Vampirmächte - Stefanie Worbs - E-Book

Vampirmächte E-Book

Stefanie Worbs

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Beschreibung

Nach der aufreibenden Zeit ihrer Verwandlung ist Lilly endlich im beschaulichen Dallington Forest angekommen. Sie hofft, von nun an eine ruhige Zukunft mit ihrer Liebe Memphis und ihrem besten Freund Denniz zu haben. Die Rechnung haben sie jedoch ohne den Hexer Raphael gemacht. Er sinnt noch immer auf Rache und sieht nun seine Chance als gekommen. Er will mehr Macht für seinen Zirkel und endlich Vergeltung an Memphis üben. Lillys Liebe wird auf eine harte Probe gestellt. Ist Memphis wirklich der, der er vorgibt zu sein? Kann Raphael schaffen, was er vorhat und die drei Freunde trennen? Ist die Liebe und die Freundschaft zwischen den drei Elementarvampiren stark genug, um gegen Raphael zu bestehen?

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Prolog
Quentin
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Lillien
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Memphis
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Lillien
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Quentin
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Lillien
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Memphis
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Denniz
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Quentin
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Epilog
Memphis
Bisherige Veröffentlichungen

Stefanie Worbs

Vampirmächte

Band 2

Vampirmächte

verflucht

Prolog

Quentin

„Verfluchter Mist! Wieso geht das nicht?“ Das Glas flog geradewegs gegen die Wand. Jedoch nicht, weil der Zauber funktioniert hatte. Quentin hatte es geworfen. Es zerbrach in tausend Stücke und Splitter flogen ihm entgegen. Er machte sich nicht die Mühe, sich zu schützen. Das taten seine Zauber für ihn. Wenigstens das konnte er.

Miriam spähte um die Ecke. Ein gehässiges Grinsen lag in ihren Zügen. „Was machst du, Quent? Du sollst doch nicht mit scharfen Sachen spielen.“ Sie trat auf ihn zu, unter ihren Schuhen knirschte das Glas.

„Lass mich in Ruhe!“ Er war nicht in der Stimmung für ihre Spitzen.

„Versuchst du dich wieder an Dingen, für die du noch zu klein bist?“

„Sei still!“

„Oh Quentin. Armer, kleiner Quentin. Bist du traurig, weil du nichts kannst?“

„Ich kann mehr als du! Ohne mich wären wir schon lange aufgeflogen! Und jetzt verschwinde, Miriam! Ich habe keinen Bock auf dich.“

„Ich will aber nicht gehen. Los, zeig mir, an was du übst.“

Quentin warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Miriam mochte er am wenigsten vom ganzen Zirkel. Sie war länger dabei als er und bildete sich deshalb ein, was Besseres zu sein. Raphael lobte sie allerdings auch ständig für ihre Spielchen. Sie fühlte sich als was Besonderes, auch deshalb, weil sie der einzige Wasserelementarier war, den Raphael bis jetzt gefunden hatte. Er suchte zwar noch nicht lange so intensiv wie heute, doch Wasser war eines der schwer aufzufindenden Elemente bei Vampiren. Quentin hatte bis zu seinem Eintritt in den Zirkel nicht mal gewusst, dass es Vampire gab, die zaubern konnten.

Bis vor ein paar Jahren hatte er Einiges noch nicht gewusst. Nicht mal, dass er ein Hexer war. Vor drei Jahren war er dann aber auf Nala getroffen. Sie hatte ihm erzählt, dass sie Dinge tun konnte und dass sie ihn so gefunden hatte. Sie hatte ihm gezeigt, was das für Dinge waren und ihm erklärt, dass er das auch konnte. Er, Quentin, der dürre Junge, der er damals gewesen war, über den sich immer alle lustig gemacht hatten. Es war nicht so, dass er unbeliebt gewesen war. Es hatte durchaus Leute gegeben, die ihn gemocht hatten. Aber er hatte sie nicht gemocht. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen und würde es auch bleiben.

Nicht mal hier im Zirkel pflegte er großen Kontakt zu den anderen. Er zog es vor, allein zu sein. Vielleicht waren auch deshalb Schutzzauber seine Spezialität. Sein Können was das anging, hatte Raphael beeindruckt und ihn dazu bewogen, Quentin in den Zirkel aufzunehmen. Quent hatte ablehnen wollen, doch Nala hatte ihn überredet.

Ihm schlägt man nichts ab, waren ihre Worte gewesen. Außerdem bin ich auch dabei. Komm schon, das wird lustig. Also hatte er zugesagt. Von da an war Quentin derjenige gewesen, der für den Schutz sorgte. Jeder hatte seine Aufgabe im Zirkel, bis auf Miriam, wie es schien. Sie war einfach nur da und nervig.

„Quent? Los! Mach was!“, forderte sie erneut und klang gereizt dabei.

„Hau ab! Ich habe keinen Bock auf dich!“, wiederholte er genervt.

„Langweiler“, murrte die Vampirin und rutschte von dem Tisch, auf den sie sich gesetzt hatte. „Mit dir kann man echt nichts anfangen.“

Er warf ihr einen verschwinde endlich - Blick zu und sie stapfte durch die Scherben davon.

In der Tür blieb sie noch mal stehen. „Dina sagt, du sollst zur Versammlung kommen. Jetzt.“ Dann verschwand sie endlich.

„Schon wieder? Ich bin gespannt, ob wir diesmal mehr Infos bekommen“, murmelte Quentin leise zu sich selbst. Er hob eine Hand und ließ sie durch die Luft fahren. Nichts geschah.

Er seufzte in dem Moment, in dem Nala an der Tür vorbeikam. „Quent, kommst du?“ Sie folgte seinem Blick und sah die Scherben. Dann hob sie die Hand in der gleichen Geste wie er und alle Splitter flogen auf einen kleinen Haufen. Er warf ihr einen entnervten Blick zu.

„Du schaffst das schon noch. Komm los, sie warten alle.“

Quentin folgte ihr schweigend. Es war einfach nur noch frustrierend. Wieso bekam er solche Zauber nicht auf die Reihe?

Im Saal herrschte Stimmengewirr, als die beiden eintraten. Sie setzten sich auf ihre Plätze und während Nala sofort in ein Gespräch mit Marco vertieft war, blieb Quentin weiter stumm. Sein Blick glitt der Reihe nach an der Tafel entlang. Neben ihm saß wie immer Nala und neben ihr Marco.

Am Kopfende war Raphaels Platz, doch der Älteste war noch nicht da. Auf der anderen Seite, quasi zu Raphaels Linken, saß Dina. Sie schwieg, allerdings war sie auch in irgendwelche Notizen vertieft. Dann kam Vincent und dann Miriam. Sie saß wie immer genau gegenüber von Quent. Vor ihr stand das obligatorische Glas Wasser. Sie spielte ständig mit ihrer Macht. Das konnte einen verrückt machen. Gerade so als wolle sie, dass jeder sah, was sie konnte.

Quentin war froh, dass die beiden anderen Elementarier nicht so versessen aufs Zaubern waren. Dina und Vincent, die beiden Windvampire, waren da sehr viel genügsamer. Dina war ausgesprochen mächtig, doch dank ihres Alters auch weise genug, nicht damit anzugeben. Vincent war ebenfalls sehr stark, doch auch er beschränkte sich nur auf die verpflichtenden Übungsstunden. Wäre er nicht im Zirkel gewesen, hätte er vermutlich gar nicht gezaubert. Quentin wusste, dass Vince nur durch Raphael von seiner Macht erfahren hatte. Ohne ihn hätte er wahrscheinlich die Ewigkeit unwissend verbracht oder es irgendwann durch Zufall entdeckt.

