Perry Rhodan Neo 47: Die Genesis-Krise - Christian Montillon - E-Book + Hörbuch

Perry Rhodan Neo 47: Die Genesis-Krise E-Book und Hörbuch

Christian Montillon

4,0

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Beschreibung

Mai 2037: Seit Perry Rhodans Begegnung mit den Arkoniden tauchen immer mehr Menschen mit besonderen Fähigkeiten auf, die sogenannten Mutanten. Welchen Grund es dafür gibt, weiß niemand - das ist eines der größten Rätsel der Terranischen Union. Um die geheimnisvollen Kräfte der jungen Leute zu trainieren, wurde das Lakeside Institute in Terrania City gegründet. Doch auf einmal verhalten sich manche Mutanten merkwürdig, sie werden von einer mysteriösen Erkältung heimgesucht. Es sieht so aus, als seien sie von einem Erreger befallen, der ihre Paragabe in unvorhersehbarer Weise verändert. Wenn das so ist, werden sie zu einer Gefahr für sich selbst und andere Menschen. Allan D. Mercant, der Koordinator für Sicherheit, muss reagieren: Er stellt alle Mutanten unter Quarantäne. Damit bringt er die jungen Menschen gegen sich auf. Unter dem Druck der Ereignisse gerät die Lage außer Kontrolle - der Kampf der Mutanten gegen die "Normalen" beginnt ...

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Zeit:5 Std. 47 min

Sprecher:Hanno Dinger

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Band 47

Die Genesis-Krise

von Christian Montillon

Cover

Vorspann

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Impressum

Mai 2037: Seit Perry Rhodans Begegnung mit den Arkoniden tauchen immer mehr Menschen mit besonderen Fähigkeiten auf, die sogenannten Mutanten. Welchen Grund es dafür gibt, weiß niemand – das ist eines der größten Rätsel der Terranischen Union. Um die geheimnisvollen Kräfte der jungen Leute zu trainieren, wurde das Lakeside Institute in Terrania City gegründet.

Doch auf einmal verhalten sich manche Mutanten merkwürdig, sie werden von einer mysteriösen Erkältung heimgesucht. Es sieht so aus, als seien sie von einem Erreger befallen, der ihre Paragabe in unvorhersehbarer Weise verändert. Wenn das so ist, werden sie zu einer Gefahr für sich selbst und andere Menschen.

Allan D. Mercant, der Koordinator für Sicherheit, muss reagieren: Er stellt alle Mutanten unter Quarantäne. Damit bringt er die jungen Menschen gegen sich auf. Unter dem Druck der Ereignisse gerät die Lage außer Kontrolle – der Kampf der Mutanten gegen die »Normalen« beginnt ...

Die erste Stimme:

Untergang

Irgendwann, während des Infernos:

Ich wusste, dass früher oder später jemand angekrochen kommt. Es wundert mich nicht im Geringsten. Zuerst verachteten sie mich, verurteilten mich, sperrten mich weg, wollten mich vergessen oder noch besser sogar umbringen ...

... und jetzt, da die Explosionen donnern und niemand mehr weiterweiß, erinnern sie sich plötzlich wieder an mich.

Aber ausgerechnet diese beiden? Sie sind fast noch Kinder. Das überrascht mich durchaus. Der Junge hält sich im Hintergrund, doch das Mädchen schaut mich aus großen Augen an wie ein bettelnder Hund. »Hilf uns«, sagt es. »Denn die Welt geht unter.«

Ich sitze auf der Pritsche in meiner Zelle und lache. Seit dem Beginn meiner Gefangenschaft habe ich mich nicht mehr so gut amüsiert.

Natürlich geht die Welt unter.

Habe ich das nicht schon immer gesagt?

Mein Name ist Monk.

1.

Eine Frau wie Glas

Java, 12. Mai 2037, 10.37 Uhr Ortszeit

In dem Innenhof stank es nach saurer Milch und nach Sex. Keine angenehme Mischung und nichts, was Ras Tschubai jemals hatte riechen wollen. Doch danach fragte ja niemand. Auftrag war Auftrag, und Gestank war Gestank.

Vor ihm und seinem Begleiter Olf Stagge flatterte ein schwarzer Vogel mit leuchtend orangefarbenem Schnabel und einem gelben Hautlappen an beiden Kopfseiten. Er ließ sich auf verdorrtem, kahlem Geäst nieder, das an der Hauswand rankte. Ein Mynah, wenn sich Tschubai nicht täuschte, eine Starenart mit großer Begabung fürs Sprechen.

