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Die 17 jährige Faylinn hat eine schwere Zeit hinter sich. Von den Eltern verstoßen, in eine Irrenanstalt gesteckt und allein gelassen, hat sie nur noch ihre Schwester, der sie vertrauen kann. Bis sich auf einmal alles ändert, als sie erfährt, dass sie eine Mentalmagierin ist. Sie kann allein mit ihrer Vorstellungskraft, Magie wirken, was sie zur angehenden Hüterin einer Anders-Welt macht. Magier des Weave holen Fay zu sich, damit sie ihre Ausbildung antreten kann. Sieben Jahre sollte die Lehre dauern, doch diese Zeit bleibt ihr nicht mehr. Denn Wisteria - ihre Anders-Welt - steht kurz vor dem Untergang und mit ihm, drohen schreckliche Gefahren für das gesamte Weltennetz, die nur Faylinn noch abwenden kann. Dafür muss sie jedoch lernen, wieder zu vertrauen und andere an sich heranzulassen. Denn diese Herausforderung kann sie nicht allein meistern. Kann Fay innerhalb kürzester Zeit lernen, eine Hüterin zu sein? Kann sie es schaffen, anderen erneut ihr Vertrauen zu schenken und damit die unerwartete Hilfe zu lassen, die sich ihr bietet? Und kann sie am Ende trotz aller Widrigkeiten ihre Anders-Welt retten?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
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Stefanie Worbs
Faylinn
Komplettband
Erstes Buch - Auf Weave Mansion
Zweites Buch - Wisteria - Die Hüterin
Faylinn
-
Hüterin der Türen
Erstes Buch
Auf Weave Mansion
Prolog
Mein Name ist Faylinn, aber alle nennen mich Fay. Ich bin 17 und habe keine Eltern mehr, zumindest in meinem Kopf. Und wenn ich auf die Frage antworten müsste, ob ich Freunde habe, würde ich sagen: „Na ja, vielleicht keine Freunde. Eher gute Bekannte. Wenigstens was die Menschen angeht.“
Bevor ihr jetzt aber denkt, oh das arme Mädchen, ihr geht’s bestimmt schlecht, weil sie niemanden hat, ich habe durchaus noch jemanden. Meine kleine Schwester Lia nämlich, die ich über alles liebe. Sie ist mein Leben und wer es auch nur wagt daran zu denken, ihr etwas Böses zu wollen, ich wüsste nicht, was demjenigen noch helfen könnte. Obwohl ich ja sonst kein Freund von Gewalt bin. Überhaupt nicht.
Lia und ich leben seit ein paar Wochen auf Weave Mansion. Das ist ein Internat für magiebegabte Kinder und Jugendliche. May und Deaken Rivers haben uns beide aus der Irrenanstalt geholt, in die unsere Eltern uns gesteckt hatten, weil wir angeblich verrückt waren. Aber das sind wir nicht. Wir haben nur mehr Fantasie als die meisten Menschen und das gibt uns die Fähigkeit, übernatürliche Dinge und Wesen zu sehen. Wie Ava und Meryl zum Beispiel. Eine Leprechaun und eine Fee. Tja, meine Eltern fanden unsere Geschichten über die beiden allerdings überhaupt nicht witzig und ihre Konsequenz war die Anstalt. Zum Glück kamen aber die River Geschwister und nun lernen Lia und ich auf ihrem Internat in Schottland, mit Magie umzugehen.
Meine kleine Schwester hat nebenher noch richtig Schule mit Mathe, Geschichte und allem drum rum. Ich bin aber schon in der Ausbildung zur Hüterin, denn ich soll später mal eine Anders-Welt beschützen. Mein offizieller Titel soll Hüterin der Türen werden, auch wenn wir nicht auf die Türen, sondern auf die Welten dahinter aufpassen. Damit werde ich eine enorme Verantwortung tragen, aber auch eine Menge coole Sachen anstellen können.
Hüter haben nämlich ihre ganz eigene Magie. Im Groben kann man sagen; was wir uns vorstellen, wird wahr. Wenn ich später in meiner Anders-Welt bin und zum Beispiel Hunger habe, kann ich mir einfach einen Apfel vorstellen und ihn so real werden lassen. Das geht wirklich mit allem. Ich könnte sogar Tote wiedererwecken und ich kann selbst nicht sterben, wenn ich dort bin. Ist das nicht krass?
In Wisteria bin ich dann quasi allmächtig. Aber eben genau das bringt dann auch die Verantwortung mit sich. Dummheiten, Fehler und Unachtsamkeit haben keinen Platz im Leben eines Hüters. Wir schützen die Welten und das ist wirklich wichtig, damit keine Katastrophen im Weave geschehen.
Ich bin so gespannt auf meine Anders-Welt. Wisteria. Ava hat mir schon mal, verbotenerweise, die Tür zu dieser Welt gezeigt und sie auch für geöffnet. Ich habe heute noch Träume von dem wunderschönen Wisteria-Wald, der hinter der Mooreichentür gelegen hatte.
Wie gerne würde ich sofort wieder hin. Aber vor mir liegen noch sieben Jahre strengste Ausbildung. Trotzdem, ich bin so gespannt darauf, wie es sein wird, durch die Tür zu gehen. Auch wenn später mal viel Verantwortung auf mir liegen wird, bin ich mir sicher, dass ich das schaffen werden.
Mit viel Spaß, Magie und vor allem Fantasie.
1
„Komm schon, Lia. Wir müssen los!“, rief ich meiner kleinen Schwester zu, denn sie trödelte noch im Bad herum. „Das schaffen wir nie in fünf Minuten.“ Ich konnte nur den Kopf schütteln. Nicht dass es schlimm gewesen wäre, wenn wir zu spät kamen. Aber auch die Professoren von Weave sahen es nicht gerne, wenn man in den angefangenen Unterricht platzte.
„Ich komm ja schon“, murrte sie und schleppte sich aus dem Bad. „Ich hab keine Lust auf Sport.“
„Dann guck eben nur zu. Wir müssen trotzdem los. Ich habe nämlich Lust auf Raum-Zeit“, sagte ich und zog auffordernd die Augenbrauen hoch.
Lust auf Schule war seltsam für mich, denn normalerweise konnte ich Lernen nicht ausstehen. Zumindest was die Otto Normal Schule angegangen war. Seit ich auf Weave war, hatte sich das schlagartig geändert. Was größtenteils daran lag, dass ich eben kein Bio oder Chemie mehr hatte. Mein Lieblingsfach war Magie. Dort lernten wir, wie wir unsere Kräfte einsetzen konnten. Heute nach Raum-Zeit würde ich eine Tripel-Stunde Magie haben. Einzel- oder Doppel-Stunden würden bei dem, was gefordert wurde, nicht ausreichen.
Endlich hatte Lia alles beisammen und wir machten uns auf den Weg. Die Turnhalle lag im hinteren Teil der Mansion und ihre Mitschüler waren schon fast alle umgezogen.
Ein Stöhnen drang an mein Ohr, also drehte ich mich zu Lia um. „Was ist denn?“, fragte ich, schon leicht genervt, denn den Anfang meiner Stunde würde ich jetzt definitiv verpassen.
„Ich hab meine Sporttasche vergessen“, gab sie zu, verdrehte aber selbst genervt die Augen. Ich musste grinsen. Ob Absicht oder nicht, sie schaffte es immer mich aufzuheitern.
„Dann geh eben so und sag deinem Lehrer Bescheid. Heute wird’s mal gehen.“
„Okay.“ Sie kam herüber und drückte mich kurz. „Viel Spaß bei Magie nachher“, grinste sie zu mir nach oben und ich wusste, dass sie auf Deaken anspielte. Sie mochte meinen Professor für Magie wirklich sehr. Er hatte sie damals immer in der Anstalt besucht und die beiden hatten einander ins Herz geschlossen.
„Ich werde ihm Grüße von dir bestellen“, grinste ich zurück und machte mich los. Sie lief an mir vorbei und in die Turnhalle. Ich seufzte und machte mich auf zu Raum-Zeit. Mein Weg war nicht allzu weit. Ich durchquerte den Indoor-Garten und trat auf den Fahrstuhl zu. Er verband alle vier Stockwerke und den Keller der Mansion oder besser die Klassenräume. Sicher, die Treppe hätte es auch getan, doch der Lift hielt genau in den Klassenzimmern.
Der Aufbau der Mansion war immer wieder faszinierend. Man betrat sie durch ein prachtvolles Eingangsportal. Große Durchgänge führten rechts in eine Bibliothek und links zu den Aufenthaltsräumen der Schüler. Von diesen ging es über weitere Treppen zu den privaten Zimmern. Von der Bibliothek aus führte eine Treppe zu den Büros und Zimmern der Professoren. Vom Portal gesehen geradeaus kam man zum Fahrstuhl und der Treppe, die sich etwas seitlich rechts neben dem Aufzug befand. Dahinter ging es durch den Indoor-Garten zur Turnhalle, der Küche mit Speisesaal und den Außenkampfplätzen. Diese wiederum grenzten an einen riesigen Garten, der, neben einem Heckenlabyrinth, auch einen kleinen Wald am hinteren Ende besaß.
