Provenzalische Verwicklungen - Sophie Bonnet - E-Book + Hörbuch
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Provenzalische Verwicklungen E-Book

Sophie Bonnet

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Beschreibung

Ein atmosphärischer Frankreich-Krimi

Sainte-Valérie, ein idyllisches Dorf in der Provence inmitten von Weinbergen und Olivenhainen. Der ehemalige Pariser Kommissar Pierre Durand würde den Spätsommer in seiner Wahlheimat genießen, wenn ihn nicht gerade seine Freundin verlassen hätte. Doch auch mit der dörflichen Ruhe ist es plötzlich vorbei: Der Lokalcasanova wird ermordet in einem Weinkeller aufgefunden – neben einem Rezept für ein Coq au vin. War es ein makabrer Racheakt eines gehörnten Ehemanns? Die Dorfbewohner halten fest zusammen. Und schon bald ahnt Pierre, dass sich hinter der schönen Fassade Sainte-Valéries ganze Abgründe auftun ...

Die »Pierre Durand«-Reihe:

Band 1: Provenzalische Verwicklungen
Band 2: Provenzalische Geheimnisse
Band 3: Provenzalische Intrige
Band 4: Provenzalisches Feuer
Band 5: Provenzalische Schuld
Band 6: Provenzalischer Rosenkrieg
Band 7: Provenzalischer Stolz

Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 393

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

spannend bis zum Ende
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SOPHIE BONNET

ProvenzalischeVerwicklungen

Roman

1. AuflageOriginalausgabe März 2014 bei Blanvalet,einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Copyright © der Originalausgabe 2014 by Blanvalet Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-13061-9www.blanvalet-verlag.de

Prolog

Der Wein erinnerte ihn an Schwarze Johannisbeere, tanninhaltig mit pelzigem Abgang. Und doch waren da milde Röststoffe, ein Hauch Vanille, etwas, das auf eine Lagerung in Eichenfässern hindeutete. Wohl ein Syrah, vermischt mit einem Grenache Noir. Er konnte deutlich die feine Säure der Kalkfelsen herausschmecken, die Sonne, den Wind.

In Roussillon wusste man den Anbau des Grenache zu perfektionieren. Auch wenn die Erträge nicht groß waren, profitierte man von der Sonne und dem Mistral, der jegliche Feuchtigkeit wie ein überdimensionierter Föhn davontrug.

Noch einmal fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, bis das Aroma ihm den Atem verschlug. Die Benommenheit nahm zu. Es war stickig, er brauchte Luft. Du musst dich bewegen, dachte er. Beweg dich!

Vor wenigen Tagen war er in Roussillon gewesen und durch die Reihen alter Rebstöcke auf rostig braunem Boden gewandert, hatte seinem Cousin Jean versprochen, ihm bei der Weinlese zu helfen.

»Was ist denn in dich gefahren, du bist doch sonst nicht so hilfsbereit?«, hatte der ihn misstrauisch gefragt.

Er hatte mit den Schultern gezuckt. »Ach, komm schon. Wir sind doch eine Familie.«

Wein schwappte in seinen Mund, er hustete, trat mit den Beinen ins Nichts und stieß mit dem Kopf an das Metall des Deckels. Panik stieg in ihm auf, doch er verbot ihr, sich auszubreiten, klammerte sich an die Erinnerung, als wäre sie sein rettender Anker.

Familie. Was für ein großes Wort. Er selbst hatte wahrlich genug zu tun, aber beim Anblick der tiefen Furchen, die sich in Jeans Gesicht gegraben hatten, und bei dem matten Glanz der Augen war er weich geworden.

Dankbar hatte Jean ihn in den Arm genommen, und er hatte es zugelassen.

In der kommenden Woche würde die Weinlese beginnen …

Das dumpfe Gefühl in seinem Kopf wurde stärker.

Nicht nachgeben, halte durch!

Sein Blick glitt hinab. Die kalten Stahlwände glänzten unwirklich im Rot. Unter ihm war mindestens noch ein Meter Platz. Wenn er jetzt absank, hatte er keine Chance.

Wieder und wieder schwang er die zusammengebundenen Beine vor und zurück, vor und zurück. Durch das kleine Fenster am unteren Ende des Tanks waberte Licht zu ihm herauf, das sich in der steten Bewegung brach. Darin Holzspäne, gleich aufwirbelndem Morast.

Eine Erinnerung drang in sein Bewusstsein. Sie hatten im Fluss gebadet, danach nackt im Gras gelegen und das Spiel der Sonne auf dem funkelnden Wasser betrachtet. Vivianne hatte sich über ihn gebeugt, ihr nasses Haar hatte seine Haut gekitzelt.

»Nein, ich bin noch nicht so weit. Ich will nicht sterben!«

Sein Rufen hallte dumpf wider. Warum nur? Was hatte er denn schon getan? Hatte Angeline es ihrem Ehemann erzählt?

Seine Beine wurden schwer, die vollgesogene Kleidung zog ihn hinab. In plötzlicher Hektik bewegte er seinen verschnürten Körper, als wäre er ein Aal, panisch, mit klopfendem Herzen, dann verließen ihn die Kräfte. Noch einmal atmete er tief ein, sog die verbrauchte Luft in seine Lunge, spürte, wie dabei der Wein eindrang. Er schluckte heftig, hustete, schloss den Mund. Sank tiefer, mit weit aufgerissenen Augen. Es war ihm, als triebe er einem cineastischen Sonnenuntergang entgegen.

Das Fenster! Vielleicht kam jemand, der ihn bemerkte und aus seinem Gefängnis befreite? Er bäumte sich auf, glitt mit einer einzigen Bewegung an den Rand, presste das Gesicht an das Glas. Starrte mit brennenden Augen hindurch. In verschwommenen Bildern sah er das steinerne Gewölbe, die hölzernen Regale, gefüllt mit den köstlichsten Weinen; Fässer, deren Inhalt man mit groben Kreidestrichen gekennzeichnet hatte.

Er röchelte, kleine Luftbläschen entstiegen seinem Mund. Eine krampfhafte Atembewegung setzte ein, die weiteren Wein in seine Lunge sog. Dann erlosch das Licht, und es war dunkel.

