15,99 €
Yannic Seidenberg gehörte zu den absoluten Topspielern der Deutschen Eishockey Liga. Krönender Erfolg seiner gut 20-jährigen Karriere ist die Silbermedaille bei den Olympischen Winterspielen 2018 – der bisher größte Triumph der nationalen Eishockey-Geschichte. In Powerplay berichtet der zehnmalige WM-Teilnehmer, wie er sich unter die besten Spieler des Landes kämpfte. Er verrät uns, mit welchen Strategien er enttäuschte Träume und sportliche Rückschläge überwand. Und er gewährt uns hautnahe Einblicke in die Entwicklung des Eishockeys während der letzten zwei Jahrzehnte, über die nur ein Veteran von seinem Format verfügt. Diese ehrliche Autobiografie eines Spitzensportlers ist zugleich eine leidenschaftliche Hommage an eine der faszinierendsten Sportarten der Welt. Für jeden Sportfan ein Muss.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2025
FLORIAN KINAST
YANNIC SEIDENBERG
POWERPLAY
VOM KÄMPFEN, SIEGEN UND NIEMALS AUFGEBEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Wichtiger Hinweis
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
Originalausgabe1. Auflage 2025© 2025 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbHTürkenstraße 89 80799 MünchenTel.: 089 651285-0
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Redaktion: Ulrich KornUmschlaggestaltung: Maria VerdorferUmschlagabbildung: Jean Catuffe/KontributorSatz: abavo GmbH, BuchloeeBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7423-2763-5ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-2538-6
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
1Als 56 Sekunden zu Gold fehlten.Die komplizierten Gedanken zu Olympia 2018
2Fußball, Eishockey und Rhabarberkuchen.Meine glückliche Kindheit und Jugend in Schwenningen
3Kill Bill und das zerbrochene Fenster.Der harte Weg zum Debüt in der DEL
4Road Trips mit Pizza und Popcorn.Ein wildes halbes Jahr in Kanada
5Kastenspringen ohne Kaugummi.Beim brodelnden Alpenvulkan am Rhein
6Waschtl und die Wäschekammer.Mein Aufstieg in die Nationalmannschaft
7In memoriam Ron und Robert.Die Tragödie um zwei gute Freunde
8Eine Minute Weltmeisterschaft im Kindergarten.Vom schwierigen Umgang mit meinen Verletzungen
9Aus dem Handgelenk. Wie Joe Sakic mein großes Idol wurde
10In der Rolle des Clowns. Die Ausbootung bei der Nationalmannschaft
11Zwischen FC Bayern und Real Madrid. Mein Bruder und der Stanley Cup
12Guten Morgen, lieber Körper! Auf der Suche nach der inneren Mitte
13Wo man dem Eishockey Flügel verlieh. Von Mannheim nach München
14Wie einst Louis van Gaal und John F. Kennedy. Der holprige Neustart in München
15Sprich nie mit der Mutter, nur mit dem Torpfosten! Von den abergläubischen Marotten der Eishockeystars
16Die Mauer muss weg. Aus dem tiefen Tal zu den ersten Titeln
17Die Mission Gold und ihre Versilberung. Das Olympia-Drama von Pyeongchang
18Last Exit Psychoklinik. Der Dopingfall des Yannic S. und seine Folgen
Danksagung
Als 56 Sekunden zu Gold fehlten.Die komplizierten Gedanken zu Olympia 2018
Die Frage nach dem Warum stelle ich mir oft. Auch heute noch. Die Frage geht mir nicht aus dem Kopf. Die Frage, warum ich es getan habe. Es war so dumm.
Knapp zwei Minuten waren im olympischen Eishockeyfinale von Pyeongchang noch zu spielen. Kurz zuvor hatte uns Jonas Müller mit seinem Flachschuss in Führung gebracht, 3:2 lagen wir vorn und spielten sogar noch in Überzahl, im Powerplay um den Olympiasieg. Ein Sieg gegen das übermächtige Russland war zum Greifen nah, eine Sensation, die noch größer gewesen wäre als das »Miracle on Ice« 1980 in Lake Placid, als eine Collegetruppe für die USA Gold holte und auf dem Weg dorthin auch die als unschlagbar geltenden Sowjets ausschaltete. Olympiasieger im Eishockey: Deutschland. Wie hätte das geklungen.
Wir hatten die Scheibe, setzten uns im Angriffsdrittel fest. Die Russen, die zweimal in Führung lagen, wirkten gezeichnet, wir spürten, wie tief der Schock bei ihnen saß, den sicher geglaubten Sieg doch noch zu verspielen. Das Entsetzen über die Strafzeit, das Unterzahlspiel. Erst zehn Sekunden vor der Schlusssirene sollten sie wieder komplett sein. Es war genau diese Verunsicherung, die wir in diesen Sekunden ausnutzen wollten. Wir wollten die Entscheidung, wollten das vierte Tor, mit aller Macht. Und das wurde uns zum Verhängnis.
