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Die malerischen Ufer der Rhône, farbenfrohe provenzalische Stoffe – und ein drohender Mord … Der 11. Fall für den liebenswerten Ermittler Pierre Durand!
Es ist Ende Juni. Sainte-Valérie wird Schauplatz für die Modenschau des Designers Cyril Fontanel. Pierre Durand – für die Sicherheit vor Ort beauftragt – hat Mühe, den impulsiven Modeschöpfer sowie die vom Trubel aufgebrachten Dorfbewohner zu beruhigen. Als Fontanel anonyme Morddrohungen erhält, ist Pierre alarmiert: Will jemand der Karriere des Designers schaden? Oder verschweigt Fontanel Informationen aus seiner Vergangenheit? Fest steht: Sainte-Valérie darf nicht Kulisse eines Mordes werden! Die Suche nach dem Täter führt Pierre nach Tarascon – und zu einer Toten, die mit allem in Verbindung zu stehen scheint.
»Niemand verbindet Genuss und Verbrechen so harmonisch wie Sophie Bonnet in ihren Provence-Krimis.« Hamburger Morgenpost
Mehr Südfrankreich gefällig? Lesen Sie auch weitere Romane der hoch spannenden »Pierre Durand«-Reihe!
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Es ist Ende Juni. Sainte-Valérie wird Schauplatz für die Modenschau des Designers Cyril Fontanel. Pierre Durand – für die Sicherheit vor Ort beauftragt – hat Mühe, den impulsiven Modeschöpfer sowie die vom Trubel aufgebrachten Dorfbewohner zu beruhigen. Als Fontanel anonyme Morddrohungen erhält, ist Pierre alarmiert: Will jemand der Karriere des Designers schaden? Oder verschweigt Fontanel Informationen aus seiner Vergangenheit? Fest steht: Sainte-Valérie darf nicht Kulisse eines Mordes werden! Die Suche nach dem Täter führt Pierre nach Tarascon – und zu einer Toten, die mit allem in Verbindung zu stehen scheint.
Autorin
Sophie Bonnet ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Mit ihrem Frankreich-Krimi »Provenzalische Verwicklungen« begann sie eine Reihe, in die sie sowohl ihre Liebe zur Provence als auch ihre Leidenschaft für die französische Küche einbezieht. Mit Erfolg: Der Roman begeisterte Leser wie Presse auf Anhieb und stand monatelang auf der Bestsellerliste, ebenso wie alle darauffolgenden Romane um den liebenswerten provenzalischen Ermittler Pierre Durand. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Die Romane der Pierre-Durand-Reihe:
Provenzalische Verwicklung · Provenzalische Geheimnisse · Provenzalische Intrige · Provenzalisches Feuer · Provenzalische Schuld · Provenzalischer Rosenkrieg · Provenzalischer Stolz · Provenzalischer Sturm · Provenzalische Täuschung · Provenzalische Flut
Sophie Bonnet
Provenzalisches Licht
Ein Fall für Pierre Durand
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Redaktion: Angela Troni
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
DK · Herstellung: cs
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32167-3V001
www.blanvalet.de
Prolog
Das Licht der Spätnachmittagssonne warf breite Streifen durch die Fabrikfenster, als sie die Halle betrat. Erstaunt, die Tür unverschlossen vorgefunden zu haben. Sie hatte dem Druck nachgegeben und war mit lautem Knarzen aufgegangen. Offenbar war das Schloss beschädigt und nicht repariert worden. Mit festem Ruck schlug sie die Tür zu und hielt inne.
Wie verwahrlost alles wirkt, dachte sie, als sie die Spinn-weben registrierte, die sich entlang der Decke zogen und teils in Fetzen hinabhingen. Durch eine zerbrochene Glasscheibe wuchs wilder Wein. Und es riecht anders als früher, nach feuchten Wänden und kaltem Rauch.
In einer Ecke sah sie Schnapsflaschen liegen, daneben über den Boden verstreute Zigarettenstummel. Gegenüber der Druckstraße war ein großflächiges Graffiti aufgesprayt, offenbar nutzten Jugendliche die Halle als Partyraum, was in ihren Augen einer Entweihung gleichkam.