Die Schüler munkelten immer, dass es im Wald Fabelwesen gäbe. Keiner war sich sicher. Das Einzige was ich wusste, war, dass dort Fenixe lebten. Kleine, diebischer Erdgeister. May hatte mir von ihnen erzählt. Aber gesehen hatte ich noch keinen. Überhaupt hatte ich noch keine Fabelwesen gesehen, außer Ava und Meryl. Ein bisschen wünschte ich mir schon, mal einem zu begegnen, doch große Hoffnungen machte ich mir nicht. Sie hielten sich von Menschen fern und ich war einer.
Im Garten fand sich auch ein mega großer Pool mit Bar und allem was dazugehörte und eine große Rasenfläche für Freizeitaktivitäten. Die Mansion hatte viele Angestellte, die sich um alles kümmerten, doch auch sie sah man nie, bis auf die Köche und die Bedienung im Speisesaal. Nicht mal den Gärtner oder den Poolboy. Schon seltsam.
Der Aufzug kam nun und die Türen glitten auf. Ich stieg ein und hielt meine Schlüsselkarte vor den Scanner, dann drückte ich die Vier für das Klassenzimmer von Raum-Zeit. Ohne so eine Schlüsselkarte konnte man den Fahrstuhl und bestimmte Türen nicht nutzen. Eine Sicherheit, denn ab und zu waren auch nichtmagische Leute hier. Und die mussten nichts von den fantastischen Räumen wissen. Die Türen glitten zu, doch kurz bevor sie sich ganz schlossen, schob sich eine Hand dazwischen und die Notbremse sprang an. Ich seufzte abermals.
Zu spät, zu spät, zu spät,ging es mir in einem Singsang durch den Kopf.
Deaken und ein mir unbekannter Mann stiegen ein. Das war komisch. Mittlerweile kannte ich alle Professoren oder Lehrkräfte und was sonst sollte der Fremde sein?
Er hatte ebenfalls eine Schlüsselkarte und hielt sie vor den Scanner, dann drückte er die Taste mit der Zwei. Mythen und Legenden. Deaken stellte sich nur neben mich. Kurz war ich verwirrt, weil er ja in die Kellerräume gehörte. Also nicht weil er dahin gehörte, sondern weil das Klassenzimmer für Magie dort war.
Er erklärte es, noch bevor ich fragen konnte. „Hallo Fay. Du hast Raum-Zeit? Ich komme mit.“
Ich nickte. „Ja. Heute kein Magie?“, fragte ich zurück und runzelte die Stirn.
„Doch. Aber ich muss vorher was mit Professor White klären.“
Ich nickte wieder. Der Fremde stieg in Mythen und Legenden aus, hob kurz die Hand Richtung Deaken, dann gingen die Türen wieder zu.
„Wer war das?“, wollte ich wissen und sah Deaken fragend an.
„Professor Zoel. Er ist euer neuer Lehrer für Mythen.“
„Was ist denn mit May?“, hakte ich nach, denn normalerweise hielt sie die Stunden ab.
„Sie ist im Moment etwas zu beschäftigt. Aber keine Sorge, sie macht weiter. Zoel übernimmt nur ein paar ihrer Stunden.“
„Ah ja. Schöne Grüße übrigens von Lia. Sie macht mich fertig mit ihrem Gerede über Magie. Es wird Zeit, dass sie es als Pflichtkurs bekommt.“ Ich stöhnte gespielt. Lia ging mir tierisch auf den Geist mit Magie. Nicht nur, weil sie Deaken so gern hatte, sondern auch, weil sie total verrückt danach war zu zaubern. Das wiederum war die größte Schmach für mich gewesen. Denn kurz nach unserer Ankunft hier war Lias Magie erwacht. Ja, meine kleine Schwester konnte zaubern. Sie konnte es hier in der Menschenwelt und ich nicht. So was Unfaires. Das erklärte jedoch, warum May und Deaken sich am Ende so sehr beeilt hatten, uns noch rechtzeitig aus der Anstalt zu bekommen.
Sie hatten gewusst, dass Lia Kräfte besaß und wollten um jeden Preis verhindern, dass sie erwachten, bevor Lia auf Weave Mansion war. Es war wirklich knapp gewesen. Normalerweise erwachte die Magie in Menschen ungefähr im Alter von acht oder neun Jahren. Lia war mit ihren zehn also schon drüber gewesen. Doch sie hatte sowieso bei allem die Ruhe weg, warum also nicht auch dabei?
Sie war das komplette Gegenteil von mir. Mir konnte nichts schnell genug gehen. Ausdauer? Pah!
Ein Fremdwort für mich. Außer beim Zeichnen. Das war das Einzige, was mich stundenlang beschäftigen konnte. Mit Zeit vergessen und allem ringsherum.
„Sie ist wirklich begabt.“, meinte Deaken und schaute auf die Anzeige der Stockwerke. „Vielleicht werde ich sie für einen Sprung vorschlagen.“
„Einen Sprung?“
„Sie könnte eine Klasse überspringen. Also nur für Magie. Sie würde in ihrer Stufe bleiben, es aber als Pflichtkurs bekommen.“
„Geht das denn?“
„Sicher. Gegen Ende der Lehrzeit hat fast kein Schüler mehr genau die Kurse, die er in dem Jahrgang haben sollte, in dem er ist. Einige hängen hinterher, andere sind vornweg. Wir versuchen, alle so individuell zu fördern, wie es geht.“
„Cool.“ Auch ich schaute nun auf die Anzeige. Eine Vier erschien und die Türen glitten auf. Deaken gab mir den Vortritt und ich betrat das Klassenzimmer für Raum-Zeit. Es raubte mir immer wieder den Atem. Alle Klassenräume hatten denselben Aufbau, waren aber unterschiedlich hergerichtet. Raum-Zeit war mit Abstand der Beeindruckendste.
Der Saal war rund und fiel zu einer Seite ab wie ein Miniamphitheater. Hinter dem Tisch, an dem der Professor seinen Platz hatte, war eine Leinwand angebracht. Die runden Wände daneben sahen aus, als wären sie aus Steinen gemauert, doch die waren nur als Dekoration an die Wand gebracht worden. Es waren echte Onyxe und Aventurine. Ihre Farben schimmerten zwischen nachtschwarz und wunderbar dunkelgrün. Einige Steine hatten goldene Sprenkel und sie alle glänzten leicht im Lichtschein.
Die beiden Dekowände zogen sich vielleicht zehn Fuß nach links und rechts, dann begannen Regalreihen mit unzähligen Büchern. Die Minibibliothek verlief ungefähr in sieben Fuß Höhe vom Boden aus in einer Art Galerie an den Wänden entlang und ein Mal herum. Sie wurde von einem hüfthohen Geländer vom Miniamphitheater getrennt und maß vielleicht drei Schritte von den Regalen zum Geländer. Zwei Treppen führten zum Professorenpult hinab. Eine links, eine rechts.
Der Fahrstuhl lag etwas weiter seitlich der Rechten. Ich ging auf sie zu, stieg vier Stufen runter und ließ mich auf einen Platz fallen. Dyllan saß auch in dieser Reihe, schenkte mir aber keine Beachtung. Er schaute abwesend zu Professor White und war offensichtlich mit den Gedanken woanders. Deaken lief zu seinem Kollegen und lenkte ihn kurz ab.
Ohara drehte sich zu mir nach oben und warf mir einen geringschätzig Blick zu. „Du hältst nicht viel von Pünktlichkeit, was?“, giftete sie und verengte die Augen. Was wollte die denn jetzt?
Sie kam selbst oft genug zu spät. Ich hob meine Hand und zeigte ihr symbolisch den Ring an meinem Mittelfinger, Handrücken zu ihr. Ihre Augen verengten sich noch mehr. In dem Moment kam Deaken wieder hoch und hielt bei mir an. Sein Blick glitt von Ohara zu mir. Meine Hand war schon wieder unten, also hatte er meine Geste zum Glück nicht gesehen.
„Fay, du machst heute nur eine Stunde Raum-Zeit. Komm dann runter zu Magie.“
„Öhm, okay“, brachte ich nur heraus. Nur eine Stunde Raum-Zeit, verdammt. Ich würde wieder Stoff nachholen müssen.
Er legte mir kurz eine Hand auf die Schulter und lächelte. Wieder glitt sein Blick zu Ohara, die mich anfunkelte, den Blick aber sein ließ, als sie seinen bemerkte. Sie wandte sich nach vorn und er ging.
Gerade waren die Aufzugtüren zugegangen, da wandte sie sich abermals um. „Du Flittchen!“, schoss sie leise zu mir, dann drehte sie sich zurück und ich konnte sehen, wie sie die Arme vor der Brust verschränkte und dumm tat. Bitte? Flittchen? Was? Wie war die denn drauf?