Das Tier krächzte dreimal rhythmisch und rasch, ehe es ein paar Laute von sich gab, die wie Jo-ho-ho! klangen. Fehlt nur noch, dass er alte Liederverse zitiert, dachte der Teleporter.

»Und du glaubst wirklich, dass wir hier richtig sind?« Olf Stagge nieste und ergänzte: »Das ist ein elender und verdammt heruntergekommener Puff.«

»Wir waren uns einig, oder?«, fragte Tschubai.

Der Mynah pickte mit dem Schnabel an der einst wohl weißen Hauswand, deren nun graue Farbe großflächig abbröckelte. Ein Käfer huschte davon.

»Ja, die Gerüchte klingen eigentlich eindeutig, aber ... ausgerechnet hier?« Stagge stockte, als sich über ihnen quietschend ein Fenster öffnete.

Für einen Augenblick tauchte die Silhouette einer nackten Frauengestalt hinter dem leicht flackernden rötlichen Stoffvorhang auf. Zum Glück schaute sie nicht heraus. Je weniger die beiden Besucher auffielen, umso besser.

Sie gingen an den losen Müllsäcken vorbei, die gegen die Wand lehnten.

»Vielleicht ist es Tarnung?«, fragte Ras Tschubai. »Wer in eine solche Absteige kommt, redet nicht darüber, was er hier erlebt.« Er machte eine unbestimmte, umfassende Handbewegung. Nicht vor allen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen. Leider nicht. Irgendwo gellte ein Schrei. Niemand nahm Notiz davon. »Bestimmt kein schönes, aber ein recht effektives Versteck.«

»Warum sollte sie sich ausgerechnet hier verstecken?«

»Das ist wohl die Frage.«

»Außerdem sind trotzdem Gerüchte nach draußen gedrungen.«

Dem konnte Tschubai nicht widersprechen. Selbstverständlich gab es unter der Hand Geschichten von der Frau, die das Glas zerbrechen lässt, ohne es zu berühren. Nur deshalb waren sie hierhergekommen.

Einige Freier protzten damit, das erlebt zu haben, nannten es einen Ausdruck der Ekstase. Sie spielten darauf an, dass sich die überschäumenden Gefühle der Hure in einer unkontrollierten parapsychischen Reaktion entladen hatten; nur reichte der Intellekt dieser Art Männer nicht aus, für diesen Vorgang die korrekten Worte zu finden. Falls es tatsächlich einen Zusammenhang mit der Gefühlslage gab, was Tschubai durchaus für möglich hielt, lag es seiner Meinung nach sowieso eher am Abscheu und Ekel, den die Prostituierte für ihre Kunden empfand.

Unvermittelt wankte ein sichtlich betrunkener Javaner aus der Eingangstür des zwielichtigen Etablissements, die man nur erreichte, indem man den quadratischen, auf allen Seiten von hoch aufragenden Gebäudeteilen umrandeten Innenhof durchquerte. In den Hof wiederum führte ein gusseisernes, nie abgeschlossenes Tor.

Das speckige Kurzärmelhemd des Freiers war falsch zugeknöpft und nur rechts in den Hosenbund gestopft. Schon aus einigen Metern Entfernung stank er entsetzlich nach Alkohol. Seine Haut war dunkelbraun, und er trug eine prächtige Glatze zur Schau.

Jo-ho-ho!, krächzte der Mynah erneut. And a bottle of rum!

»Das darf nicht wahr sein«, sagte Tschubai.

Stagge sah ihn fragend an. »Was meinst du?«

»Ein Vers aus einem alten Seemannslied und zu allem Überfluss auf Englisch«, murmelte der Afrikaner, was ihm einen verständnislosen Blick einbrachte. Er winkte ab.

Über den Häusern zischte ein Schwebegleiter hinweg, blitzte vor dem strahlend blauen, von keiner Wolke verhangenen Himmel. Vielleicht eines der arkonidischen Beiboote der neuen Flotte. Kurz dachte Tschubai darüber nach, was es wohl an diesem Ort zu suchen hatte, vergaß es aber sofort wieder.

Ohne diese flüchtige Erinnerung daran, dass die Zukunft längst angebrochen war, auch auf der Insel Java, wäre sich der Teleporter wie in einem schlechten Film aus seiner Jugendzeit vorgekommen.