1

»Noch einen Pastis?«

Pierre Durand sah unwillig auf, nickte und blickte zum elften Mal an diesem Abend auf sein Handy, ob nicht doch eine SMS oder eine Mail eingetroffen war. Aber außer einer Werbung für Potenzmittel war nichts gekommen.

Merde! Sie machte es ihm aber auch nicht leicht.

Er nahm das Glas mit dem Pastis entgegen und den Krug, den Philippe, Besitzer der Bar du Sud, ihm über den Tresen schob, und goss ein wenig Wasser auf den Anisschnaps, als das Handy klingelte. Vor Schreck füllte er zu viel ins Glas, und es schwappte über, doch bevor er sich über das Malheur ärgern konnte, griff er nach dem Telefon und riss es an sein Ohr.

»Celestine?«

»Hallo, Pierre, gut, dass ich dich erreiche«, antwortete eine männliche Stimme. »Ich habe gerade einen Anruf von einer Frau bekommen, die behauptet, ihr Freund sei verschwunden.«

Es war Luc Chevallier, sein Assistent, übereifrig wie immer.

»Herrje, hat das denn nicht bis morgen Zeit?«, sagte Pierre schärfer als gewollt. »Ich habe Feierabend.«

»Na ja, ich habe sie nicht beruhigen können, und jetzt steht sie hier …«

Im Hintergrund schluchzte jemand auf. Pierre rollte mit den Augen.

»Verdammt, Luc, du wirst doch wohl in der Lage sein, eine weinende Frau zu beruhigen?«

»Ja, aber …« Ein lautes Kreischen erklang. Der Telefonhörer wurde zugehalten, man hörte eindringliches Reden, dann raschelte es. »Bitte«, flüsterte Luc nun. »Sie will hierbleiben, bis wir etwas unternehmen.«

»Ist ein Mord geschehen?«

»Nein.«

»Ein Überfall, ein anderes Verbrechen?«

»Nein. Das heißt, vielleicht. Zumindest behauptet sie es.«

»Dann geh der Sache nach.«

Luc seufzte hörbar. »Wie stellst du dir das vor? Ihr Freund ist ein stadtbekannter Casanova. Er hat sie versetzt, und ich kann mir schon denken, was er jetzt gerade treibt. Ein Protokoll habe ich bereits geschrieben und ihr gesagt, dass viele Vermisste noch nach Tagen auftauchen und sie übermorgen wiederkommen soll. Was soll ich denn noch tun? Diese Frau steht hier und droht die Wache zusammenzuschreien.«

»Na und? Ist ohnehin niemand außer dir dort.«

»Pierre!« Jetzt klang er wirklich verzweifelt. »Du weißt, ich kann mit hysterischen Frauen nicht gut umgehen.«

»Ruf Celestine an.«

»Hab ich schon versucht. Sie geht nicht ran.«

Klar, sie glaubt ja auch, dass ich sie anrufe, wenn sie die Nummer der Polizeiwache sieht, dachte Pierre und registrierte, dass es ihn mehr traf, als er es sich eingestehen wollte. »Ach, was weiß denn ich«, rief er laut aus. »Mit Frauen kann ich genauso wenig umgehen wie du, denk dir halt was aus.« Damit beendete er das Gespräch und schaltete das Handy aus. Sollten ihn doch alle mal am Allerwertesten …

»Ärger?« Philippe beugte sich über den Tresen und stellte ihm ungefragt einen neuen Pastis hin, dann wischte er mit einem Lappen, von dem Pierre nicht wissen wollte, was er noch so alles aufgesogen hatte, das Wasser vom Holz.

»Nicht mehr als sonst auch«, war die karge Antwort.

Nein, Pierre wollte nicht über den gestrigen Abend nachdenken. Weder über den Streit noch über Celestine. Sie würde sich schon melden, wenn sie sich beruhigt hatte. Und Luc …

Er leerte sein Glas mit einem Zug, warf ein paar Münzen auf den Tresen und verließ die Bar.

Luc war ein einfältiger Kerl. Fast dreißig und hatte dabei noch nicht einmal das Hirn eines Zwölfjährigen. Pierre konnte nicht verstehen, wie zum Teufel der Bürgermeister darauf gekommen war, ihm einen derart dämlichen Assistenten an die Seite zu stellen. Aber Sainte-Valérie sei zu klein für zwei gestandene Polizisten nebst Telefonistin, es sei ohnehin bereits diskutiert worden, die Station auf einen Mann zu begrenzen, es geschehe ja nichts außer den üblichen Kleinverbrechen, da lohne sich der Aufwand nicht. Was nicht stimmte, denn Pierres Bereich bezog auch die umliegenden Dörfer ein, und seit Künstler und Touristen die Gegend für sich entdeckt hatten, war auch der Bedarf an polizeilicher Präsenz gestiegen.

Doch erst nachdem ein Schweizer Industrieller die alte Poststation zum Luxushotel umfunktionieren wollte und eine einsatzstarke police municipale zur Bedingung machte, war umdisponiert worden – und nun war er hier, sein Assistent, und machte mehr Arbeit, als dass er sie ihm abnahm.

Nachdenklich schritt Pierre die Rue de Pontis entlang, von der man einen wundervollen Blick über die weite Ebene bis hin zum Luberon-Gebirge hatte, über dicht mit Früchten behangene Weinreben, von der Sonne ausgedorrte Wiesen und abgeerntete Lavendelfelder. An der hüfthohen Mauer stand ein Pärchen, er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, verträumt sahen sie in den tiefer sinkenden Sonnenball, der das Land mit einer milchig-sanften Decke umhüllte.

Mit einem zunehmenden Kloß im Magen hielt Pierre inne, holte sein Telefon hervor und schaltete es an, nur um festzustellen, dass einzig Luc eine Nachricht hinterlassen hatte. Enttäuscht schob er es zurück in die Tasche und setzte seinen Weg fort, ohne die Aussicht noch eines Blickes zu würdigen.

