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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2072 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem Jahr 5659 nach Christus. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat. Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen. Die Angehörigen der Sternenvölker stehen für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, man arbeitet intensiv zusammen. Doch entwickelt sich in der kleinen Galaxis Cassiopeia offensichtlich eine neue Gefahr. Dort ist FENERIK gestrandet, ein sogenannter Chaoporter. Nachdem Perry Rhodan und seine Gefährten versucht haben, gegen die Machtmittel dieses Raumgefährts vorzugehen, bahnt sich eine unerwartete Entwicklung an: FENERIK stürzt auf die Milchstraße zu. Mit an Bord ist Anzu Gotjian, die Transmitterspezialistin, Mutantin und Heldin wider Willen. Zwei der fünf Quintarchen sind bereits bei der Havarie gestorben, die Quintarchin Schomek, die Lohe, wird von Alaska Saedelaere getötet, als sie ihn als neuen Quintarchen rekrutieren will. Und Farbaud, der im Glanz, wird von den Galaktikern entführt. Nun bleibt nur noch ein einziger Quintarch handlungsfähig an Bord des Chaoporters: ADDANC, DER TAUCHER ...
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Nr. 3190
Addanc, der Taucher
Er ist der letzte der Quintarchen – er verlangt die absolute Herrschaft
Christian Montillon
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Prolog
1. Extemporale Erinnerungen
2. Der Weg hinüber und hinab
3. Audienz beim Quintarchen
4. Der Weg zum Chaotarchen
5. Audienz bei Zou Skost
6. Der Staub aus dem All
7. Leichengeflüster
8. Unter der Schwelle
9. Grenze
10. Pandrias
11. Aufmarsch
12. Kampf der Voten
13. Nach dem Untergang
Epilog
Stellaris 89
Vorwort
»Das Kugellabyrinth« von Thorsten Schweikard
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2072 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem Jahr 5659 nach Christus. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat.
Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen. Die Angehörigen der Sternenvölker stehen für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, man arbeitet intensiv zusammen.
Doch entwickelt sich in der kleinen Galaxis Cassiopeia offensichtlich eine neue Gefahr. Dort ist FENERIK gestrandet, ein sogenannter Chaoporter. Nachdem Perry Rhodan und seine Gefährten versucht haben, gegen die Machtmittel dieses Raumgefährts vorzugehen, bahnt sich eine unerwartete Entwicklung an: FENERIK stürzt auf die Milchstraße zu. Mit an Bord ist Anzu Gotjian, die Transmitterspezialistin, Mutantin und Heldin wider Willen.
Zwei der fünf Quintarchen sind bereits bei der Havarie gestorben, die Quintarchin Schomek, die Lohe, wird von Alaska Saedelaere getötet, als sie ihn als neuen Quintarchen rekrutieren will. Und Farbaud, der im Glanz, wird von den Galaktikern entführt. Nun bleibt nur noch ein einziger Quintarch handlungsfähig an Bord des Chaoporters: ADDANC, DER TAUCHER ...
Addanc, der Taucher – Der Quintarch setzt sich mit einem Chaotarchen, einer Terranerin und vier Voten auseinander.
Anzu Gotjian – Die Terranerin setzt sich mit einer besonderen Sextadim-Kanone auseinander.
Zou Skost – Der Chaotarch weiß, was zu geschehen hat.
Osh'gemta
Die stärkste Person ist die Person,
die keine Angst davor hat,
allein zu sein.«
Walter Tevis: Das Damengambit
Prolog
Addanc, der Taucher, pendelte im Wasser.
Die Strömung drückte ihn zur Seite, er selbst schob sich zurück. So ging es immer wieder.
Die Tastorgane an seinem Schlund nahmen jede kleine Vibration in den Fluten wahr, die der Riesentarak auslöste, der sich auf dem Meeresgrund näherte. Das Biest war schmackhaft und kräftig, aber dumm. Das konnte man einem Tier nicht vorwerfen. Es hatte keinen ausgeprägten Überlebensinstinkt. Wahrscheinlich, weil es wegen seiner schieren Größe kaum natürliche Feinde gab. Addanc bildete die Ausnahme.
Der Tarak schob eine Tentakelspitze über den Meeresboden, als wollte er darauf zeichnen. Steine klackerten beiseite. Ein Kirsa huschte auf sechs Beinen mit hastig klickenden Scheren davon.