Die Hitze drückte, und die Luftfeuchtigkeit erreichte mörderisch hohe Werte. Es herrschten nur knapp über dreißig Grad Celsius, aber es kam ihm schlimmer vor. Schweiß perlte ihm auf dem Leib. Ein Tropfen rann an der Wirbelsäule entlang über den Rücken. Das zerschlissene Hawaiihemd, das vor einigen Jahrzehnten zuletzt in Mode gewesen war, klebte auf der Haut. Tschubai trug eine Mütze, die ebenso heruntergekommen war wie sein restliches Outfit: Nur wer sich seiner Umgebung anpasste, fiel nicht auf.

Der Betrunkene wankte an ihnen vorüber, einer der zahllosen anonymen Bewohner dieser Insel, die mit 198 Millionen Einwohnern die größte Bevölkerungsdichte der ganzen Welt aufwies. Gut möglich, dass keine Behörde von seiner Existenz wusste, dass er nirgends erfasst worden war. Ein Leben jenseits aller Statistiken, finanziert durch Gelegenheitsarbeiten oder kleine Diebstähle: die Kehrseite des Glanzes von Jakarta und anderen Mega-Citys. Vielleicht war Javas Bevölkerung in Wirklichkeit längst auf mehr als 200 Millionen gestiegen.

Ein paar weitere Schritte näher am Bordelleingang sagte Olf Stagge so leise, dass nur sein Begleiter ihn hörte: »Und ausgerechnet hier sollen wir eine Mutantin finden?«

Der Afrikaner nickte. »Hoffentlich.« Sonst wären sie umsonst hierhergekommen. Keine angenehme Vorstellung. »Und nun hör auf mit deiner elenden Skepsis. Nach dem ... Debakel in Afrika könnten wir ein Erfolgserlebnis gut brauchen.«

Im Auftrag von Allan D. Mercant, dem Koordinator für Sicherheit der Terranischen Union, bereisten Teams von Mutanten die ganze Welt und gingen Spuren nach. Gerüchten. Seltsamen Geschichten, die oft als lächerliche Spukgeschichten durch die Sensationsmedien geisterten. So auch auf Java. Deshalb waren Olf Stagge und Ras Tschubai hierhergekommen.

Auf die Insel.

In die Hauptstadt Jakarta.

In die Gebiete abseits der schönen Viertel mit ihren modernen Hochhäusern.

In den Innenhof dieses billigen Bordells, in dem sie eine Telekinetin zu finden hofften oder eine Frau mit einer der Telekinese ähnlichen Gabe.

Tschubai schob die Tür auf. Ein kleines Glöckchen schlug an und bimmelte hell. Es roch derart penetrant nach aufdringlichem Parfüm, dass wenigstens der Gestank der sauren Milch verschwand; der von Sex allerdings nicht.

Im Gegenteil.

Zwei junge Frauen kamen ihnen entgegen, von einer mit dünnem, welligem Holz verkleideten Bar. Dahinter saß ein dürrer Mann und starrte auf den Bildschirm eines Pods, das gegen den Tresen lehnte. Ein Dutzend Spiegel hingen an der Wand, meist kreisrund und erstaunlich klar geputzt. Sonst hielt sich niemand in dem kleinen Vorraum auf. Ein offenes Treppenhaus führte nach oben und unten.

Dem ersten Eindruck nach schienen die einzigen herausragenden Eigenschaften der Prostituierten ihre großen Brüste zu sein. Einige gespannte Stoffriemen bedeckten die Blößen mehr als notdürftig. Jede der beiden steuerte einen der Neuankömmlinge zielgerichtet an: Zeit war Geld.

Olf Stagge schüttelte den Kopf. Wie vereinbart übernahm er das Reden; seine rudimentären Kenntnisse in Bahasa Indonesia, der Amtssprache Javas, und der einheimischen Vielfalt der Kultur prädestinierten ihr kleines Team überhaupt erst für diesen Auftrag. Chinesisch sprach Stagge hingegen flüssig, genau wie Japanisch und Indisch; doch damit kam er auf Java nicht weit. Die chinesische Minderheit machte weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus, und sie hatte sich in große Wehrdörfer zurückgezogen.

Dennoch beherrschte Stagge, das ständig über ein Computer-Implantat mit einem Nachrichten-Feed verbundene Sprachgenie aus Norwegen, die Landessprache himmelweit besser als Tschubai. Der würde dem Gespräch nur so lange folgen können, wie es exakt in den vorbereiteten und besprochenen Bahnen verlief.