Es gab einiges zu tun, um der Fabrik zu altem Glanz zu verhelfen. Und sie fragte sich, wie zum Teufel Cyril rechtzeitig fertig werden wollte. Aber er war Perfektionist, sicher hatte er genügend Leute engagiert, die dafür sorgten.
Nur eine Woche bis zum großen Event …
Zögernd machte sie einen weiteren Schritt in das Gebäude, und dann noch einen. Sand knirschte unter ihren Füßen, und von irgendwoher kam ein Klackern. Abrupt blieb sie stehen. Lauschte, in der plötzlichen Angst, nicht allein zu sein. Durchscannte den Raum.
Ihr Blick fiel auf die Zweige, die durch das kaputte Fenster ragten und nun im Wind gegen den Rahmen schlugen. Erleichtert atmete sie aus.
Jetzt war es wieder still. In ihrem Kopf tönte es umso lauter.
Heute vor zehn Jahren war Zazàs Todestag gewesen, und die aufsteigende Trauer schnürte ihr unvermittelt die Luft ab.
Sie fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hierherzukommen. Aber nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, zur Polizei zu gehen, hatte sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Sie war spazieren gegangen, um der inneren Unruhe Herr zu werden. Schließlich hatten ihre Füße sie zu der alten Fabrik geführt, den ganzen Weg von Tarascon hierher. Am Ende war sie beinahe gerannt.
Ein letztes Mal wollte sie sich die Geschehnisse in Erinnerung rufen, jedes einzelne Detail, bevor sie ihre Aussage machte.
Reglos stand sie da, alle Sinne aufs Äußerste gespannt.
Die Stille war unheimlich. Und auf einmal konnte sie Zazàs Anwesenheit spüren. Sie war da, als wäre sie nie weg gewesen.
Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Bilder stürmten auf sie ein und sie wusste, dass sie ihnen nicht länger entkam. Die anstehende Modenschau hatte den Schleier von dem mühevoll verdrängten Wissen gerissen. Alles war wieder da, ganz präsent. Ungeschönt und nackt.
Nein, sie konnte und durfte ihr Wissen nicht weiter für sich behalten, das war ihr heute bewusst geworden. Sie hatte schon viel zu lange geschwiegen. Sie musste die Geschehnisse offenbaren, den Mord zur Anzeige bringen, um endlich für Gerechtigkeit zu sorgen.
Sie atmete tief ein und wieder aus. Ging weiter. Entschlossen, sich den Bildern zu stellen.
Bei der langen Produktionsbahn, auf der die mit Farbe präparierten Rahmen früher prägend über die Stoffe gefahren waren, tanzten Staubkörnchen im goldenen Licht. An der Stirnseite die ehemals weiß gekachelte Wand, an der noch immer die rotbraune Farbmelange vom Reinigen der Rahmen klebte.
Wie in einer Schlachterei, dachte sie. Früher hatten sie darüber Witze gemacht.
Sie sah zu dem großen Graffiti auf der Längsseite des Raumes gegenüber der Druckstraße. Buchstaben in Apricot, Pink und Rosé. Sie trat näher, stand jetzt mitten im Orangegelb der Sonne. War beleuchtet wie von einem übergroßen Scheinwerfer.
»ZAZÀ«, las sie leise. »Je t’adore. Ich verehre dich.«
Das Graffiti stammt nicht von Jugendlichen, dachte sie, als sie zwischen den farbigen Strichen auch gleichmäßige Muster von cigales und Lavendel in Schwarz und Weiß erkannte. Offensichtlich hatte Cyril es für das anstehende Defilee in Auftrag gegeben.
Sie nahm ihre Umhängetasche ab und legte sie auf die Druckbahn. Dann holte sie ihr Mobiltelefon hervor, fasziniert von der Ästhetik der Bilder, und machte mehrere Fotos, bevor sie es wieder hineinschob.
Cyril war schon immer ein großer Künstler, dachte sie, während sie sich vor das Graffiti stellte und mit den Fingern die Muster nachzeichnete, deren Ursprünge hier in dieser Firma lagen. Die ihm ebenso Impulsgeber war wie er ihr. Er verstand das Spiel der Inszenierung, der Verwandlung wie kein zweiter. Zazà hatte das früh erkannt. Was Cyril mittlerweile erschaffen hatte, war besonders, eine Verbindung aus Anmut und Tradition. So wie bei diesem Graffiti, das einen kunstvollen Bogen vom Jetzt in die Vergangenheit schlug. Eine Hommage an die Frau, die ihm das Ganze erst ermöglicht hatte.
