Provenzalischer Stolz - Sophie Bonnet - E-Book
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Provenzalischer Stolz E-Book

Sophie Bonnet

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Beschreibung

Einsame Lagunen, alte Fischerdörfer und eine finstere Prophezeiung … Pierre Durand ermittelt in der malerischen Camargue.

Die Angst geht um in der Camargue. Während Pierre Durand in einem Hausboot durch das Rhônedelta fährt, um über seine berufliche Zukunft nachzudenken, verbreitet sich ein Kettenbrief mit einer Weissagung, die den Tod dreier Sünder ankündigt. Tatsächlich wird kurz darauf ein Toter mit geschwärztem Gesicht aufgefunden. Es handelt sich um einen Kriminalbeamten, der verdeckt im Milieu der »gens du voyage« ermittelt hatte. Doch es gibt einen Zeugen, der sich an Bord von Pierres Hausboot versteckt und behauptet, sein Gedächtnis verloren zu haben. Der Präfekt bittet den ehemaligen Dorfpolizisten um Unterstützung. Mit Hilfe einer »gitane« versucht Pierre, dem Geheimnis der Kettenbriefe auf die Spur zu kommen. Alles deutet auf einen Konflikt zwischen den Kulturen hin, doch ein weiterer Mord rückt die Verbrechen in ein neues Licht. Pierre erkennt, dass er auf seine Intuition vertrauen muss, um zu verhindern, dass sich auch noch der letzte Teil der Prophezeiung erfüllt …

»Niemand verbindet Genuss und Verbrechen so harmonisch wie Sophie Bonnet in ihren Provence-Krimis.« Hamburger Morgenpost

Lesen Sie auch weitere Romane der hoch spannenden »Pierre Durand«-Reihe!
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 420

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Buch

Die Angst geht um in der Camargue. Während Pierre Durand in einem Hausboot durch das Rhônedelta fährt, um über seine berufliche Zukunft nachzudenken, verbreitet sich ein Kettenbrief mit einer Weissagung, die den Tod dreier Sünder ankündigt. Tatsächlich wird kurz darauf ein Toter mit geschwärztem Gesicht aufgefunden. Es handelt sich um einen Kriminalbeamten, der verdeckt im Milieu der »gens du voyage« ermittelt hatte. Doch es gibt einen Zeugen, der sich an Bord von Pierres Hausboot versteckt und behauptet, sein Gedächtnis verloren zu haben. Der Präfekt bittet den ehemaligen Dorfpolizisten um Unterstützung. Mit Hilfe einer »gitane« versucht Pierre, dem Geheimnis der Kettenbriefe auf die Spur zu kommen. Alles deutet auf einen Konflikt zwischen den Kulturen hin, doch ein weiterer Mord rückt die Verbrechen in ein neues Licht. Pierre erkennt, dass er auf seine Intuition vertrauen muss, um zu verhindern, dass sich auch noch der letzte Teil der Prophezeiung erfüllt …

Autorin

Sophie Bonnet ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Mit ihrem Frankreich-Krimi »Provenzalische Verwicklungen« begann sie eine Reihe, in die sie sowohl ihre Liebe zur Provence als auch ihre Leidenschaft für die französische Küche einbezieht. Mit Erfolg: Der Roman begeisterte Leser wie Presse auf Anhieb und stand monatelang auf der Bestsellerliste, ebenso wie die darauffolgenden Romane um den liebenswerten provenzalischen Ermittler Pierre Durand. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Von Sophie Bonnet bereits erschienen

Provenzalische Verwicklungen · Provenzalische Geheimnisse · Provenzalische Intrige · Provenzalisches Feuer · Provenzalische Schuld · Provenzalischer Rosenkrieg

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Sophie Bonnet

Provenzalischer Stolz

Ein Fall für Pierre Durand

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Karte

Prolog

Es hieß, dass man am Übergang zur jenseitigen Welt diejenigen Bilder an sich vorüberziehen ließ, die einen am meisten bewegten. Er hatte immer gedacht, dass er Szenen aus seiner Kindheit sehen würde, die nicht einfach gewesen war, und seinen Weg von ganz unten hinauf. Aber während er unter glühenden Schmerzen zu Boden fiel und den sumpfig-modrigen Geruch wahrnahm, den Duft des Strandflieders, dachte er an jenen Tag, als er mit Alejandro hier gewesen war, am Étang de Vaccarès.

Der Junge liebte diesen Ort, und so waren sie gemeinsam hingefahren, obwohl Alejandro kaum noch Kraft hatte und seine Ausfälle stärker wurden. Alles in der Hoffnung, der Anblick dieses Paradieses, der unberührten Natur, würde ihm Gottes unsichtbares Wesen zeigen, seine ewige Stärke.

Also waren sie den Weg entlanggefahren, der durch das Schwemmland führte, vorbei an Sümpfen und Salzwiesen bis hinauf zum See. Er hatte den Fahrtwind im Gesicht gespürt und nicht geahnt, dass er Jahre später genau an diesem Ort sein Leben lassen würde. Erstaunlich, dachte er, wie schnell einen das Schicksal von ganz oben in die Tiefe stürzen ließ. Wie hart man aufschlug, weil es nichts gab, um den Sturz abzufedern.

An jenem Tag hatten sie den Wagen vor dem Zaun geparkt, gleich bei den Schildern, die davor warnten, diesen Bereich zu betreten. Doch Alejandro hatte keine Angst, er war schon oft über den Zaun geklettert. Der Stacheldraht hatte ihm ein ums andere Mal die Hosen zerrissen, bis Minette ihm nur noch mit einem Achselzucken Nadel und Faden in die Hand drückte, mit denen er die Löcher selbst zu kleinen Wulsten zusammennähte, die seine Hosen wie Narben überzogen.

Narben, die er mit Stolz vor sich hertrug und die ihm die Achtung der anderen Jungen einbrachten. Er war der Bezwinger der Stiere! Wenn er groß war, so erzählte er, würde er ein bedeutender raseteur werden und in der Arena von Saintes-Maries-de-la-Mer auftreten, wo die courses camarguaises ausgetragen wurden, die unblutigen Wettkämpfe, bei denen es lediglich darum ging, den Stieren die zwischen den Hörnern angebrachte Trophäe abzutrotzen, die cocarde.

Wusste er denn nicht, dass Stolz eine Sünde war?

Sie hockten sich ins Dünengras, um die Stiere aus allernächster Nähe zu beobachten. Das dunkel glänzende Fell, das elegante Muskelspiel. Alejandro hob einige Steinchen auf und warf sie in einem Regen in Richtung der Tiere, bereit zurückzurennen und sich mit einem Sprung über den Zaun auf den Sandweg zu retten. Er schimpfte mit dem Jungen, er sei viel zu geschwächt für einen solchen Sprung. Aber die Stiere blieben unbeeindruckt, standen weiter träge im Licht der Abendsonne und taten, als hätten sie die beiden nicht bemerkt.

Sie waren geblieben, bis die Tiere die Köpfe hoben und dem Leitstier über die bewachsenen Dünen den Weg zurück zu den Ställen folgten. Dann hatten sie sich erhoben und waren durch das Schwemmland gedrängt bis an den See. Hatten sich an den Ufersaum gesetzt und dort verharrt, bis sie mit der sie umgebenden Natur verschmolzen.

Wenn man sich ganz still verhielt, konnte man den Seidenreihern mit ihrem silbrig weißen Gefieder dabei zusehen, wie sie mit schnellen Schritten durch sumpfige Wiesen wateten oder im Wasser auf der Stelle stampften, um Insekten aufzuscheuchen, Eidechsen oder Frösche. Wenn sie dabei die Brustfedern spreizten, sahen sie aus wie Brautjungfern, die einen Tanz aufführten.

Ein Flamingo stob auf und kreiste über dem Étang de Vaccarès, bevor er sich entfernte. Ein immer kleiner werdender Punkt, der sich schließlich im Rotviolett des Himmels verlor. Das Bild verschwamm. Es war so weit.

