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- Ich bin bei ihr. Mit meinen Gedanken, meiner Seele, meinem Körper. Doch sie ist abwesend. Ich weiß nicht, ob Ty mich noch registriert oder ob sie einfach nur existiert. - Enyo wollte ihr helfen, doch was Duan Tyree angetan hat, wird er sich niemals verzeihen können. Jetzt geben ihm nur noch Bents Kontakte Hoffnung. Sein Bruder arbeitet mit einer Organisation zusammen, die für die Rechte der Menschen kämpft und deren Stadt Ryél wäre ein besserer Ort für Ty. Aber wird sie En erneut ihr Vertrauen schenken, damit er sie in Sicherheit bringen kann? Und was hat es eigentlich mit Tys Magie auf sich? Wo kommt die her und wieso wusste Tyree bisher selbst nichts davon?
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Stefanie Worbs
Band 2
Prolog
Ich bin bei ihr. Mit meinen Gedanken, meiner Seele, meinem Körper. Doch sie ist abwesend. Ich weiß nicht, ob Ty mich noch registriert oder ob sie einfach nur existiert.
Anfangs habe ich noch versucht, mit ihr zu reden. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, aufzustehen und sich wenigstens zu waschen und neue Sachen anzuziehen, doch mein Mädchen reagiert nicht auf mich. Sie reagiert auf niemanden.
Seit drei Tagen sitzt sie da, in ihren blutverschmierten Sachen und sieht immer kränker aus. Sie isst nichts von dem, was wir ihr hinstellen. Nur ab und zu fehlt ein Schluck Tee aus dem Glas vor ihr. Ich merke nie, wie sie es nimmt. Die Kleine scheint sich nur zu rühren, wenn gerade keiner da ist. Als hätte sie Angst, die geringste Bewegung könnte ihr zum Verhängnis werden.
Ich bin so gut wie jede Minute bei ihr, doch ich rede nicht mehr. Sie antwortet sowieso nicht. Wölfchen liegt auf dem Bett. Bent und Cara haben das Chaos, was ich angerichtet hatte, beseitigt und waren dabei so leise gewesen, dass man hätte meinen können, sie hätten Angst davor, Lärm zu machen. Alles für Tyree. Alles dafür, dass sie merkt, dass sie keine Angst mehr haben muss.
Wie heuchlerisch das selbst in meinen Ohren klingt. Mein Menschenmädchen soll keine Angst mehr haben, ist aber in einem Haus voller Elfen, die für sie, jetzt mehr denn je, das Böse schlechthin sind. Ich habe sie verloren. Ich hatte sie nie. Ich hätte Ty auf dem Hof lassen sollen. Irgendwie hätte ich es geschafft, ihr auch dort zu helfen. Ich bin nicht besser als der menschenhassende Rest meines Volkes.
Die Tür zu meinem Zimmer steht offen und meine kleine Schwester kommt rein. Sie hat ein neues Tablett mit Essen und stellt es mittig zwischen Ty und mich, das alte nimmt sie wortlos wieder mit.
Als wir meinem Mädchen das erste Mal etwas zu essen hingestellt hatten, war sie gerade eingeschlafen. Nur Minuten später war sie wie aus einem Albtraum aufgewacht und so heftig in Panik verfallen, dass ich kurzzeitig nicht wusste, ob ihr Herz - und auch meins - das verkraften würde.
Ihr Blick war voller Panik von dem Tablett zu mir geflogen und es hatte eine Weile gedauert, bis ich verstanden hatte, dass es kein Albtraum, sondern die Tatsache, dass sie eingeschlafen gewesen war, die ihr Angst gemacht hatte. Und noch dazu hatte sich ihr jemand genähert, als sie geschlafen hatte und somit wehrlos gewesen war. Seitdem stellen wir das Tablet auf sichere Entfernung ab und kommen oder gehen nur, wenn sie wach ist.
Allerdings schläft Ty kaum. Es sind immer nur Momente, in denen sie die Augen schließt. Jedes Mal schreckt sie hoch, wenn sie bemerkt, dass es passiert ist und jedes Mal tut es mir selbst weh, weil sie solche Angst hat.
Sie ist blass und krank und blutverschmiert und sie lässt niemanden an sich ran. Gemeinsam mit meinen Geschwistern habe ich überlegt, sie einfach zu nehmen und wenigstens zu baden und vor allem ihr ihre Medizin zu geben. Doch sie haben mir abgeraten, denn es würde Ty nur noch mehr Angst vor uns machen. Ich muss ihnen zustimmen, aber es stört mich, dass mein Mädchen so elend aussieht.
Irgendwas muss ich doch tun können?!
„En?“ Cara ist wieder da und winkt mich zu sich, als ich aufschaue. Kurz fliegt mein Blick zu Tyree zurück, doch ihrer ist, wie die ganze Zeit schon, nach draußen gerichtet. Ich stehe auf und folge meiner Schwester in mein eigenes Zimmer. Sie lehnt die Tür hinter sich an, während ich mich auf meinem Bett niederlasse.
Bent ist auch da und ergreift das Wort. „Wir müssen endlich rausfinden, wer es war“, meint er und sagt damit nur, was wir schon die ganze Zeit vorhaben. „Das mit Ty kann nicht so weitergehen. Sie muss sehen, dass der Schuldige seine Strafe bekommt, dann wird sie vielleicht wieder offener.“
„Sie wird immer kränker und schwächer“, stellt Cara Tatsachen fest. „Wir müssen an sie rankommen, um ihr helfen zu können.“
„Vielleicht sollten wir es doch einfach machen“, schlägt Bent leise vor. „Ich könnte es tun. Ich könnte sie einfach nehmen und ins Bad bringen und ...“
„Sie würde jegliches Vertrauen in dich verlieren“, unterbreche ich ihn. „Wenn da überhaupt noch welches ist. Du hast selbst gesagt, dass sie das nur noch mehr verängstigen würde.“
„Hab ich. Aber sie würde nur mehr Angst vor mir bekommen. Vielleicht könnten wir es so hinkriegen, dass du ihr Retter wirst“, erklärt er weiter und setzt das Retter in imaginäre Anführungszeichen. „Vielleicht vertraut sie dir dann wieder mehr, wenn sie sieht, dass du sie vor uns in Schutz nimmst, verstehst du?“
„Das ist eine dämliche Idee“, wehrt Cara ab. „Wir drei sind die Einzigen, die überhaupt einen guten Draht zu ihr hatten. Wenn wir deinen Plan umsetzen, würden wir es nur schlimmer machen als es ohnehin schon ist.“
Bent nickt, weil er weiß, dass es stimmt. „Aber was können wir sonst noch tun?“ Sein Blick fliegt zwischen Cara und mir hin und her.