Wir hätten nur ruhig unser Powerplay aufziehen und die Zeit herunterspielen müssen. So, wie wir es sonst im Turnier auch immer gemacht hatten. Nichts überstürzen, erst dann schießen, wenn sich wirklich eine Lücke, eine aussichtsreiche Position ergibt. Stattdessen versuchten wir es mit der Brechstange. Die Uhr zeigte noch 1 Minute und 50 Sekunden, als ich an der blauen Linie die Scheibe hatte. Links von mir stand völlig frei Frank Hördler, rechts vorn ungedeckt Dominik Kahun. Beide hätte ich mühelos anspielen können, doch ich entschied mich zu schießen. Obwohl direkt vor mir zwei Russen standen, dahinter zwei weitere, dazu zwei eigene Mitspieler und schließlich der Torwart. Es war zu viel Verkehr.
Sicher hätte der Puck auch zu einem Glückstor abgefälscht werden können. Aber in diesem Moment zu schießen war unklug. Mehr Übersicht und mehr Ruhe wären angebracht gewesen. Aber ich war im Tunnel, immer noch aufgeputscht von dem ganzen Koffein, das ich vor dem Spiel zu mir genommen hatte.
Mit Koffein putschte ich mich immer schon auf, seit dem Beginn meiner Karriere. Anfangs trank ich vor den Spielen eine Tasse Kaffee, das entspricht 100 Milligramm Koffein. Später in München wurde die Dosis höher, auch dank unseres Eigentümers Red Bull und seiner Energydrinks. Den Gipfel erreichte ich bei Olympia, als ich schlecht schlief und sich mein Körper bereits mit Mitte 30 kaputt anfühlte. Da waren es dann 500 Milligramm Koffein, gelöffelt als Pulver. Illegal war das nicht. Aber war es sinnvoll? Ein Arzt fragte mich später, ob ich wahnsinnig gewesen sei. Wie ich überhaupt noch etwas wahrnehmen konnte in diesem Rauschzustand.
Vielleicht war diese eine Szene, in der ich mich für einen Torschuss entschied, sinnbildlich für den Großteil meiner Karriere, in der ich vieles erzwingen wollte und nicht die Geduld aufbringen konnte zu warten. Wenn ich mich von meinen Emotionen leiten ließ. Und nicht von meinem Kopf.
Mein Schuss wurde geblockt, die Scheibe flog aus der Angriffszone. Wir konnten uns kein weiteres Mal dort festsetzen. Dann kamen die Russen in unser Drittel, nahmen den Torhüter vom Eis. Vor unserem Tor herrschte Getümmel, ich sah den Puck, versuchte mich auf ihn zu stürzen, ihn zu blockieren. Vergeblich. In dieser Sekunde verlor ich meinen Helm, ich wusste, ich muss laut Reglement sofort zur Bank, um mir dort einen neuen zu holen. In meinem Rücken kam die Scheibe zu Nikita Gussew, und plötzlich hörte ich den Jubel der russischen Fans in der Halle. Kurz darauf sah ich die konsternierten Gesichter meiner Mitspieler hinter der Bande. Es stand 3:3. Und nach knapp zehn Minuten in der Verlängerung schossen die Russen das 4:3. Damit war das Spiel vorbei.
In meiner Karriere hatte ich es schon oft erleben müssen, Spiele in der Overtime noch zu verlieren. Im Sudden Death, wenn allein das nächste Tor über Sieg und Niederlage entscheidet. Noch nie hatte der Begriff so eine Berechtigung wie an diesem Tag. Es fühlte sich tatsächlich an wie ein »plötzlicher Tod«. Ein Stich ins Herz.
Diese letzten zwei Minuten, sie zerreißen mich noch immer. Manchmal bin ich stolz und freue mich über unser Silber. An anderen Tagen gräme ich mich, spüre noch immer den Stich im Herzen. Lange konnte und wollte ich mir diese letzten Minuten nicht mehr ansehen. Erst unlängst riss ich mich zusammen und schaute mir das Video an, vielleicht auch, um etwas aufzuarbeiten. Wehgetan hat es noch immer.
Während damals nach dem finalen Tor die Russen ihre Helme aufs Eis warfen und in einer großen Jubeltraube ihren neunten Olympiasieg – inklusive der Titel aus Sowjetzeiten – feierten, standen die meisten von uns regungslos auf dem Eis oder saßen hinter der Bande. In mir machte sich ebenfalls große Leere breit. Als es zur Siegerehrung ging, war keinem von uns zum Feiern zumute. Bekommst du nach einem gewonnenen Spiel um Platz drei Bronze um den Hals gehängt, freust du dich wesentlich mehr als über Silber nach einem verlorenen Finale, wenn die Enttäuschung über das verpasste Gold noch zu tief sitzt. Auch die Worte von Marco Sturm konnten uns kaum trösten, der Bundestrainer hatte uns in einem Kreis um ihn herum versammelt. Er sprach davon, dass wir stolz sein konnten auf das, was wir erreicht haben. Niemand hatte doch nur im Traum daran gedacht, dass wir bei Olympia ins Finale kommen könnten.