Vince war ebenfalls noch nicht lange dabei. Doch er hatte in der relativ kurzen Zeit im Zirkel eine Menge gelernt. Ganz im Gegensatz zu Quentin selbst. Quent konnte tun, was er wollte, er brachte keinen ordentlichen Zauber zustande. Das Glas vorhin, hätte sich eigentlich mit dem Wasser aus der Karaffe nebenan füllen sollen. Stattdessen war die Karaffe zersprungen. Er schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf seine Hände.

Ich werde nie mehr sein, als der Hexer, der nur Schutzzauber beherrscht. Das allerdings konnte er wirklich gut. Er war sich sogar sicher, dass dies auch der einzige Grund war, warum er überhaupt noch im Zirkel war. Wenigstens zeigte Raphael deswegen keine Abneigung gegen ihn. Er behandelte ihn anständig und mit den anderen gleichgestellt.

„Lasst uns anfangen“, tönte dessen ruhige Stimme nun durch den Raum und sofort verstummten alle Gespräche. „Wir haben viel zu besprechen.“ Er kam heran, setzte sich und wandte sich an Dina. „Was hast du rausgefunden?“

Dinas Stimme klang ebenso ruhig wie die des Ältesten. Die beiden ähnelten sich genauso sehr, wie sie sich unterschieden. Sah man sie zusammen, hätte man denken können, sie wären eine Seele. Getrennt gesehen, hätte man sie nie zusammen vermutet. Doch sie harmonierten miteinander, wie niemand sonst es tat.

„Sie haben sie mitgebracht. Am Flughafen konnte ich einen Blick auf das Mädchen werfen.“ Dina schob dem Ältesten etwas hin. Quentin erkannte ein Foto, aber nicht wer oder was darauf zu sehen war.

„Wo haben sie sie hingebracht?“, fragte Raphael weiter.

„Vermutlich zu ihrem Wohnsitz. Ich bin mir mittlerweile sicher, dass wir hier richtig sind. Vor zwei Monaten sind sie auch von hier aus aufgebrochen. Da sie nun zurückgekommen sind, denke ich, können wir davon ausgehen, dass sie ihren festen Wohnsitz hier haben.“

„Und wo ist hier?“

„Ganz genau weiß ich es nicht. Sie sind verschwunden, als sie Netherfield passierten. Ich denke, ein Zauber verbirgt sie.“

„Konntest du ihnen bis dahin folgen?“

„Nein.“ Dina schüttelte sachte den Kopf. „Marco hat ihre Spur bis dahin verfolgt.“

Raphael wandte sich nun an ihn. „Was konntest du in Erfahrung bringen?“

„Ich glaube ebenfalls, dass sie ihren festen Wohnsitz irgendwo dort haben. Sie waren mit zwei Autos unterwegs und eins war voll mit Koffern. Außerdem sind sie in Heathrow gelandet. Hill oder Gatwick wären zwar näher an East Sussex gewesen, ich glaube aber, sie wollten ihr die Stadt zeigen.“

„Mich interessiert nicht, was du glaubst. Ich will wissen, was du weißt.“ Der Älteste sprach noch immer ruhig.

Marco lehnte sich trotzdem zurück und schluckte. „Ich, also, wie Dina gesagt hat, ich konnte ihnen bis Netherfield folgen, dann sind sie verschwunden. Ich hab versucht, sie wiederzufinden, aber ohne Erfolg.“ Er schluckte erneut und musterte den Ältesten mit vorsichtigem Blick.

„Was ist passiert, als sie verschwanden? Haben sie sich in Luft aufgelöst? Warst du nicht an ihnen dran?“

„Doch, ich war genau hinter ihnen. Aber es war, als wäre ich …“ Er verstummte und ließ den Satz unbeendet, wohl aus Angst vor Raphaels Reaktion.

„Du warst was?“, hakte dieser nach, immer noch komplett ruhig. Quentin überlegte, ob der Älteste überhaupt jemals die Fassung verlor. Er konnte wütend sein oder traurig. Er konnte euphorisch oder mies gelaunt sein, wenn er sprach, klang er ruhig und ausgeglichen. Nur der Tonfall seiner Stimme schwankte ein wenig. Aber selbst das, war wirklich minimal.

„Ich war … es war wie als wäre ich kurz eingeschlafen.“ Marco flüsterte die Worte halb. Es war ihm sichtlich unangenehm.

„Bist du es denn?“

„Nein! Ganz sicher nicht! Es fühlte sich nur so an. Wie Sekundenschlaf. Ich habe nur kurz geblinzelt und da waren sie weg.“

„Wo sind sie hin?“ Jetzt war Raphaels Blick auf Quentin gerichtet.

„Das kann ich nicht sagen. Es war sicher ein Schutzzauber. Ich kenne diese Art der Magie. Es ist eine Art Erstschutz. Sozusagen das erste Mittel, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Er hat anscheinend funktioniert.“

„Offensichtlich. Was kannst du tun?“

„Ich muss mir das ansehen. Am besten wäre es, wenn wir ihnen folgen könnten, wenn sie außerhalb des Zaubers sind und ihn dann betreten. So kann ich den Umkreis ermitteln und herausfinden, wo in etwa die Quelle ist. Das wiederum führt uns zu ihrem Wohnsitz.“

„Das wollte ich hören, Marco.“ Raphaels Blick richtete sich wieder auf ihn.

Marco rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. „Ich, ich kenne mich da nicht so aus“, gab er kleinlaut zu.

„Dann solltest du dich bilden. Quentin? Marco wird dir den Ort zeigen, wo er die drei verloren hat. In der Zwischenzeit wirst du, Nala“, sein Blick glitt zu ihr, „einen Zauber wirken, der uns verrät, wann sie außerhalb dieses Schutzes sind, damit Quent ihnen folgen und seine Recherchen dazu machen kann.“

„Ich würde gern mit nach Netherfield fahren. Vielleicht kann ich dort schon was tun. Sollten sie gerade außerhalb sein, kann ich den Zauber gleich dort wirken“, bat Nala den Ältesten.

„Meinetwegen.“

Sie nickte ihm dankend zu und schenkte dann Quentin ein Lächeln. Er erwiderte es. Nala war seine einzige Freundin. Er hätte nie jemanden, außer ihr, als Freund bezeichnet. Raphael wandte sich erneut an Dina und sprach leise mit ihr. Quentin wusste, dass die Magier nun eigentlich nicht mehr gebraucht wurden. Jetzt waren die Vampire dran. Trotzdem mussten alle warten, bis der Älteste die Versammlung auflöste.

Ich würde wirklich gern wissen, warum er so versessen auf dieses Mädchen ist. Es kann nicht nur daran liegen, dass sie ein Wasserelementarier ist. Miriam ist auch einer. Vielleicht will er zwei von jedem im Zirkel haben? Das würde einen Ausgleich schaffen. Vier Magier und vier Vampire.

Quentin wusste auch von Raphaels Racheplänen gegenüber dem Vampir Memphis. Auch wenn er nicht verstand, warum der alte Magier so viel Kraft in die Sache legte. Dina hatte ihm die Geschichte erzählt und Quentin konnte nachvollziehen, dass Raphael wütend war. Aber nach so vielen Jahren wären seine eigenen Rachegelüste schon abgeklungen. Bei dem Ältesten schien das nicht der Fall zu sein.

Sie hatte auch erzählt, dass es ein paar Jahre gegeben hatte, in denen Raphael nicht an den Vampir gedacht hatte. Damals war sie davon ausgegangen, es sei gut. Doch jetzt flammte sein Zorn wieder auf und er war größer denn je. Auch wenn er ihn nie zeigte. Raphaels Abneigung gegen diesen Memphis, schien mit jedem Tag zu wachsen.

Wenn aber nicht mal Dina ihn verstand - und sie war schon fast ihr ganzes Leben an seiner Seite - dann konnte Quentin sich den Kopf zerbrechen, wie er wollte. Er würde es nichts erfahren, außer der Älteste würde es erzählen. Was wahrscheinlich nie passieren würde.