Ich meine, wir hatten uns noch nie gut verstanden, aber echt mal, wir hatten auch noch nie wirklich Kontakt. Hatte ich ja immerhin zu keinem von denen hier. Hüter unter sich halt.
„Was ist dein Problem“, fauchte ich und beugte mich zu ihr runter, damit nicht alle mithörten. Sie drehte sich wieder zu mir, in ihren Augen stand der pure Neid. Sie war neidisch? Auf mich? Warum?
„Ich seh doch, wie du dich Deaken an den Hals wirfst!“
Bitte was tat ich?
Mein Blick musste das auch gesagt haben, denn sie zischte weiter. „Jeder hier sieht das! Glaubst du etwa, das fällt nicht auf? Ständig hängst du ihm am Hemdsärmel!“
Oh ... mein ... Gott. Sah das wirklich so aus? Himmel, nein! Da war was komplett falsch rübergekommen! Okay, wir redeten ab und an, aber meist über Lia oder den Unterricht.
„Ich hänge ihm nirgendwo dran! Erzähl nicht so einen Scheiß!“
„Ach nein? Warum bist du dann ständig im Keller? Oder in der Bibliothek? Oder im Wintergarten? Du bist ständig da, wo er auch ist! Halt mich nicht für blöd, Waters!“
Ich konnte nicht mehr tun, als sie anzustarren, während sie meinen Blick festhielt, dann endlich schaffte ich es, zu verarbeiten, was sie eben gesagt hatte. „Ich bin im Keller, weil ich Extrastunden in Magie bekomme, das weiß jeder! Und ich lerne. Dazu braucht man Bücher und die stehen nun mal in der Bibliothek! Im Wintergarten bin ich, weil da das Licht am besten ist und nicht, weil er da rumhängt!“, fauchte ich zurück. Mir war auch ehrlich gesagt gar nicht aufgefallen, dass er da war. Warum auch? Ich ging da zum Zeichnen hin, nicht um mich außerhalb des Unterrichts mit meinen Professoren zu treffen.
„Ihr duzt euch!“, zischte sie eine weitere Anschuldigung.
Gut, das war eigentlich keine Anschuldigung. Es stimmte. Waren wir allein, duzten wir uns. Aber nur, weil wir uns auch privat kannten, durch die Anstalt und so. Außerdem war Deaken gerade mal Mitte 20 und fand es doof gesiezt zu werden.
„Und was wolltest du gestern im Professorenflügel?“, giftete sie weiter.
„Gott, stalkst du mich?“
„Was wolltest du da, Waters?“, fragte sie noch mal.
„Ich war bei Professorin Rivers. Sie hat mir ein paar Aufzeichnungen über meine Anders-Welt gegeben! Hörst du mal auf, mir was andichten zu wollen!“
Wieder funkelte Ohara mich nur böse an. Doch endlich schienen ihr die Anschuldigungen auszugehen. Ein letzter Blick und sie drehte sich wieder nach vorn. Ich ließ mich zurücksinken und schloss kurz genervt die Augen. Gott, die hatte Probleme.
„Sie hat recht“, kam es von der Seite und ich bemerkte erst jetzt, dass Dyllan aus seinen Gedanken aufgetaucht war. Er sah mich an, doch in seinen Zügen stand keine Abneigung oder Ähnliches. Ehrlich gesagt, war er meist recht teilnahmslos und neutral.
„Mit was denn?“, fauchte ich leise und warf ihm einen bösen Blick zu.
„Du bist immer da, wo auch er ist. Allerdings ist deine kleine Schwester schlimmer.“ Jetzt grinste er doch. Ich konnte nicht anders und musste ebenfalls lächeln. Lia war außerhalb der Schule tatsächlich ziemlich oft da, wo Deaken war. Sie hatte eben einen Narren an ihm gefressen.
„Ich hab echt keinen Plan, was ihr meint“, hielt ich fest und Dyllan schüttelte nur leicht amüsiert den Kopf. Dann richteten wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf Professor White. Kurze Zeit später stand er bei mir und riss mich aus meinem Kapitel über Zeitverschiebung. Wir sollten es lesen und uns Notizen für einen Vortrag machen.
„Faylinn.“
Ich schaute auf und sah die Aufforderung zum Gehen in seinem Blick. Ich nickte und packte meine Sachen zusammen. Ohara warf mir erneut einen fiesen Blick über die Schulter zu, als ich aufstand und zum Fahrstuhl ging. Ich ignorierte sie, war allerdings gespannt, was da noch draus werden würde. Nur gut war ich gegen Gerede immun. Ich hatte es auf meiner alten Schule lange genug aushalten müssen. Lass sie reden und sie werden verstummen war mein Motto geworden.
Ich hielt die Schlüsselkarte vor den Scanner und drückte die Taste für den Keller. Die Türen glitten zu und der Lift hinab.
2
Der Keller, oder besser das Klassenzimmer für Magie, war das Einzige, was nicht wie ein Miniamphitheater aussah. Es umfasste genau genommen sogar sehr viele Räume. Türen gab es aber nicht, bis auf die eine vom Treppenaufgang hier rein. Es waren viele Zimmer, die durch kurze Wände getrennt waren. Ein Raum führte in den nächsten und man hätte sich locker verlaufen können ohne den Hauptweg, der sich zwar auch schlängelte, aber durch Symbole an den Wänden gekennzeichnet war. Wenn man den fand, fand man auch wieder raus.
Einmal hatte ich mich kurz verlaufen. Echt peinlich. Das wusste aber keiner. Nicht mal Lia. Die Räume zogen sich unter dem gesamten Haus entlang und ich vermutete, dass sie auch unter dem Garten weitergingen. Denn zu dieser Seite hin, gab es wesentlich mehr und größere Zimmer.
Kurz stand ich unentschlossen da, weil ich nicht wusste, wo Deaken heute üben wollte. Jeder Raum hatte eine andere Mana-Struktur, die man anders nutzen konnte, weil in den verschiedenen Anders-Welten ebenfalls verschiedene Mana-Strukturen vorherrschten. Ich entschied mich für den Hauptraum und lief los.
Kurz darauf stand ich im größten Raum. Hier war die Kraft fast physisch greifbar. Deaken war noch nicht da, also ließ ich meine Tasche auf einen Tisch fallen und setzte mich daneben auf die Platte. Ich hob eine Hand und ließ Funken blitzen. Das war es. Hier konnte ich auch zaubern und pure Freude durchströmte mich. Diese Räume waren der einzige Ort, an dem auch Hüter Mana-Magie nutzen und damit ihre Hütermagie trainieren konnten. Zwar war ich noch in der Ausbildung, doch zaubern gehörte dazu, denn irgendwie würde ich meine Anders-Welt später ja schützen müssen.
Hüter hatten als einzige Magier überhaupt die Fähigkeit, die Bilder aus ihren Köpfen lebendig werden zu lassen. Damit waren wir die stärkste Magiergruppe, die es gab. Denn wir könnten quasi alles tun. Selbst Tote könnten wir zurückholen, aber das hatte bisher kaum einer getan. Bei dem Versuch griff man in das Gefüge von Raum und Zeit ein und alles konnte sich verschieben, bis hin zu fürchterlichen Katastrophen.
Da alle Welten irgendwie miteinander verbunden waren, konnte es jede andere ebenso treffen, wenn man als Hüter nur einen magischen Fehler in seiner Welt machte. Unbeteiligte Welten konnten dadurch untergehen, was das gesamte Weave, also das Weltennetz, so erschüttern würde. Daraufhin konnte es zu weiteren verhängnisvollen Ereignissen in wieder anderen Welten kommen. Beispiel dafür waren unter anderem die Weltkriege auf der Erde. Irgendwo im Weave war damals etwas schiefgelaufen und die Menschenwelt hatte die Konsequenzen tragen müssen. Deshalb galten für Hüter auch die strengsten Regeln, was das Zaubern betraf. Und wir hatten die strengste Ausbildung, um wirklich jeden Fehler von vornherrein auszumerzen.
Meine Begabung im Zeichen half mir aber enorm beim Studium der Magie. Wenn ich malte, waren die Resultate so lebhaft, dass man meinen konnte, es wären Momentaufnahmen aus einem Film. Zu Anfang meiner Ausbildung hatte ich trotzdem Schwierigkeiten gehabt, sie auch dreidimensional aussehen zu lassen. Zum Glück hatte ich das mittlerweile ganz gut im Griff. Es war eben ein Unterschied zwischen etwas aus dem Kopf auf die Leinwand bringen und etwas aus dem Kopf wirklich real werden lassen.
Noch mal ließ ich die Funken tanzen und mischte etwas mehr Türkis hinein. Ein kleines Feuerwerk entstand knapp über meiner Handfläche und ein Lächeln stahl sich in meine Mundwinkel.
„Sehr schön“, drang Deakens Stimme an mein Ohr und schlagartig war meine Konzentration dahin.