Eigentlich hätte er dank der Translatoren alles verstehen müssen; aber sein Gerät litt seit einigen Stunden unter einer Fehlfunktion. Wieder einmal. Das vergrößerte seine ohnehin vorhandene Skepsis sämtlicher Wundertechnologie gegenüber noch mehr. Gerade hatte er sich an die Funktionsweise der Translatoren gewöhnt und war in der Lage, jede beliebige Sprache zu verstehen und zu sprechen, und schon versagten sie. Es waren eben fehleranfällige Prototypen wie so vieles in dieser schönen neuen Zeit voller außerirdischer Wundertechnologie ...

»Kein Interesse«, wies Olf Stagge die beiden Frauen barsch ab. »Wir suchen etwas Besonderes.«

Er erhielt eine Antwort mit heller und überraschend freundlicher Stimme. »Und wonach verlangt es unsere verehrte Gäste?« Der Tonfall und die ausgesuchte Höflichkeit wollten so gar nicht in diese Umgebung passen. Tschubai verstand die Worte nur, weil sein Begleiter sie rasch übersetzte.

»Wir suchen ... die Frau wie Glas«, sagte Stagge zögernd; eine blumige Umschreibung für das, was unter der Hand die Runde durch Jakarta machte, wenn man wusste, auf welche Stichworte man lauschen musste. Eine poetische Bezeichnung, die die Gerüchte der Unbekannten verliehen hatten.

Beide Prostituierten antworteten mit einem ebenso reizenden wie undurchschaubaren Lächeln. Eine zog sich zurück, die andere zupfte eine der Stoffbahnen über der Schulter zurecht, was den überaus gewagten Ausschnitt noch vergrößerte. »Ihr seid also wegen Ailin gekommen«, stellte sie fest.

Den Namen hörten die Mutanten zum ersten Mal. Eines bemerkte Tschubai sofort: Er klang chinesisch. Gehörte die Gesuchte der chinesischen Minderheit auf Java an? Aber kaum ein Chinese war außerhalb der Wehrdörfer zu finden, denn ...

»Leider ist sie nicht mehr Teil unseres Hauses«, riss ihn die Hure aus den Überlegungen.

»Ailin«, sagte Olf Stagge. »So ist es, sie suchen wir, und es ist wichtig, dass wir sie und nur sie zu einem ...«

In diesem Moment zerbarsten die Spiegel an der Wand.

Scherben zischten durch die Luft, und die Augen der Prostituierten vor ihnen bluteten. Sie schrie, und Ras Tschubai spürte, wie ihm etwas gegen den Rücken schlug. Ein reißendes Geräusch und ein scharfer Schmerz: Das alte Hemd hing in Fetzen über der Schulter.

Der Teleporter wirbelte herum, sah noch, wie Olf Stagge schützend die Arme vor den Kopf riss. Ein bizarrer Anblick nahm ihn gefangen: Der dürre Mann lag zur Hälfte skalpiert auf dem Tresen in einer Blutlache. Das Pod, auf das er vorhin noch gestarrt hatte, war halb unter dem bebenden Oberkörper begraben.

Ein Dutzend Gläser zischten auf Tschubai zu. Sie platzten in der Luft, ein Scherbenhagel schoss auf den Afrikaner zu, würde ihm im nächsten Moment das Gesicht zerfetzen, das Fleisch von den Knochen schälen und ...

Dass er instinktiv seine Teleportergabe genutzt hatte und gesprungen war, begriff Tschubai erst, als er wieder im Freien stand und der Mynah flatternd über seinem Kopf davonflog. Stagge war neben ihm, hielt die Arme nach wie vor zum Schutz erhoben. Offenbar hatte er ihn im Sprung mitgenommen, aus reinem Reflex.

Im Bordell krachte es, ein Mann brüllte wütend, und eine schlanke, geradezu ausgezehrte Frau hetzte ins Freie, rannte in dem heruntergekommenen Innenhof auf sie zu. Sie entdeckte die beiden Mutanten, erschrak, stolperte mitten im Lauf. Dabei geriet sie ins Straucheln und stürzte. Sie trug einen nur handspannenlangen Rock; der Stoff zerriss.

Das musste sie sein: Ailin. Die gesuchte Telekinetin, die Frau wie Glas. Ihr Gesicht war weiß, die Haare lang, voll und lichtlos schwarz.

Sie rollte sich auf die Seite und stemmte sich hoch. Sie schrie den beiden Männern irgendetwas zu, wohl auf Chinesisch; Tschubai verstand sie nicht. Er streckte ihr die leeren Hände entgegen, ein Zeichen dafür, dass er unbewaffnet war und keinen Streit suchte, wie man es auf der ganzen Welt kannte.