Pierre Durands Wohnung lag in einem alten Steinhaus, an dessen Fassade sich Efeuranken über die gesamte Fläche bis zu den oberen Fenstern ausgebreitet hatten. In regelmäßigen Abständen, wenn ihm das Ungeziefer zu viel wurde, das ihm über das Gestrüpp in die Zimmer krabbelte, nahm er eine große Schere und stutzte die Ranken so weit zurück, dass seine Vermieterin ihm mit Rauswurf drohte.

»Chef de police hin oder her, auch Sie haben sich an die Hausordnung zu halten«, schimpfte sie dann aufgebracht, während er einen neutralen Blick aufsetzte und wartete, bis das Gewitter vorübergezogen war. Mit ihr über Sinn und Unsinn von Hausordnungen zu debattieren, die es vorsahen, den Efeu bis in die Wohnung wuchern zu lassen, war zwecklos, das hatte er rasch bemerkt. Ohnehin wollte er hier nicht lange bleiben, er musste nur das passende Haus finden, für das seine Ersparnisse reichten, und das war nicht so einfach. Die Provence ist voller netter Häuschen, hatte er gedacht, als er hier ankam. Das war vor drei Jahren gewesen.

Ich sollte Farid anrufen, dachte Pierre, während er die Tür aufschloss. Farid war Tunesier und lebte seit seiner Geburt in Sainte-Valérie. Eigentlich hieß er Farid Ahmad Khaled Al-Ghanouchi, aber das konnte niemand aussprechen, und so stand auf dem Schild seines Maklerbüros schlicht und einfach Immobilier Farid.

Pierre legte den Schlüssel auf die Konsole im Flur, schaltete das Licht ein und ging in die Küche, wo er das Fenster öffnete und die himmelblauen Läden weit aufstieß. Die rostrote Abendsonne erhellte den Raum und beleuchtete unbarmherzig die Berge ungespülten Geschirrs.

»Du lebst ein typisches Junggesellenleben«, hatte Celestine ihm gestern vorgeworfen und auf die Unordnung gezeigt. »Sieh dich doch nur um. Wie soll eine Frau sich da wohl fühlen?«

Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und ihn mit beinahe schwarzen Augen auffordernd angeblitzt. Dabei hatte sie ihn an eine dieser Furien aus den gezeichneten Witzen erinnert, die ihrem Mann mit dem Nudelholz drohten, wenn ihnen etwas nicht passte. Obwohl der Vergleich natürlich hinkte, denn Celestine war eine junge hübsche Frau, gerade mal dreißig. Doch es hatte ihn rasend gemacht.

»Wenn es dir nicht passt, kannst du es jederzeit ändern«, hatte er gedonnert. »Aber statt das Zeug einfach selbst wegzuräumen, baust du dich lieber davor auf und machst mir Vorwürfe.« Er hasste ständig krittelnde Frauen, und in jenem Moment war das Maß einfach voll gewesen. »Außerdem ist es kein Junggesellenleben. Ein Junggeselle lebt allein.«

»Eben.« Damit hatte sie ihre Sachen zusammengerafft und war ohne ein weiteres Wort aus dem Haus gelaufen.

Seufzend betrachtete Pierre die Teller und Tassen, Töpfe und Pfannen, räumte sie scheppernd in die Spülmaschine. Dann öffnete er den Kühlschrank.

Darin lagen ein Salat, den Celestine noch gekauft hatte, ein ungeöffnetes Paket Butter, Marmelade, luftgetrocknete Salami, Eier und Brot, das er am Vorabend hineingelegt hatte, weil das Verfallsdatum bald überschritten war.

Merde! Er hatte nicht vor, auswärts zu essen, also briet er sich ein paar Spiegeleier und verzehrte sie mit Brot und Salami. Morgen, so schwor er sich, würde er noch vor der Arbeit auf den Markt gehen, um frisches Obst und Gemüse zu kaufen, und damit den Beweis antreten, dass er kein typischer Junggeselle war.

Die Luft war noch kühl und klar, als Pierre am nächsten Morgen mit einem Korb in der Hand das Haus verließ und der Place du Village zustrebte, auf dessen Mitte jeden Dienstag ein Markt aufgebaut wurde. Es war eigentlich übertrieben, ihn als einen solchen zu bezeichnen, aber die Bewohner waren stolz auf den überschaubaren Kreis vereinzelter Stände: ein Käsehändler, ein Honigstand, der Schlachter aus Cavaillon, ein Obst- und Gemüseverkäufer, der auch Oliven, Kräuter und Gewürze feilbot, und ein Stand mit allerlei Kram, von der Nudelpresse über gemusterte Tischdecken bis hin zum Kinderspielzeug. Da es ansonsten nur einen schlecht bestückten Krämerladen gab, drängte sich an den Markttagen der halbe Ort auf dem Dorfplatz, um sich nach getätigtem Einkauf ins Café le Fournil oder das Chez Albert zu setzen und den neuesten Klatsch auszutauschen.

Die Sonne war kaum über die Wipfel des nahen Zypressenwäldchens gestiegen, als sich vor dem Gemüsestand bereits eine Schlange gebildet hatte. Geduldig wartete Pierre, bis er an der Reihe war, dann kaufte er eine große Cavaillon-Melone, Muskattrauben vom Mont Ventoux, Tomaten und ein paar Kartoffeln.

»Ist das Spinat?«, fragte er die Marktfrau und wies auf einen Strunk mit länglichen grünen Blättern.

»Nein, das ist Mangold.«

»Und was macht man damit?«

»Essen.«

Sie lächelte süffisant und legte ihr wettergegerbtes Gesicht in Falten. Im vergangenen Monat hatte er ihren Sohn des Autodiebstahls überführt, nun legte sie all ihren Unmut in ihren Blick und verschränkte die Arme.

»Machen Sie doch eine tarte.«

Er drehte sich um. Eine Frau mit hellbraunen Locken und wachen, lustigen Augen lächelte ihn an.

»Nehmen Sie den Mangold, dazu Speck, Pilze, Crème fraîche, Eier und Muskat, und legen Sie eine gebutterte Form mit Blätterteig aus. Es schmeckt köstlich.«

»Das klingt großartig. Aber leider kann ich nicht kochen.«

Pierre musterte sie unauffällig. Sie war fast so groß wie er, schlank und hatte ein ovales Gesicht, schätzungsweise war sie Anfang, Mitte dreißig. Ihrem stilsicheren Auftreten zufolge – eine schmale Jeans mit Volantbluse und feinem Cardigan, lackierte Zehen in perlenbestickten Sandalen – hätte sie genauso gut Pariserin sein können.