Und als wir so dastanden und auf die Medaillen warteten, dachte ich an die nächsten Tage. Dass ich mit etwas Abstand den zweiten Platz sicher mehr wertschätzen könnte als jetzt im Moment. Ich dachte an zu Hause, an meine kleinen Kinder. Was sie wohl denken mögen, wenn sie eines Tages diese Bilder von damals sehen, wie ihrem Papa bei Olympia zwar nicht der ganz große Triumph gelang, aber doch etwas Einzigartiges. Genau deswegen wollte ich nicht bei der Zeremonie und dem anschließenden Gruppenfoto mit verbitterter Miene angesäuert herumstehen, wollte wenigstens so tun, als würde ich mich freuen. Ich war immer der Leadertyp, also begann ich, auf meine Mitspieler einzureden, auf Patrick Reimer und Danny aus den Birken, die beide neben mir standen. Dass wir uns zusammenreißen müssten, sagte ich ihnen. Wir sollten auf den Fotos nicht heulend zu sehen sein, sondern glücklich, und vor allem beim offiziellen Mannschaftsbild mit Medaille unsere Freude zum Ausdruck bringen und nicht unseren Frust. Wenn ich mir heute diese Bilder ansehe, muss ich zugeben, dass unser Lächeln sehr bemüht und gequält wirkt. Aber wir hatten immerhin Haltung und Fassung bewahrt, und das war mir wichtig.
Auf die Siegesfeierlichkeiten und die denkwürdige Abrissparty im Deutschen Haus werde ich später noch eingehen. Gut eineinhalb Tage nach unserem Silber-Coup, dem größten Erfolg in der Geschichte der deutschen Eishockeynationalmannschaft, landete ich am späten Montagabend mit vielen anderen bayerischen Olympiasportlern am Münchner Flughafen. Meine Frau Amelie war gekommen, meine Kinder waren da, es waren überwältigende Gefühle, meine Liebsten wiederzusehen und sie in den Arm zu nehmen. Doch dann wollte ich nur noch heim, ins Bett, endlich schlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich lange da und ließ unter anderem den märchenhaften Verlauf dieses Turniers Revue passieren. Wie uns mein Tor gegen die Schweiz ins Viertelfinale brachte. Wie wir im Viertelfinale die Schweden rauswarfen und im Halbfinale das große Kanada. Aber es lief noch viel mehr ab. Das ganze Leben, die ganze Karriere. Bis zurück zu den Anfängen in meiner Heimat in Villingen …
Fußball, Eishockey und Rhabarberkuchen. Meine glückliche Kindheit und Jugend in Schwenningen
Villingen-Schwenningen im Südwesten Baden-Württembergs, gelegen zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, knapp 90 000 Einwohner, größte deutsche Gemeinde mit einem Doppelnahmen. Hier kam ich im Januar 1984 auf die Welt, hier wurde ich groß – im Ortsteil Marbach. Größte Attraktionen sind hier die Jakobuskirche, benannt nach dem hier vorbeiführenden Jakobsweg, der Rundwanderweg Schwarzwald-Wutachschlucht und der Neckarursprung im Schwenninger Moos, ein Hochmoor südlich der Stadt. Ansonsten: Provinz. Früher hatte Marbach noch einen Edeka. Heute nicht mehr.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, habe ich eine sehr glückliche Zeit in Erinnerung. Die Herbstnachmittage, an denen ich mit Papa rausgegangen bin, um Drachen steigen zu lassen. Oder die Spannung, wenn mal ein Spiel des FC Bayern im Europapokal und in der Champions League live im Fernsehen zu sehen war. Ich war großer Bayern-Fan, immer schon. Obwohl Freiburg und Stuttgart viel näher lagen, schlug mein Herz nicht für den SC oder den VfB, sondern nur für die Bayern. Wir zelebrierten die Fußballspiele und holten beim Bäcker dafür Kuchen. Rhabarberkuchen, das war ein festes Ritual. Wobei die allerbesten Kuchen überhaupt natürlich die selbst gebackenen von Mama waren. Ihre Erdbeerrolle aus Biskuitteig, der Marmorkuchen oder auch der mit Pfirsichen innen drin, ein Gedicht.
Manchmal waren wir zu viert unterwegs auf Wanderungen: Papa, Mama, Bruder Dennis und ich. Ob in der Bodenseegegend bei einer 16-Kilometer-Tour durch die Marienschlucht zum Mindelsee oder mal 20 Kilometer durchs Kinzigtal im Schwarzwald.
Gern erinnere ich mich an unsere Urlaube. Zum Skifahren ging es an Ostern stets ins Schnalstal nach Südtirol, im Sommer Jahr für Jahr an die Adria, nach Bellaria-Igea Marina, nahe Rimini, immer ins selbe Hotel.
Vor einigen Jahren machte ich mit meiner Frau Amelie und unseren Kindern auf einer Reise zu Freunden nach Süditalien dort kurz halt, auf der Rückreise quartierten wir uns spontan für eine weitere Nacht ein. Der Blick aus dem Fenster, die Atmosphäre und vor allem die Gerüche, all das war wie vor 25 oder 30 Jahren. Als sei die Zeit stehen geblieben.
So lange ich zurückdenken kann, war ich an den Nachmittagen stets draußen unterwegs – oft mit Dennis, meinem gut zwei Jahre älteren Bruder, meist aber mit meinen gleichaltrigen Kumpels aus der Nachbarschaft. Einer meiner engsten Freunde war Bernie, der zwei Straßen weiter wohnte und vier Monate jünger war als ich. Wenn wir Streethockey spielten, musste er meistens als Goalie ran – und sich oft abschießen lassen von mir. Bernie lebt heute in München, noch immer haben wir Kontakt. Ins Tor stellt er sich aber nicht mehr, aus guten Gründen.