Regungslos und mit in Schreck und Panik erstarrten Augen sah er über das ruhige Wasser, das gefärbt war von der Glut der Abendsonne. Bald würde sie den Horizont berühren und darin versinken. Doch nicht für ihn.

Der glühende Schmerz in seiner Brust ließ nach, löste sich auf.

Während das Licht immer heller wurde und ihn mit sich riss, dachte er an den Brief. Es war ein Fehler gewesen herzukommen. Er hätte wissen müssen, dass er gemeint war.

Wehe, ihr Sünder, denn eure Verfehlungen blieben IHM nicht verborgen. Also seid bereit, wenn der Tag des Gerichts gekommen ist.

1

»Pierre? Bist du hier draußen?«

»Merde!« Er musste eingeschlafen sein. Als er die Lider öffnete, sah er in dichtes Blattwerk. Dahinter der Himmel, der apricot schimmerte. Bald würde er die Farbe reifer Feigen annehmen.

Mühsam richtete Pierre sich auf. Vor ihm lag der Bach, der seinen Hof von der Straße trennte. Im Frühjahr, während der heftigen Regenfälle, war das Wasser über die Ufer getreten, doch nun war er nur noch ein schmales Rinnsal, das vor sich hin gurgelte.

Er rieb sich die Augen und sah in Richtung des Hofes. Charlotte hatte ihn noch nicht entdeckt. Sie stand vor der schmiedeeisernen Bank bei der Laube, die Hände in die Hüften gestützt, und blickte sich um.

Seit seiner Suspendierung im vergangenen Monat hatte Pierre es sich zur Gewohnheit gemacht, den Tag dort mit einem Krug Rosé ausklingen zu lassen und dabei die Wärme der Abendsonne auf der Haut zu genießen. Nun aber, da die Temperaturen der letzten Junitage beinahe vierzig Grad erreichten, war es ihm zu heiß geworden.

Pierre hatte im Schatten einer Esche Schutz vor der Sonne gesucht und vor der drückenden Hitze, die sie nach dem abendlichen Eintauchen hinter das Eichenwäldchen auf dem Hof zurückließ. Er hatte sich an den Stamm des Baumes gelehnt, den Blick in die Krone gerichtet. Dabei hatte er die Augen geschlossen, ganz kurz nur, um dann doch einzuschlafen. So fest, dass er es nicht bemerkt hatte, als Charlotte von der Arbeit nach Hause gekommen war.

»Pierre, wo steckst du denn?«

Er fuhr sich mit den Händen übers Haar und stand auf, um ihr entgegenzugehen.

War sie schon im Haus gewesen?

Der Gedanke an das Chaos, das er in der Küche hinterlassen hatte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Die Schale mit dem espadon au citron, dem Schwertfischfilet in Zitronensauce, das Charlotte gestern aus ihrer L’Épicerie provençale mitgebracht hatte, stand leer gekratzt neben dem benutzten Teller samt Besteck auf dem Tisch. Und bei der Spüle lag noch das halb gegessene Croissant vom Morgen, daneben Wurstpelle und ein Häufchen Käseränder in einem Meer aus Krümeln.

Charlotte hasste Unordnung, und er hatte sie längst beseitigen wollen. Aber er hatte die Zeit vergessen. Pierre beschleunigte seinen Schritt.

Doch dann dachte er an das angekündigte Gespräch, das ihm bevorstand, und blieb stehen, rieb sich unentschlossen mit der Hand über das unrasierte Kinn.

»Du musst endlich Widerspruch einlegen«, hatte Charlotte ihn am Morgen angefleht. »Die Suspendierung wird sonst rechtskräftig. Heute Abend reden wir noch einmal darüber, ja?«

Pierre hatte nur gebrummt. Seine Suspendierung war überzogen gewesen. Der neue Bürgermeister hatte vollkommen überreagiert, nur weil er sich krankgemeldet hatte, während er privat in einem Fall ermittelte. Und weil ihn ein Journalist in Uniform vor den Toren des Untersuchungsgefängnisses in Grasse abgelichtet hatte, bevor er sie auszog. Was den Eindruck vermittelte, er hätte als Polizeibeamter auftreten wollen. Ein Eintrag in die Personalakte hätte ausgereicht, aber Maurice Marechal musste ja gleich das ganz große Geschütz auffahren.

Charlotte hatte recht, der Widerspruch war aussichtsreich, doch sein Stolz hielt Pierre zurück.

Vielleicht hätte er es ertragen, die nächsten Jahre unter einem solchen Idioten zu arbeiten – wenn er sich des Rückhalts der Gemeindevertreter sicher gewesen wäre. Anfangs hatte es auch ganz danach ausgesehen, als seien sie auf seiner Seite. Sie hatten versichert, die Entscheidung bei einer Dringlichkeitssitzung anzufechten. Der stellvertretende Gemeinderatsvorsitzende François Pistou, ein pensionierter Rechtsanwalt, hatte von einem groben Fehler gesprochen, der rückgängig gemacht werden müsse, so wahr er hier stehe. Doch seither war nichts geschehen. Und je mehr Zeit verstrich, desto weiter schien der Fall hinter das Tagesgeschäft zurückzutreten. Sollte er nun etwa zu Kreuze kriechen, um das zu ändern?

Pierre schüttelte den Kopf, so, wie er es auch heute Morgen getan hatte. Nein, niemals!

»Du warst doch immer zufrieden mit deinem Beruf«, hatte Charlotte entgegnet. »Es hat dir Freude gemacht, für die Sicherheit der Dorfbewohner zu sorgen. Und seit Commissiare Lechat aus Cavaillon dir zugesichert hat, dich bei Kriminalfällen rund um Sainte Valérie in die Ermittlungen einzubeziehen, bist du in einer bequemen Position. Willst du all das etwa widerstandslos aufgeben?«

»Ohne die Zustimmung von Monsieur le maire Marechal geht da gar nichts, und er wird diese Regelung zu torpedieren wissen«, widersprach Pierre. »Er ist ein Idiot!«

»Mag sein. Aber im Streit wird oft heißer gekocht als gegessen. Ihr könnt euch bestimmt arrangieren.«

»Das glaubst du ja selbst nicht.«

»Doch, ich bin sogar davon überzeugt.«

Woher diese sagenhafte Überzeugung rührte, hatte sie allerdings nicht erwähnt, aber so war sie, seine Charlotte, ein Ausbund an Optimismus, egal, wie tief der Sumpf war, in dem man steckte.

Im Gegensatz zu ihm wusste sie, was sie wollte. Sie ging ihren Weg, verließ ihn immer dann, wenn etwas im Wege stand, um mit erstaunlich emotionaler Gelenkigkeit an anderer Stelle wiederaufzutauchen, von der sie eine bessere Aussicht hatte als zuvor. So hatte sie ursprünglich ein eigenes Restaurant eröffnen wollen, war aber vor den immensen Kosten zurückgeschreckt und vor der Unmöglichkeit, eine geeignete Lokalität zu finden.

Charlotte wäre nicht Charlotte, wenn sie nicht eine Lösung gefunden hätte, die die ursprüngliche noch weit übertraf.

Als ihr jemand ein hübsches kleines Ladenlokal an der Rue du Pontis direkt gegenüber der Aussichtsplattform anbot, warf sie kurzerhand ihre Pläne über den Haufen und eröffnete die L’Épicerie provençale, in der sie mit wenig Personalaufwand frisches Essen zum Mitnehmen herstellte. Ein »Restaurant to go« sozusagen, das sich innerhalb kürzester Zeit zu einem Geheimtipp entwickelte und ihr eine begeisterte Stammkundschaft bescherte. Das Bürgermeisteramt hatte ihr sogar die Genehmigung erteilt, zwei Tische vor der Épicerie aufzustellen, die den Umsatz gewiss noch erhöhen würden. Was ihn natürlich freute, ihm sein eigenes Dilemma jedoch erbarmungslos vor Augen führte.

