augen begann es zu schimmern. Sie zog schniefend die breite Stola enger um ihre Schultern. Dieses verdammte Korsett! Nicht einmal anständig weinen konnte man damit.

Jetzt hörte sie Schritte auf der Treppe und sie fuhr sich schnell mit den offenen Händen über die Wangen.

„Bitte keine aufwühlenden Worte zu Großvater! Das macht sein Herz nicht mit.“

„Ach, ich kenne doch den alten Rinkmann. Natürlich werde ich mir Mühe geben, aber wir beide wissen doch, dass er nicht eher Ruhe gibt, als bis er alles weiß.“

Gustava seufzte ergeben. Sie griff nach der alten Zeitung und las nochmals die ersten Zeilen. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel und dankte dem Allmächtigen, dass es keine Todesfälle gegeben hatte.

Schutzmann Bergdiel versprach bei jeder noch so kleinen Neuigkeit auf dem schnellsten Wege vorbei zu schauen, um Rapport zu geben.

Gustava hielt diesen Zustand bis zum nächsten Morgen durch. Als bis dahin immer noch keine aktuellen Informationen an sie weitergegeben wurden, beschloss sie etwas zu unternehmen. Zwar widerstrebte ihr der Gedanke zutiefst, aber sie war mittlerweile so verzweifelt, dass sie die Zähne zusammenbiss. Sie nahm ein schönes Kleid aus dem Schrank mit passendem Jäckchen, angemessen für eine Ausfahrt. Dann überprüfte sie ihre Frisur und trug sogar etwas Rouge auf die Wangen auf. Anschließend setzte sie sich resolut einen Hut mit breiter Krempe auf und wählte die cremefarbenen Sommerhandschuhe. Alsbald war sie im Laden angekommen und hielt Opa Rinkmanns Mantel über dem Arm.

„Großvater! Wir werden jetzt etwas tun! Wärst du bereit, mit mir zu kommen?“

Der alte Herr blickte verdutzt auf, aber das bleiche Gesicht entspannte sich sofort und er nahm die Ausgehkluft entgegen, ohne Fragen zu stellen. Gustava ging an seinem Arm die Straße hinunter und lenkte ihn zielstrebig zum Rathaus.

„Hoffentlich sind sie zuhause.“

„Wer denn, Engelchen?

Gustava ließ diesmal den Kosenamen zu. Sie hatten jetzt andere Probleme.

„Die Grübelmayers! Und besonders der Anton.“

„Kind, was hast du denn vor?“

„Die haben ein Automobil! Lass mich nur machen!“ Sie klingelte und das Hausmädchen öffnete und ließ kurz darauf beide eintreten. Es dauerte nicht lange, da kam die Frau Bürgermeister in den Salon.

„Mein liebes Fräulein Rinkmann! Da kommen Sie in dieser schweren Stunde zu uns! Setzen Sie sich! Trinken Sie Tee!“

Frau Grübelmayer stellte nie eine Frage. Für sie gab es nur Sätze mit Ausrufezeichen. Aber die elegante Dame hatte dennoch eine gewisse Warmherzigkeit und tätschelte behutsam Gustavas Knie.

„Seien Sie zuversichtlich, meine Liebe! Es gibt sicherlich eine Erklärung für dieses dubiose Verschwinden Ihres Vaters. Pfarrer Settel hat sogar angekündigt heute Abend in der Messe ein Fürbittegebet zu sprechen und es werden Kerzen am kleinen Altar entzündet. Wenn es etwas gibt, das ich tun kann….“

„Ehrlich gesagt, verehrte Frau Grübelmayer, hoffte ich, dass Sie genau das sagen würden.“, piepste Gustava und bemühte sich, nicht rot zu werden.