„Gibt es noch andere Leute, denen sie vertraut? Draußen vielleicht? Andere Menschen, meine ich“, fragt Cara und sieht mich an.
Ich kann nur mit den Schultern zucken. „Kein Plan. Sie redet ja nicht mit mir.“
„Aber hat sie nie was gesagt?“
Meine Gedanken schweifen zurück und ich gehe unsere Gespräche durch. Mir fällt niemand ein. Nicht mal jemand, den sie nur mit Namen erwähnt hat und der noch lebt und hier wäre, um ihr zu helfen. „Ich weiß es nicht.“ Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und merke, wie ich resigniere.
„Lebt sie ganz allein?“, will Bent jetzt wissen.
Ich hebe den Blick zu ihm. „Ja.“
„Wo?“
„Am anderen Ende der Stadt, bei den Bauernhöfen.“
Bent runzelt die Stirn. „Dort lebt noch jemand. Eine alte Frau. Hat sie Kontakt zu ihr?“
„Keine Ahnung. Da lebt jemand?“
„Ja. Zumindest hat sie dort vor knapp zwei Jahren noch gewohnt.“
„Woher weißt du das?“, frage ich, weil Bent sie nie erwähnt hat.
„Ich habe Kontakte. Aber wenn die Alte noch da ist, kennt sie Ty vielleicht und vielleicht können wir sie überreden, uns mit der Kleinen zu helfen.“
„Das ist einen Versuch wert“, baut sich Cara ein. „Wollen wir das machen?“
„Ich glaube zwar nicht, dass wir sie überhaupt finden, aber was haben wir noch für eine Chance“, gestehe ich ein. „Was machen wir mit Ty? Ich lasse sie nicht allein hier!“
„Ich lasse Rike hier und Wölfchen sollte auch bleiben“, erklärt Bent.
„Ich bleibe auch“, fügt Cara an.
Meine Augen verengen sich. „Das letzte Mal waren es auch zwei Wölfe und ein Wächter. Wölfchen ist kein Schutzwolf und du kein Krieger, Cara. Nehmt es mir nicht übel, aber das ist mir zu wenig.“
„Ich möchte auch helfen“, kommt es von der Tür her und alle Blicke richten sich auf Bay. Niemand hat ihn kommen gehört, doch er steht in der Tür und wirkt, untypischerweise für ihn, etwas eingeschüchtert. Wieder baut sich Wut in mir auf, die ich jedoch sofort runterkämpfe. Ty hat gesagt, er war es nicht und ich glaube ihr. Außerdem - und das ist mir auch erst später klargeworden - hat der Angreifer ja Clear, Bays Wolf, getötet. Kein Elf tötet seinen eigenen Wolf. Keiner.
Er macht einen Schritt in den Raum und richtet sich auf. „Bitte. Ich möchte helfen.“
„Warum denn?!“, entfährt es mir scharf. „Du kannst sie ja nicht mal leiden!“
Seine Augen fixieren mich. „Mag sein, dass ich kein solcher Menschenfreund bin, wie ihr es seid. Aber wer auch immer sie angegriffen hat, hat Cleary getötet! Und damit jede Loyalität zu mir verloren!“
Bent mustert unseren Bruder kurz, dann schaut er mich an. „Er wäre eine gute Unterstützung.“
Mir gefällt das nicht. Aber ich weiß zeitgleich, dass wir ihn brauchen. Das Argument mit seinem Wolf stimmt. Elf und Elbwolf haben eine so starke Bindung, wer auch immer einen Wolf tötet, hat seinen Besitzer ein Leben lang gegen sich. Andersherum jagen auch Wölfe den Mörder ihres Herren. Es ist wie eine Urschuld, dem jeweils anderen gegenüber.
„Cara und die Wölfe werden dich im Auge behalten. Denke also nicht, du wärst sicher! Und dein Platz ist vor der Tür auf dem Flur! Du kommst ihr keinen Schritt zu nahe, verstanden?!“, knurre ich Bay an und er nickt zustimmend.
„Gut. Wir sollten gleich los. Ty braucht so schnell wie möglich Hilfe und je schneller sie auf den Beinen ist, desto schneller können wir planen, was die Sache angeht“, beschließt Bent und ich erhebe mich unwillig. Ich will die Kleine nicht allein lassen, aber es macht mich mürbe, nichts zu tun.
Mit der Sache meint Bent die Organisation, die es wohl schon irgendwo gibt. Die, die sich um die Menschenrechte bemüht. Mit Tys Argumentationsgeschick könnten wir vielleicht einige auf unsere Seite ziehen und die Organisation, wo auch immer sie sich aufhält, unterstützen.
So ganz grün bin ich mit dem Thema nicht. Es würde mein Mädchen sicher wieder in Gefahr bringen, wenn sie draußen rumläuft und andere Menschen oder ganz und gar andere Elfen aufsuchen soll, um sie zu überzeugen. Aber Bent hat sich das in den Kopf gesetzt, wie es aussieht.
Bay folgt uns auf den Flur und lehnt sich gegen die Wand neben der Tür. Bent lässt Rike bei ihm, während Wölfchen bei Cara in meinem Zimmer bleibt. Gemeinsam mit meinem großen Bruder mache ich mich auf den Weg und bete zu allen Göttern, dass meinem Mädchen in meiner Abwesenheit nichts passiert.
1
Heute sind viele Leute unterwegs und wir werden oft mit höflichen Gesprächen aufgehalten. Die Tatsache, dass wir keine Waffen tragen, sorgt für Verblüffung. Wir haben sie jedoch willentlich nicht dabei, denn es würde die Alte, wenn wir sie denn finden, nur verängstigen.
Auf dem Weg durch die Stadt fielen mir noch zwei Zwerge ein, die Ty aufgesucht hatte. Die Frau haben wir aber nicht angetroffen und der Medizinhändler hat uns, wie erwartet, nur grimmig gemustert und dann abgestritten, dass er Ty kennt. Ich habe im Gefühl, dass es bei allen so sein wird, die wir nach ihr fragen.
Allerdings will jeder von uns wissen, warum wir ohne Waffen unterwegs sind. Wir schaffen es mit vagen Antworten immer heraus. Es ist unüblich, dass unser Volk ohne Bogen oder Schwert unterwegs ist. Es könnte ja immerhin jederzeit einen Grund zur Verteidigung geben - oder zum Schlachten.
Da Ristan mit dem einzigen Auto unterwegs, das unsere Familie besitzt, müssen wir laufen. Zu Tys Hof ist es schon weit, ich kann nur hoffen, dass die Alte nicht noch weiter weg wohnt. Gegen Mittag kommen wir endlich auf der Hauptstraße im Dorf an und sofort kommen Erinnerungen an meine erste Begegnung mit meinem Mädchen in mir hoch.