Charlotte erfolgreich in ihrem geliebten Laden und er … nun ja. Er sollte alldem mit unverdrossenem Gleichmut begegnen. Es als Ansporn begreifen, um sich mit Tatkraft gegen die innere Ödnis zu stemmen. Aber er konnte es nicht, er war auch nur ein Mensch.

»Warum kümmerst du dich nicht um eine neue Anstellung?«, hatte sie ihn einmal gefragt, erschöpft von seiner Starrköpfigkeit.

»Für mich gibt es eben keinen Plan B.«

»Es gibt immer einen Plan B. Man muss den Gedanken nur zulassen.«

Pierre dachte an ihre glühenden Wangen und an das Lächeln, das noch eine Spur strahlender geworden war, als könne ihn alleine ihre Zuversicht überzeugen. Stattdessen löste sie damit einen Abwehrreflex aus, der sich nun in seinem Nacken festkrallte und ihn einen Schritt rückwärts trieb. Er hatte nicht die geringste Lust darauf, sich wie ein Schuljunge behandeln zu lassen, der nur ein wenig Nachhilfe in der Kunst des Lebens brauchte, um ihn wieder auf die Spur zu setzen.

»Pierre, du versteckst dich doch nicht etwa vor mir?« Charlottes Stimme klang jetzt ganz nah, als sei sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.

Er drehte sich in Richtung der Brücke, die über den Bach auf die Straße führte, und schlich, als er erkannte, dass ihm dieser Weg versperrt war, an der rückwärtigen Wand des Hauptgebäudes entlang und durch das Eichenwäldchen hinüber zum Stall.

Leise öffnete er die Tür des Lagerraumes, schob sich an den mit Heu gefüllten Stiegen vorbei, an den Eimern mit Pellets und an den Salzlecksteinen und betrat den Bereich, in dem die beiden Ziegen untergebracht waren.

Der Geruch nach Mist und Tier schlug ihm entgegen. Obwohl die Steinmauern die Hitze des Tages aussperrten, war es stickig und warm. Durch die Öffnung, die zum Außengehege führte, drang kein Windhauch. Schon seit Tagen nicht. Wo sich sonst gegen Mitternacht die Luft in Bewegung setzte, um den Stalldunst durch die hereinströmende Nachtluft zu ersetzen, hatten die vergangenen Tropennächte für bleiernen Stillstand gesorgt.

Pierre hielt inne, atmete ein paarmal ein und aus, bevor er sich der weiß-braun gescheckten Cosima und ihrer maronenfarbenen Tochter Lilou näherte – Ergebnis der Affäre mit einem Roveziegenbock. Die beiden Ziegen zogen den Stall der Gluthitze des Außengeheges vor, standen wie erstarrt und mit gesenkten Köpfen da, sichtlich erschöpft.

Der Uhrmacher Didier Carbonne, der jeden Morgen vorbeikam, um Cosima zu melken und die Tiere zu versorgen, hatte zu Beginn der Hitzeperiode einen altersschwachen Ventilator mitgebracht, um den Aufenthalt im Stall einigermaßen erträglich zu machen. Doch als nach wenigen Umdrehungen die Sicherung raussprang und sich das Monstrum fortan nicht mehr in Bewegung setzen ließ, hatte er aufgegeben.

»Die Leitungen sind zu alt, die Anlage muss komplett erneuert werden«, hatte der herbeigerufene Elektriker gesagt und war ohne einen Auftrag wieder davongestiefelt.

»Zweitausend Euro«, stieß Pierre beim Gedanken an den Kostenvoranschlag aus. Wenn man in der Provence zweitausend sagte, konnten es leicht auch drei werden. Der Mechaniker Stephane Poncet hatte seine Hilfe angeboten. Er werde demnächst vorbeischauen, um das Ganze für einen Freundschaftspreis provisorisch zu flicken. Das war vor sechs Tagen gewesen, und Pierre wusste, dass Zeit hier eine relative Größe war und es nichts brachte, Poncet zu drängen, wenn er nicht drei Monate warten wollte.

Er trat ein Stück näher. »Na, ihr beiden Hübschen«, sagte er mit sanfter Stimme, »lasst ihr mich in eure Mitte?«

Cosima drehte sich träge um, ging einen Schritt auf ihn zu und blieb beim Anblick seiner leeren Hände wie angewurzelt stehen.

»Was willst du? Die Raufe ist doch noch randvoll!«

Seine Stimme klang laut in der Stille des ehemaligen Heuschobers. Nun hob auch Lilou den Kopf, doch sie schüttelte ihn nur, als wolle sie eine Fliege verscheuchen, und schloss wieder die Augen. Cosima hingegen machte einige Schritte auf Pierre zu und sah ihn fragend an. Dann drehte sie sich mit vorwurfsvollem Meckern zum Wassertrog. Er war leer.

»Ihr Armen, es tut mir furchtbar leid«, murmelte Pierre. Er ging in die Futterkammer, nahm einen Eimer und drehte den Hahn in der Steinmauer auf. Dann ließ er das Wasser in das Auffangbecken laufen, bis es kühl aus der Leitung kam, füllte den Eimer und ging zurück in den Stall. Während die Ziegen direkt aus dem Eimer tranken, wobei ihre Hörner klangvoll gegen das Metall stießen, setzte er sich auf einen Heuballen.

»Ihr müsst mich eine Weile bei euch aufnehmen«, sagte Pierre, als Cosima den Kopf hob und sich zu ihm gesellte. »Charlotte möchte, dass ich Widerspruch gegen die Suspendierung einlege. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das irgendetwas an meiner Lage ändert.«

Er legte eine Hand auf den Rücken der Ziege. Strich über das borstig-kurze Fell. Er musste zugeben, dass ihn die Suspendierung anfangs sogar erleichtert hatte. Es war Klartext gesprochen worden, die unterschwellige Aversion war offenbart. Und das war ihm lieber als das ständige Taktieren.

»Unser lieber Bürgermeister«, erklärte er, »gibt sich nach außen als liebender Familienvater und großer Kümmerer. Die Bewohner von Sainte-Valérie sind begeistert von seiner Tatkraft und scheinen sich auf seine Seite zu schlagen. Niemand glaubt mir, dass er ein Narziss ist, der es liebt, wenn man ihm schmeichelt, und der wegen jeder Kränkung gleich Köpfe rollen lässt. Was, meinst du, wird wohl passieren, wenn ich gegen seine Entscheidung angehe und mir meinen Posten zurückhole, hm?«

Cosima öffnete die Augen und sah ihn ernst an.

»Er wird mich schikanieren«, gab Pierre zur Antwort. »Er wird mich zu einem Bürohengst degradieren, der von morgens bis abends Akten sortiert und mit etwas Glück Falschparkern Knöllchen verteilen darf. Will ich das?«

Cosima meckerte und schüttelte den Kopf.

»Du versteht mich wenigstens. Im Gegensatz zu Charlotte.«

»Das ist nicht wahr! Ich verstehe dich sehr wohl.«

Pierre fuhr herum. Charlotte lehnte am Türrahmen, die Hände in den Rocktaschen. Das Gesicht lag im Halbdunkel, doch Pierre meinte, darin Resignation zu erkennen.

