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Was passiert in der Zeit, bevor die Cairanische Epoche anbricht? Wie verändert sich die Milchstraße, was geschieht mit ihren Bewohnern? Sechs Kurzromane, sechs Schauplätze, sechs Hauptpersonen: Die verlorenen Jahrhunderte werden in diesen Texten zum Leben erweckt. Florence Hornigold ist eine wagemutige Kapitänin, die mit ihrem Raumschiff zwischen den Sternen der Kleingalaxis Cetus unterwegs ist. Als Händlerin steht sie mit vielen Außerirdischen in Kontakt, ihr Leben ist spannend und abwechslungsreich. Doch immer wieder denkt sie an die Zeit zurück, als sie zusammen mit dem Arkoniden Atlan auf der Suche nach der sogenannten Eiris war – sie sucht nach einer Herausforderung, die über ihre bisherigen Erlebnisse hinausreicht. In seinem Kurzroman greift Christian Montillon auf eine Figur zurück, die er in mehreren Romanen aufgebaut hat und die bei den Lesern sehr gut angekommen ist. Ein Science-Fiction-Abenteuer mit kosmisch-philosophischer Dimension …
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Seitenzahl: 68
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Florence
von Christian Montillon
Cover
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Die verlorenen Jahrhunderte im Überblick
Impressum
Kapitänin Florence Hornigold erblindete.
Der Raum um sie herum versank in einer Schwärze, tiefer als alles, was sie kannte. Das Bild an der Wand verschwand – der sturmumtoste Gasriese am Rand des holografischen Sonnensystems verlor erst sein Lodern, dann seine Farbe, schließlich seine Wirklichkeit.
Florence schloss die Augen, und für einen Moment kam es ihr ein wenig heller vor. Doch das verging.
Sie fühlte keinen Schmerz, aber unendliche Wehmut. Sie konnte kaum atmen. Das Blut rauschte in den Ohren. Ihre Finger zitterten. Sie zog sie rasch an sich, ließ die Hände unter dem Tisch verschwinden. Ihr Gegenüber sollte nicht merken, wie sehr sie dieses Erlebnis erschütterte. Ob er sie wohl angrinste und den Augenblick genoss?
»Du bist dir ... ganz sicher?« Ihr Versuch, die Worte humorvoll klingen zu lassen, scheiterte kläglich. Dazu hätte es nicht mal das kurze Zögern gebraucht.
»Selbstverständlich«, sagte ihr Handelspartner.
Trotz dieser Beteuerung fragte sich Florence, wie sie so leichtsinnig sein konnte. Sie war im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte einer Menge Leute auf die Füße getreten, und obwohl die wenigsten so weit gehen würden, gab es bestimmt einige, die einer ausgefeilten Rache nicht abgeneigt wären. Durfte sie da eine fremdartige chemische Substanz an sich selbst testen, die ihr ein völlig Unbekannter als Handelsgut anbot und die dafür sorgte, dass man kurzzeitig erblindete?
Aber so war sie eben. Gestatten, Florence Hornigold: Kapitänin, Handelskönigin, Mutter dreier hinreißender Söhne, die zum Glück inzwischen ausgezogen sind ... und wenn es darauf ankommt, der personifizierte Leichtsinn.
Doch das war momentan das geringere Problem. »Wie lange hält die Wirkung an?« Ihre Stimme klang belegt. Reiß dich zusammen, Florence!
»Du hast dir ein Viertelgramm injiziert«, sagte ihr Besucher. »Wie viel wiegst du?«
»Was geht dich das an?«
»Willst du eine Antwort oder nicht?«
Also nannte sie ihr aktuelles Körpergewicht. Fünfzehn Kilogramm mehr, als ihr die Gesundheitspositronik ihrer Wohnung jeden Tag aufs Neue empfahl.
Pfeif drauf!