Wir passieren auch die Baumgruppe, hinter der ihr Hof liegt. Mein Blick huscht durch das Gehölz und ich erkenne, dass dort noch alles in Ordnung ist. Bent folgt meinem Blick und tippt mich an, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Er nickt nur kurz fragend in die Richtung und ich signalisiere ihm wortlos, dass es Tys Hof ist.
Er reagiert nicht weiter und führt mich stattdessen Richtung äußeren Rand der Ortschaft. Auf halben Weg dorthin kommen uns drei Männer entgegen. Alle drei sind schwer bewaffnet. Sie lachen und scheinen zufrieden mit sich. Bent hält einen auf. Es ist Duan, einer unserer Ausbilder im Schwertkampf.
„De. Was wollt ihr denn hier draußen?“, fragt er und ich höre den Argwohn in seiner Stimme.
Duan lacht und deutet hinter sich. „Uns ist zu Ohren gekommen, dass hier ein paar Menschen leben. Wir dachten, wir kümmern uns nur mal eben drum.“
Bents Blick fliegt zu mir, doch bevor er etwas sagen kann, fragt Ducan, Duans kleiner Bruder: „Und was wollt ihr hier? Wo sind eure Waffen?“
„Die haben wir nicht dabei. Hier leben Menschen?“, weicht Bent aus und richtet seinen Blick auf den jungen Elfen.
„Ja. Na ja, jetzt nicht mehr. Jetzt verrotten sie hier.“ Er lacht gehässig auf und ich habe Mühe, meine Wut nicht zu zeigen.
„Es war nur eine alte Frau. Aber die war ganz schön widerspenstig“, fügt der Dritte, Zac, an. Er grinst breit und meint dann: „Spaß hat’s trotzdem gemacht.“
Ich höre mich knurren und alle Blicke richten sich auf mich. „Können wir weiter?“, frage ich genervt Richtung Bent, der mit zusammengekniffenen Lippen nickt.
„Wo soll’s denn hingehen?“, will Ducan wissen und wippt selbstgefällig auf den Absätzen, vor und zurück. Dafür, dass es nur eine alte Frau war, sieht er ganz schön mitgenommen aus. Auch die anderen beiden haben Kratzer im Gesicht und an den Armen. Ich will lieber nicht wissen, was sie mit ihr gemacht haben, bevor sie sie getötet haben.
„Nach Liaèn“, lügt Bent und meint damit die Nachbarstadt. „Ristan hat den Wagen, deshalb laufen wir“, beugt er Nachfragen vor.
„Na dann viel Spaß“, grinst Duan.
Bevor wir uns trennen können, kommt eine unerwartete Frage von dem kleinen Ducan. „Wie geht’s deinem Spielzeug, En?“, will er wissen und grinst so hämisch, dass meine Wut ausbricht.
„Was geht’s dich an?!“, gehe ich ihn an und sein Grinsen wird breiter.
„Ich habe gehört, jemand hat’s ihr mal so richtig besorgt?“, fragt er weiter, dann steht Bent vor mir und hält mich zurück. „Hat sie schon erzählt, wie es war?“, hakt der arrogante Jungelf selbstgefällig nach.
Meine Hände zittern, so wütend bin ich. „Warst du es etwa?!“, fahre ich ihn an und verpasse Bent einen Hieb vor die Brust, damit er mich loslässt, doch er tut es nicht.
„Mein Bruder ist doch immer noch Jungfrau“, lacht Duan dazwischen und verpasst dem Jungspund einen Schlag auf die Schulter.
Ducan verzieht das Gesicht, schweigt aber.
„Lass uns weitergehen, En“, spricht jetzt wieder Bent mit mir und ich atme durch.
„Ja. Sonst bringe ich hier noch jemanden um.“
„Ohne Waffen?“, feixt Ducan und Zac lacht auf.
„Ohne Waffen!“, knurre ich nur zurück, doch sie lassen sich nicht einschüchtern.
„Los jetzt.“ Bent greift meinen Arm fester und zieht mich dann mit sich und weg von den Dreien. Ich hätte alle mit links erschlagen.
„Du kannst nicht alle umbringen“, erinnert mein Bruder mich.
„Aber wenn, dann verfehle ich auch den Richtigen nicht“, wiederhole ich die Antwort, die er schon mal auf diese Aussage bekommen hat.
Er schüttelt nur den Kopf und zieht mich weiter.
Wir erreichen ein verfallenes Haus und ich weiß sofort, dass wir keinen Erfolg mehr haben werden. Schon bis vor die Tür, kann ich das Blut riechen und bin mir sicher, dass dort keiner überlebt hat. Bent geht trotzdem rein und ich folge ihm.
In einem Raum, der wohl mal das Wohnzimmer war, bleibt er wieder stehen und reibt sich kurz das Gesicht. Mein Blick folgt seinem zu dem leblosen Körper am Boden. Sie haben die Alte übel zugerichtet und wenn man es nicht weiß, würde man nicht mehr sehen, dass sie mal ein Mensch war.
Ihr Gesicht ist vollkommen zerschlagen und ihr fehlen Gliedmaßen, die unweit entfernt liegen. Jemand hat ihr die Ohren abgeschnitten und sie der Alten auf die Brust gelegt. Es ist eine barbarische Neigung der Jäger und sie zeigen damit ihren Hochmut und ihre Überlegenheit an. Frei nach dem Motto - Seht her, ich habe einen Menschen getötet. Laut ihren eigenen Aussagen tun sie das, noch während der Mensch lebt, damit er die Qualen ertragen muss.
Ich wende den Blick ab und schäme mich unsäglich für mein Volk. Natürlich wusste ich, dass die Jäger töten. Ich wusste auch, dass sehr wahrscheinlich die Mehrzahl ihrer Opfer unschuldig ist. Und ich hatte von den Methoden gehört, die die Jäger anwenden. Gesehen, habe ich das alles nie.
Ich habe nie einen Menschen gesehen, der hingerichtet wurde. Ich habe nie jemanden übergeben, auch wenn ich es vielen angedroht habe. Diese Drohungen bereue ich in diesem Moment zutiefst, weil ich nie eine Ahnung davon hatte, vor was die Menschen genau fliehen. Vor uns, ja. Aber dass sie das hier erleiden müssen, war mir nie in den Sinn gekommen.
Auch dafür schäme ich mich. Weil ich einfach nie darüber nachgedacht habe. Ich spüre Bents Blick auf mir und hebe den Kopf, um ihn anzusehen.