Ich verlor das Mana und die Funken erloschen. „Man, Deaken“, stieß ich aus und verdrehte die Augen. „Kündige dich gefälligst an und schleich nicht so rein.“
„Sorry“, grinste er und kam herüber. „Komm mit, ich will dir was zeigen. Deine Tasche kannst du hierlassen.“
Ich rutschte vom Tisch und folgte ihm ein paar Räume weiter. Das Mana änderte sich und ich spürte eine mir unbekannte Struktur, als wir in einem etwas kleineren Raum anhielten.
„Das fühlt sich aber komisch an“, ließ ich ihn wissen und schaute mich um. Der Raum sah aus, als wäre er länger nicht benutzt worden. „Wo sind wir?“
„Dieser Raum hat die gleiche Mana-Struktur wie Wisteria. Ab sofort werden wir deine Übungsstunden hier fortsetzen“, erklärte er.
„Jetzt schon?“ Ich wusste ja, dass es Anders-Welten gab, die eine einzigartige Mana-Form aufwiesen und dass Wisteria dazugehörte. Doch dass ich schon in meinem ersten Jahr hier üben würde hatte ich nicht gedacht.
„Ja, jetzt schon“, meinte er. „Es gibt ein paar unerwartete Entwicklungen und wir müssen zusehen, dass du mit dem Mana hier auch zurechtkommst.“
Ich konnte Sorge in seinem Blick lesen. „Was ist denn passiert?“, fragte ich argwöhnisch aber neugierig.
„Du weißt, dass Wisteria gerade keinen Hüter hat?“, fragte er und ich nickte. Mein Vorgänger war gestorben, weshalb meine Ausbildung vorangetrieben wurde. Das hatte May mir erklärt, kurz nachdem ich hier angekommen war.
„Ja“, antwortete ich noch mal laut. „Deswegen hat Ava meinen Schlüssel.“
„Richtig. Allerdings ist sie nun mal nicht die Hüterin. Das heißt, sie kann nur beobachten und berichten. Es geht Einiges dort vor und wir brauchen mehr als einen Beobachter. Wir brauchen einen Hüter, der richtig eingreifen kann.“ Er schaute mir direkt in die Augen. „Wir brauchen dich.“
Kurz fehlten mir die Worte. Die normale Ausbildung dauerte bis zu sieben Jahre. Meine würde unter Umständen kürzer ausfallen, weil eben Not am Mann war, aber ehrlich mal, ich hatte gerade erst ein Viertel des Schuljahres rum.
„Ähm. Und was genau, soll das jetzt heißen?“, hakte ich nach und ahnte schon, was kommen würde.
„Du wirst demnächst auch in Raum-Zeit und Mythen ein paar zusätzliche Stunden bekommen. Außerdem wird dein Kampftraining vorgezogen.“
„Waaaas? Oh nein, bitte“, flehte ich, denn Kampftraining war das Letzte, was ich wollte. Ich hatte mich dieses Jahr um den Kurs drücken können, denn er war noch wahlfrei und würde erst im dritten Jahr Pflicht werden, doch Deakens Blick ließ mir keine Wahl. „Verdammt“, fluchte ich leise und schaute bedrückt zu Boden.
„Es wird schon nicht so schlimm.“
„Glaubst du. Ich hasse es jetzt schon.“ Körperliche Auseinandersetzungen waren einfach nicht mein Ding. Ich konnte verbal austeilen und argumentierte besser als so mancher Debattierer. Aber mich schlagen? Musste ich nicht haben.
„Es hat auch was Gutes“, meinte er nun und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen.
„Das glaubst auch nur du“, entgegnete ich, ohne zu wissen, was er überhaupt meinte.
„Mhh.“ Jetzt klang er nachdenklich.
„Sagst du mir, was das sein soll?“, fragte ich trotzdem und verzog das Gesicht.
„Ich weiß nicht. Wenn du schon so negativ eingestellt bist ...“
„Haha. Erzähl!“
„Nein. Lass dich überraschen. Deine erste Stunde ist übrigens schon heute Abend, soll ich dir von May ausrichten. Dein Abendessen wird sich also nach hinten verschieben.“
„Toll. Wunderbar“, grummelte ich vor mich hin. „Wird ja immer besser. Fehlt nur noch so ein Wicht von Trainer, der alles besser weiß und mich grün und blau schlägt.“
Trotz dass ich mehr gemurrt als gesprochen hatte, hatte Deaken es gehört und lachte auf. „Na los. Komm, lass uns üben. Das lenkt dich ab.“ Damit trat er in die Mitte des Raumes und baute sich auf. „Wir fangen klein an, damit du dich an das Mana gewöhnst.“
Nach einer Stunde hatte ich es immer noch nicht raus. Diese Energie war so anders. Ich konnte sie greifen und formen, aber irgendwie kam am Ende doch nur ein verzerrtes Etwas von dem dabei heraus, was ich eigentlich erschaffen wollte.
„Wieso ist das so schwer? Ich versteh das nicht“, schmipfte ich vor mich hin, als wir auf dem Rückweg in den Hauptraum waren.
„Du schaffst das schon. Es war deine erste Stunde da drin. Und vergiss nicht, dass du das Mana nur hier wirklich brauchst. In Wisteria wirst du auch ohne auskommen können.“
„Es wäre bestimmt effektiver, wenn ich dort üben könnte.“ Auf jeden Fall wäre es das. In Wisteria würde ich nämlich nur meine Vorstellungskraft und ein bisschen Geschick brauchen, um meine Gedanken mit der Magie zu verbinden. Mana war dort praktisch überflüssig für mich. Ich lernte es nur, um es im Notfall nutzen zu können, sollte meine Hütermagie mal versagen. Was kaum vorstellbar war.
„Wäre es. Aber du darfst noch nicht durch die Tür“, hielt Deaken fest.
„Ich könnte den Hüterschwur ablegen.“
„Aber den Test würdest du nicht bestehen.“
Ich wollte noch fragen, was denn genau überhaupt geprüft wurde, doch da waren wir schon im Hauptraum, wo meine Klassenkameraden warteten. Oharas Blick verfinsterte sich sofort und mir fiel wieder ein, was sie gesagt hatte. Kurz huschte mein Blick zu Deaken - ab jetzt Professor Rivers - und dann zu ihr zurück. Ich nahm mir vor, aufzupassen, ob sie recht hatte und er und ich wirklich immer in der Nähe des anderen waren. Wenn ja, dann war es jedenfalls nicht, weil ich es darauf anlegte.
Mir kam ein Gedanke. Bedeutete es vielleicht, dass er es tat? Aber warum sollte er?
So ein Quatsch. Das war sicher nur Zufall. Weave Mansion war zwar groß, aber so viele gemeinschaftliche Aufenthaltsmöglichkeiten gab es nicht. Da konnte es immer wieder passieren, dass man sich über den Weg lief. Speziell, wenn man hier auch wohnte. Was ihn und mich einschloss.
Deaken begann die Stunde und ich folgte seinen Anweisungen wie immer penibel. Hier klappte es besser. Das Mana in diesem Raum war ein Gemisch aus allen. Wir konnten frei wählen. Wisterias Magie spürte ich allerdings nicht. Die ersten beiden Stunden vergingen schnell und die dritte war dann endlich still. Denn diese nutzten wir immer zum Meditieren. Keiner sprach mehr oder fluchte, weil etwas nicht klappte. Jeder konzentrierte sich auf sich.
Mein Magen knurrte peinlich laut und ich konnte spüren, wie mein Gesicht rot wurde. Ich öffnete die Augen und warf einen verstohlenen Blick in die Runde. Einige waren so tief versunken, dass sie es gar nicht mitbekommen hatten, andere hatten es sehr wohl gehört. Dyllan grinste breit mit geschlossenen Augen, Ohara verdrehte ihre hinter den Lidern und Deaken lächelte amüsiert. Als mein Blick auf ihn fiel, öffnete er seine Augen und schaute zu mir.
Ich versuchte einen fragenden Blick und er nickte leicht. Also stand ich auf, holte leise meine Tasche und verließ den Keller. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich eine gute halbe Stunde zu früh beim Essen sein würde, aber das Magietraining machte echt Hunger und immerhin hatte ich schon eine Stunde vornweg gehabt.
Der Speisesaal war noch leer, doch die Bedienung befüllte schon die Ausgabe, also schnappte ich mir ein Tablett und suchte mir eine Vorspeise aus. Ich entschied mich für einen kleinen Caesarsalat mit extra Dressing. Am Ende der Ausgabe holte ich mir noch eine Cola und ging zu unserem Stammtisch an den großen Fenstern, die zum Garten hinaus zeigten. Das Wetter war umgeschlagen und Regentropfen trommelten nun gegen die Scheibe.
Ein leiser Gong ertönte, als die Stunde endete und nach und nach kamen andere Schüler herein, holten sich etwas zu essen und verteilten sich auf die vielen freistehenden Tische. Es dauerte nicht lange und Lia kam angelaufen. Sie ließ sich mir gegenüber auf ihren Platz fallen und schnappte sich ein Croûton von meinem restlichen Salat.