»Ja«, fuhr sie fort. »Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht einfach für dich ist. Aber was sind die Alternativen?«

»Keine Ahnung!« Pierre stieß es so harsch aus, dass Cosima zurückzuckte und sich trollte. »Philippe hat mir angeboten, ihm in der Bar zur Hand zu gehen, aber das ist nichts für mich. Und Carbonne meinte, ich solle eine Detektei oder einen Sicherheitsdienst eröffnen, um leer stehende Ferienhäuser vor Einbrechern zu schützen. Jetzt mal ehrlich, kannst du dir vorstellen, wie ich einer gekränkten Ehefrau Fotos von ihrem abtrünnigen Mann liefere oder vor den schicken Anwesen irgendwelcher Ferienhausbesitzer patrouilliere?«

»Es gibt viele Menschen, die einen Sicherheitsdienst brauchen, immerhin macht die Einbruchserie der vergangenen Wochen alle nervös.«

»Nein, verdammt!« Pierre erhob sich. »Ich will keinen Job, bei dem ich irgendwo Wache stehe und die ganze Zeit nur Däumchen drehe.«

»Das tust du doch längst. Ich meine, Däumchen drehen.« Charlotte nahm die Hände aus den Rocktaschen und hob die Schultern. »Seit Mitte Mai hängst du nur herum und schlägst die Zeit tot. Die Kreditraten für das Haus laufen weiter, irgendwann kannst du dir das alles hier nicht mehr leisten. Es sei denn, du nimmst mein Angebot an und lässt mich Miete zahlen …«

»Ausgeschlossen!« So tief konnte er nicht sinken, dass er sich von seiner Freundin aushalten ließ. »Außerdem habe ich gestern den Pachtvertrag mit Martin Cazadieu unterzeichnet. Laut Gutachten ist der Boden unter dem brachliegenden Feld für den Weinanbau noch immer geeignet, und da hat er sofort zugeschlagen. So kommt auch ein bisschen Geld rein.«

»Wie viel?«

»Zweihundertfünfzig Euro monatlich. Schon ab ersten Juli. Das ist sehr anständig, die Fläche ist ja nicht allzu groß. Dafür bekommt er zusätzlich den hinteren Teil des Stalls als Lagerplatz, dort, wo früher der Knoblauch getrocknet wurde.«

»Schön, aber das reicht nicht zum Leben.«

»Ich brauche nicht viel.«

»Und was ist mit …«, sie stockte, »unseren Plänen, unserer Zukunft?«

Verärgert schnalzte Pierre mit der Zunge. »Erwartest du tatsächlich, dass ich irgendeinen Job annehme, nur damit sich deine Träume erfüllen?«

»Ich dachte, es sind auch deine Träume.«

»Jetzt, in dieser Lage? Verdammt, das ist eine weitreichende Entscheidung. Und sie kommt zur falschen Zeit.«

Sie legte den Kopf schräg, mühsam gefasst. »Und wann, glaubst du, ist die richtige Zeit?«

»Zumindest nicht, solange ich keine Familie ernähren kann.«

»Ich kann das tun …«

Fassungslos sah er sie an. »Ach. Und wo bin ich in deinen Träumen? Soll ich dann etwa zu Hause bleiben und die Kinder großziehen?«

»Wäre das denn so abwegig? Manche Männer machen das mit Freuden, es ist geradezu modern.«

Er brachte kein Wort heraus, was gut war, denn er würde nur brüllen.

Charlotte schob die Hände zurück in die Rocktaschen, langsam, als müsse sie sich dabei konzentrieren. »Ich sehe schon«, sagte sie mit müder Stimme. »Das ist keine Option für dich. Aber das hier ist keine Schönwetterbeziehung. Ich bin an deiner Seite, auch wenn es mal stürmt. Ich werde immer für dich da sein. Dir zuhören, anpacken und dich unterstützen, wenn du willst auch finanziell.« Sie nickte mit Nachdruck. »Ja, auch das. Ich verdiene gut, die Épicerie läuft immer besser, ebenso die kulinarischen Wochenenden mit Martin. Warum sollte ich nicht auch etwas zu unserem Leben beitragen? Halte mich bitte nicht aus deinen Problemen heraus. Und vor allem erwarte nicht, dass ich meinen Traum von einer eigenen Familie aufgebe, nur weil du zu stolz bist, meine Hilfe anzunehmen. Ich werde auch nicht jünger. Mit fünfunddreißig ist eine Schwangerschaft noch möglich. Aber wenn wir zu lange warten, ist es irgendwann zu spät dafür.«

Damit drehte sie sich um und ging hinaus.

»So ein verdammter Sch…«

Pierre dachte an den Abend in Banyuls-sur-Mer, als sie unter einer Wolldecke dem stürmischen Novemberwetter trotzend am Meer gesessen hatten. Damals hatte er gewusst, dass er mit keiner anderen sein Leben verbringen wollte als mit Charlotte. Aber an jenem Abend hatte sie ihm auch versprochen, keine Bedingungen zu stellen. Und nun tat sie es doch.

Er stieß die Luft aus. Klopfte dann das Stroh von der Jeans und folgte ihr. Blieb mitten auf dem Hof stehen und starrte in die zunehmende Dunkelheit.

Er konnte jetzt nicht ins Haus gehen. Lieber würde er mit dem Fahrrad ins Dorf fahren, um in der Bar du Sud etwas zu trinken und Karten zu spielen. Die Männer dort verstanden ihn sicher besser.

2

Als Pierre die Straße zum mittelalterlichen Stadttor erklomm, war das Lachen der Nachtschwärmer bereits zu hören. Er schob sein Fahrrad durch das Stadttor in Richtung der Place du Village und beobachtete die Menschen, die durch die erleuchteten Gassen von Sainte-Valérie schlenderten. Manche standen beim Bouleplatz und sahen den Spielern zu, die sich angesichts der Zuschauer besonders lässig gaben. Andere saßen auf der Terrasse des Chez Albert, dessen Küche um diese Zeit normalerweise längst geschlossen hatte, und am Brunnen tanzten zwei Mädchen zu den Klängen eines Akkordeons.

Pierre freute sich, in die Stimmung einzutauchen, sich fallen zu lassen und mitzuschwimmen im vergnüglichen Strom. Und darauf, den Streit in einem bière pression zu ertränken, bevor er zum Rotwein übergehen würde. Einem fruchtig-kirschigen Cuvée aus Grenache und Cinsault, den Philippe und Georgette, die Besitzer der Bar, seit Neuestem von Martin Cazadieus mit unendlichen Schätzen bestückten Weinhandlung bezogen.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er in die Bar gefahren war, die Wochen seit der Suspendierung waren verflogen, ohne dass er sagen könnte, womit er sie gefüllt hatte. Anfangs war er noch voller Tatendrang gewesen. Er hatte sich bei der Pôle emploi arbeitssuchend gemeldet und Ordnung in seine private Ablage gebracht, alte Rechnungen vernichtet und neue sortiert. Ein wenig besorgt, wie er die kommenden zahlen sollte, denn selbst mit seinem vollen Gehalt waren die Ausgaben für das Haus – der Kredit, die Nebenkosten, die anstehenden Reparaturen – nur knapp zu stemmen gewesen. Damals überwog noch die Zuversicht. Er wollte die Stellenangebote der Zeitungen studieren, auf die Rückmeldung der Arbeitsvermittlung warten und bis dahin seine Freiheit genießen.

Pierre war nach L’Isle-sur-la-Sorgue gefahren, hatte sich eine Angel besorgt und sich damit an das Geländer der steinernen Brücke gelehnt, die zu seinem Hof führte. Dafür war er extra früh aufgestanden, weil sich die Fische rar machten, wenn die Sonne zu hoch stand. Er hatte Forellen aus dem kristallklaren Wasser gezogen und für Charlotte und sich gegrillt. Bis es ihm schließlich zu mühsam geworden war, sich im Morgengrauen aus dem Bett zu quälen.

Mit gerötetem Gesicht stellte Pierre das Fahrrad vor der Bar du Sud ab und ging hinein, durstig von der Anstrengung des Fahrens. Selbst jetzt, um zehn Uhr abends, war die Temperatur kaum gesunken, noch immer lag sie weit über dreißig Grad.

Der Deckenventilator blies ihm einen Schwall stickige Luft entgegen. Die Bar war nur zur Hälfte gefüllt, doch der Lärmpegel war so hoch, als platze sie aus allen Nähten. Aus dem Stimmengewirr quoll Lucs helles, glucksendes Lachen hervor. Sein ehemaliger Assistent saß dem Vernehmen nach am Stammplatz der älteren Dorfbewohner, und Pierre wandte sich nach links, um sich zu ihnen zu gesellen.