Diese Sache mit dem Mädchen war genau genommen auch nur eine Ablenkung von den eigentlichen Problemen. Zwar waren sie ein kleiner Zirkel hier, doch mit drei Elementariern waren sie der mächtigste. Im Umland gab es zwei weitere Magierkreise. Der eine bestand nur aus Junghexen. Sie hatten sich erst vor Kurzem zusammengeschlossen und wollten schon die Weltherrschaft an sich reißen. Raphael hatte ihre Pläne mit einem einzigen Auftritt zunichtegemacht. Seitdem hielten sie sich im Hintergrund.

Der andere war da schon kniffliger. Es war ein gemischter Zirkel aus Hexen und Magiern. Sie hatten die Kontrolle über dieses Gebiet gehabt, bevor Raphael beschlossen hatte, sich hier niederzulassen. Immer wieder gab es kleinere Scharmützel zwischen ihnen. Sie waren ebenfalls stark, doch Dina, Miriam und Vincent brachten den Vorteil. Außerdem schützte Quentin seinen Zirkel besser als die anderen ihren.

Trotzdem war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich erneut auf sie stürzen würden. Wer die Macht hatte und sie verlor, wollte sie wiederhaben. Und das würde nicht kampflos gehen. Doch dieses Problem schien Raphael nicht zu kümmern. Zumindest schien er sich lieber seiner Rache zu widmen.

Endlich löste er die Versammlung auf. Quentin erhob sich und ging mit Nala und Marco zusammen raus. Sie würden gleich nach Netherfield aufbrechen. Insgeheim war er froh, der großen Gesellschaft entkommen zu können. Auch wenn drei immer noch zwei zu viel waren.

1

Lillien

Der Regen tropfte Lilly in den Kragen. Sie zog ihn fester zu, während sie Denniz durch den Dallington Forest folgte. Es gefiel ihr, wenn sie mit ihm hier jagen konnte. Mittlerweile vertrug sie auch das Tierblut immer besser. Die Jungs hatten recht gehabt, als sie gesagt hatten, es wäre schwierig im Umfeld des Hauses Opfer zu finden.

Die ersten Wochen hatte Lilly sogar große Schwierigkeiten gehabt, richtig satt zu werden. Memphis war öfter als normal in die Stadt gefahren und hatte Blutkonserven besorgen müssen. Ab und zu war sie auch mitgefahren. Teils zum Jagen, teils um Zeit mit ihm allein verbringen zu können. Im und um das Haus war es nicht optimal. Entweder waren Angestellte in der Nähe oder Denniz.

Lilly liebte Denniz und wollte ihn nicht missen. Doch in manchen Situationen wäre sie froh gewesen, wenn er kein Vampirgehör gehabt hätte. So groß das Haus auch war, sie konnte selten mit einem der beiden ungestört reden. Das nervte schon ab und zu und so richtig daran gewöhnt hatte sie sich auch noch nicht, obwohl Lilly sich sonst schon ziemlich gut eingelebt hatte.

Die drei waren vor knapp drei Monaten aus Deutschland angereist. Die Jungs kamen zurück und Lilly kam an. Memphis hatte Heathrow als Ankunftsort gewählt und sie von einem Fahrer abholen lassen. Die Fahrt bis Dallington Forest hatte länger gedauert, da auf der Strecke mehrere Staus und Baustellen gewesen waren. Lilly hatte die Zeit jedoch genutzt und sich die Gegend aus dem Autofenster heraus angeschaut. London war so schön. Genau wie sie es sich vorgestellt hatte. Memphis hatte den Fahrer angewiesen durch die Stadt zu fahren, damit Lilly sie sich ein wenig anschauen konnte.

Als sie dann in East Sussex angekommen waren, war das Wetter schlechter geworden. Zwar hatte Lilly gewusst, es hieß immer, in England sei das Wetter mies, doch dass sie damit begrüßt werden würde, hatte sie nicht gedacht. Im Dallington Forest war es dann ruhiger geworden. Es waren kaum noch Leute unterwegs gewesen. Sei es wegen dem Wetter oder weil hier einfach nicht viele Menschen wohnten. Lilly empfand es aber als angenehm. Noch.

Schon die Anfahrt zum Haus war beeindruckend gewesen. Das Grundstück hatte ein lange Auffahrt quer durch den Wald. Ein paar hundert Meter vor dem Haus, lichtete er sich plötzlich und der schlammige Waldboden wurde von einem halb gepflasterten, halb ausgekiesten Weg abgelöst. Links und rechts vom Weg lagen Rasenflächen. So akkurat geschnitten, dass es Golfrasen hätte sein können. In regelmäßigen Abständen waren mehrere Blumenrabatten angelegt, die immer jeweils eine Heckenfigur aufwiesen.

Lilly hatte grinsen müssen. Genau solche Figuren hatte sie erwartet. Der Platz vor dem Haus war halbrund und ebenfalls mit Kies und Pflastersteinen ausgelegt. In der Mitte stand ein obligatorischer Brunnen, mit einer äußerst hässlichen Fontänenfigur in der Mitte. Lilly hätte nicht sagen können, was es darstellen sollte. Irgendetwas Abstraktes jedenfalls.

Von außen wirkte das Haus nicht sehr groß. Es war zweigeschossig, in roten Ziegeln gemauert. Das Dach ragte weniger spitz auf. Doch es gab mehrere Schornsteine, die auf Kamine hinwiesen. Eine Veranda erstreckte sich über die ganze Länge der Front. Der Fahrer hatte genau vor dem Eingang geparkt. Memphis hatte Lilly die Tür aufgehalten und ihr standesgemäß eine Hand gereicht. Sie hatte sie genommen und sich von ihm aus dem Auto helfen lassen.

Denniz war zu ihnen herübergekommen, er hatte das Gepäckauto gefahren. „Willkommen zu Hause“, hatte er gesagt und breit gegrinst. Dann war er die Stufen zur Eingangstür hochgerannt. Memphis hatte noch immer Lillys Hand gehalten und sie langsamer nach oben begleitet. Je näher man dem Haus kam, desto größer wurde es. Denniz hatte den beiden die Tür geöffnet.

Die Eingangshalle war groß und erstreckte sich über alle Etagen. Weißer Marmorboden erhellte die hohe Halle. Überall gingen Türen ab oder es waren offene Durchgänge in andere Räume eingelassen. Eine große weiße Steintreppe mittig der Halle führte in die nächste Etage. Hinter ihr lag ein Raum, der wie ein Wintergarten aussah. Man konnte ihn zu beiden Seiten der Treppe erreichen.

An den Wänden der Halle hingen verschiedene Bilder. Porträts und Landschaftszeichnungen. Ab und an auch moderne Fotografien, doch es passte alles perfekt zusammen. Eine ältere Frau hatte neben der Treppe gestanden und die Ankömmlinge erwartet. Denniz war auf sie zu getreten und hatte sie in den Arm genommen.

Memphis hatte Lilly zu ihr geführt und sie einander vorgestellt. „Lilly, das ist Mrs Hamilton. Unser guter Geist des Hauses.“ Er hatte beide angelächelt. „Mrs Hamilton, das ist Lillien Robinson unser neustes Familienmitglied.“

„Lilly“, hatte sie ihn korrigiert und Mrs Hamilton die Hand gereicht.

Diese hatte sie mit ihren beiden genommen und Lilly herzlich begrüßt. „Willkommen, Liebes. Ich hoffe Sie werden sich hier wohlfühlen. Wir haben Ihr Zimmer schon vorbereitet. Wenn Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie einfach nach mir.“

„Danke, das ist nett.“ Lilly war etwas verlegen gewesen. Sie hatte sich nie träumen lassen, mal Angestellte zu haben.