Sie lachte bitter und trat einen großen Schritt zurück.
Die Inhaberin von Tissu Hebrard war eine unbequeme Frau gewesen. Sie hatte ihren Angestellten alles abverlangt und sie zu Höchstleistungen angespornt. Wer sich nicht aufrecht hielt, zerbrach. Doch sie hatte auch eine warme, beschützende Seite gehabt. Wer in ihrem Licht stand, erstrahlte. Und damals gab es niemanden, der sich nicht danach sehnte, in diesem Licht zu stehen.
Ein lautes Schluchzen entfuhr ihrer Kehle, und sie krümmte sich angesichts der inneren Last.
Was nun vor ihr lag, würde alles verändern. Aber sie war entschlossen, sich der Vergangenheit zu stellen. Um sie dann für immer loszulassen. Also tupfte sie sich mit dem Ärmel ihrer Bluse die Tränen aus den Augenwinkeln, bevor sie sich wieder aufrichtete.
Wie in Trance durchquerte sie den Raum, den sie früher die Küche genannt und in dem Regale voller Farbeimer gestanden hatten, aus denen Arbeiter die gewünschten Töne mischten. Weiter zum Lager, in dem einst Dutzende Rahmen mit den unterschiedlichen Mustern aufbewahrt wurden wie in einem überdimensionalen Archiv. Zu der angrenzenden kleinen Halle, in der die ungebleichten Baumwollstoffe für den Druck vorbereitet wurden. Die Entfernung der Fasern, die Bearbeitung in der Bleichmaschine, die chemische Beseitigung der beim Weben entstandenen Rückstände. Das anschließende Trocknen mit Hilfe eines Heißluftstroms, bevor die gebleichte Baumwolle in einem Natronlaugenbad stabilisiert wurde.
Die Vorbereitung der Stoffe war eine enorm aufwendige Angelegenheit. Das erneute Waschen und Trocknen, das Bügeln und wieder Aufrollen. Ein Verfahren, das sich nur noch wenige Unternehmer leisten konnten. Und Zazà Hebrard war eine von ihnen gewesen.
Die Grande Dame der indiennes, der traditionellen provenzalischen Stoffe. Bis zu diesem unseligen Sturz.
Nun war sie bei der Treppe angelangt, die in den ersten Stock führte, wo die Büroräume und das Designatelier lagen. Sie umfasste das Geländer, richtete den Blick nach oben. Bereit, nichts auszulassen. Sich alles zuzumuten.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Erst dachte sie, es wären wieder die Zweige im Wind. Doch jetzt erkannte sie das Knarzen der Eingangstür. Dann das Knirschen von Schritten. Jemand war in der Fabrik!
Sie wich zurück. Wollte ihr Mobiltelefon hervorholen, um es im Notfall griffbereit zu haben, als ihr einfiel, dass die Umhängetasche auf der Druckbahn lag.
Mit pochendem Herzen schlich sie vorwärts, setzte Fuß vor Fuß, bis sie wieder in der Halle ankam, wo die Tasche noch immer an ihrem Platz war. Niemand war zu sehen. Nur die Tür ins Freie stand jetzt einen Spaltbreit offen.
»Du bist ein dummes Huhn«, schalt sie sich leise.
Sicher waren es nur Mitarbeiter der Modenschau, die ihre Vorbereitungen fortsetzten. Gleich würden die Männer und Frauen eines Putzteams eintreten. Packer, die bestellte Möbel hineinschleppten – oder sogar Cyril selbst, der den Veranstaltungsort inspizierte.
»Hallo?«, rief sie. Ihre Stimme klang zittrig. Keine Antwort. »Ist da wer?«, setzte sie kräftiger hinzu.
Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Der aufsteigenden Panik keinen Raum zu geben. Nicht die Nerven zu verlieren. Alles, was sie nun tun musste, war, zurück zur Produktionsbahn zu gehen, die Tasche zu ergreifen und dann die Halle zu verlassen.
»Alles wird gut«, flüsterte sie.
Das Herz klopfte ihr nun bis zum Hals. Ein unbestimmtes Gefühl von Gefahr schnürte ihr die Luft ab. Sie tat einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Schließlich nahm die Panik überhand und sie begann zu rennen. Mit einer raschen Handbewegung zerrte sie die Umhängetasche von der Druckbahn, als sie aus Richtung der Farbküche eine Bewegung wahrnahm.