»Dem kann abgeholfen werden. Besuchen Sie meinen Kochlehrgang, es ist leichter, als Sie vielleicht denken.« Damit griff sie in ihre Korbtasche und holte eine Karte hervor. »Ich bin Charlotte Berg, Chefköchin in der Domaine des Grès,der neuen Hotelanlage an der Straße nach Murs«, fügte sie erklärend hinzu. »Der Kurs findet jeden Mittwoch statt, Sie können jederzeit hinzukommen.«

Berg. Eigenartiger Nachname. Der Aussprache nach war sie keine Französin.

Pierre nahm die elegant gestaltete Karte entgegen. »Vielen Dank. Aber meinen Sie nicht, es sähe komisch aus, wenn ein Mann Anfang vierzig sich hinter den Herd stellt?«

»Ach, das sind doch nur Vorurteile. Es gibt mehr männliche Köche als weibliche. Denken Sie mal darüber nach.« Sie grinste auffordernd.

Er würde den Teufel tun, einen Kochkurs zu machen, wenngleich die Frau ganz sympathisch zu sein schien.

Er nickte höflich, bezahlte seine Einkäufe und machte sich dann auf den Weg zur Polizeistation. Ohne den Mangold, dafür mit einem riesigen Bündel Spinatblätter.

Als Pierre die Wache in der Rue des Oiseaux betrat, saß Celestine bereits an ihrem Platz am Eingang und hielt den Kopf über die Tastatur ihres Computers gesenkt. Der schmale Rücken war gestrafft, eine dunkle Strähne hing ihr ins Gesicht wie ein Blickschutz. Er grüßte knapp, versuchte, den Stich zu übergehen, den ihr Anblick in seinem Herzen auslöste, und wollte gerade in sein Büro verschwinden, als ihre Stimme ihn innehalten ließ.

»Du warst einkaufen?«

Er drehte sich um. Immerhin, der prall mit gesunden Lebensmitteln gefüllte Korb hatte seinen Zweck erfüllt. »Celestine, warum hast du dich nicht auf meine Anrufe gemeldet? Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Sorgen? Ich würde es eher gekränkte Eitelkeit nennen.«

»Es war nur ein Streit.«

»Nicht unser erster.« Sie kniff die Lippen zusammen und setzte diese düstere Miene auf, bei der er immer den Impuls verspürte, ihr einen Witz zu erzählen oder sie in die Seite zu knuffen, damit sie wieder strahlte. Sie hatte ein so schönes Lächeln, wenn sie wollte. »Du hast mich angeschrien!«

»Es tut mir leid. Wirklich, a…« Das aber blieb ihm in der Kehle stecken, denn er ahnte, was nun kam.

»Es ist vorbei, Pierre, sieh es ein. Ich möchte keinen Mann, der mich nur dazu braucht, ihm die Wäsche zu waschen, ihn zu bekochen oder hinter ihm herzuräumen. Ich will jemanden, der mich verwöhnt, der mir Blumen schenkt, der meine Bedürfnisse nicht erst dann sieht, wenn ich ihn mit der Nase darauf stoße.«

»Du willst Blumen? Gut.« Er stellte den Korb ab. »Ich gehe sofort zurück auf den Markt und kaufe den schönsten Strauß, den ich finde.«

Sie schüttelte vehement den Kopf. »Siehst du, was ich meine? Von allein wärst du nicht darauf gekommen.«

Gerade als er erwidern wollte, dass er gewiss lernfähig wäre, wenn sie ihm nur etwas Zeit gäbe, bemerkte er die rote Rose, die neben ihr auf der Fensterbank stand. »Aber jemand anders hat es erkannt, nicht wahr?«, fragte er bitter, und als sie schwieg, griff er wieder nach seinem Korb, öffnete die Tür zu seinem Büro und ließ sie laut hinter sich ins Schloss fallen.

Müde setzte er sich an seinen Tisch und schaltete den Computer ein. Dann eben nicht. Er liebte Celestine, ja, aber wenn es bedeuten sollte, dass er für ihre Liebe ein anderer Mensch werden musste, dann sollte sie doch versauern. Eine Rose! Er hätte ihr einen ganzen Bund gekauft.

Entnervt betrachtete er die Unordnung auf seinem Schreibtisch. Beinahe hätte er das Protokoll mit der Vermisstenmeldung übersehen, das Luc ihm wohl auf die Tischplatte gelegt hatte, dazu einen Zettel.

Konnte dich telefonisch nicht erreichen. Komme morgen erst um zehn. Bringe die Frau noch nach Hause. Ich glaube, sie will sich ausquatschen.

Ausquatschen nannte er das? Vielleicht verstand Luc es ja doch, hysterische Frauen zu beruhigen. Na, es sollte ihm recht sein.

Gerade hatte er die Meldung gelesen – eine gewisse Vivianne Morel, wohnhaft in Sainte-Valérie, gab an, dass ihr Verlobter, Antoine Perrot, nicht zu ihrer Verabredung erschienen war –, als das Telefon im Nebenraum klingelte und gleich darauf Celestines Nummer auf seinem Display erschien.

»Pierre, du musst sofort zur Domaine des Grès fahren. Es ist ein Mord geschehen.«

2

Die Domaine des Grès lag am Rand des Dorfes inmitten eines riesigen Weinberges. Die das Anwesen umgebende Steinmauer säumten Oliven- und Feigenbäume, ein schmiedeeisernes Tor versperrte die Zufahrt. Pierre stieg aus, tippte die Tastenkombination ein, die Celestine ihm auf einen Zettel geschrieben hatte, und wartete, bis sich die großen Flügel ganz geöffnet hatten.

Kaum hatte er den alten Renault auf den bekiesten Parkplatz gelenkt, als ihm auch schon ein drahtiger Mann in dunkelblauem Anzug entgegengelaufen kam, offenbar der Leiter der Anlage.