Die Grundschule fiel mir leicht, und wenn ich mit dem üppig aufgetischten Mittagessen der Mama fertig war, mit Suppe, Hauptgericht, Salat und Nachtisch, und danach mit den Hausaufgaben, dann ging es raus auf die Straße. Manchmal hatte ich noch meine Musikstunden, Privatunterricht am Keyboard. Ich erinnere mich, dass ich bei einem Vorspiel »Tom Dooley« zum Besten gab, den alten amerikanischen Folksong aus den Fünfzigern. Dafür gab es sogar eine Urkunde. Wirklich viel gab mir die Musik aber nicht, sie war nichts, um meinen Bewegungsdrang zu stillen.
Am liebsten rannten meine Freunde und ich durch unsere Gegend, raus auf die Felder, durch den Wald, und haben Fangen oder Verstecken gespielt. Ab und zu sind wir über die Zäune gestiegen und haben bei den Nachbarn die Obstbäume geplündert, was für großen Ärger sorgte. Meist aber hatten wir irgendeinen Ball dabei.
Sport bestimmte schon früh mein Leben. Mit sechs ging ich in den Tennisclub Marbach, später wechselte ich zum TC Blau-Weiß Villingen. Auch im Fußballverein war ich aktiv, bis ich mit 15 ins Internat nach Mannheim wechselte. Wir hatten einen wunderbaren Trainer, der nach den Spielen alle Jungs in seinen alten Golf packte und jeden Einzelnen nach Hause fuhr. Manche stapelten sich auf der Rückbank übereinander, andere saßen hinten im offenen Kofferraum. Heute kaum mehr vorstellbar.
Das Mittelfeld war mein Revier, als Nummer 10. Ich sah mich als Spielmacher, als Platini, als Maradona von Baden-Württemberg. Ich wollte jeden Freistoß schießen, der Dirigent sein, der Antreiber, die bestimmende Persönlichkeit. Ich brannte vor Ehrgeiz. Eine gewisse Lockerheit, souverän über den Dingen zu stehen, kannte ich nicht. So wenig wie in all den darauffolgenden Jahrzehnten im Eishockey.
Mit Eishockey kam ich schon früh in Kontakt, zwangsläufig, schließlich war mein Vater Physiotherapeut beim Schwenninger ERC.
Die Geschichte des Eissports in Schwenningen reicht weit zurück, bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Verein erzählte man sich immer wieder die alte und so traurige Geschichte von den vier Jungs, die 1904 bei einem Badeunfall im nahe gelegenen Salinensee ertrunken waren. Daraufhin gründete sich auf Initiative einiger Schwenninger Bürger ein Sportverein, der Kindern nicht nur das Schwimmen beibringen sollte, sondern im Winter auf einer Natureisbahn auch Eisstockschießen, Eiskunstlauf und Eishockey anbot. So entstand der Schwimm- und Eisclub SEC Schwenningen.
In den 1930er-Jahren war man regelmäßig Südwestdeutscher Meister, die erfolgreichsten Jahre der Eishockeygeschichte erlebte der Verein ab Mitte der 1970er-Jahre, als man sukzessive aufstieg, von der Regionalliga über die Oberliga 1979 in die Zweite Bundesliga – und von dort nach nur zwei Jahren 1981 in die Bundesliga. Einer der Väter des Erfolgs war der damalige Trainer Peter Ustorf, der Vater meines späteren Mitspielers in frühen Mannheimer Tagen, Stefan Ustorf.
In den Achtzigern etablierte sich der SERC als feste Größe im Oberhaus. In den zehn Spielzeiten zwischen 1982 und 1992 erreichte der Klub achtmal das Playoff-Viertelfinale, 1990 in einer denkwürdigen Saison sogar das Halbfinale. In der Runde der letzten Acht rangen sie den ERC Preußen Berlin in der Best-of-Five-Serie mit 3:2-Siegen nieder. Das Kuriose dabei: Keiner der Mannschaften gelang dabei ein Heimsieg. Für die Entscheidung sorgte die Truppe von Coach Václav Nedomanský mit einem 4:3 auswärts in Berlin. Völlig absurd ging es im Halbfinale weiter, gegen den Vorrundensieger und späteren Meister, die Düsseldorfer EG: die Truppe mit den unvergessenen Namen wie Uli Hiemer, Didi Hegen, Peter John Lee. Und im Tor Helmut de Raaf, eine Persönlichkeit, die mich später in meiner Anfangszeit in Mannheim noch sehr prägen sollte.
In drei wilden Spielen gewann die DEG mit 14:7 (Gerd Truntschka gelangen dabei zehn Scorerpunkte), 5:3 und 10:6 gegen den ERC, ein Gesamtscore von 29:16! Eishockey in Schwenningen, das war zu jener Zeit in jeder Hinsicht ein Spektakel. Schon als Kind war ich fast bei jedem Heimspiel im Eisstadion am Bauchenberg; es war eine stimmungsvolle Arena, die bei ausverkauftem Haus zu einem gefürchteten Hexenkessel mutierte. In den ersten Jahren saß ich bei Mama noch auf dem Schoß, als Jugendlicher stand ich in der Kurve ganz unten, direkt hinter der Plexiglasscheibe.