Er nickt zu der Alten am Boden. „Sieh hin“, sagt er ruhig, doch ich schüttle den Kopf. Er dreht sich komplett zu mir und verschränkt die Arme vor der Brust. „Was hast du gedacht, tun die Jäger?“, fragt er und verengt die Augen.
Ich hebe kurz die Schultern. „Jagen“, antworte ich ziemlich kleinlaut.
„Du hast nie drüber nachgedacht, wie sie es tun, stimmts?“
Wieder schüttle ich nur den Kopf.
„Vielleicht verstehst du meine Einstellung jetzt.“
„Ich habe dich auch vorher verstanden.“
„Dann hoffe ich, dass du jetzt vollends auf meiner Seite bist“, gibt er an und lässt die Arme sinken. „Das machen die Jäger mit fast allen Menschen.“ Er deutet hinter sich auf den Boden. „Die wenigsten haben das Glück, einen schnellen Tod zu sterben. Mit Ty hätten sie sicher noch andere Sachen gemacht“, fügt er unnötigerweise an, was mich wieder wütend werden lässt.
„Hör auf, sie ständig vors Loch zu schieben!“, knurre ich und werfe ihm einen bösen Blick zu. Dass er die Tyree-Karte immer wieder ausspielt, macht mich rasend. Er weiß, dass er mich damit trifft und er muss ebenso wissen, wie sehr.
„Aber es ist so. Ich will, dass du begreifst. Das hier war aber so nicht geplant. Ich hätte nicht mal gedacht, dass wir sie finden.“ Sein Blick fliegt wieder zu der Alten und wird traurig. „Sie war wirklich nett.“
„Was machen wir jetzt?“, frage ich und habe Mühe, meine Stimme fest zu halten.
Bent zuckt nur mit den Schultern. „Wir gehen zurück. Hier gibt’s keine anderen Menschen mehr und ich wüsste nicht, ob um Liaèn herum noch welche sind, die Ty kennen könnten. Ich kenne dort zumindest keinen.“
„Wie viele kennst du überhaupt?“, will ich jetzt wissen. Es macht mich nachdenklich, dass er einige Kontakte hat, von denen wir bisher nicht mal was geahnt haben. Schon allein die Tatsache, dass er von Städten spricht, die sich zusammenschließen. Ich meine, es war irgendwo klar, aber je mehr ich mit Bent darüber rede, desto klarer wird, wie groß das Ganze schon zu sein scheint.
„Nicht so viele wie du vielleicht glaubst“, wehrt er trotzdem noch ab. Und ich weiß er tut es aus Vorsicht. „Aber genug. Komm, wir hauen ab.“
Mein Blick fliegt doch noch mal zu der Alten, während meine Kiefer mahlen. Sie sollte uns helfen und jetzt haben wir niemanden mehr. Die Überheblichkeit ihrer Schlächter macht das Ganze noch schlimmer. Ich hätte viel früher auf Bent hören sollen! Aber nein, da muss erst ein Menschenmädchen kommen, in das ich mich verliebe und selbst das hat nicht gereicht. Zwei Vergewaltigungen mussten es sein, um mich wachzurütteln!
Bei allen Göttern, wie blind war ich eigentlich! Ich wende den Blick ab und folge meinem Bruder auf die Straße. „Es tut mir leid“, entschuldige ich mich bei ihm und im Stillen auch bei der Alten und allen Menschen, die unschuldig leiden mussten oder müssen. „Ich war ein Idiot.“
Bent nickt nur. Normalerweise wäre jetzt eine Spitze gekommen, dass ich das nicht extra erwähnen bräuchte oder etwas in der Art, doch sein Ausdruck bleibt ernst und ich spüre, dass im Moment alle Last der Welt auf uns beide zu drücken scheint. Gerne würde ich der Alten ein angemessenes Begräbnis bereiten, doch da die drei Jäger uns gesehen haben, würde es auffallen. Also bleibt uns nichts weiter übrig, als sie zu lassen wie und wo sie ist.
„Können wir auf Tys Hof vorbeischauen? Ich würde gern sehen, ob ich ein paar ihrer Sachen mitnehmen kann. Vielleicht ist was dabei, dass ihr hilft, sich besser zu fühlen.“
Bent nickt und wir machen uns auf den Weg.
An der Mauer, die das kleine Gut umgibt, halten wir wieder an. Ich, weil ich ein bisschen Hemmungen habe, es zu betreten und Bent, weil ich anhalte.
„Das ist ihr Hof?“, fragt er und wirkt ungläubig.
„Jupp.“
„Der ist winzig. Ich dachte, er wäre größer.“
„Es war ihr anscheinend genug“, stelle ich fest. Es ist wirklich der kleinste Hof von allen. Ich erinnere mich, dass sie erzählt hat, ihr Vater hätte einen gekauft gehabt, der diesem hier ähnlich war. Wenn der auch so klein gewesen ist, und dass für sechs Personen, dann kommt Bents winzig sehr gut hin.
„Na dann lass uns mal reingehen“, meint er und läuft los. Jedoch nicht weiter als einen Schritt, dann prallt er, Gesicht voran, gegen den Schutzwall. Ich kann nicht anders und pruste los, während er sich verwirrt und mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn reibt. Sein Blick ist grimmig, als er mich ansieht.
„Sorry“, schaffe ich zu sagen und bekomme dabei kaum Luft. „Aber das war herrlich.“
„Arschloch“, kommt es gebrummt bei mir an.
„Du wusstest doch, dass er geschützt ist“, lache ich und atme dann tief durch.
„Ja, schon. Aber ich dachte vielleicht nur das Haus selbst. Und da Ty jetzt bei uns ist, war ich der Meinung, der Schutz wäre gebrochen.“ Er lässt die Hand von der Stirn sinken und betrachtet das Haus nachdenklich.
„Ist er nicht“, feixe ich ihn an und trete näher. Testweise hebe ich eine Hand und strecke sie aus. Auch ich komme nicht weiter, als bis zur Mauer.
Bents Blick wird verwirrt. „Ich dachte, du warst schon drin.“
„War ich.“ Ich muss lächeln. „Schlaues Mädchen, meine Ty.“ Ich drehe mich um und gehe zum Waldrand, wo ich sechs Blätter von einer Weide sammle. Zurück bei meinem Bruder ziehe ich mein Messer. Ein Stich und auf drei Blättern glänzt mein Blut. „Jetzt du.“
„Das ist wirklich Blutmagie?“, fragt er und verzieht das Gesicht. Ich werfe ihm nur einen Blick zu. Er hebt die Hand und kurz darauf ist sein Blut auf den anderen drei Blättern.
„Dreh dich um“, weise ich ihn an, denn ich will Tys Schutz nicht gänzlich verraten. Auch wenn ich Bent vertraue. Er folgt der Aufforderung aber bereitwillig und wendet sich ab. Die drei alten Blätter mit meinem Blut sind vertrocknet und ich kann mir denken, dass der Schutz mich deshalb wieder aussperrt.