»Du bist ein Terraner-Abkömmling«, fuhr er danach fort. »Wärst du eine Lee, könnte ich eine präzisere Angabe machen. Für dieses Volk liegen bessere Erfahrungswerte vor.«
Die Lee hatten den Sternenring, ein gigantisches Gebilde aus Planetenteilen, Asteroidenbrocken und künstlichen Habitaten rund um die Sonne Tson, vor Generationen erbaut. Sie stellten die meisten Bewohner, duldeten aber auch Gäste – Florence lebte deshalb seit Jahrzehnten an diesem Ort, wenn sie nicht mit ihrem Schiff, der WOODES ROGERS, unterwegs war. In diesem Sternenring befand sich ihre Handelsniederlassung, wo sie ihre Geschäfte machte, und lag der Heimathafen ihres Raumers.
Sie hatte ihre Basis vor etlichen Jahren allerdings einmal aus dem Innern eines ausgehöhlten Asteroiden auf einen benachbarten, größeren Himmelskörper verlegt. Der mondgroße Planetoid hatte den Vorteil, über eine Oberflächenatmosphäre zu verfügen. Der Umzug war elend viel Arbeit gewesen, aber der oberirdische Standort mit viel Bewegungsfreiheit und ungehinderter Sicht auf die kosmische Nachbarschaft gefiel ihr viel besser – es war die Mühe wert gewesen.
»Wie ... lan ... ge?«, hakte sie nach.
»Ich rechne damit, dass du in etwa einer Minute wieder sehen kannst.«
Florence schwieg.
Ihre Finger zitterten immer noch.
Sie zählte die Sekunden und kam gerade bei vierzig an, als sich eine Silhouette vor ihr aus der Schwärze schälte. Ihr Gast saß nach wie vor auf dem Stuhl, zurückgelehnt, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Was dank des Wanstumfangs hieß, dass sie fast in Höhe der Tischkante lagen. Der Mann entstammte irgendeinem ebenso menschenähnlichen wie bedeutungslosen Volk aus dem Randgebiet der hiesigen Kleingalaxis Cetus – seinen Namen hatte Florence bereits vergessen. Es waren zu viele Zungenbrecher darin.
»Du täuschst dich«, schnauzte sie ihn an, nun wieder völlig Herrin der Situation.
»Wie bitte?«
»Eine Minute? Lächerlich! Vierzig Sekunden, höchstens.« Ihre unendliche Erleichterung zeigte sie nicht. Sie trommelte mit herrlich entspannten Fingern auf dem Tisch. »Trotzdem, nicht übel, dein Pulver, das gebe ich zu.« Wie gut es sich anfühlte, einfach nur sehen zu können! Florence nahm sich für die Zukunft vor, die gewöhnlichen Dinge des Lebens besser zu schätzen. »Wie viel von dem Zeug kannst du mir anbieten?«
»Ein halbes Kilo.«
»Eine ziemliche Menge für so ein extravagantes Mittel.«
»Deine Kunden werden es lieben – es ist vielseitig anwendbar. Etwa bei Verhören. Es erspart eine Folter. Sehr wirkungsvoll, glaub mir. Oder auch in einer Kampfsituation – ganz ohne das Pulver in Wasser aufzulösen und es zu injizieren. Man kann es seinem Feind einfach ins Gesicht pusten. Ich habe es sogar mal einigen lebensüberdrüssigen Jugendlichen für eine exzentrische Feier verkauft. Sie wollten das Gefühl genießen, hinterher wieder sehen zu können.«
»Da könntest du ihnen ja gleich zu enge Schuhe verkaufen, damit sie die nach einiger Zeit wieder ausziehen können.«
Ihr Gast kicherte.
Florence dachte nach. »Willst du Geld?«
»Einen guten Tausch finde ich immer besser. Ich liebe das Außergewöhnliche, weißt du?«
Dann bist du hier im Sternenring genau am richtigen Ort. Kein Tag ohne Wunder, und das seit Jahrzehnten, seit alles verrücktspielt. Sie gab ein leises Brummen von sich. »Was hältst du von einem Deflektor, zwanzig Prozent leistungsstärker als die Durchschnittstechnologie?«
»Du beleidigst mich.«
Sie schenkte ihm ein Grinsen, das man weithin als das kalte Lächeln der Handelskönigin kannte und fürchtete. »Mach einen Vorschlag.«
»Etwas ähnlich Erfindungsreiches wie mein chemisches Wundermittel.«
Florence stand auf und ging die wenigen Schritte quer durch ihr Handelszimmer.