Wahrscheinlich war es für eine solche Geste längst zu spät. Ailin befand sich in nackter Panik, hatte die Fremden nicht umsonst im Bordell derart rigoros angegriffen. Oder hatte das alles gar nichts mit ihnen zu tun? Waren Tschubai und Stagge einfach nur zur falschen Zeit gekommen, im Moment eines ohnehin eskalierenden Konflikts?

Die Gedanken des Teleporters stockten, als es erneut klirrte.

Überall.

Und überlaut.

Sämtliche Scheiben in den Häusern rundum platzten. Das Inferno brach los, und Ras Tschubai sah den Tod auf sich zurasen: einen tausendfachen, scharfkantigen Tod.

»Natürlich weiß inzwischen jeder«, hatte Allan D. Mercant in der grundlegenden Besprechung gesagt, »der auch nur ein bisschen die Augen und Ohren offen hält, dass es Mutantenfähigkeiten tatsächlich gibt – Teleportation, Telepathie, Telekinese und dergleichen mehr. Doch im allgemeinen Bewusstsein ist es offenbar noch nicht angekommen. Sämtliche Journalisten schlachten scheinbar unerklärliche Phänomene nach wie vor mit hanebüchenen Sensationsmeldungen aus. Nur die grob gepixelten Bilder von angeblichen Außerirdischen fehlen mittlerweile in diesem Bereich der Zeitungen; stattdessen gibt es Hochglanzaufnahmen von echten Aliens auf den Titelseiten.«

Sie hatten gelacht, alle fünfzig versammelten Mutanten, und Mercant, der alte Fuchs, hatte das genau eingeplant. Er wusste, wie man eine Rede zelebrierte und dabei die Zuhörer bei der Stange hielt. »Und gerade diese Berichte können uns den Weg weisen, wenn wir es schaffen, die Spreu vom Weizen zu trennen.« Die Wissenschaftler im Lakeside-Institut in der Nähe von Terrania erforschten die Paragaben, oder sie versuchten es zumindest.

»Es gibt vielversprechende Ansätze, das Geheimnis der Mutanten zu entschlüsseln«, erklärte Allan D. Mercant für gewöhnlich, der sich von Anfang an für dieses Thema interessiert hatte; eine Zeit lang hatte er sogar geglaubt, selbst eine Mutantengabe zu besitzen.

Tschubai setzte solche Worte mit typischem Politikergeschwätz gleich: »Vielversprechende Ansätze«, das klang eben besser als »Wir verstehen es nicht«. Doch das sollte nicht sein Problem sein. Er besaß eine Gabe, unzweifelhaft, und das ... gefiel ihm.

Die Erinnerung blitzte in Ras Tschubai auf, während die Scherben auf ihn zurasten. Mein Leben, dachte er. Mein Leben zieht an mir vorbei.

Fast glaubte er, Mercants Gesicht in den Glassplittern zu sehen, tausendfach gebrochen, genau wie das Spiegelbild seines Begleiters und das der jungen Frau, die starr auf dem Boden kauerte und dem Tod ebenso entgegensah wie die beiden Männer.

»Mister Tschubai?«, hatte Allan D. Mercant gefragt. »Sie bilden ein Team mit Olf Stagge, wenn Sie losziehen. Und das tun Sie doch, oder?« Selbstverständlich tat er das. Ohne zu zögern, machte er sich mit seinem neuen Partner auf den Weg, um weitere Mutanten zu suchen, überall auf der Welt, wo es Spuren gab, die sich zu verfolgen lohnten. Und Stagge, der kühle Bilderbuch-Norweger, schien in der Tat der ideale Begleiter zu sein. Vielleicht gelang es Tschubai, ihn zu fördern, seine Fähigkeit herauszukitzeln und zu verstärken.

Olf Stagge bezeichnete sich als Passiv-Teleporter, was im Klartext bedeutete, dass er nur im Verbund mit einem zweiten, echten Teleporter springen konnte. Dann allerdings kostete es den eigentlichen Mutanten keine Mühe, Stagge mitzunehmen, und dieser wiederum nahm mit Leichtigkeit eine oder zwei Personen in die Teleportation mit. Eine eigenartige Kombination, dachte Tschubai, aber es gab in der neuen Welt nichts mehr, was es nicht gab, diese Lektion hatte er längst gelernt.