»Alors quoi?«, drang Serge Oudards Stimme aus der Ecke. »Er ist selbst schuld. Warum hat er den Bürgermeister angelogen? Natürlich konnte Marechal ihm das nicht durchgehen lassen, wie hätte er denn dann dagestanden! Die Suspendierung war das einzig Richtige.«

Pierre hielt inne. Ging es etwa gerade um ihn? Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Serge Oudard besaß einen Krämerladen in der Rue du Portail, wo er den Touristen mit frisch geschnittenen Oliven und Kräutern garnierte Fertigpizza als Spezialität des Hauses verkaufte. Ausgerechnet der empörte sich über eine Lüge?

Er trat näher, um dem Gespräch besser folgen zu können.

»Du bist doch nicht etwa auf der Seite von diesem Lackaffen? Marechal wollte die Muskeln spielen lassen, ganz ohne Grund. Die Ausrichtung des Kinderfestes hätte jeder andere auch übernehmen können. Aber er wollte Pierre nicht gehen lassen, obwohl der ihm sagte, wie dringlich es sei.«

Das war Luc. Pierre lächelte gerührt.

»Ah, bon, dringlich nennst du das? Ganz ehrlich: Da steigt eine in Bedrängnis geratene Freundin aus der Versenkung, und die gute Charlotte hat nichts Besseres zu tun, als unseren Chef de police loszuschicken, damit er Nachforschungen anstellt. Ohne Rücksicht auf seinen Posten!« Ein gehässiges Lachen folgte. »Und was macht Pierre? Lässt alles stehen und liegen, um ihr den Wunsch zu erfüllen, weil er nicht die Eier hat, ihr zu widersprechen.«

So ein Hornochse! Pierre ballte die Hände zu Fäusten. Oudard verdrehte die Tatsachen. Die angeblich aus der Versenkung Entstiegene war immerhin Charlottes beste Freundin, festgenommen wegen dringenden Mordverdachts. Obwohl das Gift nicht dem Toten, sondern ihr selbst gegolten hatte. Und dieser Griesgram von Oudard stellte es so dar, als hätte er sich durch die Gegend schicken lassen! Der hatte noch nie kapiert, worum es im Leben ging, dafür fehlte es ihm an Feinsinn und Menschlichkeit. Aus seinem Mund hatte Pierre noch nie ein gutes Wort gehört. Alles war furchtbar, empörenswert, das ganze Leben. Armselig!

»Keine Eier«, hatte Oudard gesagt, und es hatte geklungen, als sei er in dessen Augen eine Memme.

Pierre unterdrückte den Impuls hineinzugehen und dem Krämer mit der Faust zu zeigen, dass er sehr wohl Eier hatte. Doch er war zu neugierig, wie das Gespräch weiter verlief und wer ihm in diesem Wortgefecht noch beisprang. Er hatte vorhin auch die Stimme von Didier Carbonne herausgehört, dem verwitweten Uhrmacher. Und die von Arnaud Rozier, dem ehemaligen Bürgermeister, der sich seit seiner vorzeitigen Pensionierung zur Überraschung aller nahtlos in den Kreis der Dorfbewohner einzufügen schien. Gespannt, was die beiden Oudard entgegnen würden, schob er sich ein Stück vor und lugte um die Ecke, bis er die Männer sehen konnte, die an einem Tisch beisammensaßen, die Spielkarten in der Hand.

Und tatsächlich, Didier Carbonne legte sein Blatt umgedreht auf den Tisch und wiegte den Kopf. Jetzt, dachte Pierre, jetzt wird Oudard sein Fett abbekommen!

»Nun, das ist gar nicht so einfach mit den Frauen. Die haben heutzutage die Hosen an«, bestätigte der Uhrmacher stattdessen. »Man muss sich ziemlich wehren, wenn man nicht untergehen will. Und wehe, du bist anderer Meinung.«

»Von wem sprichst du?«, fragte Luc. »Du bist doch alleinstehend.«

»Na, von Rosalie … ich meine, Madame Duprais. Die redet plötzlich nur noch so religiöses Zeug und will, dass ich mit dem Trinken aufhöre, damit mich der Teufel nicht holt. Und weil zu üppiges Essen ja eine Sünde ist, gibt es auf einmal nur noch Suppen. Und irgendwelches Gemüse.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Pft, ohne mich!«

»Meine Frau hat in letzter Zeit auch so komische Anwandlungen«, erklang die Stimme von Stephane Poncet, dem Mechaniker, den Pierre von seinem Platz aus nicht sehen konnte. »Sie will, dass ich am Sonntag mit ihr in die Kirche gehe.«

»Und? Machst du das?«

»Bist du verrückt? Ich schütze lieber ein paar ungeplante Aufträge vor. In der Werkstatt steht ein Fernseher, da lässt es sich aushalten.«

Die Männer lachten, einige nickten wissend.

»Ihr seid eben noch echte Kerle. Aber Pierre …« Oudard bleckte die Zähne. »Wisst ihr noch, was für ein Mann er war, als er hier ankam? Der hat sich so schnell nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Aber seit er mit Charlotte zusammengezogen ist, mutiert er zum Lämmchen.«

»Eher zum Pascha«, entgegnete Poncet. »Meine Jüngste arbeitet doch in Charlottes Épicerie. Isabelle hat mir erzählt, dass Pierre anfangs sogar immer in die Stadt gekommen ist, um seine Freundin von der Arbeit abzuholen. Ein, zwei Wochen lang ging es so. Und dann ist er nicht mehr aufgetaucht. Nur einmal, und da hat sie sich so richtig erschrocken. Dick ist er wohl geworden.«

Pierre wurde blass. Wie konnte er nur annehmen, dort drüben säßen seine Freunde!

Roland Germain, ein knochiger Mann mit Schnauzbart, der die Poststelle des Dorfes leitete, beugte sich vom Nachbartisch aus vor. »Mir kommt es so vor, als würde ihn das Dorfleben nicht mehr interessieren. Noch nicht mal zum Sommersonnenwendfest ist er gekommen.«

Poncet nickte. »Ich glaube, er bewegt sich kaum noch. Sitzt nur noch rum und lässt sich bedienen. Essen gibt’s ja genug. Charlotte hat immer eine gefüllte Tasche dabei, wenn sie nach Hause fährt. Und das ist doch nicht das Schlechteste, oder?« Er gluckste. »Ich wette, der tut alles dafür, dass das so bleibt. Wer will ihm das verdenken?«

Das Lachen brandete wieder auf, als Luc die Arme hob, um es zu dämpfen.

»Hört schon auf«, sagte er. »Ich mache mir echt Sorgen um Pierre. Er hat sich vollkommen zurückgezogen. Ich habe ein paarmal versucht, mich mit ihm zu verabreden. Einmal haben wir uns sogar zum Essen getroffen. Aber es war seltsam. Er hat ja nichts zu erzählen. Wenn man den ganzen Tag vorbeiziehen lässt und nichts erlebt, dann …« Er blies die Backen auf. »Und die Geschichten aus der Wache wollte er auch nicht hören. Ich glaube, er kommt mit der Situation nicht zurecht. Letztlich saßen wir nur da und haben geschwiegen. So kenne ich ihn gar nicht, er war doch immer so dynamisch.«

»Boreout!«, diagnostizierte Philippe vom Tresen aus, und Pierre drängte sich in den Schatten des Eingangsbereiches, damit der Wirt ihn nicht entdeckte. »So heißt das, wenn man aus lauter Langeweile trübsinnig wird. Mein Schwiegervater hatte das, als er in Rente ging, der war vollkommen antriebslos, wie leer gepumpt. Das ist eine schlimme Sache, davon kann man richtig krank werden!«

Pierre presste die Lippen aufeinander, ihm war übel. Mitleid war das Letzte, was er brauchte. Es war erniedrigend. Das Essen mit Luc war in der Tat zum Fiasko geworden, er war zu stolz gewesen, ihm zu sagen, wie sehr er seinen Posten, die Wache, ihn und sogar die neue Schreibkraft Penelope vermisste. Natürlich hatte er nicht hören wollen, dass das Leben dort weiterging. Ohne ihn.