Wie lange war sie blind gewesen? Insgesamt eine Minute? Nun, es hatte ihr die Augen geöffnet. Alles sah viel schöner aus als vorher. Der orangefarbene Teppichboden. Die Holztäfelung der Wände. Die geschwungenen Glaslampen in den Zimmerecken. Sogar der Hochsicherheitstresor unter dem Holofenster, der vorgab, ein schmuckes Zierschränkchen zu sein.
Sie öffnete ihn, was nur gelang, weil das eingebaute Sicherheitssystem ihr Auge scannte, ihre Stimme beim Wispern des Codeworts – Atlan – analysierte und Florence außerdem im exakt richtigen Abstand vor der Kamera stand, die ihre Gesichtszüge abglich. Drinnen lagerte eine Unzahl von Kästchen, zumeist ordentlich aufeinandergestapelt. Sie räumte einige beiseite und zog andere heraus, bis sie endlich fand, was sie suchte.
Sie verschloss den Tresor wieder und kehrte mit dem Fundstück zum Verhandlungstisch zurück. Sie schob es ihrem Gast zu. »Ich biete dir dies hier.«
Er öffnete den Deckel und sah hinein. »Ein Pulver.«
»Erscheint mir irgendwie richtig«, sagte Florence. »Pulver gegen Pulver.«
»Was kann es?«
»Brennen.«
»Klingt nicht gerade außergewöhnlich.«
Sie umrundete den Tisch und stellte sich neben ihren Gast. Er roch auf widerwärtige Weise süßlich, wie alter Zwiebelsaft. Vorsichtig nahm sie etwas von dem weißen Inhalt des Kästchens heraus und forderte ihren Besucher auf, die Hand auszustrecken.
Er zögerte.
»Feige?«, fragte sie.
Er streckte die Hand aus. Florence streute das Pulver hinein, nicht ohne es kurz zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben. Es entflammte sofort, und die Finger ihres Handelspartners brannten. Das Feuer kroch seinen Arm hoch, als er erschrocken aufsprang und sogar aufschrie.
»Es sind kalte Flammen«, beschwichtigte sie gelassen. »Stell dir nur den Effekt vor, den es während eines Kampfes bei deinen Gegner hervorruft.«
»Hm«, machte er, und es klang interessiert.
Florence Hornigold konnte Dinge ebenso gut anpreisen wie er. »Oder beim abendlichen Festmahl deiner Familienfeier, ganz nach Belieben.«
Er sah zu, wie sein Arm brannte, hob ihn und tippte mit den Fingerspitzen der anderen Hand vorsichtig ins Feuer. »Einverstanden«, sagte er.
Die Druckwelle schleuderte Florence Hornigold gegen den Tisch. Sie verlor den Halt, sah mit einem Mal die Tischplatte unter sich, rutschte darüber, krachte auf den Boden. Instinktiv krümmte sie sich zusammen, versuchte sich abzurollen.
In ihren Ohren wummerte es. Ein Schrei klang seltsam gedämpft zu ihr durch. Sie kam auf die Knie, hob den Arm schützend vors Gesicht und stand auf.
Ihr Besucher brannte immer noch, aber diesmal wirklich. Und er war es, der schrie. Wo zuvor die Tür gewesen war, wallte schwarzer Qualm. Die Explosion hatte außerdem ein Stück der Wand weggerissen. Florence konnte nach draußen sehen ... in den Handelsmarkt, in dessen Mitte sie Geschäfte machte. Sie erspähte rennende Gestalten, einen umgestürzten Stand. Gebäck verteilte sich auf dem Boden. Über einem verkohlten Brot loderten grüne Flammen.