»Monsieur«, rief er aus, noch bevor Pierre dem Streifenwagen entstiegen war, »ich bitte Sie, parken Sie nicht hier, sondern außerhalb des Geländes.«

Pierre hielt in der Bewegung inne und folgte seinem Blick, der nun über die anderen Autos schweifte – ein dunkler Mercedes S-Klasse, zwei Jaguar, einer davon ein Oldtimer, ein Porsche Cayenne, ein BMW Touring –, um dann wieder an dem weißen Renault hängen zu bleiben, dessen linke Seite direkt unterhalb der blauen Aufschrift POLICE eine Reihe verrosteter Kratzer zierte.

»Es soll möglichst nicht bekannt werden, dass in unserem Hotel ein Verbrechen geschehen ist«, fuhr der Mann fort und lächelte dabei unentwegt. »Unsere Gäste legen größten Wert auf Privatsphäre und Anonymität und wissen unsere Sicherheitsvorkehrungen sehr zu schätzen. Sie werden verstehen, dass ich jedes Aufsehen vermeiden möchte.«

Kurz überlegte Pierre, was wohl die Gäste zur Privatsphäre sagen würden, wenn auch der Leichenwagen vor dem Tor parken und man den Sarg über die Wege tragen müsste, verkniff sich jedoch eine Bemerkung. Wenn sich der Inhaber des Hotels, dieser Schweizer Industrielle, beim Bürgermeister beschwerte, dann wäre das weder für ihn noch für den kleinen Standort der police municipale förderlich. Also stieg er aus dem Wagen, hielt dem Herrn mit ebenso höflichem Lächeln den Autoschlüssel entgegen und sagte: »Aber selbstverständlich, Monsieur …«

»Harald Boyer. Directeur de l’hôtel.«

»Monsieur Boyer, ich habe volles Verständnis für Ihre Befürchtungen. Wenn Sie das bitte übernehmen würden? Die Pflicht ruft.« Damit ließ er den Schlüssel in die Hand des offenbar fassungslosen Direktors fallen und eilte in Richtung Hotelkomplex.

»Aber Monsieur, ich muss Ihnen doch erst zeigen, wo das Verbrechen …«, stieß Boyer aus und setzte ihm mit eiligen Schritten nach.

Sie durchquerten die Anlage, vorbei an steingesäumten Beeten und kleinen Ruheinseln mit Korbgeflechtmöbeln. Pierre staunte, was aus der ehemaligen verfallenen Poststation geworden war, die vor Jahren einem bekannten Maler gehört hatte, der sein Geld lieber für guten Wein ausgegeben hatte statt für fällige Reparaturen. Die alten Mauern aus Sandstein, die der Domaine ihren Namen gegeben hatten, waren erneuert worden, azurblaue Fensterläden verströmten mediterranes Flair. Wo früher die Ställe waren, gab es nun Suiten mit eigenen Terrassen und kleinen Vorgärten; seitlich der Gebäude, auf einem weiten Rasen, ein mit Bruchsteinplatten umrahmter Pool, dessen türkisblaues Wasser in der Morgensonne glitzerte. Ein älteres Paar hatte es sich bereits auf Liegen unter weiß bespannten Schirmen bequem gemacht. Es sah einem Jungen zu, der am Beckenrand saß und die Zehen zögernd ins Wasser hielt. Unter dem tonziegelgedeckten Pavillon eröffnete ein Kellner in einem blütenweißen Anzug gerade die Bar. Alles schien so ruhig und friedlich. Als wäre nichts geschehen.

»Er liegt im Weinkeller«, sagte Boyer nun flüsternd und riss Pierre aus seinen Betrachtungen. »Vielleicht sollte man besser sagen: Er schwimmt. Ich weiß gar nicht, wie wir ihn aus dem Tank bekommen sollen. So etwas habe ich noch nie erlebt!«

Pierre folgte dem Direktor über eine steinerne Treppe seitlich des Haupttraktes hinunter in ein kühles, hell erleuchtetes Gewölbe, dessen Ausmaße beeindruckend waren. Allein die Deckenhöhe betrug mindestens drei Meter. Das hatte er hier nicht erwartet. Die Ausstattung war hochwertig, im vorderen Bereich stand ein ausladender Eichentisch mit Stühlen, umrahmt von Regalen, die bis oben hin mit Flaschen gefüllt waren.

»Der Vorbesitzer war ein großer Weinkenner«, erklärte Monsieur Boyer, und seine Worte hallten dumpf nach, »und gleichzeitig ein begnadeter Winzer. Eine Tradition, die wir fortzuführen gedenken.«

Pierre ließ den Blick über mehrere Reihen Weinfässer schweifen, die weiter hinten im Raum gestapelt waren, dann blieb er an einem großen Stahltank hängen. »Ist die Leiche da drin?«

Der Direktor nickte, und als er sprach, war seine Stimme erneut nur ein Flüstern. »Unser Sommelier hat ihn heute Morgen gefunden, als er die Bestellungen durchgehen wollte. Ich frage mich, wie der Mann da hineingekommen ist. Hoffentlich ist es kein Gast!«

Er lief voraus und blieb dann in sicherer Entfernung vor dem metallenen Ungetüm stehen, dessen Oberfläche, ein wabenförmiges Relief, die vielen Deckenlichter reflektierte. Je näher Pierre kam, desto mehr konnte er erkennen, dass das, was er von der Tür aus für Rotwein gehalten hatte, ein Stück Stoff war, das von innen an das ovale Sichtfenster am unteren Ende des Tanks gepresst wurde. Gleich daneben erkannte man die aufgequollene, gerunzelte Haut eines männlichen Gesichts, dessen weit aufgerissene, eingetrübte Augen ihm entgegenstarrten.

»Mon Dieu!«, rief er aus, beugte sich hinunter und schielte in die hellrote Flüssigkeit. Soweit er erkennen konnte, war der Mann verschnürt, der unglückliche Sturz eines Betrunkenen konnte also ausgeschlossen werden. Dem Aussehen der Haut nach war der Tod in der vergangenen Nacht eingetreten, Genaueres musste der Gerichtsmediziner klären.

Pierre richtete sich wieder auf, zog sein Handy hervor und wählte die Nummer der Polizeiwache.