Der Tentakel war fast greifbar nah bei Addanc. Oh ja, nichts als ein dummes Beutetier. Addanc wartete und war froh, nicht nachdenken zu müssen. Wenigstens in diesen kurzen Momenten der Jagd nicht. Das hatte er sich verdient. Danach, bald, vielleicht schon während der Mahlzeit, würde er sich wieder den Problemen widmen, die es zu lösen galt.
Eine weitere schlängelnde Bewegung brachte den Riesentarak nah genug an Addancs Tunnel. Der Taucher beugte sich hinab, packte mit den starken Außenkiefern zu. Die Beute bäumte sich auf. Blut tanzte im Wasser und trieb in kleinen Wolken davon.
Addanc genoss die Mahlzeit und holte nach, was er zuletzt vermieden hatte: Er musste nachdenken, wie er als letzter verbliebener Quintarch FENERIK vor dem Untergang bewahren konnte.
Und während er die Beute verzehrte, kam ihm eine Idee. Ein wenig kühn und – ja, noch nie da gewesen. Aber besondere Zeiten erforderten besondere Lösungen. Er verschlang Fleisch und Muskeln, Nerven und Gehirn.
Zou Skost, dachte er. Ich muss den Chaotarchen sprechen. Ihm erklären, dass das Alte vergangen ist.
Die Quintarchie war gescheitert. Sie hatte ausgedient. FENERIK selbst verlangte nach einer neuen Herrschaftsform. Im dunklen Herz des Chaoporters, unten im Sextadim-Sediment, pulsierte der Ruf nach Veränderung. Nach dem einen, der die Dinge in Ordnung brachte.
Und wer wäre dafür besser geeignet als der letzte der alten Quintarchen, der noch an Bord verblieben war? Als er, Addanc, der Taucher? Addanc, der ...
1.
Extemporale Erinnerungen
Anzu Gotjian schreckte aus dem Schlaf auf. Ihr Atem ging schwer, und sie hörte noch das Widerhallen des Ächzens, das sie erst einige Sekunden danach ausstieß. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Die Lippen waren trocken und zitterten.
Sie schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und wankte zur Hygienezelle. Sie schaffte es gerade so, ehe ihr Magen revoltierte und sie sich übergab.
Du wirst vielleicht unter zeitlicher Verwirrung leiden, hatte ihre Ausbilderin Osh'gemta gesagt. Sie war eine Ash'sharal, ein schneckenartiges Wesen, das anhand von projizierten Symbolbildern kommunizierte. Die Symptome können bis zu zehn Tage nach der Rückkehr aus dem Extemporalen Gefecht auftreten und andauern. Mach dir keine Sorgen, wenn es so weit kommt. Ich habe ausreichend Erfahrung gesammelt und werde dir sagen, was du tun musst.
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte Anzu. Die Übelkeit ließ die Welt vor ihren Augen verschwimmen. »Klasse. Danke für den guten Tipp.«
Sie lehnte sich gegen die Metallstrebe, die aus ihr unerfindlichen Gründen in der Hygienezelle quer durch die Wand verlief. Das Material war angenehm kühl.
Sie atmete tief und zwang sich zur Ruhe, ehe sie aufstand und zurück zum Bett ging. Kaum hatte sie die Hygienezelle verlassen, hörte sie von dort eine Stimme: »Danke für den guten Tipp.« Es war ihre eigene.
Zeitliche Verwirrung.
Von allem unnötigen Mistkram im Chaoporter war das der unnötigste!
Hätte Osh'gemta sie vorwarnen können, anstatt hinterher darauf hinzuweisen? Aber natürlich, so ehrlich war sie zu sich selbst, wäre sie trotzdem mitgeflogen in die tiefste Vergangenheit zum Extemporalen Gefecht. Allein schon aus Neugierde – und wegen der unfassbaren Chance, ihre Ausbildung zur Sextadim-Kanonierin zu verkürzen. Was bestens geklappt hatte.
Zwei Tage nach ihrer Rückkehr in den Chaoporter und dort ins Quintardom war das erste zeitliche Phänomen aufgetreten. Anzu hatte sich sofort an Osh'gemta gewandt. Die Ash'sharal hatte sie mitleidig angesehen – so mitleidig Schnecken eben sein konnten – und ihr dringend empfohlen, ein Isolierquartier aufzusuchen.