„Hey, das sind meine!“, empörte ich mich gerade, als sich eine zweite Person neben mir auf den Stuhl fallen ließ. Eine größere Hand stahl sich ebenfalls ein Croûton und Lia lachte. Mir wurde für einen Moment anders, denn da saß tatsächlich wieder Deaken neben mir.
Verdammt. Mein Blick schnellte durch den Raum zum Tisch, an dem für gewöhnlich Ohara saß. Und sie tat es natürlich auch heute. Ihr Blick hätte mich töten können. Einen schnellen Rundumblick werfend fiel mir auf, dass auch andere schauten, doch sie drehten sich weg, sobald mein Blick ihre traf. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Teller.
Auch Deaken hatte sich umgesehen, allerdings dachte er wohl, ich hätte etwas Interessantes ausgemacht. „Alles klar? Was war denn da?“
„Nichts, alles gut“, antwortete ich nur.
„Ist das alles, was du essen willst? Das klang vorhin nach mehr Hunger“, feixte er.
Um ehrlich zu sein, war mir der Appetit gerade etwas vergangen. „Ähm, nein.“ Ich stand auf und schaute fragend zu Lia. „Willst du was? Ich hole es dir.“
„Pommes“, antwortete sie knapp. „Und eine Brause. Die Rote.“
„Alles klar.“ Ich nahm mein Tablett und machte mich erneut auf den Weg zur Ausgabe. Ein wenig hatte ich das Gefühl, dass mir Blicke quer durch den Saal folgten. Ich ignorierte es und holte Lia ihre Pommes mit extra viel Majo und die rote Brause. Für mich nahm ich ein Sandwich mit Huhn. Mehr würde nicht gehen. Zurück am Tisch hörte ich gerade noch, wie Deaken meiner Schwester von meinem Magenknurren erzählte. Beide lachten, als ich mich setzte und sahen mich breit grinsend an. Ich stellte meiner Schwester die Pommes hin und diesmal stahl Deaken sich etwas von ihr. Beim an den Tisch rücken versuchte ich, unauffällig ein Stück Abstand zwischen mich und ihn zu bringen. Dummerweise war ich selten erfolgreich im unauffällig sein und so bemerkte er es.
Seine Augen verengten sich verwirrt, als er mich ansah und von seiner Pommes abbiss.
Ich bemühte mich um einen unschuldigen Blick und begann, an meinem Sandwich zu knabbern. Im Augenwinkel sah ich, wie er sich abermals im Saal umschaute.
Dann wandte er sich an uns. „Ich werd mir auch mal was holen. May ist da. Wir sehen uns.“ Damit stand er auf und ging davon.
„Was war das denn?“, fragte Lia und schüttelte missbilligend den Kopf.
„Was war was?“ Ich wusste natürlich, was sie meinte. Aber man kann’s ja mal versuchen.
„Stinkt er oder was?“
„Lia!“, wies ich sie zurecht und schüttelte ebenfalls den Kopf.
„Na ist doch wahr. Du bist abgerückt, als würde er übel riechen.“
„Ich wollte einfach nicht, dass er mir noch was vom Teller klaut“, wich ich aus und sie merkte auch das, sagte aber nichts weiter.
Wir aßen schweigend und verabschiedeten uns erneut, als der leise Gong zum Nachmittagsunterricht ertönte. Noch zwei Stunden Mythen, dann hätte ich etwas frei und dann würde mein zusätzliches Kampftraining beginnen. Super.
3
Lia ließ sich auf einen Stuhl fallen und das Tablett mit Essen auf den Tisch vor sich. Auch mein Magen knurrte, doch ich hatte gleich mein erstes Training und würde erst danach zu Abend essen können.
Ein halbes Sandwich klaute ich mir trotzdem von meiner Schwester. „Ich muss los. Wir sehen uns später. Vergiss nicht, für Geschichte zu lernen“, sagte ich und strich ihr im Gehen über den Kopf.
„Vergesse ich schon nicht“, grummelte sie und fügte an: „Viel Spaß.“ Sie grinste frech, denn sie wusste genau, dass ich heute nicht mehr im Ansatz Spaß haben würde.
Ich verließ den Speisesaal und machte mich auf den kurzen Weg zu den Außenkampfplätzen. May hatte gemeint, mein Trainer würde mich dort treffen. Wer es sein sollte, hatte sie mir nicht gesagt. Ich hatte allerdings auch nicht nachgefragt. Warum auch?
Ich wusste, dass ich ihn oder sie nicht würde leiden können. Meine Abneigung gegen Handgreiflichkeiten in die ich persönlich involviert sein könnte, würde schon dafür sorgen. Ich war noch ein wenig zu früh, was mich aber nicht störte. So konnte ich das Sandwich in Ruhe essen. Als es begann, kühler zu werden, fragte ich mich schon, ob das Training vielleicht doch ausfiel, doch in dem Moment hörte ich jemanden auf den Platz zu kommen. Da es schon dunkel war und der Platz auf dem ich stand, von Scheinwerfern erhellt wurde, musste ich warten, bis die Person ins Licht trat, um zu wissen, um wen es sich handelte. Deaken kam aus der Dunkelheit und trug zwei Schwerter in schwarzen Scheiden bei sich. Ich musste schlucken, denn sofort fielen mir meine Sünden ein. Von wegen was für ein Wicht mich trainieren würde und so. Upps.
Er grinste und kam näher. „Hey. Bereit?“, grüßte er und hielt mir schon eines der Schwerter hin.
„Nein, eigentlich nicht“, gab ich zu, nahm die Waffe aber trotzdem. Er stellte seine eigene Tasche ab, zog das Schwert und trat in die Mitte vom Feld. Ich schaute ihm zu, ohne Anstalten zu machen, mein eigenes zu ziehen. Einen Moment standen wir einfach da. Er in der Mitte des Platzes und kampfbereit, ich am Rand und irgendwie total ohne Lust. Er hob sein Schwert und machte eine Geste, die mich heranholen sollte. Ich seufzte und trat auf ihn zu.
„Du musst das Schwert schon ziehen, sonst wird das nichts“, meinte er und grinste wieder.
„Na ach.“ Ich zog es und warf die Scheide ein Stück Richtung Platzrand, dann schaute ich ihn wieder an. „Warum hast du nicht gesagt, dass du mich trainierst?“, fragte ich, mein Schwert hing lustlos zu Boden. Wie der Blitz kam Deaken vorgeschnellt und schlug nach mir. Instinktiv hob ich mein Schwert und Stahl traf auf Stahl. „Spinnst du? Lass das!“, ging ich ihn an und schob seine Waffe zur Seite.
„Wir sind hier, damit du lernst, dich zu verteidigen. Und ich hab nichts gesagt, weil ich wusste, du würdest versuchen, dich zu drücken.“
Oh, sieh an. Er kennt mich gut, dachte ich. Ich hätte tatsächlich versucht, ihn zu überreden das Ganze sein zu lassen. Na ja, ich würde es jetzt auch noch versuchen. Wenn er mich nicht vorher erschlug, denn sein Schwert kam schon wieder auf mich zu. Doch diesmal wich ich aus, statt zu parieren. Wieder und wieder schnellte Deakens Waffe an mir vorbei. Denn wieder und wieder wich ich einfach aus, ohne auch nur den Hauch einer Regung zur Verteidigung zu machen.
Dann ließ er sein Schwert sinken und musterte mich mit zusammengekniffenen Lippen. „Weißt du, was der Sinn von Kampftraining ist?“, fragte er schließlich.
„Schon. Warum?“, antwortete ich und versuchte unschuldig dabei zu klingen.
Er schüttelte den Kopf, sah kurz zu Boden und dann mich von unter her an. Völlig ohne Vorwarnung stieg eine kleine Schar Schmetterlinge in mir auf. Auf seinen Zügen stand ein Lächeln, was ich vorher noch nie so gesehen hatte.
Oh, verdammt.
Er trat einen Schritt auf mich zu und ich wich zurück, sodass noch immer zwei Schritte Abstand zwischen uns waren. Sein Blick wurde abschätzend und er versuchte noch einen Schritt näher an mich heranzukommen, doch abermals wich ich automatisch zurück. Er musterte mich. Sicher versuchte er herauszufinden, warum ich zurückwich.
Um ehrlich zu sein, wusste ich es selbst nicht wirklich. Vielleicht war es die Tatsache, dass wir schon wieder zusammenhingen, auch wenn es schulischer Natur war. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass die Schmetterlinge noch immer in meinem Bauch flatterten und ich mit diesem Gefühl kein Stück vertraut war.
„Ich will nicht kämpfen lernen“, versuchte ich auszuweichen und hielt seinem Blick stand.