„Heraus damit, Fräulein Rinkmann!“

„Ich kann nicht mehr daheim sitzen und die Wände anstarren. Und Großvater auch nicht. Wir müssen etwas unternehmen. Wenn es nun nicht zu vermessen ist, wäre es möglich, uns Ihr Automobil zur Verfügung zu stellen? Wir möchten unbedingt die Unglücksstelle sehen und vielleicht finden wir ja einen Hinweis auf Papas Verbleib. Es ist zwar nur eine anmaßende Hoffnung, aber immerhin besser als nichts tun.“

Frau Bürgermeister nickte heftig, dass der Brokat ihres Kleides raschelte.

„Selbstverständlich. Man muss selbst zur Tat schreiten. Und Sie haben Glück. Mein Mann ist nicht unterwegs und das Gefährt ist da.“ Sie hielt mit dem Rühren ihres Löffels in der kleinen Tasse inne und dachte kurz nach.

„Meine Agenda ist heute nicht sehr belegt. Fräulein Rinkmann, ich fahre auch mit!“ Sie richtete sich auf und dirigierte das Hausmädchen zum Chauffeur und der Junior Grübelmayer solle doch so schnell wie möglich in den Salon kommen.

„Greifen Sie noch bei dem Gebäck zu, ich ziehe mich eben um und bin im Handumdrehen zurück!“ Die Dame des Hauses rauschte zügig aus dem Raum und Gustava grinste ihren Großvater erleichtert an.

„Was versprichst du dir denn an der Unglücksstelle zu finden?“

„Ich weiß es auch nicht, Großvater. Ich kann es nicht recht beschreiben, aber es ist so ein Gefühl in mir. Irgendwie scheint es das Richtige zu sein. Und deswegen bin ich zufrieden, dass Frau Grübelmayer zugestimmt hat.“

„Gut. Dann will ich auch zufrieden sein.“ Er biss herzhaft in einen Teigkringel, denn die letzten Tage war der Hunger eher mäßig ausfallen.

Es dauerte nicht lange, da stolzierte mit gewisser Geschwindigkeit Anton Grübelmayer herein, in typisch gestreiftem Jackett.

„Welch angenehme Überraschung! Guten Tag, Herr Rinkmann, verehrtes Fräulein Gustava. Willkommen in unserem Haus!“

Er schwenkte mit dem Arm weit durch den Salon und Gustava musste unweigerlich den Blick durch den Raum schweifen lassen. Es war ein herrliches Zimmer, mit schönen Teppichen, verziertem Mobiliar und sehr eleganten Vorhängen. Kein Anblick, für den man sich schämen müsste. Sicherlich bezweckte der junge Grübelmayer das auch mit seiner Gestik, um nochmals zu unterstreichen, welch gute Partie mit ihm zu machen sei. Gustava lächelte höflich.

„Eine Ausfahrt ins Blaue. Was für eine schöne Idee.“ Er ließ sich neben den Gästen auf dem Sofa nieder und schlug die Beine übereinander. Das Mädchen räusperte sich.

„Nun, leider ist der Anlass nicht ganz so unbekümmert, wie wir uns das wünschen würden.“

Sofort nahm Antons Gesicht einen betrübten Ausdruck an. Er strich sich gekonnt mit den Fingerspitzen über seinen blonden Schnauzer.

„Selbstverständlich. Bitte vergeben Sie mir! Das war sehr unbedacht.“

Während der alte Rinkmann ein weiteres Gebäck verschlang, fragte Gustava nach dem Befinden des Bürgermeisters. Er schien laut Aussage des Sohnes in trefflicher Verfassung zu sein und befände sich gerade im Arbeitszimmer, um die Rede für das Sommerfest zu vollenden.

Dessen Gattin hatte Wort gehalten. Sie kam wirklich sehr bald zurück und trug ein schickes hellblaues Reisekleid.

Kurz darauf brausten die vier Insassen mit dem Fahrer in dem komfortablen Gefährt aus der Stadt hinaus. Gustava war bis dahin noch niemals in einem Automobil gesessen und fand das, genau wie ihr Großvater, ungemein spannend. Natürlich hätte ihr diese besondere Unternehmung viel mehr Freude gemacht, wenn die Angst um den Papa nicht gewesen wäre. Wie ein Karussell drehten sich die Gedanken nur um ihn und das Rätsel seines Verschwindens. Wenigstens hatte die Polizei den Koffer frei gegeben und somit war die Uhr auch wieder zurück.