Und genau dort ließ sich Anzu nun wieder aufs Bett fallen. Immerhin war es bequem. Wenigstens das.
Isolierquartier – so lautete die Chaoporterumschreibung dafür, in Einzelhaft im hintersten Winkel festzustecken. Osh'gemta war Anzu höchstpersönlich in einen verlassenen Bereich des Quintardoms vorausgekrochen, jener Ausbildungsstätte, in der Anzu seit Kurzem wohnte.
Es gab derzeit, das musste sie zugeben, alles, was sie brauchte. Anzu wurde von Robotern bedient und konnte sich jede nur erdenkliche Köstlichkeit bestellen.
Bis auf Vanillesoße.
Sie liebte Vanillesoße, aber die Positronik gab diesbezüglich nur ein unbekannt von sich und verwies darauf, dass keine Daten über ein Gewächs dieses Namens vorlagen, weshalb der Roboterkoch keine Nachahmung zur Verfügung stellen konnte. Ob Anzu stattdessen ein Virrai versuchen mochte? – Mochte sie. Es schmeckte widerlich und hatte mit Vanillesoße ungefähr so viel Ähnlichkeit wie ein Roboterkoch mit einem Wasserfall in unberührter Natur oder einem implodierenden Stern.
Jedenfalls steckte Anzu fest, weil sich FENERIK-internen Forschungen zufolge Isolation und möglichst wenige äußere Reize beim Auftreten von temporaler Verwirrung als hilfreich erwiesen. Dadurch flauten die Symptome rascher ab. Deshalb war das Licht gedämpft und ständig gleich hell, die Wände stumpfgrau, der Boden stumpfgrau und die Decke – Überraschung! – stumpfgrau.
Nach zwei Tagen in dieser Umgebung fühlte sich Anzu selbst ziemlich stumpfgrau.
Die einzige Farbe weit und breit bot sie selbst. Oder genauer gesagt, der azurblaue Film, der seit ihrem Aufenthalt in der Azurlauge über ihrem ganzen Körper lag. Eigentlich bedeckte er sogar die Augäpfel und tauchte alles in einen ebenso azurblauen Schleier ... doch in derselben Sekunde, als sie in das Isolierquartier gekommen war, hatte er ihre Augen freigegeben.
Anzu spürte einen leichten Druck im Nacken. Sie drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Ach verdammt, daher kam der Druck – nur dass sie ihn bereits vor der entsprechenden Bewegung gespürt hatte.
Zeitliche Verwirrung.
»So ein Mist!«, sagte Anzu.
*
Anzu hätte jedem, der sie fragte, wonach sie sich im Grunde ihres Herzens sehnte, ohne zu zögern, geantwortet: Ruhe. Ja, sie wollte eigentlich nur ihre Ruhe, weg von diesen ganzen kosmisch bedeutsamen Verwicklungen, weg von den Abenteuern und dem Gekämpfe.
Das hätte sie jedem gesagt.
Bis vor Kurzem.
Dann hatte Perry Rhodan sie als Undercoveragentin in den Chaoporter auserkoren – auf ins nächste kosmische Abenteuer, hinreichend bedeutsam, um womöglich die ganze Welt zu retten. Oder auch ein bisschen mehr als nur die Welt. Denn die Welt, das hatte Anzu schnell gelernt, war im Umfeld von Leuten wie Rhodan nicht genug.
Und in FENERIK wiederum – tja, sie durfte es nicht leugnen – hatte sie Heimat gefunden. Verständnis. Einen Ort, an den sie gehörte. Mitten im ... Feindesland.
Als wäre das nicht verwirrend genug, konnte sie sich nun Ruhe gönnen. Die absolute Ruhe im Isolationsquartier. Keine nervenden Besucher, keine bedeutsamen oder unwichtigen Irrungen und Wirrungen, keine Gespräche, auch nicht über Funk, keine äußeren Reize ...
... nur stumpfgraue Zeit.
Aber das war ganz und gar nicht das, was ihr gefiel und ihr Frieden gab. Pech gehabt, Anzu!