Damals gab es viele Spieler, die noch heute die Fans in nostalgischer Verklärung ins Schwelgen bringen. Matthias Hoppe etwa, der ab 1982 fast 20 Spielzeiten im Tor des SERC stand. Oder Karl »Charly« Altmann, der gebürtige Landshuter, der als niederbayerische Urgewalt zu einem der besten Verteidiger der Klubgeschichte wurde. Dann war da noch George Fritz, der Deutsch-Kanadier, der sich zwischen 1982 und 1990 mit 438 Scorerpunkten in die Rekordliste des Vereins eintrug. Meine absoluten Idole, mit denen ich schon als Fünfjähriger live im Stadion mitfieberte, waren jedoch drei ganz andere Spieler, die alle 1989 zum ERC wechselten. Wally Schreiber, der als NHL-Star von den Minnesota North Stars nach Schwenningen gekommen war und drei Jahre für uns spielte, Bruce Hardy, der 2 Meter hohe Kleiderschrank mit seinen 115 Kilo, der bis 1993 blieb, und Grant Martin, der sogar bis 1998 die blau-weißen Vereinsfarben trug. Schreiber, Hardy, Martin – damals die beste Sturmreihe der Liga und ein noch heute legendäres Trio.
Anfang der 1990er-Jahre, zu meiner Grundschulzeit, zeigte der SWR einmal eine Doku über die drei Haudegen, ich hatte sie mir auf VHS-Kassette aufgenommen und schaute sie immer wieder, ich konnte mich nicht sattsehen. Das waren meine Helden.
Ich selbst stand mit vier Jahren das erste Mal auf dem Eis. Allerdings war mir Eishockey damals noch zu wild. Gleich in einer meiner ersten Trainingseinheiten wurde ich von einem gleichaltrigen Mitspieler verprügelt, wodurch mir der Spaß an diesem Sport gleich gründlich vergangen war. Auch meine Mama fand Eishockey zunächst »zu rüpelhaft«, wie sie einmal sagte. Also fing ich mit Eiskunstlauf an. Nichts, was mich dauerhaft begeisterte, aber eine gute Grundlage bot für eine erste Schlittschuhtechnik – vorwärts und rückwärts laufen, Kurven drehen, bremsen. Das ging schon ganz ordentlich, als ich mit fünf Jahren doch zum Eishockey wechselte.
Eine prägende Figur war mein allererster Eishockeytrainer Ernst Wölfl, den alle nur »Zambi« riefen. Er war ein lebenslustiger und liebenswerter Oberbayer, aufgewachsen in Oberau bei Garmisch. Eishockey lernte er daheim vor dem Haus, wenn im Winter der Asphalt zugefroren war und er mit seinen Freunden dort die Schlittschuhe schnürte. Einen »echten Straßen-Kanadier« nannte er sich. Mit dem SC Riessersee wurde er Deutscher Juniorenmeister, später spielte er sechs Jahre für Mannheim in der Bundesliga, ein kleiner, quirliger und wendiger Verteidiger, wie auch ich später. 1969 kam Zambi nach Schwenningen und betreute über viele Jahrzehnte den Nachwuchs, ein strenger Lehrmeister, der viel Disziplin einforderte. »Mit Puderzucker kannst doch keinen erziehen«, sagte er gern, und doch war er ein herzensguter und nahbarer Mensch, der nie verletzend, ausfallend oder persönlich beleidigend wurde. Unvergessen waren seine Feste, die er in der Stadiongaststätte »Eisbär« gab; bis ins hohe Alter verfolgte er die Spiele der Wild Wings in der heimischen Eisarena, kurz nach Weihnachten 2021 starb Zambi im Alter von 86 Jahren im Kreis seiner Familie. Dankbar für die schöne Zeit, für die Grundlagen, insbesondere aber für den Spaß am Eishockey, den er mir vermittelte, werde ich ihn nie vergessen.
Die anderen Jugendtrainer beim ERC damals kamen aus der Slowakei, aus Tschechien und aus Polen. Das Training bei ihnen war fordernd und trocken, alte Ostblockschule halt, kein Vergleich zu heute. Lustige Parcours wurden aufgebaut, und es galt, sich einen Dschungel vorzustellen, durch den man sich seinen Weg bahnen sollte. Oder das Schlaraffenland, hier musste man einen Berg besteigen und durch einen Graben kriechen. Ich habe das bei meinen Töchtern gesehen, als sie mit Eishockey anfingen; das ist heute eine viel spielerischere Herangehensweise, wesentlich fantasievoller und pädagogisch durchdachter. Damals ging es nur darum, alle fünf Bullykreise auf der Eisfläche abzufahren, immer die Linie entlang, vor, zurück, vor, zurück. Eine gute Basis, aber nicht sehr unterhaltsam. Monotonie pur.