„Aber du musst.“
„Warum denn? Ich kann mich doch mit Magie verteidigen.“
„Nicht immer. Du kennst die Regeln. Ihr dürft nur unauffällig zaubern.“
„Dann tue ich das eben. Ich habe gelesen, dass es in Wisteria auch Magier gibt. Ich gebe mich einfach als einer von denen aus.“
„Hast du auch gelesen, dass sie alle mindestens eine Waffe beherrschen?“
„Ehm.“
„Ja, ehm“, echote er mich. „Sie können sich ohne Magie verteidigen, das solltest du auch können.“
„Ich will aber nicht“, gab ich kleinlaut zu und senkte den Blick. Etwas zu lange, denn diesmal sah ich ihn nicht kommen und konnte nicht ausweichen. Ich zucke dennoch ein kleines Stück zurück, als er so plötzlich vor mir stand.
Seine Hand legte sich auf meine. Die, in der ich das Schwert hielt. „Bitte lerne es. Du musst nicht perfekt werden. Du musst dich nur wehren können.“
Mein Blick glitt von seiner Hand zu seinem Gesicht. Er machte sich Sorgen. Das stand so klar in seinen Zügen, als würde er es offen aussprechen.
Ich musterte Deaken einen Moment, dann war meine Mund schneller als mein Hirn. „Warum bist du überall, wo ich bin?“ Ich presste die Lippen aufeinander und die Augen zu. Verdammt, verdammt! Dummes Mädchen. Aber egal, die Frage war raus und ja, auch irgendwie berechtigt, oder?
Er würde es eh abstreiten oder sagen, dass es ihm gar nicht aufgefallen war. Irgend so was halt. Doch er schwieg und das viel zu lange. Ich öffnete die Augen wieder und suchte seine. Er schaute zu Boden und sah schuldbewusst aus.
„Deaken? Warum bist du überall da, wo ich bin?“, wiederholte ich meine Frage.
Er schaute auf und unsere Blicke trafen sich, doch er antwortete immer noch nicht.
„Es fällt auf“, meinte ich und wartete kurz, ob er etwas sagen würde. Nichts. „Ohara hat mich heute in Raum-Zeit runtergeputzt. Und Dyllan meinte auch, dass sie recht hat. Du machst das nicht mit Absicht, oder?“
Sein Gesicht verzog sich zu einem missglückten Lächeln.
„Deaken!“, entfuhr es mir, etwas lauter als gewollt.
Endlich machte er den Mund auf. „Was willst du hören?“
„Warum?“ Die Frage hing zwischen uns und Stille umrahmte sie. Himmel, und das bei meiner Geduld. „Verdammt, antworte endlich!“, fauchte ich schließlich. „Oder willst du nicht?“ Mehr als einen Blick bekam ich nicht. Gut, okay, das war’s. Ich ließ das Schwert an Ort und Stelle fallen, ging meine Tasche holen und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Scheiß aufs Abendessen, der Hunger war mir sowieso vergangen.
Meine Tasche flog mit einem dumpfen Aufprall vor das Fußende meines Bettes und einige Dinge kullerten daraus hervor. Ich würde sie später einsammeln. Eigentlich hätte ich meine Notizen für Raum-Zeit beenden müssen, doch im Moment hatte ich wenig Lust darauf. Außerdem war Freitag. Ich hatte das ganze Wochenende Zeit dafür. Also schnappte ich mir eines der Tagebücher meiner Hütervorgänger und schlug es bei meinem Lesezeichen auf.
Es war eines der allerersten, die überhaupt ein Hüter geführt hatte und seine Schrift war schwer zu lesen, doch es war wahnsinnig interessant. Außerdem war er im Zeichnen ebenso begabt gewesen wie ich und hatte viele seiner Erlebnisse zusätzlich mit Bildern bestückt. Eines gefiel mir besonders gut. Es zeigte einen Wald in der Art, wie ich ihn damals gesehen hatte, als Ava die Tür das erste und einzige Mal für mich geöffnet hatte. Ein Wald gewachsen aus den Ranken der Wisteria und in voller Blüte. Der Hüter hatte die Farben so gut gemischt, dass das Bild fast wie 3D wirkte. Ich hatte auch tatsächlich schon öfter versucht, einzelne Ranken zu greifen. Es war fantastisch, trotz seines Alters. Das Bild stand gerahmt auf meinem Nachttisch, denn ich hatte mir die Freiheit erlaubt, es aus dem Tagebuch zu nehmen. Die Seite war sowieso lose gewesen, also würde es meinem Nachfolger nicht auffallen. Außerdem konnte ich es jederzeit zurücktun.
Den restlichen Abend verbrachte ich damit, das Buch durchzublättern. Ich las nicht jede Seite, denn ab und zu standen nur belanglose Dinge über das Wetter oder langweilige Beobachtungen darin. Auf den letzten Seiten begann jedoch eine Beschreibung der Elfen, die in Wisteria lebten. Ich mochte sie schon immer und hatte natürlich auch meine Vorstellungen von ihnen. Mich interessierte nun, ob diese der Wahrheit entsprachen. Also vertiefte ich mich in den Text.
Er beschrieb Aussehen und Verhalten, Gewohnheiten und Vorlieben sowie Abneigungen dieser Art. Nicht so ausführlich wie ich es gern gehabt hätte, doch es reichte, damit ich mir ein Bild machen konnte. Eine Zeichnung zeigte eine Elfenfrau mit langen blonden Haaren und wunderschönen himmelblauen Augen. Sie musste eine Kriegerin gewesen sein, denn sie trug Schwert und Bogen. Ein Brustpanzer schützte ihren Oberkörper und Arm- und Beinschienen den Rest. Statt Panzerhandschuhen hatte sie nur so etwas wie bewegliche Rüstungsplatten auf die Handrücken geschnallt. Sie bedeckten nur die Rückseite ihrer Hände und Finger und waren mit Ringen an den Fingern selbst befestigt. Wieder überwältigte mich die Detailgenauigkeit des Bildes.
Ich las weiter und musste feststellen, dass das Tagebuch endete, ohne das der Text es tat. Ich prüfte, ob vielleicht eine Seite fehlte, doch es war keine herausgerissen, also stand ich auf und ging zu dem Stapel Tagebücher, um mir das Nächste zu holen. Ich hatte sie einfach abgelegt und nicht darauf geachtet, ob sie auch chronologisch lagen. Natürlich taten sie es nicht. Doch ich konnte suchen, wie ich wollte, das Buch, in dem der Text weiterging, war nicht da. May musste es noch haben. Also auf in den Professorenflügel. Mit einer Ahnung im Bauch machte ich mich auf den Weg.
Im Aufenthaltsraum waren nur ein paar Schüler, die fernsahen oder sich unterhielten. Ein bisschen war ich froh, dass Ohara nicht in der Mansion lebte. Die wenigsten Schüler taten das. Genau genommen nur die, die dasselbe oder ähnliche Schicksale teilten, wie Lia und ich. Alles in allem waren es nur ungefähr 20 Schüler, die dauerhaft hier wohnten und in etwa gleich viele Professoren und Angestellte. Also nur etwas um die 40 Leute insgesamt. Okay, ich musste zugeben, dass es trotzdem viel war. Allerdings hatten die Angestellten ein eigenes Haus und viele der Professoren waren nicht oft da. Sie kamen praktisch nur zum Unterrichten und Schlafen. Also konnte man von 25 bis 30 ständig Anwesenden ausgehen, die sich in der riesigen Mansion allerdings verloren.
Dyllan schaute auf und hob eine Hand zum Gruß. Ich erwiderte die Geste, ging aber weiter. In der Eingangshalle waren schon die Nachtleuchten eingeschaltet, doch aus der Bibliothek drang noch etwas mehr sanftes Licht. Ich ging hinein, durchquerte sie und stieg die Treppen zu den Büros der Professoren hinauf. Sie führte auch zu den privaten Zimmern, allerdings lagen diese noch eine Etage höher. Ich bog in den Flur zu den Büros ein und ging, ohne innezuhalten, auf die zweite Tür zu. Als ich die Hand zum Klopfen hob, hörte ich Stimmen von drinnen. Ich ließ sie wieder sinken und lauschte. Nicht sehr höflich, aber ich war schon immer neugierig gewesen.
May sprach gerade. „Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Das ist etwas, was du entscheiden musst.“
„Ich will ja auch nur wissen, was du tun würdest“, antwortete Deaken.
War klar, dass er hier war. Meine Ahnung bestätigte sich somit. Allerdings war es wenig überraschend. Zum einen, weil er eben ein Prof war und in diesem Flügel wohnte und zum anderen, weil er und May, Bruder und Schwester waren. Noch genauer, Zwillinge. Die beiden hingen mindestens so viel zusammen, wie ich selbst es mit Lia tat. Wobei das leider stark nachgelassen hatte, seit wir auf Weave waren.
„Ich würde Abstand halten. Sie ist deine Schülerin und ...“
„Und meine Schutzbefohlene“, unterbrach Deaken seine Schwester und wurde lauter dabei.
„Als Schülerin. Vergiss das nicht. Auch die anderen stehen unter unserem Schutz.“
Er grummelte etwas, was ich nicht verstand, dann hörte ich Schritte. Erschrocken wich ich von der Tür zurück, doch sie entfernten sich wieder, also trat ich erneut näher.
„Sie hat gesagt, Ohara hat sie angesprochen“, meinte er dann. Er klang nachdenklich.