Die Forscher im Lakeside-Institut dokumentierten inzwischen die verrücktesten Parafähigkeiten, etwa den Fall einer jungen Frau, die nur einen einzigen Stoff zu beeinflussen vermochte: gepressten raffinierten Zucker, den sie durch einen konzentrierten Gedanken in Flammen aufgehen ließ. Es fiel schwer, dahinter einen tieferen Sinn zu sehen; doch das stand nicht zur Debatte.

Mercant nannte die aktuelle Entwicklung ein Spielfeld der Evolution, die austestete, was generell möglich war und wie sich die Menschheit im beginnenden kosmischen Zeitalter weiterentwickeln konnte. Das klang gut, fast philosophisch, aber Ras Tschubai vertrat eine andere Meinung. Ihm gefiel nicht, die Evolution derart zielgerichtet zu personifizieren, als wäre sie ein denkendes, handelndes Wesen. Er hielt es schlicht für einen Zufall, dass alle diese Gaben gerade in dieser Generation auftraten. Und Zuckerwürfel in Flammen aufgehen zu lassen war nicht eigenartiger, als ausgerechnet Glas zu zersplittern.

Glas, das sie nun töten würde. Ein Hagel aus schneidenden, blitzenden Geschossen ging rund um die beiden Männer nieder. Der Mynah klatschte zerfetzt auf den Boden: erst ein Flügel, dann ein Bein, schließlich das blutige Etwas, das eben noch sein Körper gewesen war.

Tschubai fragte sich, warum Ailin nicht floh. Sie würde selbst in diesem mörderischen Regen sterben, den sie entfesselt hatte. Egal. Er musste teleportieren, nur das zählte. Einfach erneut springen, sich in Sicherheit bringen und Stagge ebenso.

Das wusste er.

Aber es ging nicht.

Seine Gabe war wie blockiert.

Ein Schmerz flammte mitten in seinem Gehirn auf wie ein feuriger Pfeil.

Stagge starrte ihn an und berührte ihn: Der für die gemeinsame Teleportation nötige Körperkontakt war hergestellt. Doch Ras Tschubai gelang es nicht. Der erste Splitter senste ihm ein Büschel Haare ab und schnitt ein klein wenig in seine Haut. Fast sanft.

»Ras!«, schrie der Norweger ihn an.

Zuvor waren sie in Afrika gewesen, auf der Suche nach einem Telepathen oder nach dem Gott, der in alle Köpfe sah, wie es in weitem Umfeld die Runde machte. In dieser Gegend gab es keine Technologie, keine gemauerten Häuser, keine Gleiter und keine glanzvolle Erwartung der Menschen, im All Erfüllung und Zukunft zu finden. Hier war ein Stück Vergangenheit konserviert worden. Allzu leicht geschah es, dass ein Schamane loszog und den angeblichen Gott rituell auf einem Scheiterhaufen verbrannte. Nur dass der Gott, den die beiden Mutanten schließlich entdeckten, alles andere als das war.

Sie fanden zu ihrer Überraschung einen gerade mal dreijährigen Jungen vor, der im Staub spielte, während seine Mutter neben ihm eine ausgemergelte Ziege ausweidete, um die Familie für die nächsten Tage zu versorgen. Und Tschubai wusste nicht nur, dass das Kind in seinem Kopf las – der Junge projizierte seine Gedanken mitten in sein Bewusstsein: »Sagt es keinem! Ich habe Angst.« Die beiden Mutanten schauten sich wortlos an, und Tschubai war klar, dass sein Begleiter es ebenfalls gehört hatte. Sie gingen weiter; es war nichts als eine flüchtige Begegnung gewesen, keine Minute lang. In ihrem offiziellen Bericht an Allan Mercant stand schließlich etwas von einer falschen Spur.

Die Lüge drückte nicht einmal auf ihr Gewissen. Vielleicht würden sie in zehn Jahren in die abgelegene Siedlung zurückkehren und nach dem Jungen suchen. Vielleicht.

So hatten sie es damals besprochen.

Aber sie würden ganz sicher nicht mehr zurückkehren.

Die zweite Stimme:

Kein Gott

Irgendwann, während des Infernos:

Ich habe ihm gesagt, dass die Welt untergeht, und er lacht auf der Pritsche in seiner Zelle. Ich möchte ihn anschreien, seinen fetten Körper packen und ihn durchschütteln, ihm vielleicht ins Gesicht schlagen.

Solchen Zorn, wie er nun in mir hochkocht, kenne ich sonst nicht. Es ist schwer, ihn zu kontrollieren. Was soll ich tun? Etwa Monk erklären, dass ich eine Heilerin gewesen bin, früher, und dass ich jetzt ... dass ich ...