„Mr Lavoie, ich habe Mr Cheslock angewiesen, das Abendessen vorzubereiten. Es gibt feinsten Rinderbraten, wie Sie gewünscht haben.“

„Vielen Dank, Mrs Hamilton. Das war vorerst alles.“ Er hatte ihr freundlich zugenickt und sie war durch eine Tür links von ihnen verschwunden. Der Duft von Bratensoße war Lilly in die Nase gedrungen als die Tür auf- und wieder zugegangen war.

„Bratensoße, ja?“, hatte sie an Memphis gewandt gefragt. Er hatte gegrinst. Er wusste also noch, wie gern sie die Soßen im Hotel gehabt hatte. Dann hatte er sie zu ihrem neuen Zimmer begleitet. Es lag im ersten Stock des Hauses, im Westflügel. Die Treppe hoch und links. Die letzte Tür auf der rechten Seite.

Es war ein großer Raum und durch die hohe Fensterfront auch hell. Ein fast riesiges Himmelbett stand links an einer Wand, dem gegenüber war ein Kamin. Links und rechts vom Kamin ging jeweils eine Tür ab. Eine führte in ein Bad, die andere in ein Ankleidezimmer. Links vom Bett führte eine weitere Tür in ein Arbeitszimmer.

Die komplette Einrichtung war in dunklem Barockstil gehalten. Lilly hatte sich sofort wohlgefühlt. Gleich neben der Tür hatten noch ein paar Kisten mit persönlichen Sachen gestanden. Es waren die gewesen, die Memphis hatte vor fliegen lassen und an denen sich die Angestellten offensichtlich nicht hatten vergreifen wollen.

Nachdem Lilly alle Räume begutachtet hatte, war sie auf den großen Balkon getreten. Auf der Nordseite des Hauses lag ein riesiger Garten. Sie hatte einen herrlichen Blick auf alles. Der Garten war ebenfalls von Wald gesäumt. Eine große Rasenfläche erstreckte sich mittig und wurde von einem Kiesweg und Blumenrabatten umrandet.

Direkt unter ihrem Balkon befand sich eine Terrasse. Sie gehörte zum Wintergarten und drei Stufen führten davon hinab, direkt auf die Rasenfläche. Memphis war ihr still wie ein Schatten gefolgt und hatte Lilly alles in sich aufsaugen lassen.

Auf dem Balkon war er hinter sie getreten und hatte ihr die Arme um die Schultern gelegt. „Gefällt es dir?“, hatte er wissen wollen.

„Sehr“, war ihre schlichte Antwort gewesen. Wobei sich ein Lächeln auf ihre Lippen gelegt hatte. Von da an hatte sie nach und nach das Haus erkundet. Sie hatte die Angestellten kennengelernt und natürlich Hayley. Die Hexe hatte ein Zimmer im Ostflügel und weitere Räume im Keller. Dort hatte sie den nötigen Platz und konnte Kraft aus der Erde ziehen.

Lilly war ihr an jenem Abend auch gleich zum ersten Mal begegnet. Memphis hatte sie beim Abendessen einander vorgestellt und nach der ersten peinlichen Stille, die Denniz mit ständigem leisen Kichern immer wieder unterbrochen hatte, hatten die Mädchen irgendwann ein Gesprächsthema gefunden.

Hayley war eine junge Hexe. Zumindest sah sie jung aus. Ihr genaues Alter wollte sie nicht preisgeben. Doch Lilly wusste, dass sie schon viele Jahre mit den Jungs zusammenlebte. Sie musste mindestens so alt wie Denniz sein. Offensichtlich hatte also auch sie einen Weg gefunden, das Altern zu stoppen. Ein kleiner Funke der Eifersucht hatte sich in Lilly entzündet, als Hayley in den Raum getreten war und Memphis herzlich in den Arm genommen hatte. Lilly hatte sie eingehend gemustert. Hayley war hübsch.

Gewöhnlich hübsch. Ihre Haare waren dunkel wie Lillys und ihre Augen braun.

Gewöhnlich braun. Von der Größe her kam sie an Lilly heran. Sie hätte sich direkt neben sie stellen müssen, um einen Unterschied auszumachen. Vom Körperbau war die Hexe schlank aber nicht muskulös.

Eher schmächtig. Alles in allem war sie eben gewöhnlich. Bis auf ihre Eigenschaft, eine Hexe zu sein. Lilly war ihr trotz der kurzen Eifersucht mehr als dankbar für den Schutz, den sie den Jungs gab und sie hatte sowieso keine andere Wahl, als sich damit abzufinden, dass die Hexe da war. Hayley hatte das ältere Hausrecht und wer weiß, vielleicht würden sie sogar gute Freundinnen werden.

Jetzt betraten Lilly und Denniz das Haus über den Wintergarteneingang. Die Tür stand offen. Memphis ließ gerne Türen und Fenster offenstehen. Es gefiel ihm, wenn eine Brise durchs Haus wehte. Der Frühling hielt bereits Einzug und die Luft war mild, also protestierte auch niemand mehr dagegen. Im Winter war es nervig gewesen.

Die beiden Freunde gingen direkt ins Esszimmer. Dieser Raum war ihre heimliche Kommandozentrale, wie Denniz Lilly belustigt erklärt hatte. Tagsüber besprachen sie dort alle ihre Pläne. Lilly fand das Wohnzimmer bequemer, aber es störte sie auch nicht, an dem langen Esstisch zu sitzen, während Memphis meist am Kamin stand und Denniz und Hayley auf ihren Stühlen lümmelten. Zum Glück gab es nicht allzu oft Besprechungen. Mrs Hamilton war gerade dabei, den Tisch für eine morgendliche Teezeit vorzubereiten, als sie eintraten. Richtiges Frühstück gab es selten.

„Hallo Mrs Hamilton“, begrüßte Lilly sie freudig. Sie hatte die alte Dame liebgewonnen. Egal was sie brauchte, die Haushälterin machte es möglich.

„Hallo, Liebes. Mr O‘Sullivan.“ Sie lächelte und nickte beiden zu. „Der Tee ist gleich fertig. Mrs Thomas hat Kuchen gebacken. Ich bringe ihn, sobald er etwas abgekühlt ist.“

„Danke Mrs Hamilton“, sagte Denniz lächelnd und nickte zurück. Die Haushälterin verließ den Raum.

Lilly setzte sich auf ihren Platz, rutschte etwas auf dem Stuhl herunter und legte ein Bein über die Tischecke. „Das nächste Mal gehen wir, wenn es nicht regnet“, beschwerte sie sich und fuhr sich durch das nasse Haar.

„Geht klar, Liebes“, zog Denniz sie auf. Er versuchte sie immer damit zu ärgern, dass Mrs Hamilton sie so nannte, doch es störte Lilly nicht.

Memphis betrat den Raum. „Ihr seid wieder da, gut. Wir müssen ein bisschen was planen.“ Er kam zu Lilly rüber und drückte ihr einen Kuss aufs nasse Haar. Dann zwang er sie sanft, sich zu erheben und die nasse Jacke auszuziehen. Ein leises Stöhnen von sich gebend, folgte sie seiner Aufforderung. Er nahm die Jacke und legte sie über den Stuhl neben ihr.

Denniz grinste. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, seine beiden Vampirfreunde so miteinander umgehen zu sehen. Dabei war das harmlos. Memphis hatte Lilly gebeten, ihm etwas Zeit zu geben und sie gab ihm allen Freiraum, den er wollte. Dafür bedankte er sich immer öfter mit kleinen Gesten der Zuneigung. Sie wartete geduldig auf den Tag, an dem der Damm brach. Auch wenn es sie oft Überwindung kostete, ihn nicht einfach zu schnappen und zu küssen.

In den wenigen Monaten, die sie nun hier war, hatte sie beide Jungs schon viel besser kennengelernt. Ihre Marotten und Eigenheiten. Ihre Gewohnheiten und ihre Persönlichkeiten. Wie die Sache mit den Türen und Fenstern bei Memphis, hatte Denniz die Angewohnheit im Garten und auf den Rasenflächen zu stehen. Er stand da einfach. Die Augen geschlossen und tat nichts.