Mit sechs Jahren wechselte ich von den Anfängern zu den Kleinstschülern. Kaum war ich in der Grundschule, wurde ich nach zwei Monaten das erste Mal freigestellt, da wir zu einem Turnier in der Nähe von Zürich eingeladen waren. Ich fand das toll und hoffte, dass ich noch oft in meiner schulischen Laufbahn für ein Eishockeyspiel freigestellt werden würde. Eine Hoffnung, die sich erfüllen sollte.
Fast jedes zweite Wochenende fand im Winter ein Turnier statt, in Ravensburg, Stuttgart, Freiburg, Mannheim oder in Frankfurt. Und wenn wir unterwegs im Bus oder im Kleintransporter saßen, sangen wir unsere offizielle Kleinstschüler-Eishockeyhymne: »Wir fahren alle gerne Schlittschuh, ohne Bremse und Motor, denn das weiß doch längst ein jeder, wir sind sportlich mit Humor, hollahi, hollaho.« Zugegeben, lyrisch etwas holprig, aber die Melodie und den Text habe ich immer noch im Ohr. Manchmal haben wir die Gesänge der Schlachtenbummler aus dem Schwenninger Eisstadion intoniert: »Ajajaja, Eishockey am Neckar«. Ich sang jedenfalls so laut und inbrünstig, dass ich tags darauf keine Stimme mehr hatte.
Schön waren auch unsere Wochenendausflüge mit dem Verein zu einer Berghütte im Kleinwalsertal südlich von Oberstdorf, das hatte stets einen Hauch von Abenteuer. Wirklich aufregend war aber mit zwölf Jahren meine Reise nach Nordamerika, zum Pee-Wee-Turnier nach Quebec.
Das Pee-Wee ist das weltweit prestigeträchtigste, bekannteste und traditionsreichste Juniorenturnier für Elf- und Zwölfjährige. Erstmals wurde es 1960 im berühmten Coliseum von Quebec City ausgetragen, damals mit 28 Teams, inzwischen reisen 120 Mannschaften aus aller Welt jedes Jahr im Februar in die Großstadt im Südosten Kanadas: für ein knapp zweiwöchiges Eishockeyfestival vor insgesamt mehr als 200 000 Zuschauern, mit Spielen im heutigen Videotron Centre, dem Nachfolger des Coliseum, mit einer Kapazität von mehr als 18 000 Plätzen. Für spätere Legenden des Eishockeys war das Pee-Wee die erste Gelegenheit, sich einem größeren Publikum zu zeigen: Wayne Gretzky, Mario Lemieux, Steve Yzerman, Brett Hull, Patrick Roy, Eric Lindros oder Guy Lafleur, Spitzname »Der blonde Dämon«, der in den 1970er-Jahren mit den Montreal Canadiens fünfmal den Stanley Cup gewann und den ich als kleiner Junge einmal kennenlernen durfte. Zwei Jahre zuvor, als ich meinen Bruder zu seiner Premiere beim Pee-Wee begleitete, saß Lafleur zufällig im selben Flieger. Wie stolz ich doch war, als er kurz mit mir sprach und mir eine Autogrammkarte in die Hand drückte. Kurzum, die Teilnehmerliste beim Pee-Wee ist ein Who is Who aus der Hall of Fame der NHL. Sie alle spielten hier in jungen Jahren mit. Nun durfte auch ich dort aufs Eis – mit der Landesauswahl von Baden-Württemberg, die 1996 bei ihrer neunten Teilnahme bereits Pee-Wee-Stammgast gewesen war.
Alles war so aufregend. Der lange Flug von Frankfurt über den Atlantik und die Ankunft bei meinen Gasteltern. Dann die eisigen Temperaturen, selbst die Kälte erprobten Einwohner hatten seit 25 Jahren nicht mehr so einen kalten und schneereichen Winter erlebt – was zur Folge hatte, dass zwei unserer Betreuer mit ihren Mietwagen auf den glatten Fahrbahnen Blechschäden verursachten. Oder der Besuch des Quebec Winter Carnival, als dessen fester Bestandteil das Pee-Wee seit seiner ersten Austragung fest integriert war. Hunderttausende Menschen standen am Straßenrand, Umzugswagen mit Figuren aus Schnee und Eis fuhren durch die Straßen. Es war so ähnlich wie beim Rosenmontag am Rhein, nur ein wenig kälter. All das werde ich nie vergessen.
Und natürlich auch nicht das Turnier. Gleich im ersten Spiel erzielte ich beim 7:3 gegen die Lokalmatadoren von Sainte-Foy fünf Tore. Tags darauf war ich mit Foto in einem Bericht der Lokalzeitung erwähnt: »Le numéro 10 de la formation allemande du Baden Wurttemberg, Yannic Seidenberg, a donné une demonstration de son talent en marquant cinq buts …«. Mit im Team dabei war übrigens ein guter Freund, den ich später in Mannheim bei den Adlern wiedertraf und mit dem ich gut 20 Jahre später in Korea den größten Erfolg unserer Karriere feiern sollte: Marcel Goc. Sein Vater Josef begleitete uns als Trainer ebenso wie Ferenc Vozar (1945–1999), ein eingebürgerter Exil-Ungar, der als Spieler Teil der Olympiahelden von 1976 war, die in Innsbruck sensationell Bronze geholt hatten, und der sich nun um die Junioren in Baden-Württemberg kümmerte. Ein sehr strenger Lehrmeister, dem ich damals viel zu verdanken hatte.