Sie hätte gerne mit Bidrise gesprochen, der Keji, die sie für ihre Feindin gehalten hatte und die doch ihre Freundin war. Oder Osh'gemtas Symbolbilder über ihrem Kopfbereich gelesen. Ja sogar Farbaud wäre ihr ein willkommenes Gegenüber. Sie hatte ungefähr 30 Ideen für pfiffige Bemerkungen, die sie ihm in sein seltsam unfertig wirkendes Gesicht pfeffern würde.
Aber gut: Ruhe. Stille. Alleinsein. Sie atmete tief und geräuschvoll durch und war erleichtert, dass sie es im selben Moment hörte – nicht früher, nicht später. Was man nicht lernen konnte, wofür alles dankbar zu sein.
»Anzu Gotjian«, hörte sie.
»Was ist?«, fragte sie die Positronik, doch es war gar nicht die Positronik, die zu ihr sprach. Deren blechern-künstliche Stimme kannte sie zur Genüge. »Wer ...«, setzte sie an.
»Ich überbringe dir eine dringende Botschaft.«
Sie dachte kurz nach. »Dir ist schon klar, dass ich in einem Isolationsquartier sitze, weil ich unter ...«
»Das ist mir bekannt«, unterbrach die fremde Stimme. Wo kam sie überhaupt her? Übertrug die Positronik die Worte durch ein Akustikfeld? Stand der Besucher – es klang eindeutig männlich – draußen vor der Tür?
»Und trotzdem ...«
»Ja, trotzdem störe ich dich, um dir diese Nachricht zu überbringen.«
Anzu setzte sich auf die Bettkante. »Ich schlage dir einen Handel vor. Wenn du mich auch diesmal nicht aussprechen lässt, werde ich jedes weitere Gespräch verweigern.«
Illustration: Dirk Schulz
Stille.
»Fertig?«, tönte dann der Unbekannte.
Sie grinste. »Fertig. Wer bist du? Und von wem stammt die Nachricht?«
»Du solltest mich eintreten lassen.«
Sie gab der Positronik den Befehl, die Tür zu öffnen. Herein kam ein ...
... ein ...
»Was bist du?«, fragte Anzu.
»Du kennst mich.«
»Das wüsste ich aber«, sagte sie zu dem per Antigrav auf sie zuschwebenden Aquariumswürfel, der etwa einen Meter Kantenlänge aufwies.
In dem geschlossenen Glaskasten schwappte Wasser, und über den sandigen Boden krabbelte ein purpurnes, grünlich irisierendes, wurmartiges Etwas mit geringeltem Körperpanzer. Es war ungefähr halb so dick und lang wie ihr Unterarm, und am Ende der Kopfsektion ragten fingerdicke Außenkiefer zu beiden Seiten, umgeben von gestreiften Tastorganen, die dünnen Tentakeln ähnelten. Zarte Fühler pendelten in der Flüssigkeit. Darunter saßen sechs Augen.
»Lass es mich anders formulieren«, kam es von dem Kasten her, ohne dass Anzu das Wurmding sprechen sprach. Natürlich nicht, gab es doch kein sichtbares Sprechorgan. »Du kennst mich nicht, doch du hast von mir gehört.«
»Das wüsste ich aber«, wiederholte Anzu ungerührt.
Woher kannte sie nur diese Formulierung? Sie hatte in irgendeinem historischen Werk darüber gelesen. War es die stehende Redewendung eines der alten Zellaktivatorträger gewesen? Von Ronald Tekener? Egal! Es gab im Moment wirklich wichtigere Fragen!
»Ich bin Addanc, der Taucher«, erklärte das Wurmwesen. »Der letzte verbliebene Quintarch.«
Anzu verkniff sich gerade noch ein ungläubiges Du? Du bist ein Quintarch? Denn warum sollte er es nicht sein? Das Äußere täuschte nur allzu oft, und wahre Macht ging nicht mit einem imposanten oder starken Körper einher.