Lilly ärgerte ihn dann manchmal, indem sie zum Beispiel das Brunnenwasser über seine Füße laufen ließ. Oder wenn Nebel in der Luft hing, ließ sie ihn sich um Denniz sammeln, bis er nicht mehr zu sehen war und er selbst nichts mehr sehen konnte. Die Retourkutschen kamen jedoch stets. Er nahm ihr diese Neckereien nie übel und Memphis meinte sogar, es sei sehr viel lustiger und lebendiger im Haus, seit sie hier wohnte.

Die Bewohner verbrachten auch viele ruhige Tage drinnen. Wenn es draußen zu kalt war, feuerte Mrs Hamilton den Kamin im Wohnzimmer an und alle vier lagen oder saßen verteilt im Raum. Sie redeten viel oder lasen. Oder zauberten. Denniz lernte schnell, wie man das Erdelement nutzen konnte. Im Haus wucherten teilweise riesige Kletterpflanzen vor sich hin. Memphis hatte ihn mehrfach ermahnen müssen, es nicht zu übertreiben. Meist dann, wenn er früh morgens nicht aus seinem Zimmer gekommen war, weil wieder irgendeine Pflanze quer über die Türen und Wände gekrochen war.

Er selbst zauberte nicht so viel. Zum Einen, weil er es nicht lernen musste und zum Anderen, weil er würdevoller damit umging. Das ein oder andere Mal erkannte man sein Alter allein daran, wie er etwas tat. Er trank das Blut nie aus der Konserve. Er kam nie verdreckt von der Jagd. Er trug stets ordentliche Kleider. Selbst seine lässige Mode, hatte etwas Elegantes. Er beteiligte sich zwar an den Rangeleien und sah dann auch dementsprechend aus, doch er hatte immer eine bestimmte Würde dabei.

Denniz war da ganz anders. Er lümmelte rum und sah genauso schmutzig wie Lilly aus, wenn er von der Jagd kam. Zumeist deswegen, weil sie Tiere jagten, was Memphis so gut wie nie tat. Denniz redete auch viel Blödsinn, was alle zum Lachen brachte und hatte immer einen Scherz in petto.

Hayley zeigte auch manchmal, was sie konnte, doch auch sie hielt sich damit zurück. Ihre Kräfte reichten über alle vier Elemente. Viele ihrer Zunft brachten es nie so weit. Sie beherrschten sie vielleicht ein wenig, aber nicht in dem Maße, wie Hayley es konnte. Memphis beharrte darauf, sie eine der mächtigsten Hexen der Zeit zu nennen. Was sie immer wieder mit einem Kopfschütteln ablehnte. Lilly bekam sie allerdings nicht allzu oft zu Gesicht. Meist hielt Hayley sich in ihren Räumen auf oder war unterwegs. Das hatte zur Folge, dass Lilly wenig über sie wusste. Doch sie wollte auch die Jungs nicht nach ihr ausfragen. Irgendwann würde die Zeit kommen, da sich die Mädchen näherkommen würden. Lilly wollte nichts erzwingen.

Ein Rabe flatterte in den Raum und ließ sich auf dem Bein nieder, das Lilly wieder über die Tischecke gelegt hatte. Das Tier war wunderschön. Es handelte sich um einen weiß-bunten Raben. Diese Gattung galt seit Mitte des 20. Jahrhunderts als ausgestorben. Doch er hier, hatte das Aussterben dank Magie überlebt.

Er war größer als ein normaler Rabe und sein Gefieder glänzte seidig schwarz. Zumindest an den Stellen, die schwarz waren. Die Federn an den Flügelspitzen waren reinweiß. Genau wie die Federn am Schwanzende und ein weißer Fleck auf dem Kopf kurz über dem Schnabel. Ein ebenfalls reinweißer Streifen zog sich mittig über den halben Rücken des Tieres. Krallen und Schnabel waren ebenso schwarz wie der Rest und seine Augen glänzten mal silbern mal golden. Je nachdem, in welcher Stimmung er war. Heute waren sie silbern, also war er satt und zufrieden. Lilly mochte diesen Vogel. Er war extrem intelligent.

Sie streichelte ihm sanft über das Gefieder. Als Hayley reinkam, flatterte er auf und ließ sich auf ihrer ausgestreckten Hand nieder. Die Hexe setzte sich und der Rabe stolzierte über den Tisch.

„Muss das sein?“, wies Memphis sie zurecht.

„Sag es ihm“, beschwerte sich Hayley.

„Rave, runter vom Tisch!“, forderte Memphis energisch. Der Rabe krächzte und flatterte auf den Kaminsims. Lilly fand den Namen nicht sehr originell. Einen Raben Raven zu nennen. Aber da man es mit Rave abkürzen konnte, hatte es schon wieder was. „Du solltest ihm endlich Manieren beibringen.“ Memphis setzte sich nun neben Lilly.

„Später.“ Hayley lächelte. Später war ihre Lieblingsantwort. „Der Hausherr hat zur Versammlung gerufen?“, fuhr sie fort und sah ihn fragend an.

„Ja. Wir müssen ein bisschen was besorgen und erledigen.“

„Ich hab Hunger“, kam es von Denniz. Lilly lachte. Er hatte eine Gabe dafür, das Thema zu wechseln.

Memphis warf ihm einen genervten Blick zu. „Wir müssen zur Blutbank. Unsere Vorräte sind fast aufgebraucht. Außerdem sollte jemand mit Mrs Hamilton einkaufen fahren. Es wird diesmal wieder ein großer Einkauf. Ihr wisst, dass sie das nicht allein schafft. Und wir müssen ein paar Dinge regeln wegen der Renovierung.“ Die Küche und Angestelltenräume sollten grundsaniert werden. Altes Haus, viel Arbeit.

„Ich gehe mit einkaufen“, bot sich Hayley an. „Ich brauche auch ein bisschen was. Und ihr bringt immer das Falsche mit.“

Hexenkram, dachte Lilly.

„Gut. Denniz, ich bitte dich, die Sache mit den Handwerkern zu übernehmen.“

Yes. Er nimmt mich mit zur Blutbank. Lilly konnte sich ein Grinsen nicht verbeißen.

Memphis quittierte es mit einem umwerfenden Lächeln, als er sie ansah. „Und wir fahren zur Blutbank. Du solltest wissen, wie das dort abläuft.“ Lilly sprang innerlich vor Freude in die Luft. Nicht weil er sie endlich mit in die Blutbank nahm, bisher hatte sie immer draußen warten müssen, sondern weil sie, seit längerer Zeit, mal wieder allein sein würden.

Mrs Hamilton kam herein und trug ein Tablett mit Tee und Kuchen. Denniz sprang auf, um ihr zu helfen und sie stellten beides auf den Tisch. Rave flog auf die alte Dame zu und landete sanft auf deren Schulter. Sie zog ein paar Körner aus der Tasche und gab sie ihm. Vorsichtig pickte er sie von ihrer Hand, dann flog er zurück auf den Kamin. Er krächzte und begann sich sein Gefieder zu putzen.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte die Haushälterin und warf einen Blick in die Runde.

„Nein danke“, antwortete Memphis und fügte an, „Hayley wird Sie morgen zum Einkaufen begleiten.“

„Das ist nett, vielen Dank.“

„Nichts zu danken, Ann.“ Die Hexe hob die Hand und winkte ab. Mrs Hamilton verließ den Raum.

„Wann fahren wir in die Stadt?“, wollte Lilly wissen.

„Gleich. Du solltest dich aber umziehen.“ Memphis musterte sie lächelnd.