Ein Jahr später kehrte ich noch einmal zum Pee-Wee-Turnier zurück. Wieder spielten wir im großen Pepsi Coliseum, der Arena der Quebec Nordiques, die damals gerade nach Denver umgezogen waren, wo das Franchise fortan als Colorado Avalanche übers Eis lief. Die Nordiques waren nie die ganz große Nummer in der NHL, hatten aber gute Spieler in ihren Reihen, etwa Joe Sakic, mein großes Idol, oder Peter Šťastný und Mats Sundin. Einer der letzten Trainer vor dem Umzug nach Colorado war übrigens Pierre Pagé, den ich viele Jahre später in meinem ersten Jahr in München als Coach erleben sollte.
Die intensiven Eindrücke auf den beiden Reisen nach Kanada bestärkten mich darin, nichts anderes werden zu wollen als Eishockeyprofi – und eines Tages in der NHL auflaufen zu dürfen. Dafür wollte ich alles geben, dafür trainierte ich schon als Teenager wie besessen. Für dieses Ziel gönnte ich mir keine Ruhe, und sie wurde mir auch nicht gegönnt. Denn daheim auf der faulen Haut herumzuliegen, das kam bei uns kaum vor.
Meine Mutter war in dieser Hinsicht recht locker. Ihr ging es nur darum, dass es meinem Bruder und mir gut geht. Sie war stets für uns da, vermittelte Güte und Geborgenheit. Mutter übernahm den Fahrdienst und brachte uns zum Training, ob Fußball, Tennis oder Eishockey, sie war fast jeden Tag mit uns unterwegs. Dazu bewältigte sie im Alleingang den Haushalt und übernahm die gesamte Abrechnung für die große Physiotherapiepraxis meines Vaters.
Für mich war das damals alles selbstverständlich; mir kam erst in den vergangenen Jahren die Einsicht, wie viel Arbeit dahintersteckte und was unsere Mutter alles leistete, ohne dass es von uns wertgeschätzt wurde. Weder von meinem Bruder noch von mir und auch nicht von unserem Vater.
Auch mir gelang es mitunter nicht, anzuerkennen, was meine Frau Amelie für unsere fünfköpfige Familie alles auf sich genommen hat. Wie sie mir den Rücken freihielt und wie sehr sie mich unterstützte. Bei uns kümmerte sich allein Amelie um den Haushalt, die Kinder, die Struktur und die Organisation, so wie in vielen anderen Familien auch, in denen Männer sich um nichts kümmern, weil sie vielleicht emotional und empathisch unterentwickelt sind oder sich keine Gedanken machen. Oder so wie ich, denn in solchen Verhältnissen war ich aufgewachsen. Dass die Partnerin sich dadurch überfordert und erdrückt fühlte, kam mir nicht in den Sinn, weil ich es mir nicht bewusst gemacht hatte, denn es interessierte mich nicht.
Des Öfteren bekam sie meine miese Laune ab, wenn ich mal ein schlechtes Spiel abgeliefert hatte oder nach einer Niederlage zerknirscht nach Hause kam. Denn ich konnte damit nicht umgehen, war als der ganze Kerl, für den ich mich hielt, unfähig, über mein Gefühlsleben zu sprechen. Und meine Suspendierung und anschließende Dopingsperre ab Herbst 2022 stürzte mich in eine nicht mehr zu kontrollierende Verzweiflung und Sinnkrise. Keinen Sport mehr zu haben zur Kompensation, keinen Wettkampf mehr mit Adrenalin, das warf mich in ein tiefes Loch. Ich verbreitete nur noch negative Energie, die alle um mich herum aushalten mussten. Meine Niedergeschlagenheit ließ ich oft an Amelie und den Kindern aus, das wurde mir erst viel später klar. Heute bereue ich das zutiefst.
Aber vielleicht war ich in diesem Punkt tatsächlich durch meine Kindheit geprägt. Das Verhältnis meiner Eltern war sehr kompliziert, und das nahm ich als Heranwachsender nicht wahr. Besser gesagt, ich glaubte, es nicht wahrzunehmen. Ihre schwierige Beziehung und ihre darauffolgende Trennung beschäftigte mich erst Jahre später, als ich 2015 anfing zu meditieren, und auch später noch, ab 2022, als mich meine Dopingsperre komplett aus der Bahn warf und mir viel Zeit zum Reflektieren gab. Vieles aus meiner Kindheit, insbesondere die Spannungen zwischen meinen Eltern, unter denen ich im Unterbewussten gelitten und die ich gleichwohl stets verdrängt hatte, kamen wieder hoch. Ich hatte alles mit dem Sport überdeckt. Der Sport war ideal, um alles von sich zu schieben, um sich dem nicht stellen zu müssen. Sich jetzt aber mit der eigenen Geschichte und der seiner Eltern auseinanderzusetzen, das war wie ein Erwachen, wie ein neues Bewusstsein.