»Stimmt«, sagte sie stattdessen. »Ich habe tatsächlich von dir gehört.«
Die Kreatur schwamm näher an die Außenwand des Glaskastens heran. »Aber?«
»Nichts aber.«
»Du klingst verwirrt.«
»Weil ...« Sie zögerte. Weil du unscheinbar und ein wenig eklig aussiehst klang nicht sonderlich freundlich. Andererseits war Anzu nicht gerade dafür bekannt, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Borstenwurm, fiel ihr plötzlich ein. Addanc ähnelte mit seinem Panzer zumindest optisch einem terranischen Borstenwurm. Sie hatte noch nie persönlich das Vergnügen gehabt, aber einmal eine Trivid-Sendung über diese Tiere gesehen. »Weil ich ein Schauspiel beobachtet habe, hier in der Stadt. Im Trauerzug für die tote Quintarchin Schaschnar. Einer der Künstler stellte Addanc – stellte dich dar. Er sah ganz anders aus. Ein insektoider Leib, wenn ich mich richtig erinnere.«
Die Kreatur setzte auf dem Sand auf und grub den Hinterleib mit hastig huschenden Bewegungen ein. »Die wenigsten kennen mein wahres Aussehen. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich bin eigentlich nicht Addanc an sich.«
»Ach?«
»Ich bin eine seiner Larven. Addanc selbst hält sich in seinem Heimattunnel auf.«
Da ihr nichts Besseres einfiel, wiederholte Anzu: »Ach?«
»Er ist in der Lage, sich in mich und die anderen Larven zu verschieben, worauf er diesmal allerdings verzichtet hat. Insofern war meine Vorstellung zunächst nicht korrekt. Addanc, der Taucher, hat mich allerdings persönlich losgeschickt, um die Botschaft zu überbringen. Und ich hätte er sein können.«
Anzu ging näher heran und klopfte mit dem Fingerknöchel gegen die Glaswand. »Ach?«
Einer der kleinen Kopftentakel bog sich zu Anzus Finger; die Spitze tippte von innen an das Glas. Fast berührten sie sich.
»Und wie lautet die Nachricht deines Vaters?«, fragte Anzu.
»Vater?« Das fragende Wort klang verwirrt.
»Wenn du seine Larve bist, ist er dein Vater.«
»So habe ich das nie gesehen. Mein Volk denkt in dieser Hinsicht offenbar anders als du.«
»Welchem Volk gehört ihr an?«
Die Tentakelspitze glitt an der Innenseite der Scheibe entlang. Der kleine, halb eingegrabene Leib pendelte im Wasser hin und her. »Addanc, der Taucher, redet üblicherweise nicht über solche Details. Er steht nicht gerne im Mittelpunkt.«
»Eine ungewöhnliche Eigenschaft für ein Wesen, das so mächtig ist wie ein Quintarch.«
»Findest du?«
»Farbaud kommt mir nicht gerade dezent vor«, sagte Anzu.
»Farbaud ist anders. Er glänzt gerne.«
»Ist mir aufgefallen.«
»Nun gut, kommen wir also zu der Botschaft, die ich dir überbringen soll. Addanc befiehlt dir, mich zu begleiten.«
»Wohin?«
»Zu ihm natürlich.«
Anzu zögerte. »Ich kann die Isolation nicht einfach so beenden.«
»Doch. Kannst du. Oder hast du noch zeitliche Verwirrungen gespürt, seit ich angekommen bin?«
Hatte sie nicht. »Ich brauche dennoch Osh'gemtas Erlaubnis. Sie ist meine Lehrerin, ich stehe in der Ausbildung zur Sextadim-Kanonierin.«
»In Addancs Augen hast du bereits perfekt abgeschlossen. Schneller als jeder andere vor dir, Meisterschülerin. Und nun komm!«
2.
Der Weg hinüber und hinab
Osh'gemta kam zu Anzus Isolationsquartier, als sie gerade aufbrechen wollten. Wortreich – oder eher bildreich – bestand sie darauf, allein mit ihrer Meisterschülerin zu reden, ehe diese ihren Weg zum Quintarchen antrat. Anzu spielte die Übersetzerin; sie verstand ihre Ausbilderin inzwischen fließend.
»Du also bist Osh'gemta, die Berühmteste aller Ash'sharal«, meinte die purpurne Larve daraufhin. »Addanc hat mir angekündigt, dass ich mich wohl mit dir würde auseinandersetzen müssen. Welch ein Zufall, dass du gerade jetzt den Weg hierher gefunden hast!«
»Von Zufall kann keine Rede sein«, dolmetschte Anzu. »Ich halte meine Meisterschülerin genau unter Beobachtung, um sie zu schützen.«
Während dieser Worte kroch Osh'gemta in ihrer erstaunlichen Geschwindigkeit näher, richtete den Vorderleib vom Boden auf, erreichte die Unterkante des Wasserwürfels und schob sich an der Glaswand höher.