Sie sah an sich herab und registrierte ihre mit Schlamm bespritzten Sachen. „Ist wohl besser. Aber erst esse ich Kuchen.“ Damit erhob sie sich und schnappte sich ein Stück vom Rand, bevor Denniz es sich holen konnte. Der Schokokuchen von Mrs Thomas war ein Traum. Memphis goss ihnen Tee ein, während Hayley ein paar Krümel vom Kuchen in die Luft warf. Rave flog auf, machte einen Bogen um den Tisch und fing sie im Flug.

Memphis setzte sich kopfschüttelnd. „Manieren.“

Hayley grinste. „Später.“

2

Die Fahrt in die Stadt ging schnell. Memphis parkte den Wagen hinter dem kleinen Krankenhaus und sie betraten es durch einen Seiteneingang. Lilly sollte nur zuschauen und aufpassen was er sagte und tat, also hielt sie sich im Hintergrund. Er ging auf ein Fenster zu, durch das man in einen angrenzenden Raum sehen konnte. Eine Frau saß dort an einem Schreibtisch und studierte irgendwelche Unterlagen. Sie schaute auf, als Memphis sanft gegen das Fenster klopfte. Dann erhob sie sich und kam herüber.

„Hallo Rachel“, sagte er sanft, ein umwerfendes Lächeln auf den Lippen. Lilly hörte, wie er flirtete. Ihre Miene wurde grimmig, dann besann sie sich eines Besseren. Es musste sein.

„Hi Memphis“, erwiderte sie seinen Gruß und lächelte schüchtern. „Was kann ich für dich tun?“

„Du weißt, was ich möchte.“

„Warte einen Moment.“ Sie verschwand vom Fenster.

„Du fragst einfach? Wo ist da die Schwierigkeit?“, wollte Lilly wissen.

„Ich hab nicht gesagt, dass es schwierig wird. Manchmal ist es das, wenn jemand anderes da ist oder jemand neu ist. Wir haben Glück. Rachel weiß, was wir sind und steht auf Vampire.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Echt? Cool.“ Lilly war erstaunt, dass es doch ganz einfach sein konnte, an Blut zu kommen. „Und was machst du, wenn es mal nicht einfach ist?“

„Man muss den beißen, der die Schlüssel zum Kühlhaus hat. Dann nutzt man die Gunst der Stunde, solange er oder sie noch benommen genug ist. Es ist Diebstahl. Deswegen mag ich diese Methode hier lieber.“

„Fällt es denn nicht auf, wenn so viele Konserven fehlen?“

„Wenn wir es stehlen müssen schon. Heute wird Rachel aber ein bisschen was in den Akten drehen. Was sie da macht, weiß ich nicht. Aber es funktioniert.“

„Wenn du beißen und es stehlen musst, wie geht das?“

„Es bedarf einiger Vorbereitung. Zuerst musst du wissen, ob du nicht vielleicht mit einem bisschen von unserem Charme weiterkommst. Diebstahl ist der letzte Ausweg. Wenn es nicht klappt denjenigen zu überzeugen, musst du dich schlaumachen, wo das Kühlhaus ist. Wie man schnell rein- und rauskommt. Du musst natürlich wissen, wen du beißen musst. Und dann musst du schnell sein.“

Lilly hatte nicht erwartet, dass sie auch Blut stehlen mussten. Sie hatte eher so was wie einen Schwarzmarkt geglaubt. Aber wenn sie darüber nachdachte, war es klar, dass es nicht immer ganz diebstahlfrei zugehen würde.

Rachel kam um die Ecke und bedeutete den beiden, ihr zu folgen.

„Merke dir den Weg“, wies Memphis Lilly an. Sie ging hinter ihm und prägte sich genau ein, wo sie langliefen. Dann stoppte Rachel an einer Tür und hielt eine Schlüsselkarte vor deren Scanner. Das Schloss klackte und die Tür sprang auf. Sie gelangten in einen kleinen Vorraum.

„Wartet hier.“ Rachel ging in einen weiteren Raum, aus dem Kälte drang, als sie die Tür öffnete. Kurze Zeit später kam sie mit einer großen Kühlbox wieder raus und Memphis nahm sie ihr ab. Während Rachel die Tür sorgfältig schloss, traten er und Lilly wieder auf den Flur hinaus, dann folgte Rachel. Schweigend gingen sie den Weg zurück bis zu der Tür, die in den Raum mit dem Fenster führte.

„Ich danke dir“, sagte Memphis und erneut erfasste Lilly ein Stich der Eifersucht, als er die andere in den Arm nahm und auf die Stirn küsste.

„Das mache ich doch gern.“ Rachels Stimme klang zaghaft. Sie schenkte ihm einen schmachtenden Blick, dann drehte Memphis sich zu Lilly um. Ihr Gesichtsausdruck musste alles sagen.

Er schmunzelte. „Komm, wir gehen.“ An der Tür warf Lilly noch mal einen Blick über die Schulter. Rachel stand noch immer an der Tür und schmachtete Memphis hinterher. So schnell würde Lilly nicht wieder herkommen. Im Auto verstaute er die Kühlbox im Kofferraum und stieg ein. Lilly wartete bereits im Wagen und sagte kein Wort, doch sie konnte seinen Blick auf sich spüren.

Als sie sich endlich überwand ihn anzusehen, stahl sich wieder ein Lächeln in seine Mundwinkel. „Eifersüchtig?“, fragte er geradeheraus.

„Pff“, gab sie ihm nur zur Antwort. Bevor sie wusste, was geschah, hatte er ihr einen Arm umgelegt und sie zu sich gezogen. Mit der anderen Hand drehte er ihren Kopf so, dass sie ihn ansehen musste, dann küsste er sie. So direkt und liebevoll, wie er es seit ihrem ersten Kuss in Deutschland nicht mehr getan hatte.

Als sie sich voneinander lösten, vergaß Lilly glatt, weiter zu atmen. Nicht, dass sie es hätte tun müssen. Memphis lächelte sie wieder an und diesmal war dieses umwerfende Lächeln nur für sie bestimmt. Lilly erkannte einen Unterschied. So wie er es jetzt tat, tat er es nur für sie, dann ließ er sie los und sie glitt in ihren Sitz zurück.

„Wir haben noch etwas Zeit. Willst du irgendwohin?“, fragte er.

„Ich weiß nicht.“ Dann fiel ihr was ein. „Können wir irgendwo einkaufen gehen?“

Er sah sie nachdenklich an. „Klar. Hast du an was Bestimmtes gedacht?“

„Einfach ein Lebensmittelladen. Du musst auch nicht mitkommen. Ich geh allein rein. Ich weiß nur nicht, wo hier was ist.“

„Ich komme gern mit.“

„Nein. Du gehst Kaffee trinken. Was ich brauche, muss ich allein besorgen.“

Nun sah er verwirrter aus, doch dann hellte sich sein Blick auf. „Okay. Ich hab da auch noch was zu besorgen.“

Er fuhr eine Stadt weiter und hielt auf dem Parkplatz eines kleinen Supermarktes. „Ist das okay?“, wollte er wissen.

„Perfekt.“

„Gut. Wir treffen uns wieder hier.“

„Geht klar.“ Lilly verließ das Auto und steuerte auf den Markt zu. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass Memphis sie beobachtete. Ein Lächeln flog ihr übers Gesicht. Dann wandte auch er sich ab und ging Richtung Innenstadt davon. Während sie ihre Besorgungen machte, überlegte Lilly, was er zu tun haben könnte. Zurück am Auto musste sie dann nur kurz warten. Er kam wenige Minuten später und hatte zwei Eistüten in der Hand, von denen er ihr eine reichte.

„Wolltest du das erledigen?“, fragte sie und nahm das Eis.