„Und? Sei ehrlich. Selbst mir ist es aufgefallen.“
„Dir fällt alles auf. Selbst wenn du es nicht siehst“, konterte er und May lachte kurz auf.
„Das stimmt wohl. Liegt eben an unserer Natur, Bruderherz.“
„Trotzdem. Ich würde gern wissen, was genau sie zu Fay gesagt hat. Ich will nicht, dass irgendwer blödes Zeug redet.“
„Ich nehme an, die Schüler werden denken, dass du und Fay euch gut versteht. Auf jeden Fall besser als es normalerweise der Fall wäre zwischen Lehrer und Schüler.“
„Mhh.“
„Vielleicht solltest du mir ihr reden, Deak.“ Stille. „Deak?“
„Nein“, sagte er schlicht.
Ich hätte nur zu gern sein Gesicht gesehen. Über was die beiden da sprachen, machte mir ein bisschen Angst. Es hörte sich ganz danach an, als hätte Deaken Interesse an mir, würde es aber nicht so richtig zugeben wollen. Warum auch immer.
Aber mal ehrlich, er ist mein Prof ... und er ist heiß.Reiß dich zusammen, Faylinn! Echt mal! Ich trat von der Tür zurück und schüttelte den Kopf. Dann atmete ich tief durch und klopfte an.
„Herein“, drang Mays sanfte Stimme durch die Tür.
Ich öffnete sie und spähte ins Zimmer. „Hi. Tut mir leid, dass ich so spät störe.“
„Tust du nicht. Komm rein, Fay“, sagte sie und winkte mich heran.
Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Deaken stand etwas seitlich vor Mays großem Schreibtisch und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er schaute mich zwar an, doch seinen Blick konnte ich nicht deuten.
May selbst hatte am Tisch gelehnt und kam nun herüber. „Wie kann ich dir helfen?“, fragte sie und legte eine Hand auf meinen Arm.
Kurz huschte mein Blick noch mal zu Deaken, dann wieder zu ihr. „Ich lese gerade die Tagebücher, aber es fehlt eins. Hast du noch welche hier?“, fragte ich schnell, in der Hoffnung, möglichst bald wieder in mein Zimmer zu kommen.
Sie überlegte kurz und wandte sich dann ab. „Lass mich nachschauen. Ich dachte, ich hätte sie dir alle gegeben.“ Sie begann, in einer Truhe zu suchen, und stöberte dann in einem Bücherregal.
Ich hielt meinen Blick bewusst am Boden, auch wenn ich einen anderen auf mir spüren konnte.
Dann war sie wieder da. „Tut mir leid, ich finde keines mehr. Aber schau doch in der Bibliothek nach. Wir haben dort eine Abteilung mit handschriftlichen Aufzeichnungen, vielleicht ist es dort dazwischen gerutscht.“
„Okay, ich geh gleich mal nachschauen, danke.“ Ich wandte mich zur Tür um und wollte gehen, als sie mich aufhielt.
„Ach, Fay?“
Ich drehte mich zurück und warf ihr einen fragenden Blick zu. „Ja?“
„Deak hat mir erzählt, dass du das Training abgebrochen hast. Stimmt das? Warum?“
Ich schaute kurz zu ihm, er musterte mich ebenfalls. „Ich will das nicht lernen“, sagte ich schließlich, auch wenn das nicht der einzige Grund gewesen war.
„Du musst“, meinte May und warf mir einen eindringlichen Blick zu. „Fay, das ist wirklich wichtig.“
„Ich kann mich mit Magie verteidigen.“
„Das reicht aber nicht. Du musst eine Waffe beherrschen. Das Schwert ist die Effektivste. Lerne wenigstens, dich zu verteidigen.“
„Ich will aber nicht!“ Meine Stimme wurde schärfer. Wieso wollten die mich unter allen Umständen dazu zwingen?
„Du wirst!“, gab May mir in einem noch schärferen Ton, als meiner es gewesen war zurück.
„Aber ...“
„Kein aber! Du wirst lernen das Schwert zu führen und wenn du dich am Ende wenigstens verteidigen kannst!“ So hatte sie noch nie mit mir gesprochen. Mit dieser Autorität, die sie als oberste Professorin innehatte.
Ich sagte nichts, sah sie nur noch einen Moment an, dann wandte ich mich ab und verließ den Raum. Mir brannten die Augen. Es war kindisch, doch irgendwie hatte mich ihr Tonfall, an meine Eltern erinnert. An damals als sie mir meine Malsachen weggenommen und mir verboten hatten, weiterhin irgendwelche Bilder von nicht existierenden Wesen zu malen. Eben jenen Wesen, die gerade zu dem Zeitpunkt neben mir gestanden hatten.
4
Ich schloss die Tür hinter mir und hielt inne, um durchzuatmen. Da ich leicht verschwommen sah, blinzelte ich ein paar mal, doch es half nicht.
In Mays Büro konnte ich Deaken hören. „War das nötig?“, fragte er vorwurfsvoll.
„Sie muss lernen, sich zu verteidigen“, entgegnete May ihm, jedoch wieder mit ihrer gewohnt sanften Stimme.
„Schon klar. Aber musstest du sie so anfahren?“ Er war zweifellos aufgebracht. Kurz herrschte Stille.
„Deak. Ernsthaft. Lass gut sein“, kam es dann von May und eine leichte Genervtheit schlich sich in ihre Stimme. Wieder konnte ich Schritte hören und machte mich auf den Weg. Schneller als ich hergekommen war, lief ich die Treppe hinab in die Bibliothek zurück.
Der Computer, in dem alle Bücher verzeichnet waren, stand etwas abseits im Dunkeln. Jeder mit Schlüsselkarte konnte ihn bedienen und so setzte ich mich an den kleinen Tisch und startete den Rechner. Es dauerte keine Minute und ich konnte das Verzeichnis durchblättern. Trotzdem brauchte ich lange, denn noch immer verschleierten mir ungeweinte Tränen ab und an die Sicht. Wie nervig. Vor allem, weil es so naiv von mir war.
Ich war 17 und hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Mit meinen Eltern, die mich nicht mehr wollten. Mit dem Verlust ihrer Liebe und ihrer Geborgenheit. Mit dem Umstand, dass man mich für verrückt hielt, wegen meiner Fantasie und damit, dass ich niemandem wirklich vertrauen konnte, außer Lia. Zugegeben, ich hatte gedacht, May könnte so was wie eine Freundin werden. Weil sie mich verstand und weil sie mich nicht für verrückt hielt. Doch sie war eben auch die oberste Professorin dieses Weave Internats und damit so was wie meine Direktorin.
Ich war naiv, weil ich geglaubt hatte, wieder jemandem näherkommen zu können, als nur guten Tag und guten Abend zu sagen. Sicher, ich hatte meine kleine Schwester und sie war mein Leben. Doch Lia hatte Freunde. Freunde, die sie akzeptierten, wie sie war. Für mich war dieser Zug abgefahren.
Die Zeilen auf dem Monitor verschwammen immer mehr und schließlich konnte ich gar nichts mehr lesen. Da ich wenigstens schon gesehen hatte, wo die Abteilung mit den Handschriften lag, gab ich es auf, weiter direkt nach etwas Nützlichem zu suchen, und fuhr den PC runter. Ich würde einfach mal durch die Reihen stöbern. Vielleicht gab es noch andere interessante Aufzeichnungen. Jemand kam die Treppe hinab und ich hoffte inständig, dass es nicht der war, den ich im Sinn hatte. Aber wie das so ist, nicht wahr?
Deaken erschien. Ich versuchte, mich auf dem Stuhl hinter dem PC Tisch so klein wie möglich zu machen. Er ging auch tatsächlich an mir vorbei und dann piepste der blöde Computer.
Er wandte sich um und entdeckte mich. „Fay, du bist noch hier?“
Schnell schaltete ich den Monitor aus, damit er mein Gesicht im Dämmerlicht nicht sah und stand auf. „Ja, ich ...“ , meine Stimme verriet mich. Blöder Mist. Ich schluckte und versuchte einen zweiten Anlauf, der gefasster klingen sollte. „Ich, ehm, suche noch das Tagebuch. Bin gleich weg.“ Das klang ganz passabel. Ich umrundete den Tisch und machte mich auf den Weg zur Handschriftenabteilung.
„Fay? Geht’s dir gut?“, rief er mir nach.
Im Laufen hob ich eine Hand, ohne mich umzudrehen, und winkte lässig ab. „Alles klar.“ Wieder versagte mir die Stimme. Verflucht noch mal! Ich beschleunigte meinen Schritt, bog ein paar Reihen zu früh ab damit ich außer Sichtweite kam und blieb mittig der Reihe stehen. Hier war es ziemlich dunkel, doch ich konnte sowieso kaum was sehen. Energisch wischte ich mir die Augen und versuchte angestrengt meine Fassung zu wahren. Komm schon Faylinn Waters, krieg dich mal ein! Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen und wandte mich um.