Aus dem Augenwinkel sah sie eine Person, die etwas Metallisches in den Händen hielt und die ihr folgte. Eine Person, die sie kannte und deren entschlossener Blick keinen Zweifel daran ließ, was sie vorhatte.
Ihr Puls raste, während sie laut keuchend auf den Ausgang zuhielt. Endlich hatte sie die Tür erreicht und legte beide Hände an den Griff.
Gleich ist es geschafft, dachte sie, als sie die schwere Tür weiter aufzog. Während sie fieberhaft nach einem Gegenstand suchte, mit dem sie das Schloss von außen verriegeln konnte, ahnte sie, dass es bereits zu spät war.
Der Schlag traf sie mit dem Geräusch einer platzenden Wassermelone. Und noch bevor ihr Körper auf dem Boden aufschlug, war es in ihr ganz still.
1
Schweigend saßen sie in ihren Korbgeflechtstühlen und beobachteten, wie die Kellnerin des Café le Fournil eisgekühlte citronnade vor ihnen abstellte. Über ihnen bewegten sich die Zweige der Platanen, deren Blätter einen natürlichen Schutz gegen die Junisonne boten. In der Ferne plätscherte der Dorfbrunnen.
Pierre hob sein Glas an die Lippen, trank einen Schluck der Limonade und schloss die Augen, während das Getränk kühl und erfrischend seinen Hals hinabglitt. Er vernahm das zischende Geräusch eines entzündeten Streichholzes, dann den Geruch der orientalisch riechenden Kräuterzigaretten, deren Rauch Farid neben ihm langsam und geräuschvoll ausstieß.
Es war ein einvernehmliches Schweigen, das zwischen ihnen herrschte. Ein Schweigen, wie es das nur bei Menschen gab, die sich lange genug kannten, um ohne Worte zu wissen, was der andere fühlte.
Und sie fühlten sich alle beide hundsmiserabel.
»Ich kann und will das nicht zulassen«, entfuhr es Pierre schließlich und er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass die Gläser klirrten. »Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, das Ganze noch zu stoppen.«
»Ich habe wirklich alles versucht«, sagte der Immobilienmakler düster und nahm noch einen Zug, bevor er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. »Ich habe deinem Vater vorgeflunkert, das Haus stehe bereits unter compromis, aber er hat mir nicht geglaubt und Kontakt zu meinem Konkurrenten in Apt aufgenommen. Der hat das Objekt ebenfalls unter Vertrag, es ist ja kein mandat exclusif.«
»Alain ist zur Konkurrenz gegangen?« Pierre presste die Lippen aufeinander und schüttelte langsam den Kopf. Das war typisch für seinen Vater. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab er nicht auf, bevor er am Ziel war.
Farid drehte sein Glas zwischen den Händen. »Der Kollege hat mich angerufen und mich darauf hingewiesen, dass er meinen Provisionsanspruch infrage stellt. Der Klient habe den Eindruck gewonnen, ich wolle ihm das Haus gar nicht verkaufen.«
»Und was hast du darauf geantwortet?«
»Ich habe so getan, als sei es ein Missverständnis, und gesagt, ich würde das in Ordnung bringen. Er solle sich da raushalten.« Der Tunesier hob die Hände und fuhr sich mit den Fingern durch die krausen Locken, als wolle er sie raufen. »Mein guter Ruf steht auf dem Spiel, verstehst du? Wenn ich das Geschäft meinem Kollegen überlasse, ist niemandem geholfen. Du weißt, wie schlecht es gerade in der Branche läuft, ich brauche den Umsatz dringend. Wäre da nicht dieses anstehende Modeevent, für deren Models ich leerstehende Ferienimmobilien vermieten konnte, ich müsste den Laden dichtmachen!«
Mit einem Nicken lehnte sich Pierre im Stuhl zurück und sah hinauf in die rauschenden Blätter, durch deren Lücken kleine Sonnenflecken tanzten. Die Temperaturen waren angenehm, dank des Windes, der ihm nun sacht über die Wangen strich, als wolle er ihn trösten.
Pierre schloss die Augen.