Und, ja, er hatte es in den letzten Wochen vermieden, den Dorfbewohnern zu begegnen, aber nicht, weil er keinen Antrieb dazu fand. Vielmehr war ihm die ständige Fragerei nach seinem Befinden langsam unangenehm.

Nur zu gut erinnerte er sich an seinen letzten Ausflug hierher. Er war mit Charlotte ins Dorf gefahren und hatte sich ins Café le Fournil gesetzt, um ausgiebig zu frühstücken. Und während er in sein dick mit Butter und Feigenmarmelade bestrichenes Croissant biss und die Tasse hob, um es mit einem gezuckerten café noir hinunterzuspülen, war Lucs Freundin Florence an ihn herangetreten und hatte ihn gefragt, wie es ihm nach der Suspendierung gehe und ob er schon etwas Neues gefunden habe. Es war sicher freundlich gemeint, aber die mütterliche Art, mit der die Kellnerin ihn bedachte, und der mitfühlende Blick waren ihm unangenehm gewesen. Als er beim anschließenden Spaziergang auch noch Madame Duprais begegnete, die ihm von einem Artikel erzählte, laut dem Menschen, die mit Mitte fünfzig arbeitslos würden, besonders psychisch litten, da hatte er sich geschworen, das Dorf künftig zu meiden.

»Madame, ich bin erst vierundvierzig.«

»Tatsächlich?« Sie hatte sich zu ihm hochgereckt und ihn mit ihren Knopfaugen eindringlich gemustert. »Sie sehen viel älter aus. Aber vielleicht liegt es auch an Ihrem neuen Bart. Sie sollten sich rasieren, bevor Sie sich irgendwo vorstellen, sonst lehnt man Sie ab, bevor Sie auch nur bonjour sagen können.«

Pierre hatte die alte Dame mit unwirschem Kopfschütteln stehen gelassen und sich geschworen, erst wiederzukommen, wenn er konkrete Pläne vorweisen konnte.

»Ja, Florence«, würde er dann sagen können, »ich habe einen tollen Job gefunden.« Und: »Nein, Madame Duprais, Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen, ich bin noch viel zu jung, um zum alten Eisen zu zählen. Und im Vertrauen gesagt«, er würde sich zu ihr hinabbeugen und verschwörerisch zwinkern, »die Firmen haben sich darum gerissen, mich einstellen zu dürfen.«

Bis dahin – er sah hinunter auf seinen Bauch, der in der Tat beträchtlich an Umfang gewonnen hatte – würde er aussehen wie ein durchtrainierter, junger Gott!

Abrupt drehte Pierre sich um und wollte die Tür aufreißen, als er gegen jemanden stieß, der die Bar unbemerkt betreten hatte und offenbar einiges mitgehört hatte.

»Penelope!«

»Hi.«

Seine ehemalige Schreibkraft starrte ihn peinlich berührt an. Ihr hellblondes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden, sie trug eine kurze Jeanslatzhose mit schwarzem T-Shirt, auf dem in seltsam verdrehter rosafarbener Schrift »Blackpink« stand.

»Seit wann stehen Sie schon hier?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ist alles in Ordnung, geht es Ihnen gut?«

Die Peinlichkeit nahm kein Ende. »Doch, doch, alles bestens, danke«, presste er hervor, dann straffte er die Schultern und stürmte hinaus. »Einen schönen Abend noch.«

Hätte Pierre sein Fahrrad nicht so schnell von der Mauer gezogen und wieder bestiegen, er hätte vielleicht durch das gekippte Fenster gehört, wie Penelope an den Tisch der Dorfbewohner trat und in die Runde fragte, ob sie soeben etwa über Pierre geredet hätten. Und wie sie dann, nachdem die Männer am Kartentisch erstaunt schwiegen, etwas schärfer nachhakte, ob sie wüssten, dass dieser die ganze Zeit im Eingangsbereich gestanden und alles mitbekommen hatte.

Aber da Pierre wutentbrannt und gekränkt in die Pedale trat und sich auf der Fahrt quer durch die Felder schwor, den nächstbesten Job außerhalb von Sainte-Valérie anzunehmen, um den ganzen Scheiß hinter sich zu lassen, bekam er auch nicht mit, wie Luc die Schamesröte ins Gesicht stieg und er sofort aus der Bar stürmte, um ihn zu suchen. Vergeblich.

3

Die obere Etage des Hauses lag im Dunkeln. Froh, dass ihm eine nächtliche Diskussion erspart blieb, ging Pierre über die blank getretenen graublauen Fliesen mit den hübschen Ornamenten, die Charlotte unter dem Linoleumboden freigelegt hatte, in die Küche, um sich einen Wein aufzumachen.

Der Raum war aufgeräumt, blitzblank geputzt. Alles hier atmete Charlottes Wesen, ihre Akkuratesse ebenso wie ihre Leidenschaft für das Kochen. Die Rezeptbücher in den Regalen, von denen sie eines selbst geschrieben hatte, die aufgereihten Vorratsdosen, gefüllt mit Mehl, Zucker, Reis und Couscous.

Die Töpfe mit Rosmarin, Thymian und Basilikum, die sie zusätzlich zu denen im Kräutergarten in einer Nische am Fenster zog. Der geflochtene Knoblauchzopf.

Pierre hatte neue Küchenmöbel angeschafft, doch den alten gusseisernen Herd hatte sie gerettet. Sie liebte es, darauf zu kochen, das Klicken beim Einschalten, das sanfte Zischen der Gasflamme, wenn sie erglomm. Eigentlich war dieser Raum von Beginn an von ihr erfüllt gewesen, lange bevor er überhaupt wusste, dass sie eines Tages zu ihm ziehen würde.

Pierre seufzte. Er hasste es, wenn sie stritten. Charlotte war seine große Liebe, mit ihr wollte er alt werden. Für alles andere würde sich eine Lösung finden.

Sein Blick fiel auf den Esstisch, in dessen Mitte die Post der letzten Tage lag, die er stets beiseitegeschoben und im ganzen Haus verteilt hatte. Eine deutliche Mahnung, sich endlich darum zu kümmern.

Pierre setzte sich und begann, die Briefe aufzureißen. Eine Rechnung der Wasserwerke, eine Mahnung vom Stromanbieter, ein Schreiben des Pôle emploi mit der Bitte, sich bei einem Geldtransportunternehmen aus Mazan zu melden, das einen Fahrer suchte. Pierre schob es weit von sich, bis es samt Umschlag vom Tisch auf den Boden segelte.

Ein weiterer Brief enthielt keinen Absender. Sein Name war in Druckbuchstaben geschrieben, es sah nicht aus wie eine Rechnung. Pierre nahm das Messer und schlitzte ihn auf.

Der Umschlag enthielt zwei Seiten. Neugierig hielt Pierre das erste Blatt hoch und las.

Im Oktober des Jahres 1874 erschien der stigmatisierten Nonne Bernadette das Bild der Gottesmutter in einer alten Steineiche; sie gab ihr sieben Botschaften. Diese schickte die Nonne per Brief an Papst Leo XIII., der ihn samt Inhalt in den Gemäuern des Vatikans verbarg. Zu Beginn dieses Jahres entdeckte ein Ordensbruder sie in den Gewölben der Vatikanbibliothek. Er sah, dass sich die Weissagungen erfüllt hatten, bis auf die letzten drei.

Dieser Brief enthält eine Abschrift der verbliebenen Prophezeiungen. Schicke zehn Kopien davon weiter, und du bleibst verschont. Wenn nicht, könntest du das nächste Opfer sein.

Was für ein Blödsinn, dachte Pierre. Ein schlechter Scherz! Er drehte den Umschlag um und betrachtete seinen Namen. Die Schrift kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, von wem sie stammen mochte.