„Fay, ich ...“ Auch Deaken versagte für einen Moment die Stimme. Himmel, sah ich so fertig aus? „Fay“, kam es dann nur noch leise und das gab mir den Rest. Mit einem Schlag liefen mir die Tränen über die Wangen und ein Schluchzer drang mir aus der Kehle.
Verdammt, dachte ich noch, dann lag ich in Deakens Armen und durchnässte sein T-Shirt mit meinen Tränen. Nach einer Weile spürte ich, wie er tief Luft holte um etwas zu sagen, doch ich kam ihm zuvor, löste mich aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück.
Abermals wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und schaute zu Boden. „Tut mir leid“, schaffte ich, zwischen zwei stockenden Atemzügen zu sagen und schaute auf. „Keine Ahnung was das war. Tut mir leid“, wiederholte ich, wandte den Blick aber sofort wieder ab.
Er musterte mich einen Moment, dann fragte er: „War das wegen May oder wegen mir?“
Ich schaute auf. Wieso wegen ihm? „Wegen dir?“, fragte ich zurück und sah ihn verwirrt an. Noch immer bekam ich nur stockend Luft.
„Na ja, wegen dem Training und wegen dem was auch immer Ohara gesehen und gesagt hat“, erklärte er und schob die Hände in die Hosentaschen.
„Was? Nein. Nicht deswegen. Gerede ist mir egal, das bin ich gewohnt. Und es hat auch nichts mit dem Training zu tun.“
„Also war es wegen May? Weil sie dich so angefahren hat?“
„Keine Ahnung. Vielleicht ... wahrscheinlich“, gab ich leise zu, sah ihn dabei aber nicht an.
Er kam wieder näher und fasste meine Arme. „Sie hat das nicht so gemeint. Sie will nur das Beste für dich und dazu gehört, dass du dir selbst helfen kannst.“
„Mhh.“
„Fay.“ Er hob mein Kinn an, damit ich ihn ansehen musste. „Warum hast du so eine Abneigung gegen das Kämpfen?“
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Kein Plan. Das war schon immer so. Ich bin kein Freund von Gewalt.“
„Das hat doch nichts mit Gewalt zu tun. Du sollst dich schützen können.“
„Und dafür muss ich anderen wehtun?“
„Willst du lieber, dass sie dir wehtun? Das werden sie nämlich. Wenn dir einer was antun will, tut er das. Der denkt sich nicht, er lässt es lieber, nur weil du so nett bist.“ Jetzt lächelte Deaken leicht.
„Ich weiß. Aber ich kann ihn mit Magie abhalten. Ich muss ihn nicht zu Brei hauen.“
Nun lachte er auf. „Das hat auch nie einer verlangt. Es reicht vollkommen, wenn du ihn außer Gefecht setzt, damit du zum Beispiel Zeit hast, einen Zauber zu wirken. Oder im Notfall, zu fliehen. Denkst du denn, mit deinen Zaubern tust du niemandem weh?“
„Nicht unbedingt.“
„Du wirst Hüterin. Du wirst eine ganze Welt verteidigen. Ob du willst oder nicht, du wirst an den Punkt kommen, an dem du kämpfen und andere verletzen musst. Das passiert auch mit Magie.“
„Es gibt auch andere Wege. Außerdem ist Magie keine körperliche Gewalt.“
„Ach du denkst, da sind Unterschiede? Ist es nicht egal, wie du jemanden umhaust? Fay, ob nun mit Magie oder mit deinen Händen, es wird dazu kommen.“
„Vielleicht auch nicht.“
Er seufzte. Gab er auf? „Ach Kleine“, mehr kam nicht, dann sah er mich einfach nur an.
Meine Atmung hatte sich mittlerweile ganz gut normalisiert und die Tränen hatte ich auch im Griff. „Ich werd dann mal das Buch suchen. Sorry noch mal wegen eben.“ Wieder schaute ich betreten zu Boden, doch Deaken hob abermals mein Gesicht an.
„Schon okay.“ Einen Moment hielt er meinen Blick fest, dann ließ er mein Kinn los und nahm stattdessen meine Hand. Da waren sie wieder, die Schmetterlinge. Und sie kamen so plötzlich, dass ich tatsächlich erschrak. Ich entzog ihm meine Hand und trat zurück. Dann wandte ich mich ohne ein weiteres Wort um und machte mich auf den Weg zur Handschriftenabteilung. Hinter mir konnte ich ihn noch die Luft ausstoßen hören.
Ich fand die Abteilung ohne Probleme und begann, sie systematisch abzusuchen. Deaken spukte mir im Kopf umher, doch ich zwang mich zur Konzentration auf meine Suche. Einige Regale konnte ich überspringen, denn hier lagen nur Karten von anderen Welten oder Aufzeichnungen über Naturereignisse. Ich brauchte Tagebücher. Fast am Ende des Regals mit den letzten Karten hielt ich jedoch inne, denn hier lagen alle Welten, die mit W begannen, also musste auch Wisteria dabei sein. Mein Blick glitt an den Schildern vorbei und hielt bei Wi. Dort suchte ich einen Moment, dann hatte ich eine Karte gefunden. Auch in den Tagebüchern waren Karten verzeichnet, doch bis jetzt hatte ich keine gefunden, die das ganze Land zeigte. Oder den Kontinent?
Mir wurde bewusst, dass ich noch nicht mal wusste, ob Wisteria eine Kugel war wie die Erde oder eine Scheibe. Ja, auch solche Welten gab es. Kugeln und Scheiben, sogar welche mit mehreren Ebenen und diese in allen Größen und in allen erdenklichen Varianten. Die Karte von meiner zukünftigen Welt war eingerollt und in einem Köcher aus leichtem Holz verstaut. Ich nahm sie mit, denn zwischen den Reihen war es mit den nur spärlich beleuchteten Regalbrettern zu dunkel. Die Reihe endete im Hauptgang und jetzt hatte ich auch wieder mehr Licht, also entschied ich, mir die Karte gleich anzusehen.
Ein Stück entfernt stand ein großer Lesetisch. Ich ging drauf zu, schob zwei Stühle beiseite und zog die Karte aus dem Köcher. Sie war relativ groß und furchtbar alt. Ein bisschen hatte ich Angst, sie könnte reißen, doch das Material auf dem sie gezeichnet worden war, schien robuster zu sein, als es aussah. Ich schnappte mir zwei Bücher, die noch auf dem Tisch lagen und benutzte sie als Beschwerung für die oberen Ecken, die unteren hielt ich fest. Ich musste meine Arme fast einen Yard ausbreiten, um annähernd an die Ecken zu kommen, so groß war die Karte, dann erkannte ich den Aufbau von Wisteria.
Es handelte sich tatsächlich um eine Kugel. Die Zeichnung zeigte mehrere kreisrunde Abbildungen. Doch nur auf zweien war jeweils eine Kontinentalfläche zu sehen. Die anderen drei waren einfach blau mit nur winzigen Punkten, die wohl Inseln und Inselgruppen darstellten. In einer wunderbaren Handschrift stand über alle dem „Wisteria Orbis“. Ich beugte mich hinab, um die Namen der Inseln zu lesen. Die größte Inselgruppe hieß Sahles. Sie umfasste zehn große und unzählige kleine Landmassen und lag dem Hauptkontinent Wisteria am nächsten. Also hieß die Welt wie der Kontinent oder umgekehrt?
Für den Moment war es egal, denn die Namen konnten erfahrungsgemäß variieren. Der Hauptkontinent selbst war eine große Fläche, mit vielen Seen und Flüssen im Westen und Süden und einem großflächigen Gebirge im Norden und Osten. Eine zweite kleinere Landmasse lag weiter nördlich, beide wurden durch ein Meer getrennt, der Sturmsee. Ich ließ den Blick über den Hauptkontinent gleiten und mir fiel auf, dass es nicht viele große Städte gab, zumindest waren nicht viele eingetragen. Zwei Hauptstädte nur. Leviathana und Gorgona. Gruselig. Der Hüter, der diese Karte gezeichnet hatte, hatte die Städte nach Ungeheuern benannt. Da gefiel mir Wisteria von der schönen Pflanze doch besser.
Auch die vielen Seen und Flüsse trugen zumeist Namen von mythologischen Kreaturen. Das war schon irgendwie unerwartet. Ich war davon ausgegangen, dass es mehr botanische Namen geben würde. Allerdings hatte ich eben auch bemerkt, dass viele Hüter ihre eigenen Bezeichnungen verwendeten. Einfach weil sie die Orte und Landschaften damit verknüpften. Der Urheber dieser Karte hatte das sehr wahrscheinlich auch getan. Der Grund für die eigenen Namen war einfach der, dass die Hüter den Kontakt zu Einheimischen mieden und so nicht deren Bezeichnungen verwenden mussten. Sie hatten es sich leicht gemacht. Außerdem schien es eine Eigenart von Hütern zu sein. Wir durften uns sowieso nur in absoluten Notfällen einmischen, warum dann also die gewöhnlichen Namen nutzen?