Sie hat mich nicht ganz in den Schutz integriert. Ob sie es heute tun würde? Sicher hätte sie das Versteck auch wieder geändert. Ich lege die sechs Blätter in den kleinen Hohlraum und verschließe ihn sorgfältig, dann trete ich zurück und tippe Bent an.
Er dreht sich um und zieht die Brauen hoch. „Jetzt können wir rein?“
„Nach dir.“ Ich grinse und hebe die Hand, um ihm den Vortritt zu geben. Mit argwöhnischem Blick nähert er sich der unsichtbaren Wand und streckt eine Hand aus. Sie trifft nicht auf Widerstand, also schiebt er auch einen Fuß über die Grenze. Mein Kichern, lässt ihn das Gesicht verziehen, dann macht er sich auf den Weg zum Haus und ich folge ihm.
Sein Blick schweift umher und er mustert das Grundstück mit Argusaugen. Ich kenne es ja schon, also schaue ich nicht so genau hin. Mir ist auch nur wichtig, dass wir ein paar Sachen von Ty bekommen.
Im Haus selbst ist es relativ dunkel, doch dank unserer Elfensinne, ist das kein Problem. Kurz stehe ich unentschlossen da, dann packe ich die Decke vom Sofa und breite sie ein Stück aus. Sie wird meine Tasche werden.
Bent geht langsam das kleine Zimmer ab und schaut sich auch hier um. „Es ist winzig, aber irgendwie gemütlich“, meint er und schiebt die Unterlippe vor. „Es gefällt mir.“
Ich grinse nur. Mir gefällt es auch. So klein es ist, es hat alles, was man braucht. Mein Blick fliegt wieder durch den Raum, auf der Suche nach persönlichen Gegenständen. Vor dem Kamin steht eine kleine Kiste, die mir ins Auge sticht. Sie ist verschlossen und ich finde keinen Weg hinein.
Die kommt mit. Wenn die Kleine was darin einschließt, muss es ihr wichtig sein.
Bent inspiziert derweil einen Schrank und findet ein paar Kleidungsstücke. „Wollen wir davon auch was mitnehmen?“, will er wissen und hält einen alten Pullover in den Händen.
„Ja, gib her.“ Ihre eigenen Sachen zieht sie sicher lieber an.
Er wirft mir noch ein paar Stücke zu, die ich zum Kästchen auf die Decke lege. „Mhh. Viel hat sie gar nicht“, fällt mir auf, denn was sonst noch im Raum ist, war entweder schon da oder erscheint mir nicht persönlich genug.
„Was soll sie auch alles haben? Hast du gedacht, sie schleppt ständig einen kompletten Hausrat mit sich herum?“
„Mir ist schon klar, dass sie nicht viel Besitz hat.“ Aber so wenig? Keine Bilder oder Andenken von ihrer Familie. Mein Blick fällt auf die kleine Kiste. Was auch immer da drin ist, will sie sicher haben. Erneut lasse ich den Blick schweifen. „Ich hab keine Ahnung, was wir noch mitnehmen sollten.“
„Ich auch nicht. Lass uns gehen. Wir können ja wiederkommen.“
„Okay.“ Ich knote das Bündel zusammen und werfe es mir über die Schulter, dann verlassen wir den Hof. Auf halben Weg kommen wir an einer U-Bahn-Station vorbei und ich halte an, Bents abermals verwirrten Blick auf mir.
„Ist was?“, will er wissen und mustert mich besorgt.
„Die Bahn“, antworte ich leise. Ty ist sicher öfter damit gefahren. Mein Blick fliegt zu meinem Bruder. „Dort fahren Menschen mit“, lasse ich ihn wissen.
„Ehm, ja, und?“
„Ty auch. Vielleicht kennt sie dort jemand.“
Für einen Moment entgleiten ihm die Gesichtszüge, dann schluckt er und meint: „Du hast nicht vor, was ich denke, was du vorhast, oder?“
Ich muss grinsen. „Doch. Ich glaube, genau das habe ich vor. Bent, da sind sicher Leute, die die Kleine kennen. Vielleicht hilft uns einer von denen?“
„Das ist die U-Bahn, En. Die - U-Bahn.“
„Ich weiß. Aber bist du da schon mal mitgefahren?“
„Ja. Und es war nicht schön.“
„Welche Möglichkeiten haben wir noch?“, will ich wissen und ziehe die Brauen hoch. Er antwortet nicht gleich. Sein Blick fliegt nur zwischen mir und den Treppen hin und her.
Dann seufzt er. „Für Ty.“
2
Wir stehen in der Bahn und ich weiß, dass es Bent genauso ergeht wie mir. Sein Griff um die Haltestange ist so fest, dass seine Fingerknöchel weiß werden. Auch ich muss den Drang herunterkämpfen, einfach aus diesem Abteil zu stürmen, um an die Luft zu gelangen.
Elfen sind einfach keine Untergrundbewohner. Andererseits halten wir uns heute nur kurz hier auf und es ist für Ty. Das werden wir schaffen.
„Erkennst du jemanden?“, höre ich Bent, das gefühlt tausendste Mal fragen.
„Nein.“ Wie auch? Die halten alle so viel Abstand und viele steigen sofort wieder aus, wenn sie sehen, dass wir hier sind. Dass wir keine Waffen tragen und auch sonst eher wie zwei Häufchen Elend aussehen, tut dem keinen Abbruch.
„Wie lange müssen wir hier noch mitfahren, En?“ Bent klingt wie ein Junge, der endlich ankommen will, weil ihm schlecht ist.
„Was weiß ich denn!“, fahre ich ihn an und die letzten beiden mutigen Menschen im Abteil drängen sich weiter von uns weg. Der Zug hält und sie sind so schnell draußen, dass man meinen könnte, ein Gummiband hätte sie rausgezogen.
Resigniert lasse ich mich auf einen Sitz fallen und vergrabe das Gesicht in den Händen. „Verdammter Scheißdreck.“
„Können wir jetzt auch aussteigen?“, fragt Bent gerade, da schließen sich die Türen und er seufzt. „Können wir dann bitte die Nächste nehmen?“
„Mhh“, raune ich nur, lasse die Hände aber, wo sie sind. Das kann doch alles nicht wahr sein. Wir werden niemanden finden, der uns hilft. Allein deshalb, weil wir Elfen sind und einen Menschen brauchen. Welcher Mensch würde das auch freiwillig tun?
Ich gehe stark davon aus, dass selbst die Alte nein gesagt hätte.