Gustava sah hinaus und beobachtete die Landschaft, die vorbei sauste. Es war ziemlich eng im Wagen und sie war heilfroh, dass Anton vorne neben dem Fahrer saß und sich nicht neben sie gequetscht hatte.

Die Fahrt dauerte einige Zeit und da sich die Reisenden nicht sicher waren, wo genau das Unglück passiert war, versuchten sie den Bahnschienen zu folgen. Das war gar nicht so einfach, weil die Zugstrecke sich öfter von der Straße entfernte und nicht mir ihr parallel verlief. Gustava hatte einen nervösen Klumpen im Magen und griff nach Großvaters Hand. Schließlich entdeckte der Chauffeur ein paar umgestürzte Bäume in der Ferne und mehrere Lastwagen, die am Straßenrand parkten. Es waren tatsächlich die Schienenarbeiter, welche die Strecke räumten.

„Ich bin nicht sicher, ob man uns gestattet hier ohne Weiteres herumzulaufen und sich umzusehen.“ Meinte Frau Grübelmayer. „Aber wenn wir unsere direkte Zugehörigkeit zur Stadtverwaltung kundtun, mag es sein, dass die Herren uns passieren lassen.“ Sie schnupfte mit der Nase. „Wir sind ja schließlich nicht von der Presse.“

Gustava war sich sicher, dass sie einfach wieder einen ihrer Ausrufezeichensätze bringen würde. Dagegen könnte kein Einwand bestehen. Der Chauffeur parkte hinter dem Konvoi und Anton half den Damen beim Aussteigen. Gustava japste insgeheim nach Luft, als sie den Unfallort übersah. Die Waggons waren zwar mittlerweile weggeschafft, aber es hatte die Schienen durch die Wucht verbogen und überall lagen Trümmer und Glassplitter im Gras. Zwei junge Birken waren regelrecht entzwei gerissen worden und es hatte wohl auch gebrannt, denn es roch nach Rauch und die Sträucher waren angekokelt. Der Boden rechts der Bahnstrecke, von der Straße wegführend, fiel in einer sanften Senke nach unten ab. Dort begann ein dichter Fichtenwald, der sich wie ein dunkelgrünes Band, entlang der Schienen säumte.

„Selbst wenn es ihn durch das Fenster in den Wald geschleudert hätte, wäre er nicht vom Erdboden verschluckt worden.“ Rinkmann hatte sich neben seine Enkelin gestellt, die wie gebannt auf die Bäume starrte. „Mein Sohn hat einen schlauen Kopf und ich weigere mich zu glauben, dass er nicht mehr ist. Wenn es nicht gerade Bären oder Wölfe in diesem Wald gibt, so lebt er. Was anderes will ich nicht hinnehmen.“

Gustava schlang die Arme um ihren Großvater, der tapfer seine Tränen zurückhielt und die Fäuste ballte. Da man die Wagen schon beseitigt hatte, war auch ihre schlimmste Befürchtung, dass ihr Vater unter ihnen begraben worden war, gottlob nicht wahr geworden. Aber es warf neue Fragen auf.

Auf der linken Seite, der freien Ebene bis zur Straße, verlief freies Gebiet ohne Gefahr und Hindernisse. Einzig der Wald konnte einen ausgewachsenen Mann verbergen. Aber warum um alles in der Welt hätte der besonnene Juwelier da hineinlaufen sollen? Frau Grübelmayer teilte ihre Beobachtungen gerade lauthals dem Großvater mit und Gustava raffte ihr Kleid und stapfte ein wenig die Böschung hinunter. Einige Scherben waren bis hierher geflogen. Unberührt davon wippten die Äste der Fichten leicht im Sommerwind. Ein friedlicher Anblick. Gustava sah sogar ein Kaninchen davonspringen. Sie wollte sich gerade umdrehen, als etwas Glänzendes durch die Baumreihen schimmerte. Es sah aus wie dunkles lasiertes Holz. Das Mädchen reckte den Hals, war sich aber dann nicht mehr so sicher, ob es nicht eine Täuschung der Lichtwechsel zwischen den Ästen war. Und als Anton Grübelmayer sich an ihre Seite stellte, um sie auf etwas aufmerksam zu machen, verwarf sie den Eindruck.