»Und es überrascht mich, dass Addanc, der Taucher, mich überhaupt kennt. Ich fühle mich geehrt.« Anzu erkannte einen leicht sarkastischen Unterton zwischen den Symbolbildern – ein leichtes Zittern der Konturen hier, eine zu stark ausgeprägte Ecke dort. Doch das ignorierte sie bei ihrer Übersetzung. Sie war selbst erstaunt, wie differenziert sie die Ash'sharal-Sprache inzwischen verstand.
Außerdem hatte sie genug damit zu tun, die neue Situation innerlich zu verarbeiten. Da stand sie nun vor einem Aquarium mit der Larve eines berühmten und supermächtigen Borstenwurms, an dessen Glaswand eine Schnecke in die Höhe kroch, die einen menschlichen Arm inkorporiert hatte. Nur dass es sich natürlich weder um einen Borstenwurm noch um eine Schnecke und ein Aquarium handelte.
Oder halt, eigentlich doch – Letzteres traf durchaus zu.
»Farbaud, der im Glanz, hat in den höchsten Tönen von dir gesprochen, verehrte Osh'gemta«, behauptete die Larve.
»Farbaud ist ein gutes Stichwort«, dolmetschte Anzu die Bilder der Ash'sharal. »Er würde mich mit Anzu sprechen lassen, ehe er sie zu sich ruft.«
»Farbaud befindet sich nicht länger in FENERIK«, erwiderte Addancs Larve.
Anzu stutzte. Farbaud hatte den Chaoporter verlassen? Das erklärte die Behauptung, Addanc sei der letzte verbliebene Quintarch. »Wie das?«, fragte sie.
Die Larve ignorierte es. »Er ist darum kein geeigneter Gewährsmann.« Nach kurzer Pause antwortete sie doch noch: »Er wurde entführt, ist offenbar schwach – und minderwertig in seinen Entscheidungen.«
Entführt. Das überraschte Anzu. Und sie konnte sich vorstellen, dass es die Verantwortlichen im Chaoporter ebenso überrascht hatte. Wer wohl dahintersteckte? Perry Rhodan? Alaska Saedelaere?
»Aber er ist dennoch ein Quintarch«, sagte sie. »Sollte sein Wort nicht ...«
»Ehe wir weitere Zeit verlieren«, tönte es aus dem Aquarium, »redet miteinander. Ich warte draußen. Es eilt, also ...« Den Rest ließ das Wesen unausgesprochen.
Es gab einen leisen Summton, Osh'gemta löste sich blitzartig von der Glaswand und fiel auf den Boden. Sie landete auf der Seite, kippte jedoch rasch in die korrekte Position. Der Wasserkasten der Larve verließ auf seinem Antigravfeld schwebend das Quartier, noch ehe das Symbolbild – Überraschung und leichter Schmerz – über Osh'gemtas Kopfsektion erlosch.
Stattdessen erschien ein Kreis, der sich blau einfärbte und anschließend seine Substanz verlor. Addanc, verstand Anzu das Bild, das sie nie zuvor gesehen hatte und das von vielen weiteren abgelöst wurde: Der Taucher ruft dich also zu sich? Eine Ehre, Anzu, aber du musst vorsichtig sein.
»Ich werde deinen Rat beherzigen«, versprach Anzu. Wie immer das konkret auch aussehen sollte. »Glaubst du, dass mir von Addanc Gefahr droht?«
»Nicht von ihm.« Osh'gemta kroch ein Stück die Wand hoch. Sie stoppte, als sich ihre Kopfsektion mit Anzus Gesicht auf einer Höhe befand. Der menschliche Arm hing hinab. Die Finger tasteten mit leise kratzendem Geräusch umher. »Ich habe ihn zwar nie getroffen und kann ihn daher nicht so gut einschätzen wie Farbaud, doch ihm ist sicher nicht daran gelegen, dir zu schaden. Aber er ruft dich aus einem bestimmten Grund. Dies sind gefährliche Zeiten, und er wird dich in einen Einsatz schicken.«
Das ist wohl mein Schicksal, dachte Anzu. »Was rätst du mir?«
»Du wirst selbst herausfinden müssen, was die Zukunft für dich bereithält. Es heißt, Addancs Schiff verfüge über eine besondere Sextadim-Kanone.«
»Weißt du mehr darüber?«
Osh'gemtas Fühler bogen sich. »Leider nicht. Ich kenne nur das Gerücht. Sei vorsichtig! Das Quintardom braucht dich. FENERIK braucht dich.«
Na toll. Wenn ich draufgehe, ist es schlecht für den Chaoporter. So weit ist es also gekommen. Anzu sah ihre Ausbilderin an, und eine Woge von Sympathie durchfuhr sie. Vor Kurzem hatte sie sich noch erschrocken und geekelt, als sie Osh'gemta zum ersten Mal gesehen hatte.