Zehn Minuten später hält der Zug erneut. Ich brauche einen Moment, stehe dann aber frustriert auf und folge meinen Bruder aus dem Abteil. Doch kaum bin ich draußen, laufe ich in ihn hinein. Da steht er und schaut auf etwas zu seinen Füßen hinab. Ich spähe an ihm vorbei, um zu sehen, um was es sich handelt und erkenne, dass es nicht etwas, sondern jemand ist.
Ein Zwerg, der ihm gerade mal bis kurz übers Knie reicht, steht vor ihm. Die Arme vor der Brust verschränkt, fixiert er Bent mit zornigem Blick. Ich trete an die Seite meines Bruders und mustere den Gnom.
„Gott, bist du klein“, rutscht es mir raus und Bent stößt erheitert die Luft aus.
Der wütende Blick des Zwerges trifft mich. „Was wollt ihr hier?!“, fragt er gereizt und schaut nun zwischen uns hin und her. „Was glaubt ihr, gibt euch das Recht, mit meinem Zug zu fahren?!“
Bent zieht die Augenbrauen hoch und sagt: „Ich wusste nicht, dass es uns verboten ist.“
„Ist es auch nicht“, feixe ich. „Der Kleine ist nur stinkig, weil wir seine Fahrgäste vergrault haben.“
„Halts Maul, Elf!“, spuckt er mir vor die Füße. „Ihr habt hier unten nichts verloren! Verschwindet!“
„Ey, bleib mal ruhig, Kleiner“, versucht Bent ihn zu beruhigen und macht eine nach unten drückende Geste, die komm runter bedeuten soll.
„Wir sind ja schon weg“, baue ich mich ein und packe den Arm meines Bruders, um ihn zur Treppe zu ziehen. „Es wird schon dunkel. Ich war den ganzen Tag nicht bei Ty.“
„Ty? Tyree?“, kommt es von hinter uns und der Zwerg starrt uns mit offenem Mund an, als wir uns ihm abermals zuwenden.
„Kennst du sie?“, will Bent sofort wissen und sein Blick fliegt kurz zu mir.
„Natürlich kenne ich sie! Sie lebt?“, sagt und fragt der Zwerg zeitgleich.
„Ja. Bei uns“, erklärt Bent und klingt verwirrt.
Ich drängle mich an ihm vorbei und stehe schon wieder vor dem Zwerg. „Du kennst sie auch!“, halte ich fest. „Oh allen Göttern sei dank!“ Ich sinke auf die Knie und bin jetzt fast auf Augenhöhe mit ihm. „Bitte komm mit uns und hilf ihr!“, höre ich mich selbst flehen.
Die Augen des Zwergs werden noch größer, dann schaut er zu Bent. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“
„Nicht wir“, antwortet mein Bruder. „Aber sie braucht dringend Hilfe und wir kommen nicht an sie ran. Wir suchen schon den ganzen Tag jemanden, dem sie vertrauen würde.“
„Wo ist sie?“, fragt der kleine Mann und klingt entschlossen.
„Bei uns. Im Anwesen.“
Wieder wird sein Gesicht finster. „Ihr habt sie verschleppt!“
„Nein. Wir wollten ihr helfen. En wollte das. Aber jetzt ist was passiert und auch er kann nichts für sie tun. Würdest du uns helfen, ihr zu helfen?“
Für einen Moment taxiert er Bent nur, dann endlich sagt er: „Natürlich helfe ich ihr.“ Wobei er betont, dass er Ty hilft, nicht uns.
„Danke“, kann ich nur flüstern, weil die Erleichterung mich einfängt. Wir haben jemanden gefunden, der helfen kann und will. Dem Himmel sei dank!
Der Zwerg, Zeez, ist der Zugführer und da alle seine Gäste sowieso weg sind, lässt er sein Gefährt für heute und für Tyree stehen. Nachdem wir ihm kurz erklärt haben, was genau passiert ist, drängt er jedoch darauf, auch seine Frau mitzunehmen. Sie hat, eben als Frau, wohl einen besseren Draht zu Ty.
Es ist schon dunkel, als wir endlich wieder im Anwesen sind. Dadurch kommen wir aber ungesehen bis in meine Räume. Myra, Zeez’ Frau, eilt sofort in Tys Zimmer und verschließt die Tür hinter sich. Selbst wenn ich wollte, würde ich nicht reinkommen, ohne die Tür zu zerschlagen, denn die Zwergin hat den Schlüssel mitgenommen und von innen verriegelt. So bleibt uns anderen nichts weiter übrig, als zu warten.
Cara hat nichts zu berichten, was mir schon klar war. Was sollte sich auch ändern, in nicht mal 12 Stunden. Also hocken wir alle schweigend in meinem Zimmer verteilt und warten darauf, dass sich bei Ty was tut.
Nach einer kleinen Ewigkeit geht die Tür wieder auf und Myra winkt Cara wortlos zu sich. Meine kleine Schwester steht auf und verschwindet ebenfalls im Zimmer. Wieder wird die Tür verriegelt und diesmal bleibt sie noch länger zu.
„Ich will da rein!“, höre ich mich nach einer weiteren Ewigkeit knurren.
„Bald“, kommt es beruhigend von Bent.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie dich noch an sich ran lässt, Elf“, brummt Zeez. „Ihr habt ihr das angetan!“
„Ich wollte ihr helfen!“
„Das hast du aber nicht!“ Er steht auf und kommt auf mich zu. „Du hast sie hierher gebracht und den Hunden zum Fraß vorgeworfen, du arroganter Vollpfosten! Nicht einen Gedanken hast du daran verschwendet, dass es ihr schaden könnte!“
„Ich hab sie vor dem Tod bewahrt!“
„Du hast sie quasi umgebracht!“
Stille. Darauf kann ich nichts erwidern, denn er hat recht. Sicher wollte ich ihr helfen und sicher habe ich das bis zu einem gewissen Punkt getan und dann habe ich aufgehört. Ich habe sie allein in der Bibliothek sitzen lassen. Ich hätte sie genauso gut auch mit zum Training nehmen können. Aber ich habe sie allein gelassen. In diesem Haus. Ich hätte es ahnen müssen.
Meine Augen beginnen zu brennen und ich wende kurz den Blick ab. „Es tut mir leid“, flüstere ich. Mein Blick trifft Zeez wieder und ich sehe seinen milde werden.
„Immerhin hilfst du ihr jetzt.“
„Ich tue gar nichts. Ich kann nicht! Sie will nicht, dass ich ihr helfe.“
Seine Hand legt sich auf meinen Unterarm und er drückt erstaunlich fest zu. „Du hast ihr geholfen, weil du uns gesucht hast.“
Ich nicke nur, kann die Aufmunterung aber nicht wirklich annehmen.