Er war wieder gekommen. Das alleine war schon ungewöhnlich. Aber dass er gerade auch am helllichten Tage unterwegs war, erstaunte sogar ihn selbst. Zwar hatte er einen triftigen Grund, bedingt durch die Ereignisse der letzten Tage. Jedoch war da weitaus mehr! Diese ominöse Unruhe in ihm und dieses Drängen, erneut heraus zu fahren, genau an diese Stelle.

Und dann sie!

Eigentlich wollte er schon längst auf dem Rückweg sein. Aber er stand wie gebannt zwischen den Bäumen. Der Wimpernschlag hatte beinah ausgesetzt und sein Blick folgte jeder ihrer Bewegungen. Sie war das Schönste, Anmutigste und Lebendigste, was er je zu Gesicht bekommen hatte! Die junge Frau war ihm schon aufgefallen, als sie oben die Gleise entlang ging. Sie hatte eine ganz eigene Art sich zu bewegen. Aber nun, da die zierliche Person den Abhang hinunter gekommen war, konnte er deutlich ihre makellose Haut und ihre nachdenklichen dunklen Augen erkennen. Unter ihrem Hut kringelten sich weichfallende braune Locken und glänzten im Sonnenlicht. Ihre Augenbrauen hatten einen schönen Schwung. Ihre Nase verlieh ihr etwas Keckes und die zartrosa Lippen waren, da sie an der Schwelle zum Frau werden stand, auf dem besten Wege unwiderstehlich voll und sinnlich zu werden. Abgesehen davon, dass die Kleidermode etwas ungewöhnlich anzusehen war, ihr schlanker Körper hätte wohl alles tragen können. Sie war in ein helles cremeanmutendes Reiseessemble mit schmalen rosa Streifen gekleidet. Unter dem passenden Kostümjäckchen zierte ein dunkelroter Samtgürtel ihre schmale Taille, von dem man kaum die Augen wenden konnte. Das Mädchen war nicht sonderlich reich, aber aus gutem Hause. Das verrieten ihre Sprache und die nicht zu verachtenden Details, wie der schlichte Perlenschmuck und die wesentlich opulentere Gesellschaft, in dem es sich befand. Denn obwohl die Garderobe des jungen blonden Schönlings zweifellos ebenfalls sonderbar schien, sie war von edlem Stoff und er hatte etwas Aristokratisches an sich. Und wenn er, wie viel mehr die Dame mit dem silbergrauen Haar und dem wahren Monster an Kopfbedeckung.

Die wesentlich Jüngere schien besorgt zu sein, denn sie lächelte nicht ein einziges Mal und die ganze Gruppe war anscheinend nicht zufällig vorbei gefahren. Das Mädchen nahm das weiße Blümchen entgegen, welches der sichtlich bemühte Trottel neben ihr gepflückt hatte. So wie sie es tat, war ihr Herz nicht sonderlich berührt. Sie drehte das zarte Gebilde zwischen den Fingern und es bildeten sich Tränen in ihren Augen. Sie war also direkt betroffen von dem Unfall. Aber der zerbrechliche Ausdruck in ihrem Gesicht ließ sie noch schöner erscheinen und durch diese traurige Emotion gewährte sie einen Blick in ihre Seele.

Der blonde Schnauzer an ihrer Seite schien weder das eine, noch das andere zu bemerken. Doch er nannte ihren Namen und der hallte wie ein Donnergrollen durch die Fichtenstämme, obwohl der Possenreißer ihn nicht unbedingt sehr laut ausgesprochen hatte. Es war wohl Schicksal. Sie war die Tochter von Leander Rinkmann!