„Nein. Aber der Eismann lag auf dem Weg.“

„Praktisch, danke“, sagte sie und warf ihm einen Luftkuss zu, den er mit einem Grinsen quittierte. Sie verstaute ihren Einkauf im Auto und stieg ein. Memphis folgte ihr einen Moment später. Sein Blick hatte sich verändert. Er schaute jetzt argwöhnisch drein und das Lächeln war verschwunden.

„Ist alles okay?“, fragte Lilly vorsichtig.

Er antwortete nicht, sondern starrte nur stirnrunzelnd in Richtung einer kleinen Baumgruppe, unweit des Supermarktes. Lilly folgte seinem Blick. „Was ist da? Memphis, ist alles klar?“

Abwesend wandte er den Kopf zu ihr und schaute sie fragend an. „Entschuldige, was?“

„Ob alles in Ordnung ist? Was war denn da?“

„Ja, alles okay“, entgegnete er ihr abwesend. „Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen. Ich hab mich wohl verguckt.“

Lilly musterte ihn. Irgendwas war komisch. Memphis war immer aufmerksam, doch jetzt sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen.

Er fing sich wieder einigermaßen und ließ das Auto an. „Hast du alles, was du brauchst? Können wir nach Hause fahren?“

„Ja“, antwortete Lilly knapp, immer noch verwirrt über seinen plötzlichen Stimmungsumschwung.

Zurück im Haus achtete sie darauf, dass er ihr nicht in die Küche folgte, wo sie ihre Einkäufe verstauen wollte. Doch sie hätte sich nicht allzu große Mühe geben brauchen. Er hatte die ganze Fahrt über abwesend gewirkt und das setzte sich auch hier fort. Während sie in die Küche ging, brachte er die Kühlbox in den Keller, wo sie einen extra Kühlschrank für solche Sachen hatten.

In der Küche war Mrs Thomas bei der Vorbereitung für das Mittagessen. Lilly und Memphis waren früh aufgebrochen und so auch früher als gedacht wieder zu Hause. Mrs Thomas half ihr, die Sachen auszupacken und Lilly bat sie, ihr bei der Umsetzung ihrer Pläne zu helfen. Die Köchin war Feuer und Flamme.

3

Memphis

Er kann es nicht gewesen sein! Memphis eilte zur Kellertür, die in Hayley Räume führte. Hoffentlich ist sie da. Er klopfte an die große, schwere Eichentür. Dahinter hörte er ihren Herzschlag und ihre Schritte.

„Komm rein“, rief sie von unten.

Er trat ein und rannte die Treppe halb runter. Sein Blick musste ihn verraten haben, denn Hayley war sofort in Habachtstellung.

„Was ist los?“, fragte sie und musterte seine Miene.

„Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich es mir eingebildet.“

„Was denn?“

„Ich habe ihn gesehen. Raphael.“

„Was!? Wo?!“

„In der Stadt. Ich war noch mit Lilly einkaufen. Ich bin mir sicher, er war es.“

„Ist er euch gefolgt? Vielleicht hast du dich verguckt?“

„Mir ist nichts aufgefallen. Hayley, ich bin mir sicher, er war es!“ Aufgebracht lief Memphis den Keller ab. Raphael war hier und er hatte sie beobachtet. Er hatte Lilly gesehen.

„Was, wenn er denkt, ich hätte Lilly verwandelt? Er hat sie gesehen!“

„Woher soll er wissen, wer sie ist?“

„Er hat damals gesagt, er findet es raus.“ Raphaels Worte verfolgten Memphis immer noch. „Er sagte, er würde es wissen, wenn ich jemanden verwandle.“

„Aber du hast sie nicht verwandelt. Hast du doch nicht?“

„Natürlich nicht!“ Memphis sah seine Freundin vorwurfsvoll an.

„Dann gibt es keinen Grund zur Besorgnis.“

„Aber er ist hier! Warum? Und wie hat er uns gefunden? Wirken deine Zauber noch?“

Jetzt war es an Hayley, ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. „Was denkst du, was ich ständig mache? Ich prüfe sie jeden Tag. Sie sind so stark wie am Anfang.“

„Wir zaubern jetzt mehr. Vielleicht müssen sie stärker sein?“

„Memphis, vertrau mir. Meine Zauber halten.“ Hayley berührte ihn sanft am Arm, um ihn zu beruhigen. Es war lange her, dass ihn etwas so aus der Fassung gebracht hatte.

„Kannst du rausfinden, ob er es war?“, fragte er schon ein bisschen ruhiger.

„Wenn du willst.“

„Bitte.“

„Ich schicke Rave los. Er ist schneller und kommt weiter.“

„Tu das bitte gleich.“

Sie rief ihren Raben zu sich. Der hatte auf seiner Stange gesessen, den Kopf unter einem Flügel verborgen. Jetzt flatterte er auf ihren Arm und sie flüsterte ihm ein paar Worte zu. Dann krächzte er, hob ab und flog durch das kleine Kellerfenster davon.

„Wird Raphael ihn nicht erkennen, wenn er ihn sieht?“ Memphis war sich nicht sicher, wie weit Raves Schutz reichte.

„Nein, meine Zauber für ihn wirken bei jeder Art von Lebewesen.“ Da Raven einer ausgestorbenen Art angehörte, war es gefährlich für ihn, draußen herumzufliegen. Hayley wollte es ihm aber nicht verwehren, also hatte sie einen Zauber um ihn gelegt, der seine Gestalt von einem Schwarzbunten zu einem normalen Raben tarnte, sobald er die Grenze von Green Manor überflog. Auch Leute, die ihn von außerhalb auf dem Grundstück sahen, sahen nur einen normalen Raben.

„Wann wird er zurück sein?“, wollte Memphis ungeduldig wissen.

„Du musst ihm schon etwas Zeit geben.“

Er fuhr sich nervös durchs Haar. Hoffentlich findet er nichts. Hoffentlich habe ich mich getäuscht. „Ich habe noch eine Bitte.“ Er holte ein kleines Seidensäckchen aus der Tasche. „Kannst du einen Zauber darauf legen?“ Er zog eine Kette hervor. An ihr hing eine kleine Käfigkugel aus Silber, mit einem Flügel als Anhänger. In dem Käfig lag eine eisblaue Klangkugel. Sie läutete sanft ihren Ton, als Memphis sie Hayley reichte.

„Die ist aber schön. Die ist für Lilly, stimmts?“, fragte sie und sah ihn schmunzelnd an.

„Ja.“

„An welchen Zauber hast du gedacht? Einen Schutz?“

„Nein. Eine Art Rufzauber. Ich möchte, dass sie mich erreichen kann, wann immer sie will und wo immer sie ist. Ich will sie nicht verlieren.“

„Ist gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Ich danke dir.“ Er lächelte ihr zu. Hayley schien erleichtert, dass er sich etwas beruhigt hatte. Doch innerlich war Memphis noch immer aufgewühlt. Das würde sich auch nicht legen. Nicht, bis Raven wieder da war und hoffentlich keine schlechten Nachrichten brachte.

Langsam stieg Memphis die Treppen in die Eingangshalle hinauf und wurde oben von Denniz begrüßt. Er stand am Treppenabsatz und sah so unschuldig aus, dass Memphis sofort klar war, dass er was angestellt hatte.

„Was hast du nun schon wieder verbrochen?“, fragte Memphis seinen Freund mit einem Seufzen.

„Also, eigentlich war ich das nicht, wenn man es genau nimmt.“

„Ach ja? Und wer dann?“

„Ehm.“ Denniz presste die Lippen aufeinander. „Ich bring’s in Ordnung.“

„Was denn genau?“, wollte Memphis wissen. Sein Blick wurde argwöhnisch.

„Das da?“ Denniz deutete auf die offenstehende Eingangstür. Memphis folgte der Geste und seine Gesichtszüge entglitten ihm für einen Moment. Dann ging er nach draußen, um sich das Chaos genauer anzusehen.