Irgendwann mitten in der Nacht geht die Tür endlich wieder auf und die Frauen kommen raus. Sofort bin ich bei den beiden und sehe Cara erleichtert lächeln.
„Sie schläft. Wir konnten sie baden und umziehen und ihre Wunde versorgen. Sie hat was von dem Saft genommen. Aber ich habe die Salbe weggelassen“, erklärt sie und ich nicke.
„Danke“, hauche ich und schaue dann Myra an. Abermals sinke ich auf die Knie und senke den Kopf. „Danke.“
Ihre kleine Hand legt sich auf meine Schulter. „Gib ihr Zeit“, meint die Zwergin und ich sehe Mitgefühl in ihrem Blick, als ich aufschaue. „Sie hat viel durchgemacht. Dränge sie nicht.“
„Werde ich nicht. Kann ich rein?“
Sie lächelt amüsiert. „Bleib besser erst mal hier.“ Sie wirft einen Blick zur Tür und sieht dann wieder mich an. Ihr Ausdruck wird nachdenklich. „Ich weiß nicht, was besser ist. Wenn sie allein ist oder wenn jemand auf sie aufpasst.“
An ihrem Tonfall merke ich, dass etwas nicht stimmt. „Was ist los?“, will ich wissen und schaue zu Cara auf.
Sie antwortet unsicher: „Ty wollte ... sie hat ... Gott, En. Ich kann’s verstehen.“
„Was?“, hauche ich nur und jetzt steht auch Bent auf und kommt rüber.
„Der Teller mit dem Essen war zerbrochen und die Scherben ...“
Ich schnelle hoch und fasse meine Schwester an den Armen, doch wieder berührt Myra mich sanft.
„Enyo. Alles gut. Sie hat nichts getan“, erklärt sie.
„Was wollte sie tun“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.
Cara senkt den Blick und sagt: „Ich glaube, sie wollte sich die Arme aufschneiden.“ Mein Herz beginnt schmerzhaft schnell zu rasen. „Sie hat’s nicht getan, En. Der Teller war zerbrochen und bei ihr lagen Scherben. Eine davon hat sie die ganze Zeit angestarrt, bis wir sie endlich überreden konnten, mit ins Bad zu kommen. Ich hab alles weggeräumt, womit sie sich verletzen könnte“, fügt sie an und sieht mir eindringlich in die Augen. „Ich glaube auch, wir konnten sie etwas aus ihrer Abwesenheit holen.“
„Sobald sie wach ist, sollte sie essen und vor allem mehr trinken“, erklärt Myra wieder. „Sie ist dehydriert und ihr Körper braucht Energie, um sich zu erholen.“
Ich nicke ihr zu und lasse Cara los. „Danke“, kommt es mir abermals leise über die Lippen.
„Bitte kommt mit runter und esst mit uns“, lädt Bent die Zwerge ein, die annehmend die Köpfe senken. „En?“, fragt er, doch ich verneine.
„Ich bleibe hier.“
„Alles klar.“
Als alle mein Zimmer verlassen haben, ist es fast gespenstisch still. Mein Blick fällt auf Tys Tür, dann beschließe ich, sie zu öffnen. Ich werde aber in meinem Zimmer bleiben, damit sie nicht wieder erschreckt und Angst bekommt, wenn sie aufwacht. So leise wie möglich aber laut genug, damit sie mich hören würde, wäre sie wach, öffne ich die Tür.
Da liegt mein Mädchen. Endlich wieder im Bett und nicht mehr voll Blut. Sie hat die Augen zu und atmet gleichmäßig und ruhig. Für einen Moment betrachte ich sie, dann gehe ich zurück zu meinem Bett und sinke davor auf den Boden. An das Fußende gelehnt, kann ich nur noch eine minimale Erhebung, unter ihrer Decke ausmachen, doch das reicht mir.
Sie schläft, das ist gut. Und wenn sie aufwacht, wird sie sicher auch wieder essen.
3
Unendliche Erleichterung durchflutet mich, als plötzlich Myra vor mir steht. Ohne ein Wort nimmt sie mich in den Arm und hält mich dann einfach fest. Ich klammere mich an sie und vergrabe meine Finger in ihrer Jacke, damit sie nicht wieder geht.
Ein Strom aus Tränen läuft mir über die Wangen, doch kein Laut entringt sich meiner Kehle. Myra ist hier. Ich bin nicht mehr allein.
„Tyree, Kleines. Was haben sie nur mit dir gemacht?“, höre ich ihre Stimme und die Vertrautheit, lässt mich noch mehr weinen. „Beruhige dich, mein Kind. Alles wird gut.“
Es ist gar nicht so leicht, sich zu beruhigen, wenn man seit einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder Licht sieht. Es dauert lange, bis ich es schaffe, die Zwergenfrau loszulassen.
Sie sieht mir prüfend ins Gesicht. „Wie geht es dir?“
Ich kann nichts sagen, weil ich dann gleich wieder weinen würde, also schüttle ich nur den Kopf.
„Oh, Tyree.“ Und wieder liege ich in ihren Armen. Das tut so unendlich gut, dass ich sie am liebsten nie wieder loslassen will. Doch wieder schiebt sie sich von mir und kniet sich dann hin. „Kleines. Deine Freunde haben Zeez und mich geholt. Sie haben uns erzählt, was passiert ist und dass du Hilfe brauchst.“ Ihr Blick huscht kurz über mich, dann spricht sie weiter. „Du musst dich waschen und neue Sachen anziehen. Wollen wir das tun?“
Kurz überlege ich, weil ich mich dazu bewegen muss und das tut noch immer weh, aber sie hat recht. Und ich weiß ja, dass ich bei ihr nichts zu befürchten habe, also nicke ich.
„Sehr gut. Dann komm, ich helfe dir.“
Doch ich habe so lange gesessen, dass meine Beine mich nicht tragen. Unter Stöhnen und Schmerzen sacke ich zurück. Myra ist nicht stark genug, um mir hoch zu helfen, also bleibe ich, wo ich bin. Ihr Blick ruht kurz auf mir, dann fragt sie: „Wir brauchen jetzt wohl beide Hilfe. Ist es okay, wenn ich welche hole?“
Wen will sie denn holen?
Sie deutet meinen Blick und meint: „Draußen ist eine junge Elfenfrau. Darf ich sie fragen?“
Sie meint Cara. Ich will das nicht und schüttle den Kopf.