»Celestine? Wo ist Luc? Ich brauche ihn auf der Stelle am Tatort. Und ruf bitte in Cavaillon an. Die sollen augenblicklich jemanden von der Spurensicherung schicken und einen Gerichtsmediziner, wenn möglich Louis Papin. Sag ihnen, wir haben es mit einer etwas eigenartigen Situation zu tun, die Leiche liegt in einem Weintank.« An Boyer gerichtet, der noch immer den Schlüssel des Polizeiwagens fest umklammert hielt, fügte er hinzu: »Haben Sie so etwas wie einen kleinen Lastenkran?«

»Einen Flaschenzug.«

Pierre folgte dem Fingerzeig des Direktors zur Gewölbedecke, an deren Waagerechten ineinanderlaufende Stangen mit einem verschiebbaren Gewinde, an dem Ketten hingen, verbunden waren. Dann sprach er weiter ins Telefon. »Und sag Luc, er soll entsprechende Kleidung mitbringen, das wird eine ziemlich unschöne und nasse Angelegenheit.«

Mit einem Stoßseufzer legte er auf und konnte sich einen Anflug von Schadenfreude nicht verkneifen. Eine in Rotwein marinierte Leiche aus dem Tank zu befördern war eine Sache, die er mit Freuden delegierte. Vor allem an übereifrige Assistenten.

Der Direktor hatte sich in der Zwischenzeit auf einen der Stühle gesetzt, die um den großen Eichentisch standen, und ließ den Schlüssel des Streifenwagens abwesend durch die Finger gleiten. Dabei sah er aus, als wolle er sich jeden Moment die Haare raufen. »Es ist eine Katastrophe. Ich weiß nicht, wie ich das Herrn Leuthard erklären soll.«

Pierre setzte sich zu ihm. »Monsieur Leuthard ist der Besitzer?«

Harald Boyer nickte. »Ich glaube nicht, dass er Verständnis zeigen wird.«

»Verständnis? Wofür? Wie meinen Sie das?«

»Nun, uns ist da offenbar ein grober Fehler unterlaufen. Das Gewölbe ist normalerweise verschlossen, denn hier lagern auch viele alte und teure Weine in den Regalen. Es gibt nur zwei Schlüssel, meinen und den des Sommeliers, Monsieur Martin Cazadieu. Niemand kann diesen Raum ohne unsere Zustimmung betreten. Aber gestern Abend waren wir wohl unaufmerksam …«

Damit hatte der Direktor bereits die ersten Fragen beantwortet, ohne dass sie gestellt werden mussten.

Pierre holte seinen Block samt Stift aus der Innentasche der Jacke und notierte sich die Namen. »Haben Sie Monsieur Leuthard noch nicht informiert?«

Boyer sah ihn mit geweiteten Augen an. »Nein! Ich dachte, das würden Sie …«

Inhaber kontaktieren, ergänzte er, und: scheint streng zu sein,eventuelle Feinde? »Wo bewahren Sie die Schlüssel nachts auf?«

»In unseren Zimmern befindet sich ein Safe.« Nun stützte Boyer die Ellenbogen auf und begann tatsächlich, sich die Haare zu raufen. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Tür bei meinem letzten Rundgang überprüft habe. Das war gegen halb zwölf.«

»Und der Sommelier?«

»Er war bereits schlafen gegangen. Zumindest brannte in seinem Fenster kein Licht mehr. Ich bin für gewöhnlich der Letzte.«

»Wo finde ich ihn?«

»In seinem Zimmer. Es geht ihm nicht gut, wie Sie sicher verstehen werden.« Er seufzte laut und strich sich die Haare glatt.

Pierre widerstand dem Impuls, ihm den Arm zu tätscheln, und stand stattdessen auf, um den Tatort einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Der Boden war makellos, die Regale waren poliert. Alles schien am rechten Platz zu stehen. Entweder war der Ermordete freiwillig mitgekommen, oder man hatte ihn getragen.

Er fertigte eine Zeichnung des Ortes an, trug ungefähre Raummaße und Gegenstände ein, dann machte er ein paar Fotos. Den Rest würden später die Kollegen von der Spurensicherung übernehmen.

Vom Eingang her erhob sich plötzlicher Lärm. Zuerst war ein olivgrün beschichteter Stoff zu sehen, dann rutschte ein Fuß darauf die Treppe herab. Im letzten Moment griff die dazugehörige Hand nach dem Eisengeländer und verhinderte einen Sturz.

»Luc, was machst du denn da?« Pierre eilte seinem Assistenten entgegen.

Mit hochrotem Kopf stolperte dieser den Rest der Treppe hinab. »Dieses verdammte Ölzeug!«, schimpfte er und raffte den Regenmantel zusammen. »Warum soll eigentlich ich das machen?« Verstimmt lugte er an Pierre vorbei zum Tank.

»Weil ich die Ermittlungen leite. Und die führen mich jetzt zum Sommelier.«

»Und die Leiche?«

»Warte, bis der Gerichtsmediziner vor Ort ist, dann folgst du einfach seinen Anweisungen.«

Luc nickte und hob ein gelbes Ungetüm in die Höhe, das er wohl unter dem Regenmantel verborgen gehalten hatte und das Pierre erst auf den zweiten Blick als Schwimmbrille erkannte.

»Ich habe an alles gedacht«, sagte Luc, und in seiner Stimme schwang eine Mischung aus Furchtsamkeit und Stolz mit.

»Du wirst doch wohl nicht im Tank …« Pierre konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich bin sicher, mit Hilfe des Flaschenzugs wird sich das irgendwie vermeiden lassen.«

Luc nickte noch einmal, erleichtert. »Weißt du, wer der Tote ist?«

»Nein.«

»Hatte er denn keinen Ausweis bei sich?«

Pierre runzelte die Stirn. »Ich habe nicht nachgesehen.«

»Hmmm.« Luc rieb sich die Stirn, hinter der es nun mächtig zu rauchen schien.

Pierre nutzte die Gelegenheit, sich vom Direktor das Zimmer des Sommeliers zeigen zu lassen. »Und pass auf, dass niemand außer unseren Kollegen den Tatort betritt«, wies er seinen Assistenten im Gehen noch schnell an und verließ das Gewölbe.