»Ich bin kein Gott«, hatte ich zu Sid gesagt, dort draußen, als alles begann und er mich immer noch fassungslos anstarrte über der Leiche unseres Freundes.

Und das stimmt.

Ich bin kein Gott.

Mein Name ist Sue Mirafiore.

2.

Genesis: Der Anfang

Terrania, 12. Mai 2037, 3.17 Uhr Ortszeit

Allan D. Mercant schlief schlecht. Und das schon lange, genauer gesagt, seit er sich vor fünf Stunden ins Bett gelegt hatte. Oder bereits seit Wochen, je nachdem, wie man es betrachtete. Er war nicht gesund, darauf schob er es; dass ihn darüber hinaus eine unbestimmbare innere Unruhe plagte, machte die Lage nicht gerade besser.

Im Dunkeln tastete er nach der Packung auf seinem Nachttisch und wurde rasch fündig. Er pulte eine Tablette heraus, nahm sie in den Mund und würgte sie trocken hinunter. Für einen Moment schien sie am Gaumen zu kleben, und auch als er sie längst geschluckt hatte, glaubte er sie noch zu spüren.

Die Kopfschmerzen raubten ihm den letzten Nerv. Mercant hatte Fulkar aufgesucht, den Ara, der sich entschieden hatte, auf der Erde zu bleiben. Fulkar entstammte einer Zivilisation, die sich seit Jahrtausenden auf die Medizin konzentrierte. Und was hatte ihm der Wunderarzt verabreicht? Einen heruntergeleierten Vortrag über Grippe- und Erschöpfungssymptome und Schonen-Sie-sich.

Krankschreiben!

Schonen!

So ein Unfug! Vielleicht später einmal, wenn er alt war. Oder wenn er Zeit für so etwas fand, also nie. Es gab zu viel zu erledigen in Terrania, beim Aufbau der neuen Gesellschaft und im Zusammenhang mit den beiden großen Themen, die ihm unablässig durch den Kopf spukten: einerseits die Sicherheit der Menschheit in einem Zeitalter, in dem eine Bedrohung aus dem All nicht mehr länger ein Hirngespinst, sondern bittere Realität war. Andererseits die Mutanten auf Terra.

Wann immer Sicherheitsfragen anstanden, wandte man sich an ihn: an den Exgeheimdienstmann mit den umfassenden Erfahrungen. Den Profi, wenn es darum ging, hinter die politischen Kulissen zu schauen. Mercant hatte seine Finger überall, und das gefiel ihm durchaus. Nur wollte er nicht über die Frage nachdenken, ob er alldem tatsächlich gewachsen war, weil er nicht mehr der Jüngste ...

Er schloss die Augen und versuchte seine Gedanken zur Ruhe zu zwingen. Er hatte genug Übung darin, fast ein ganzes Leben lang. Aber lohnte es sich überhaupt noch, liegen zu bleiben?

»Uhrzeit«, sagte er. An der Decke leuchtete eine kleine digitale Projektion auf.

3.21 Uhr.

So ein Elend. Er hatte gehofft, es wäre bald Morgen. Das nächtliche Wachliegen wurde immer schlimmer, von Tag zu Tag. So kannte er sich gar nicht. Zu seinen aktiven Geheimdienstzeiten hatte er sofort und überall schlafen können, vor allem wegen seines ausgeprägten Instinktes, beim ersten Anzeichen einer Gefahr übergangslos aufzuwachen und sofort voll da zu sein. Ohne diese Fähigkeit hätte es im Lauf seines Lebens mindestens ein Dutzend Gelegenheiten gegeben zu sterben.

Vielleicht fehlt mir ein gewisser Nervenkitzel, dachte er. Möglicherweise kam er deshalb nicht zur Ruhe. Seine Arbeit in Terrania als Koordinator für Sicherheit der Terranischen Union glich kaum noch seinem früheren Alltag, als er noch aktiv vor Ort Einsätze durchge...

Er stockte. War da nicht ein Geräusch? Ein Klacken, leise und kaum hörbar!

Im Stardust Tower wurde es nie still; Roboter- und Menschenmassen blieben nun einmal nicht absolut lautlos, auch nicht durch dicke und schallisolierte Wände.

Aber das eben war in seiner Wohnung gewesen. Allan D. Mercant witterte die Gefahr geradezu. Zufrieden kam er zum Ergebnis, dass seine Instinkte nach wie vor funktionierten und nicht verblasst waren.

Er schwang die Beine ohne jedes Geräusch aus dem Bett. Kein Gedanke mehr an die quälenden Kopfschmerzen. Er fühlte sich gut.