4

Lillien

Sie hörte ein Krachen und Scheppern von draußen. Es klang, als sei irgendetwas explodiert. So schnell Lilly konnte wusch sie sich die Hände - sie hatte Mrs Thomas bei den Vorbereitungen für das Mittagessen geholfen -, dann lief sie nach draußen. Denniz und Memphis standen beide am untersten Treppenabsatz zur vorderen Veranda.

Denniz hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und sah schuldbewusst drein. Memphis stand mit verschränkten Armen neben ihm und schüttelte den Kopf. Dann fiel Lillys Blick auf den Brunnen. Ein Lachen entfuhr ihr und die beiden Jungs schauten zu ihr auf.

„Endlich“, brachte sie raus und hielt sich den Bauch.

„Ich weiß wirklich nicht, wo das witzig ist“, grummelte Memphis. Denniz warf ihr ein verstohlenes Dennizgrinsen zu. Die hässliche Fontänenfigur war nur noch ein Trümmerhaufen. Sie spritzte noch Wasser, allerdings in alle Himmelsrichtungen. Eine monströse Wurzel schlang sich kreuz und quer um ihre Reste herum. Sie war direkt aus dem Brunnen gewachsen.

Lilly gesellte sich zu ihren Freunden, betrachtete das Chaos und lachte erneut. Das neue Trümmergebilde, sah bei Weitem besser aus, als die ursprüngliche Figur.

„Das hat doch was“, scherzte sie und stieß Memphis neckisch in die Seite. Er grummelte etwas vor sich hin, während er den Steinhaufen musterte.

„Ich repariere das“, versuchte Denniz, ihn weiter zu beschwichtigen.

„Ach ja? Und wie?“

„Ich … ehm … also.“ Mehr brachte er nicht heraus.

Lilly half ihm. „Mit etwas mehr grün würde es echt hübsch aussehen. Als würde ein Baum im Brunnen wachsen.“ Beide Jungs sahen sie an. Memphis verwirrt, Denniz dankbar.

„Das krieg ich hin“, sagte Denniz freudestrahlend. „Darf ich?“, fragte er dann vorsichtig an Memphis gewandt.

„Meinetwegen. Schlimmer kann es ja nicht werden.“

Denniz trat vor und legte eine Hand auf die riesige Wurzel. Sekunden später sprossen überall kleine Ästchen, die immer weiter wuchsen und sich verzweigten. Dann wuchsen auch kleine Blätter an den Enden und zum Schluss sah es so aus, als würde tatsächlich ein Baum im Brunnen stehen.

Die Äste hielten die ursprüngliche Fontäne davon ab, zu weit zu spritzen, denn jetzt tropfte das Wasser an einzelnen Zweigen runter und zurück in den Brunnen. Die Trümmer der Figur bildeten einen schönen, fast natürlich aussehenden, Steinhaufen um den Baum herum.

Lillys Augen weiteten sich. „Denniz, das ist der Wahnsinn!“

„Danke.“ Er grinste breit und trat zurück.

„Memphis, guck dir das an. Echt mal, das ist so viel besser als vorher.“ Lilly war wirklich begeistert, von Denniz’ Werk.

Memphis musterte die neue Gartendekoration. „Es hat was. Zugegeben.“

„Lassen wir es?“, fragte Denniz hoffnungsvoll. Memphis schwieg einen Moment, dann stieß Lilly in wieder sanft in die Seite. Er schaute sie an und sie lächelte aufmunternd.

„Ja okay“, gab er schließlich nach und ließ die Arme sinken, wobei er eine Hand um ihre Taille legte und die andere in seiner Hosentasche vergrub. „Das Ding war eh alt.“

„Und hässlich“, fügte Lilly an.

„Es war nicht hässlich!“, protestierte Memphis.

„War es“, sagten sie und Denniz gleichzeitig.

Memphis lachte auf und die beiden stimmten ein, als er meinte: „Kein Sinn für Kunst.“

Nach dem Brunnenunfall lief der Tag so vor sich hin. Jeder ging etwas anderem nach. Lilly verzog sich in den Stall, nachdem sie mit der Köchin das Mittagessen beendet hatte. Da sie keinen Hunger hatte, ließ sie das Essen aber ausfallen.

Im Stall standen vier Pferde. Auch eine Neuerung, die Lilly mitgebracht hatte, wenn man das so sagen wollte. Auf ihrer damaligen Erkundungstour durch das Haus und die anliegenden Gebäude, war ihr ein halb verfallenes Gemäuer aufgefallen. Es war keine Ruine, aber auch nicht in bestem Zustand gewesen. Beim Betreten hatte Lilly gesehen, dass es sich um alte Stallungen gehandelt hatte.

Es gab fünf große Boxen auf jeder Seite. Eine Sattelkammer und einen Heuboden. Das Dach war löchrig gewesen und die Türen und Fenster undicht oder ganz kaputt. In einer der Boxen hatte Lilly einen Führstrick aus Leder gefunden. Er war alt und verwittert gewesen und hatte sich rau unter ihren Händen angefühlt. Sie hatte ihn mit ins Haus genommen und die Jungs nach dem Stall gefragt.

„Wir hatten vor vielen Jahren mal Pferde. Sie gehörten zum Nachlass. Irgendwann sind sie gestorben und wir haben keine Neuen gekauft. Seitdem steht der Stall leer“, hatte Memphis erklärt.

„Ich wollte damals wieder welche haben, aber der Hausherr hat nein gesagt“, hatte sich Hayley beschwert. Denniz war der Meinung gewesen, man könne ja jetzt wieder welche halten. Lillys Augen hatten angefangen zu leuchten bei der Vorstellung. Zumindest hatte Memphis ihr das später erzählt.

Er hatte den Ausdruck gesehen und nur kurz überlegt. „Dann brauchen wir einen Stallmeister.“

„Das heißt heute Pferdewirt.“ Denniz hatte den Kopf geschüttelt und die Augen verdreht.

„Dann brauchen wir eben einen Pferdewirt“, hatte Memphis sich verbessert.

„Und einen süßen Stalljungen“, hatte Hayley grinsend angefügt.

„Sagst du ja?“, hatte Lilly gespielt quengelig wissen wollen.

„Meinetwegen“, war seine leicht seufzende Antwort gewesen, auch wenn er sich ein Lächeln nicht hatte verbeißen können.

Lilly hatte einen kleinen Satz in die Luft gemacht, die Distanz zwischen ihnen mit zwei schnellen Schritten überbrückt, ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt und ihm ein Danke ins Ohr gehaucht. Wobei sie selbst von einem zum anderen gegrinst hatte.

„Da muss nun erst eine Neue kommen, damit hier mal Veränderungen stattfinden“, hatte sich Hayley erneut beschwert, dabei aber gelächelt. Zwei Wochen später war der Stall grundsaniert und Lilly von Motorengeräuschen geweckt worden. In Windeseile hatte sie sich angezogen und war hinausgerannt. Vor dem Haus hatten zwei große Pferdetransporter gehalten.

Memphis war schon dabei gewesen, beim Ausladen zu helfen. Mit geübter Hand hatte er gerade ein großes Englisches Vollblut aus einem der Hänger geführt. Das Tier war von dunklen Braun und seine Augen glänzten neugierig. Ein Mann hatte Memphis die Zügel abgenommen und das Pferd auf eine der großen Rasenflächen neben der Auffahrt geführt. Dort war eine Weide entstanden. Die Fläche grenzte an die Stallungen und war früher schon zu diesem Zweck genutzt worden.

Memphis war wieder im Trailer verschwunden und hatte das zweite Pferd geholt. Ebenfalls ein Englisches Vollblut. Allerdings eine Fuchsstute. Sie war etwas kleiner als ihr Artgenosse und schien ein ruhigeres Wesen zu haben. Denniz hatte sich zu Lilly gesellt und die Arbeit der Männer mit beobachtet. Dann war der zweite Trailer geöffnet worden.