Ja, die Dinge änderten sich. Anzu musste aufpassen, dass sie sich nicht zu sehr änderten – und dass sie selbst sich nicht zu sehr mitänderte. »Ich werde deinen Rat beherzigen«, wiederholte sie, wandte sich um, ging zur Tür und warf einen letzten Blick zurück. Nein, das Isolierquartier würde sie nicht vermissen.
Addancs Larve wartete draußen.
Osh'gemta huschte an ihr vorbei. »Frag ihn noch eines!«, forderte Osh'gemta mit ihren Bildern.
»Du kannst mich selbst fragen«, sagte die Larve.
»Du verstehst sie?«, rief Anzu verärgert in Richtung Glaskasten. »Warum hast du mich dann übersetzen lassen?«
»Es erschien mir klug, wenn ihr es nicht wisst – und Klugheit ist häufig sehr nützlich.« Das grünliche Irisieren um den purpurnen Körper wurde stärker. »Also, verehrte Osh'gemta – was wolltest du wissen?«
»Welchen Auftrag hat Addanc für meine Meisterschülerin?«
»Das ist mir unbekannt. Ich weiß nur, wohin er mit ihr gehen wird.«
Die nächste Frage übernahm Anzu. »Und zwar?«
»Zu Zou Skost.«
Danach blieb es sekundenlang still. Und bilderlos.
Anzus Gedanken rasten. Zou Skost – der geheimnisvolle Chaotarch höchstpersönlich, FENERIKS ureigenste Triebfeder, ein Wesen jenseits des Begreifens, dunkler, düsterer und schrecklicher als alles, was der Chaoporter sonst zu bieten hatte.
»Ich will mitgehen«, forderte Osh'gemta schließlich.
»Ich lehne im Namen von Addanc ab«, bestimmte die Larve.
Die Ash'sharal zögerte keine Sekunde. »Ich bestehe darauf.«
Anzu sprang ihrer Ausbilderin bei: »Ich wünsche, dass sie mich begleitet. Wenn es für Addanc so wichtig ist, mich zu treffen, sollte mir diese kleine Bitte durchaus erfüllbar sein.«
»Klein?«, wiederholte die Larve. »Du hast nicht die geringste Ahnung. Und dies ist keine Diskussion. Ich habe entschieden. Addanc hat entschieden. Du begleitest mich, Anzu Gotjian, und du, Osh'gemta, bleibst zurück oder stirbst.«
*
Also gingen sie zu zweit.
Genauer gesagt, ging nur Anzu. Der Glaskasten schwebte neben ihr, getragen von seinem Antigravfeld. Und wenig später ging keiner mehr. Ein neuer Boden schob sich seitlich aus dem Würfel. Anzu stieg darauf, woraufhin der Kasten beschleunigte.
Sie flogen durch die Kristallgänge des Quintardoms, verließen das Gebäudekonglomerat und zogen in raschem Tempo über den See der Azurlauge, in dem Anzu vor gar nicht langer Zeit ihre erste Prüfung auf dem Weg zur Sextadim-Kanonierin bestanden hatte.
»Wir wechseln bald in Addancs Domäne«, kündigte die Larve an.
»Deren Name du mir vermutlich nicht verraten wirst, ebenso wenig wie du mitteilen willst, welchem Volk er angehört. Oder eben ihr beide.«
»Du lernst schnell. Das ist korrekt.«
»Ist es weit bis dorthin?«, fragte Anzu.
»Im Chaoporter eine eher unsinnige Frage. Wie du sehr wohl weißt. Es kommt darauf an, wie man reist und über welche Möglichkeiten man verfügt. Für die meisten wäre es eine Strecke, die sie in einer Milliarde Jahren nicht zurücklegen können.«