Martin Cazadieu, ein wohlbeleibter Mann um die fünfzig mit dunkler Löwenmähne, lag inmitten leuchtend orange schimmernder Kissen auf dem Bett und starrte durch das bodentiefe Fenster auf die Weinberge. Als Pierre eintrat, hob er kurz die Hand von dem Kühlbeutel, den er sich auf die Stirn gelegt hatte.

»Harald hat mir schon gesagt, man würde mich sicher befragen wollen«, sagte er mit angespannter Stimme und senkte die Finger wieder auf das kalte Paket.

»Sie haben die Leiche gefunden«, konstatierte Pierre, nachdem er sich vorgestellt hatte, und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. »Wann war das?«

»Heute Morgen gegen neun. Ich bin in den Keller gegangen, um die Weine für das Abendessen auszusuchen und die Bestände zu überprüfen. Da habe ich ihn gesehen.« Er schloss die Augen. »Nie werde ich diesen Anblick vergessen, niemals.«

Seine Stimme bebte in unfreiwilliger Theatralik, doch Pierre nickte verständnisvoll und machte sich Notizen.

»Kennen Sie den Mann?«

Der Sommelier riss die Augen auf. »Glauben Sie, ich hätte ihn mir genauer angesehen? Gott bewahre.«

»Wann waren Sie gestern zuletzt im Keller?«

»Vor dem Abendessen, so gegen sechs. Ich habe die temperierten Weinschränke in unserem Restaurant aufgefüllt. Manchmal muss ich auch während des Essens in die cave, wenn ein Gast einen außergewöhnlichen Wunsch hat, aber das war gestern Abend nicht der Fall.«

»Also war der Direktor der Letzte, der das Gewölbe betreten hat?«

»Ob er es betreten hat, kann ich Ihnen nicht sagen, zumindest hat er als Letzter die Schlösser überprüft.«

»Kann es sein, dass er es gestern Abend vergessen hat?«

»Oh nein, Harald ist ein äußerst akribischer Mensch. Die Schlösser überprüft er eher dreimal, als dass er das Risiko eingeht, etwas falsch zu machen.«

Pierre notierte die Bemerkung, dann fiel ihm noch etwas ein. »Der riesige Tank, in dem der Mann liegt, ist sehr ungewöhnlich. Selbst für ein Hotel, das Teil eines Weingutes ist. Zudem verwendet man diese Form der Lagerung eher für Weißwein …«

»Das war ein Wunsch von Gerold Leuthard, dem Inhaber.« Martin Cazadieu hob die Augenbrauen. »Was für ein Unsinn! Im Keller lagern die feinsten Tropfen, auch in den Fässern ist Wein von höchster Qualität. Aber der Winzer, der sich um die Weinberge kümmert, hat ihm einen Floh ins Ohr gesetzt.«

Pierre wartete auf eine Fortsetzung, und als diese ausblieb, half er nach. »Und? Wie sieht dieser Floh aus?«

»Wollen Sie das wirklich wissen?« Der Sommelier schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf.

Pierre hatte den Eindruck, der Mann könne es gar nicht abwarten, seinen Unmut loszuwerden, was sich gleich darauf bestätigte.

»Der Wein in diesen Bergen ist vollkommen untauglich. Aber es liest sich ja so gut: eigene Kellerei, Weingut Domaine des Grès. Alles für den Hochglanzprospekt. In Wahrheit wird in diesem Tank die Reifung verkürzt und das wunderbare Holzaroma durch Eichenchips imitiert.« Er schnalzte mit der Zunge. »Stahltank statt Barrique. Nun denn, die Märkte, die der Winzer beliefert, interessiert das nicht, und der Inhaber hat damit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.«

Im Geiste notierte sich Pierre Inhaber ist geschäftstüchtig und griff nach einem Hotelprospekt, der auf dem Nachttisch lag. Es war dasselbe Layout wie bei der Karte, die ihm die Köchin am Morgen gegeben hatte. Warmes Sandgelb mit grauer und roter Schrift. Die Aufmachung war einladend.

»Darf ich den mitnehmen?«, fragte er.

»Selbstverständlich.«

»Dann lasse ich Sie jetzt allein. Wenn ich weitere Fragen habe, melde ich mich.«

Der Sommelier nickte matt, lupfte kurz den Eisbeutel und sank zurück in die Kissen.

Als Pierre den Weinkeller zum zweiten Mal an diesem Tag betrat, war Louis Papin bereits bei der Arbeit. Mit höchster Konzentration beugte er sich über den in einen offenen Leichensack gelegten tropfnassen Körper eines jungen Mannes, dessen genaueren Anblick Pierre sich vorläufig ersparte. Luc hatte sich inzwischen zurückgezogen. Er saß am Eichentisch und betrachtete die Szenerie mit blassem Gesicht und offensichtlichem Abscheu, das feucht glänzende Ölzeug wie ein ungeliebter Haufen schmutziger Wäsche zusammengeknüllt zu seinen Füßen. Vor ihm auf dem Tisch lagen die unbenutzte Taucherbrille und ein Stück Papier, das sich dort zuvor nicht befunden hatte.

Als Pierre ihn derart verstört sitzen sah, empfand er fast ein wenig Mitleid mit dem jungen Mann, dem so etwas anscheinend bislang erspart geblieben war. Doch es verflog binnen weniger Sekunden, als er das Papier auf dem Tisch näher betrachtete. »Was ist das?«

»Das hat am Tank geklebt. Es klingt ganz lecker.« Luc griff nach dem Zettel und reichte ihn Pierre.

Sofort hob dieser entsetzt die Hände. »Verdammt noch mal, Luc, das kannst du doch nicht anfassen. Das ist Beweismaterial.«

»Es ist nur ein Rezept.« Der Assistent ließ das Blatt aber sofort auf den Tisch fallen und starrte es nun an, als enthalte es eine Anleitung zum Bombenbau.