Der Poststempel zeigte das Wappen von Sainte-Valérie. Machten sich die Dorfbewohner jetzt auch noch per Brief über ihn lustig? Verärgert knüllte Pierre das Blatt zusammen, dann hielt er inne und entfaltete es wieder. Der zweite Text war in mittelalterlich wirkender Schrift verfasst, er konnte sich kaum vorstellen, dass jemand dafür einen derart großen Aufwand trieb. Zudem kannte er niemanden, der so schreiben konnte.

Pierre beugte sich über den Text und las.

Copia oder Abschrift der Prophezeiung vom 4. Oktober 1874

Und als es wieder dunkel um mich wurde, sah ich einen Engel herniederfahren vom Himmel. In der Hand hielt er ein Feuerschwert, das Funken sprühte, und wen es berührte, den durchfuhr der Blitz. Die in Gott waren, wurden verschont, drei Sünder aber wurden schwarz, damit der Teufel sie erkannte und mit sich in die Hölle nahm.

Und eine Stimme sprach zu mir:

Siehe, wie gut und erfreulich ist es, wenn Brüder beieinander wohnen. Vereint durch das Gesetz der Geburt, verbunden durch die Gemeinschaft des Glaubens, gleich in der Gleichheit des Leidens, stets glorreich im alleinigen Gott.Ich habe für dich bei Christus, dem Herrn, gebetet, und er hat dir all deine Sünden vergeben. Nur wegen Handauflegung wirst du dich zu verantworten haben.Denn nicht Schafe oder Rinder brachte er dar, sondern opferte doppelt sich selber, und auch damit war er nicht zufrieden, sondern wollte noch den ganzen Erdkreis zum Opfer bringen, da er wie auf Flügeln über Land und Meer fuhr.

Wehe, Ihr Sünder, denn Eure Verfehlungen blieben IHM nicht verborgen. Also seid bereit, wenn der Tag des Gerichts gekommen ist.

Mit einem Kopfschütteln zerriss Pierre den Brief und warf die Schnipsel in den Mülleimer. Dann hob er das Schreiben der Arbeitsvermittlung vom Boden auf, legte es zu den Rechnungen auf den Küchentisch und löschte das Licht.

Es war nicht gut, sich so gehen zu lassen. Ab morgen würde er sich um alles kümmern, das nahm er sich fest vor. Er musste sich einen Job suchen, endlich wieder Geld verdienen, wenn er nicht ins Bodenlose stürzen wollte.

Irgendetwas wird mir schon einfallen, dachte er, während er versuchte, seinem Gesicht einen Ausdruck von Zuversicht zu verleihen. Er musste es für sich tun – und für Charlotte.

Pierre erklomm die Stufen ins Obergeschoss und schob die Tür zum Schlafzimmer auf. Es war leer. Er ging weiter zu Charlottes Arbeitszimmer, in dem es ein Schlafsofa gab, was sie zur Bedingung gemacht hatte, als sie zu ihm zog. Für den Fall, dass sie sich heftig stritten oder einer von ihnen das Bedürfnis nach weniger Nähe hatte. Dieser Moment war nun also gekommen.

Er zog die Tür auf.

Charlotte lag mit dem Rücken zu ihm da, eingerollt wie eine Katze, das lockige braune Haar umrahmte ihren Kopf. Ihre Atemzüge gingen gleichmäßig. Zu gleichmäßig. So, als hätte sie ihn erwartet und als wolle sie nicht, dass er es bemerkte. Sie war sauer, und er konnte es sogar verstehen.

Ihren Wunsch nach einer Familie hatte er nie ernst genommen, er hatte es verdrängt und darauf gehofft, dass es sich von selbst erledigte, wenn er nicht darauf einging. Es war nicht fair, das musste er zugeben, er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, wie sehr die Situation auch sie belastete.

Pierre trat näher und setzte sich auf den Rand des provisorischen Bettes. Suchte nach Worten der Entschuldigung, doch was immer er in seinem Kopf formulierte, klang albern und hilflos.

Vorsichtig strich er ihr über den Rücken, fuhr die weichen Rundungen ihres Körpers nach. Spürte, wie sie sich verspannte. Pierre atmete aus, unterdrückte das aufsteigende Verlangen, sich zu ihr zu legen, sie zu berühren, zu küssen, sich zu versöhnen. Ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte und dass es momentan nicht leicht mit ihm sei.

Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild ihrer letzten gemeinsamen Nacht auf. Sie hatten sich ans Ufer des Baches auf eine Decke ins Gras gesetzt, so wie damals, als sie das erste Mal auf dem Grundstück picknickten. Er hatte ihr eine Freude machen wollen und Sandwiches vorbereitet. Belegt mit poulet rôti vom Markt, Salat, Gurken, Tomaten und einer Sauce aus Mayonnaise, Knoblauch und pürierter Grillpaprika, von der er zuvor die Haut abgezogen hatte. Er hatte das Rezept in einem ihrer Kochbücher entdeckt, die sie im Küchenregal aufbewahrte. Die Zubereitung klang einfach, er konnte dabei nichts falsch machen.

Und so saßen sie beisammen und sahen in die untergehende Sonne, aßen die Sandwiches und zum Nachtisch tarte aux truffes, die er noch im Eisfach gefunden und aufgetaut hatte. Seine Lieblingstarte, die nach Konfekt schmeckte, nach sahniger Karamellcreme und einem Hauch Orangenzesten. Es war ein warmer Sommerabend gewesen, nicht so heiß und stickig wie die vergangenen. Sie tranken Rosé und redeten, bis der Himmel sein abendliches Blauviolett annahm und die ersten Sterne am Firmament funkelten. Unvermittelt beugte Charlotte sich vor und küsste ihm einen schokoladigen Rest vom Mundwinkel. Küsste einfach weiter, obwohl keine Schokolade mehr da war. Sie hatten sich ins Gras fallen lassen, kichernd wie zwei Teenager, und sich dann zum Plätschern des Baches geliebt.

Pierre sog die Luft ein, weil er das Gefühl hatte, an der Wucht der Erinnerung ersticken zu müssen. Wie lange war das her – zwei, drei Wochen?

»Charlotte …«, flüsterte er. Sein Herz raste. Er schmiegte sich an sie und legte eine Hand auf ihren Bauch, fuhr von dort langsam abwärts.

Ihre Verspannung nahm zu, und Pierre hielt mitten in der Bewegung inne. Sie würde ihn abweisen. Und das war mehr, als er in diesem Moment ertrug.

Vorsichtig drückte er ihr einen Kuss aufs Haar und schlich hinaus, ging nach unten in die Küche und zog einen Rotwein aus einer der in die Mauer eingelassenen Tonröhren. Er öffnete die Flasche, nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, wo er – im Licht des Mondes, der silbrige Strahlen durch das Fenster warf – das erste Glas in einem Zug leerte.

Er fühlte sich so nutzlos. Die Suspendierung hatte ihn in eine Tiefe gezogen, die er an sich nicht kannte. Und er wusste nicht, wie er diesen Zustand beenden sollte.

4

Ein lautes Knattern weckte Pierre aus dem Schlaf, kurz darauf ein scharfes metallisches Geräusch. Hundertfach dröhnte es in seinem Kopf, als wolle ihn jemand mit einem Meißel öffnen.

»Verdammt!« Er richtete sich langsam auf und rieb sich den schmerzenden Kopf. Vor ihm, auf dem Couchtisch stand ein umgekipptes Glas, daneben zwei leere Flaschen Rotwein. Er hatte sich eine weitere geholt, um die inneren Dämonen zu vertreiben, nun wüteten sie umso heftiger.

Es war bereits hell draußen, die Armbanduhr zeigte halb acht, eine Unzeit für jemanden, der keinen Grund hatte, früh aufzustehen.

Mürrisch erhob er sich und sah aus dem Fenster. Dort hinten, wo der alte Weinberg lag, hing eine Staubwolke in der Luft.