Ein Einbrecher war nichts, was er nicht schon erlebt hätte ... früher. Einmal war es ein dreiköpfiges Killerkommando gewesen, in einem Hotelzimmer in Südamerika, darunter die Frau, von der er damals glaubte, dass sie ihn liebte. Eine unschöne Geschichte und für das Zimmer im Nachhinein alles andere als pflegeleicht. Mercant war durch das Fenster verschwunden und hatte sich aus gutem Grund in diesem Hotel, dieser Stadt, diesem ganzen Land nie mehr blicken lassen.

Ruhig erhob er sich. Die Reflexe übernahmen die Herrschaft, als er die Schublade des Nachttischchens öffnete, das Buch zur Seite schob – »Die Libelle«, einer seiner liebsten Klassiker – und die Waffe in die Hand nahm: einen Colt 2.0, nicht minder ein Klassiker. Mercant schwor darauf: leicht und präzise in der Handhabung. Allerdings gefiel ihm die Vorstellung nicht, dass er den Colt mitten in Terrania brauchen sollte, der Stadt, die für die Zukunft und den Frieden stand.

Mercant schlich zur Tür des Schlafraums. Die Helligkeit der digitalen Uhrzeitprojektion tauchte den ganzen Raum in mattes grünliches Licht. Der wuchtige Schrank neben dem Fenster, an dessen Seiten sich ein Frauenhaarfarn über ein Gitter rankte, sah aus wie die Silhouette eines Riesen. Mercants nackte Füße machten auf dem langflorigen Teppich keinerlei Geräusch.

Die Tür zum Wohnbereich war geschlossen. Sie zu öffnen wäre zu auffällig.

Also lauschte er.

Völlig klar: Jemand hielt sich in der Wohnung auf. Und dieser Eindringling kam näher, war nicht ganz so leise, wie er wohl glaubte. Offenbar kein Vollprofi. Aber wie war ihm dann der Einbruch gelungen?

Wo in aller Welt war die Security, wenn man sie brauchte? Unten am Stardust Tower standen ständig Leute, die dafür sorgen sollten, dass niemand reinkam, der dort nichts zu suchen hatte. Ob sich der Besucher irgendeiner Alien-Technologie bediente? Es fiel Allan leicht, sich vorzustellen, dass es da so einiges gab, was er sich eben nicht vorstellen konnte ...

Er ging zur Seite und entfernte sich möglichst weit von der Tür. Er hatte oft genug in Filmen gesehen, es zweimal auch selbst erlebt, wie ein Enterkommando eine Tür sprengte. Er stellte sich dicht an die Wand, vor das Bild, das sein Elternhaus in Oregon zeigte; eine sentimentale Anwandlung, dass er es beim Einzug in den Stardust Tower hervorgekramt hatte.

Langsam hob er den Colt, zielte. Er zitterte nicht das kleinste bisschen, blieb ruhig.

Komm nur.

Und der Eindringling kam.

Das Erste, was ihm auffiel, war, dass die Stimme weiblich war. »Allan?«

Dann klopfte es.

»Allan?«, tönte es erneut.

Er hatte mit einigem gerechnet, aber damit nicht. Der Knauf drehte sich, die Tür schwang auf.

Ein drittes Mal: »Allan, ich bin's.«

Er erkannte die Stimme, noch ehe er den Eindringling sah, die Frau, die vor viel zu langer Zeit aus seinem Leben verschwunden war, als sie sich gegen ihn und die schöne, neue Welt Terranias entschieden hatte.

»Iga?«, fragte er, und mit seiner Ruhe war es vorbei. »Wie in aller Welt kommst du hierher?«

Sie trat ein und drehte sich zu ihm. Es war tatsächlich Iga Tulodzieky alias Wonderbra, die Frau mit dem seltsamsten Nicknamen, den er kannte. Wenn sie etwas nicht brauchte, dann einen Wonderbra. Sie trug einen Blaumann, genau wie früher, und darunter ein verwaschenes Hemd. Die Füße steckten in ausgelatschten Turnschuhen – Foreign's, vor zwei Jahrzehnten noch der letzte Schrei. Die Firma war vor etwa zehn Jahren pleitegegangen.

Lächelnd deutete Iga auf die Waffe in seiner Hand. »Alle Welt reicht heutzutage nicht mehr, Allan. Wie bei der gesamten Milchstraße kommst du hierher? Das wäre vielleicht der weltpolitischen Gesamtsituation angemessener.«