Natürlich hatte ich zu meinem Vater eine enge und liebevolle Bindung. Allerdings forderte er viel mehr Disziplin ein als unsere Mutter. Nur kurz chillen war nicht drin, selbst wenn wir in den wenigen Stunden, die wir frei hatten, einmal durchschnaufen wollten. Wenn Papa nach Hause kam, sagte er oft: »Was ist los? Gammelt nicht so rum, geht raus und schießt ein paar Scheiben!« Also sind Dennis und ich wieder rausgegangen, nahmen den Puck und hämmerten ihn gegen die betonierte Rückwand der Doppelgarage. Aufgrund der vielen Beschwerden der Nachbarn wegen Ruhestörung verkleideten wir die Tür später mit Styropor; das dämpfte. Auch im Italien-Urlaub hatte das Training Priorität. Einen Tag am Strand liegen? Kam nicht vor. Stattdessen hatte Vater fertig ausgearbeitete Trainingspläne dabei, die uns der Verein für die freie Zeit mitgegeben hatte und deren Einhaltung er Tag für Tag akribisch überwachte. Ausdauerlauf, Intervallläufe, Seilspringen. Unser tägliches Training war ihm ein großes Anliegen.
Es war völlig ausgeschlossen, aus privaten Gründen einmal ein Training ausfallen zu lassen. Hier erkenne ich viele Parallelen zu meiner damaligen Rolle als Papa. Wenn mein Sohn Teddy mir beispielsweise von der Einladung zur Geburtstagsparty seines besten Freundes erzählte und wie viel es ihm bedeutete, dort dabei zu sein, erwiderte ich, dass das noch nicht möglich sei, denn da habe er ja Training und dass er seine Vereinskameraden nicht im Stich lassen könne. Es waren genau die gleichen Sprüche, die ich als Kind zu hören bekam.
Ich bin meinem Vater dafür nicht böse. Ohne diesen Druck, ohne diese eiserne Disziplin, die er von Dennis und mir einforderte, wären wir beide womöglich niemals Eishockeyprofis geworden. So wie Mama wollte auch er für uns stets das Beste. Allerdings war das »Beste« bei ihm anders definiert, denn es ging nur über Leistung und Training und nicht wie bei Mama über Harmonie und Liebe. Vielleicht konnte er seine Gefühle nicht zeigen.
Bisweilen spürte ich nach Spielen allein an seinen Blicken und an seiner Körpersprache, ob er zufrieden war mit mir – oder auch nicht. Das ging so weit, dass ich dachte, ich sei in seinen Augen nur etwas wert, wenn ich im Sport gut performe. Ich musste immer der Beste sein, um seine Ansprüche an mich zu erfüllen – und meine. Ganz gleich in welcher Sportart, und wenn es nur der Weitsprung bei den Bundesjugendspielen war: Platz zwei war für mich grundsätzlich eine Niederlage.
Einmal spielten wir in Schwenningen ein Juniorenturnier mit den Nachwuchsmannschaften aller DEL-Teams. Als bester Spieler des Turniers wurde Alexander Steen geehrt, Sohn des schwedischen NHL-Stars Thomas Steen, der seine Karriere bei den Eisbären Berlin ausklingen ließ. Alex erzielte für das Jugendteam der Eisbären 16 Scorerpunkte, ich folgte auf Rang zwei mit 15 Zählern, die ich während des Wochenendes für meinen ERC Schwenningen erzielt hatte. Ich hätte mich freuen können über diese starke Leistung, tat ich aber nicht. Denn es gab eben jemanden, der noch besser war als ich. Und das widersprach meinem Selbstverständnis.
Und dann war da noch mein älterer Bruder. Ich hatte das Gefühl, eine noch bessere Performance abliefern zu müssen, um von meinem Vater halbwegs so respektiert zu werden wie er. Waren wir auf dem Tennisplatz, spielte Papa jedes Mal mit Dennis, weil er älter und besser war als ich. Vater sagte mir, ich solle mit Mama spielen, und wenn sie nicht da war, halt mit der Ballwand. Das nur als Beispiel dafür, warum ich mich benachteiligt fühlte und im Glauben aufwuchs, Dennis werde ohnehin bevorzugt – ganz abgesehen davon, dass er der bravere Bursche von uns beiden war und auch in der Schule weniger aufbegehrte als ich. Er legte sich nicht mit den Lehrern an oder lief nie wutentbrannt aus dem Klassenzimmer, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Ich hingegen schon.
Im Jahr 1999, ich war 15 Jahre alt, hatte ich meine erste Freundin, ein Mädel aus der Nachbarschaft. Bis dahin waren mir Mädchen ziemlich egal, ich dachte nur an Sport. Doch als ich sie näher kennenlernte, verliebte ich mich sehr schnell, wollte nur noch bei ihr sein. Sie wollte sich dem Establishment nicht völlig anpassen, brach etwas aus in ihrem Auftreten und in ihren Klamotten, es war ein Hauch von Rebellion. Ich fand das spannend und aufregend. Häufig fuhr mich Mama nach dem Mittagessen zu ihr und holte mich zwei Stunden später ab, um mich zum Training zu bringen. Am liebsten wäre ich danach wieder zu ihr hin, aber das war zu spät. Ich musste warten bis zum nächsten Tag.