»Martin wird doch wohl nicht …«

Pierre konnte sich dunkel daran erinnern, dass der Sommelier ihm ein paar Tage vor Vertragsbeginn abgerungen hatte, am Mittwoch wollte er mit der Arbeit beginnen, und das war heute. Aber wer konnte denn damit rechnen, dass er das auch in die Tat umsetzte, noch dazu so früh am Morgen!

Kein Provenzale, den er kannte, würde bei einem solch langwierigen Projekt bereits am ersten Tag mit den Maschinen anrücken. Aber Martin Cazadieu stammte ja auch aus der Bretagne, da tickten die Uhren offenbar anders. Seine Genauigkeit hatte ihm den Job des Chefsommeliers im Luxushotel Domaine des Grès eingebracht, dessen Inhaber ein höchst penibler Schweizer war. Bis Cazadieu im vergangenen Sommer gekündigt hatte, um sich mit einer Weinhandlung samt Weinschule selbstständig zu machen.

Pierre eilte in die Küche und erfrischte sein Gesicht mit eiskaltem Wasser, dann stürmte er nach draußen, als sein Handy klingelte. Eine Telefonnummer aus der Gegend.

»Ja?«, fragte er unwirsch.

»Monsieur Durand, hier spricht Elaine Nogué vom Pôle emploi. Wir haben Ihnen vorige Woche eine Anfrage aus Mazan zukommen lassen, und Sie haben sich noch nicht darauf gemeldet.«

»Mazan ist zu weit weg«, winkte Pierre ab, ohne sein Tempo zu drosseln. »Das kommt nicht infrage. Außerdem war das nur die Stelle eines Fahrers. Das liegt weit unter meiner Qualifikation. Wie ich bereits bei unserem Termin gesagt habe, kommen nur ein gleichwertig bezahlter Beruf infrage und eine Arbeitsstelle, die gut erreichbar ist.«

»Ich bitte Sie, Monsieur, Sie sind nicht in der Situation, Bedingungen zu stellen. Ein suspendierter Beamter bekommt die Angebote nicht gerade hinterhergeworfen.«

»Sie scherzen. Haben Sie sich meine Akte nicht angesehen? Ich habe einen Abschluss, der weit über dem eines Policiers liegt. Ich habe im Kommissariat von Paris gearbeitet und hätte im vergangenen Jahr Commissaire in Cavaillon werden können, der Präfekt hätte mich mit Handkuss genommen.«

»Ich weiß, Sie haben es bereits erwähnt. Angeblich haben Sie einem jüngeren Kollegen mit Familie den Vortritt gelassen, was für mich allerdings nur schwer nachprüfbar ist. Es würde helfen, wenn wir vom Büro des Präfekten eine Bestätigung bekämen, dann …« Sie hielt inne. »Was ist denn das für ein furchtbarer Lärm bei Ihnen?«

»Bauarbeiten«, sagte Pierre ausweichend, während er die Brücke überquerte und die zypressengesäumte Straße in Richtung des ehemaligen Weinberges entlanglief. Die Luft war bereits warm, es würde wieder ein heißer Tag werden.

»Es klingt wie ein Presslufthammer, der über eine Kreidetafel schleift.« Ihr Widerwille war deutlich zu vernehmen, tapfer fuhr sie fort, kämpfte mit erhobener Stimme um Gehör. »Na, schön, wir hätten hier noch das Gesuch eines Sicherheitsdienstes. Die Nachfrage nach Mitarbeitern ist nach den vielen Einbrüchen in der Gegend merklich gestiegen.«

»Nein, das ist nichts für mich«, antwortete Pierre mit nur mühsam aufrechterhaltener Freundlichkeit. Am liebsten hätte er beide Hände auf die Ohren gepresst, aber er musste das Telefonat zu Ende führen, er war abhängig von ihrem Wohlwollen, da durfte er nichts riskieren.

»Ah«, fuhr die Frau fort, »ich sehe gerade, dass für die Apfelernte Helfer gesucht werden. Die Plantage liegt ganz in Ihrer Nähe, an der Route de Robion, kurz hinter Taillades.«

»Madame, Sie machen Witze!«, brüllte er gegen das Kreischen und Wummern an, das inzwischen ein nahezu unerträgliches Ausmaß angenommen hatte, sodass es ihm die Nackenhaare aufstellte.

»Das ist eine gute, ehrliche Arbeit, für die man sich nicht schämen muss«, brüllte die Dame zurück. »Saisonkräfte werden händeringend gesucht, Sie helfen damit verzweifelten Landwirten.«

»Das mag sein, Madame, aber wie der Name impliziert, bin ich dann nur eine Saison beschäftigt. Ich suche etwas Langfristiges. Und nicht nur einen Job, wegen dem mir im Zweifel die Unterstützung gekürzt wird, denn das wird passieren, sobald die Ernte eingefahren ist.«

»Nun gut«, kam es gedehnt, aber nicht minder laut. »Saisonarbeit passt tatsächlich nicht zu Ihrem Profil. Aber Ihre Weigerung, sich bei dem Geldtransportunternehmen in Mazan vorzustellen, ist notiert. Das Gleiche gilt für den Sicherheitsdienst.«

Der Lärm erstarb. Es war auf einmal so still, dass Pierre erschrak, als ein lautes Seufzen durch den Hörer drang.

»Sie müssen nachweisen, dass Sie aktiv suchen, ansonsten verlieren Sie Ihren Anspruch auf Unterstützung. Das wissen Sie.«

»Ja, und ich gelobe, mich zu bessern. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden …« Pierre legte auf. Dabei sah er, dass gestern Abend noch ein Anruf eingegangen war. Luc hatte um zwanzig nach zehn versucht, ihn zu erreichen. Da war er bereits auf dem Rückweg zum Hof gewesen, wütend und traurig zugleich. Pierre schob das Telefon in die Hosentasche. Was auch immer sein ehemaliger Assistent ihm hatte sagen wollen, es war offenbar nicht wichtig genug, um eine Nachricht zu hinterlassen.

Inzwischen war Pierre am Feldrand angekommen, wo zwei Männer standen – der eine muskulös und braun gebrannt, mit freiem Oberkörper und kurzen, beuteligen Jeans, der andere groß und leicht korpulent, in heller Leinenhose und Hemd. Sie sahen gestikulierend zu einem Traktor hinüber, der mit erhobener Metallschaufel vor dichtem Buschwerk zum Stehen gekommen war. Noch immer hing eine beträchtliche Staubwolke in der Luft, die sich nur allmählich senkte.

»Was war das denn für ein Krach?«, rief Pierre ohne jede Begrüßung.

Die beiden Männer drehten sich zu ihm um, der größere grinste breit. »Bonjour, mon ami!«, rief er aus und kam ihm entgegen.

»Martin?«

Fast hätte Pierre ihn nicht erkannt. Der Sommelier hatte seine Löwenmähne zu einem Zopf zusammengebunden und trug einen Hut mit schmaler Krempe. Er sah gut aus, irgendwie erholt.

»Du liebe Güte, Pierre, du siehst ja grauenhaft aus. Bist du krank, geht es dir nicht gut?«

»Du hast mich geweckt.« Pierre rieb sich die Stirn, noch immer pulsierte es hinter seinen Augen, der Schmerz zog sich wie eine Klammer bis zum Hinterkopf. »Martin, das geht so nicht, das halte ich nicht aus!«

»Kauf dir Ohrstöpsel, die wirken Wunder.« Cazadieu hob zwei violette Pfropfen in die Höhe und schob sie mit einem entwaffnenden Lächeln zurück in die Tasche seiner Leinenhose. »Es tut mir leid, Pierre, aber das Entfernen der Feldsteine ist gar nicht so einfach. Und dann der alte Eisendraht … Wenn der erst draußen ist, wird der Geräuschpegel erträglicher, versprochen.«

»Und wie lange soll das dauern?«