Pierre zog sich kopfschüttelnd ein Paar Handschuhe über. »Hast du denn nichts als Stroh im Kopf? Am Tatort muss alles unverändert bleiben, hörst du? Immer!« Er hob das Rezept an, dabei bemerkte er, dass es auf einem Briefbogen des Hotels gedruckt war. Coq au Vin stand darauf und darunter Kochschule Charlotte Berg sowie das Datum vom vergangenen Mittwoch. Pierre sah Luc fragend an. »Wo genau hast du es gefunden?«

Er folgte seinem Assistenten zum anderen Ende des Raumes, begrüßte dabei Louis Papin, der kurz aufblickte, um den Gruß zu erwidern, und besah sich die rückwärtige Stelle des Weintanks, an der das Papier mit Klebestreifen befestigt gewesen war. Pierre ärgerte sich, dass die Kollegen von der Spurensicherung noch immer nicht da waren. Wie sollte er ihnen das Missgeschick mit dem Rezept bloß erklären? Konnte er den Jungen nicht eine Sekunde allein lassen?

Angestrengt überlegte er, was er in Ermangelung einer geeigneten Hülle damit tun sollte, als sein Assistent einen spitzen Schrei ausstieß.

»Ich kenne den Mann«, stammelte Luc, der sich inzwischen neben Louis Papin gestellt hatte. »Vivianne hat mir ein Foto von ihm gezeigt.«

»Vivianne?«

»Vivianne Morel, die Frau, die gestern ihren Verlobten Antoine Perrot als vermisst gemeldet hat.«

»Diesen Casanova?«

»Genau. Sie war zutiefst besorgt, weil er zu einer Verabredung nicht erschienen ist. Ich wollte es zuerst nicht ernst nehmen, schließlich ist er dafür bekannt, unzuverlässig zu sein, aber als ich Mademoiselle Morel nach Hause brachte, erzählte sie mir, dass er gestern wohl einen bedrohlichen Anruf erhalten habe. Angeblich von einer seiner Verflossenen.«

»Und wie heißt die?«

»Angeline oder so.«

»Okay, dann finde heraus, wer diese Frau ist, wer ihn zuletzt lebend gesehen hat und ob er sich möglicherweise gestern noch mit jemandem getroffen hat.«

»Es wird ihn ja wohl kaum eine einzelne Frau in den Tank gehoben haben.«

Pierre seufzte. »Natürlich nicht.«

Luc strich sich über das Kinn. »Ich frage mich ernsthaft, woher er all diese Frauen hat. Das Dorf ist ja nicht so groß …«

»Seid ihr jetzt fertig?« Louis Papin erhob sich und zeigte auf den Toten. »Ich möchte die Leiche für den Abtransport bereit machen.«

Pierre nickte. »Irgendwelche Erkenntnisse?«

»Er hatte einen Schaumpilz vor dem Mund, was darauf hinweist, dass man ihn lebend in den Weintank befördert hat. Er muss eine ganze Weile gegen das Ertrinken angekämpft haben, also ist er entweder beim Kontakt mit der Flüssigkeit aus einer Art Betäubung erwacht, oder er war von Anfang an bei vollem Bewusstsein.«

Ein furchtbares Ende. Wenn es etwas gab, worum Pierre den Herrn im Himmel bat, dann um einen sanften Tod. Am besten im Schlaf nach einem köstlichen Essen und einer Flasche edlen Weins. »Wie soll man einen Mann von dieser Statur unbemerkt in den Tank hieven?«, fragte er. »Selbst mit Hilfe des Flaschenzugs braucht man eine gute Kondition.«

»Das kannst du laut sagen«, antwortete Papin grinsend. »Aber das ist nicht das einzig Ungewöhnliche an diesem Fall.« Er hob eine kleine Zellophantüte auf, in der sich ein Bündel Kräuter – Petersilie, Thymian und Lorbeer – befand, die Würzmischung für Coq au Vin. »Der Mörder hat Humor. Am Hals des Toten hing ein bouquet garni.«

3

Ein Anruf bei der alten Madame Duprais, in deren Haus Antoine Perrot zur Untermiete wohnte, hatte ergeben, dass dieser bis auf eine entfernte Tante in Arles und einen Cousin in Roussillon keine Verwandten mehr besaß.

»Hat der Bengel wieder Ärger gemacht?«, hatte die alte Dame in den Hörer gerufen, und ihre Neugier war beinahe spürbar durch die Telefonleitung gekrochen.

»Nein, ganz im Gegenteil, aber ich würde trotzdem gerne kurz mit Ihnen sprechen«, hatte Pierre geantwortet und sich für den Nachmittag angekündigt.

Er hoffte, dass die Nachricht von Perrots Tod sie bis dahin nicht längst erreicht hatte. Das Dorf war klein, Informationen verbreiteten sich in Windeseile von Haus zu Haus, von Gartenzaun zu Gartenzaun. Geheimnisse, Gerüchte und Vermutungen huschten von einem Ohr zum anderen, bis der ganze Ort im Bilde war, und in diesem Fall würde es gewiss nicht lange dauern, bis auch Madame Duprais wusste, welch grauenhaftes Ende ihren Untermieter ereilt hatte. Doch dieses Risiko musste Pierre eingehen, denn nun war es vorrangig, so rasch wie möglich am Tatort zu ermitteln, alles andere konnte warten.

Harald Boyer hatte das leere Frühstückszimmer vorgeschlagen, damit Pierre in Ruhe seine Befragungen durchführen konnte.

»Die roh belassenen Steinmauern des Raumes«, so hatte der Direktor erklärt, »sind über zweihundert Jahre alt und stammen aus einer Zeit, als man ihn noch als Stall für die Postpferde genutzt hat.«

»Beeindruckend«, hatte Pierre gesagt, und Boyer war hinausgeeilt, um nach der Köchin zu rufen.

So saß er nun allein hier, Notizblock und Arbeitsutensilien vor sich ausgebreitet, und sah sich um. Der Raum war eine Mixtur aus provenzalischer Urtümlichkeit und elegantem Ambiente. Stühle mit weißen Hussen, auf den Tischen Rosenbouquets in silbernen Vasen. Durch die verglaste Flügeltür hatte man einen wunderbaren Blick auf die Terrasse mit ihren schmiedeeisernen Sitzgruppen, auf denen die Gäste bei gutem Wetter unter dicht belaubten Platanen speisen konnten. In den Steintöpfen blühte noch der Lavendel, der andernorts bereits abgeerntet war.