Sicher sieht man die Angst in meinen Augen, denn Myra meint: „Kleines, bitte. Ich möchte dir helfen, aber ich schaffe es nicht allein. Ich verspreche dir, dich nicht allein mit ihr zu lassen. Ich bleibe die ganze Zeit hier und Zeez ist in einer Sekunde da, wenn ich ihn rufe.“
Als könnte ein Zwerg von Zeez’ Größe sich gegen einen Elfen behaupten. Selbst wenn es sich dabei um eine Elfenfrau handelt. Aber Cara hat mir nichts getan und Myra hat versprochen, mich nicht allein mit ihr zu lassen. Ohne Cara kann ich nicht laufen. Auch wenn ich das eigentlich gar nicht will. Lange schweige ich, weil ich nicht weiß, was ich tun soll.
„Tyree?“ Myra sucht meinen Blick und hält ihn dann fest. „Du brauchst Hilfe. Du bist krank und dein Körper schafft das nicht allein. Lass mich dir helfen, damit es dir besser geht. Bitte.“
„Mir geht’s gut“, lüge ich und spreche das erste Mal seit Tagen. Meine Stimme ist leise und rau und versagt schließlich.
„Geht es nicht. Sieh dich doch an, Kind. Hast du vergessen, wo du bist? Glaubst du, du kannst dir so selbst helfen, wenn du musst?“ Wie sie das sagt, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Muss ich das denn? Wird er wieder kommen?
Natürlich wird er das. Er hat mich zweimal bekommen. Warum nicht ein drittes Mal?
Ich habe zweimal versagt. Konnte mich beide Male nicht gegen ihn wehren, obwohl ich körperlich bei guter Verfassung war. Was nützt es also, gesund zu werden, wenn dann ein Elf kommt und es wieder zunichtemacht?
Ich senke den Blick. „Mir geht’s gut“, wiederhole ich und höre sie seufzen.
„Was er mit dir gemacht hat, ist nicht gutzumachen. Niemand, der das selbst nicht erlebt hat, kann dich jetzt verstehen. Niemand wird dir helfen können, wenn du es nicht zulässt. Deine Freunde da draußen, weißt du, was sie getan haben?“
Ich schüttle leicht den Kopf.
„Sie haben den ganzen Tag nach jemandem gesucht, der in der Lage ist, dir zu helfen, weil sie es selbst nicht können. Weil du sie nicht lässt. Ich will dir keine Vorwürfe machen, denn was passiert ist, ist schrecklich und dich trifft keinerlei Schuld. Aber willst du jetzt aufgeben? Willst du ihn gewinnen lassen? Willst du, dass er seinen Triumph über dich feiern kann?“
Wieder herrscht eine ganze Weile Schweigen, bis ihre Worte schließlich gänzlich bei mir ankommen. Ich schaue auf und runzle die Stirn. Seinen Triumph über mich? Wie meint sie das?
Myra fährt fort, als sie merkt, dass ich wieder zuhöre: „Er hat dich gedemütigt, verletzt und beschmutzt. Er hatte die Kontrolle, weil er stärker ist. Aber Kleines, er ist es nur körperlich. Du bist es geistig. Ich weiß das. Ich kenne dich. Du trotzt jeder Gefahr und bist stolz und stark und ich weiß, dass du dich niemals unterkriegen lässt. Du wirst doch jetzt nicht aufgeben und so einen Mistkerl gewinnen lassen?“
„Ich bin nur ein Mensch.“
„Nicht nur. Du bist ein starkes Mädchen und du bist eine Kämpferin. Gib dem Schicksal nicht, was es will. Hole dir, was du willst.“
„Was will ich denn? Und wie soll ich es bekommen? Die sind Elfen. Die bringen mich um.“ Meine Augen brennen, weil die Angst in mir hochsteigt.
Wieder sieht Myra mich eindringlich an. „Stimmt, sie sind Elfen. Aber keiner bringt dich um. Im Gegenteil. Du hast da draußen Freunde aus diesem Volk, die dir helfen wollen, zu überleben. Sie werden dich verteidigen. Sie werden für dich und mit dir kämpfen. Du musst sie nur lassen. Und was willst du? Hm? Überleg mal.“
Ich kann sie nur verständnislos anstarren.
„Willst du diesem Mistkerl nicht zeigen, dass er keine Macht über dich hat? Willst du nicht, dass er bestraft wird?“
„Er hat das mit mir gemacht. Ich hatte keine Chance. Er ist ein Elf. Die werden nicht bestraft.“
„Warum denkst du das?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Auch sie haben ein Rechtssystem, Ty. Hat Enyo es dir erklärt?“
Hat er. Aber nicht viel. „Er hat nur gesagt, dass ich ihm gehöre und dass es bestraft wird, wenn mir einer was antut.“
„Da hast du es doch“, sagt sie und lehnt sich zurück. „Auch sie kommen nicht ungeschoren davon.“
„Aber ich bin doch nur ein Mensch.“ Wieder brennen meine Augen, doch ich kann die Tränen zurückhalten.
„Hör auf, das so zu sagen. Ja, du bist ein Mensch und hast genauso das Recht auf Vergeltung.“
Ich stoße die Luft aus. „In einem Haus voller Elfen?“, frage ich ungläubig und nun löst sich doch eine der Tränen.
Myra wischt sie mit sanften Fingern weg. „Dass du Enyo gehörst“, sie setzt es in imaginäre Anführungszeichen, „gibt dir Schutz. Du bist sein. Wer dich ohne seine Erlaubnis anfasst oder dir schadet, muss mit einer Strafe rechnen. Und glaube mir, in deinem Fall fällt die nicht gering aus.“
„Was machen sie denn?“, will ich wissen.
Sie hebt kurz die Schultern. „Das kommt ganz auf den Richter an.“
„Und wer ist der Richter?“
„Ristan.“
Erneut stoße ich unecht lachend die Luft aus. „Einer meiner besten Freunde“, sage ich ironisch und schüttle dann den Kopf. Ich werde hier keine Gerechtigkeit erfahren.
„Tyree?“ Sie hebt mein Kinn an und sieht mir fest in die Augen. „Gib nicht auf. Das wäre falsch. Kämpfe, solange du kannst, und gibt ihnen nicht die Genugtuung, gewonnen zu haben. Sie sind nicht die höchste Vollendung und du bist mindesten so viel wert wie zehn von ihnen.“
Das sehen die anders, aber das kann ich ihr nicht sagen. Sie wird weiter argumentieren. Ich muss fast lächeln. Myra ist eine starke Konkurrenz, was das Debattieren angeht.
„Wie sieht’s aus. Wollen wir dich baden?“, fragt sie nun und ich nicke. Sie gibt ja eh nicht auf und sauber sein oder nicht, ändert nichts. „Darf ich die Elfe holen?“, fragt sie wieder, aber leiser. Wieder nicke ich, sie steht auf und geht. Mein Blick fällt auf die Scherben vor mir und hält sich daran fest.
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