Er konnte Farid gut verstehen, auch für ihn war die Lage alles andere als leicht. Aber wenn nicht bald ein Wunder geschah, dann war sein eigenes Leben innerhalb kürzester Zeit nicht mehr das, was es bisher war.
Dabei hatte der Sommer so gut begonnen …
Die vergangenen Wochen waren ganz nach seinem Geschmack gewesen. Anfang Mai die Hochzeit mit seiner geliebten Charlotte, ein rauschendes Fest im Kaminsaal der Burg. Danach die Flitterwochen an der Côte Varoise, die zwar wegen ungeplanter Ermittlungen nicht ganz so verlaufen waren wie erwartet, aber dennoch ein versöhnliches Ende genommen hatten.
Und dann ihre Rückkehr nach Sainte-Valérie.
Pierre erinnerte sich an das warme Gefühl der Dankbarkeit, als ihre Freunde sie bei der Ankunft überrascht hatten. Mit Platten voll Kuchen und Gebäck. Sie hatten mit Crémant auf die heimgekehrten Flitterwöchner angestoßen und ihnen ein Hochzeitsgeschenk überreicht, für das die halbe Dorfgemeinschaft zusammengelegt hatte: einen siebzehn Jahre alten, bestens aufgearbeiteten schwarzen Renault Twingo.
Es war ein großartiges Geschenk! Da Charlottes Geschäftswagen stets im Einsatz für ihre L’Épicerie provençale war und Pierre sein Dienstauto nur während der Einsatzzeiten benutzen durfte, hatten sie sich für private Fahrten regelmäßig ein Auto leihen müssen. Meist bat Pierre den ehemaligen Uhrmacher Didier Carbonne um seinen alten Kastenwagen. Ein klappriges Gefährt, das im Frühjahr erst im zweiten Anlauf durch die contrôle technique gekommen war.
Unwillkürlich musste Pierre lächeln.
Die Flitterwochen hatten lange nachgehallt. Sie hatten sich ihrem neuesten »Projekt« gewidmet, der Familiengründung, denn Charlotte wünschte sich nichts sehnlicher als ein gemeinsames Kind.
Das »Projekt« war Pierre nicht ganz geheuer, denn während Charlotte erst Mitte dreißig war, stand in drei Monaten sein sechsundvierzigster Geburtstag an. Er fühlte sich zu alt, um Windeln zu wechseln und mit dem Nachwuchs über den Boden zu krabbeln, und noch weniger hatte er Lust dazu. Darüber hinaus bezweifelte er, ob Charlotte ihrem Beruf als Inhaberin der gut laufenden Épicerie, wo sie täglich mehrere Gerichte zum Mitnehmen kochte, auch als Mutter nachgehen konnte. Genau so, wie sie es sich vorstellte, nämlich beide Leidenschaften zu verbinden.
Sogar auf die Genusswochenenden mit Sommelier Martin Cazadieu, den sie aus ihrer Zeit als Chefköchin des Luxushotels Domaine des Grès kannte, wollte sie nicht verzichten. Sie liebte die gemeinsam veranstalteten kulinarischen Exkursionen, in denen das Erleben der provenzalischen Gaumenfreuden im Vordergrund stand. Sie umfassten einen Kochkurs, eine Einführung in die Welt der Weine und einen Ausflug zu lokalen Produzenten, bei denen sie je nach Jahreszeit Trüffel, Olivenöl oder Safranprodukte verkosteten.
Und wo, bitte schön, hatte Pierre sie einmal gefragt, sollte da noch Platz für den Nachwuchs sein?
Sie habe einen Plan, hatte Charlotte mit einer Stimme geantwortet, die keinen Widerspruch gestattete. Sie könne sehr wohl alles in Einklang bringen, ohne dass das Kind leiden müsse, er solle ihr vertrauen.
Also hatte er ihrem Wunsch nachgegeben. Denn mit Charlotte hatte er eine Frau gefunden, die ihn liebte, wie er war. Mit all seinen Macken. Die wundervoll kochen konnte und trotz ihres Perfektionismus eine große Ruhe ausstrahlte. Die ihn nicht einengte, sondern, ganz im Gegenteil, selbst die Freiheit brauchte, über ihr Leben zu entscheiden und sich in ihrem Beruf auszudehnen.
Während er mit geschlossenen Augen zurückgelehnt im Stuhl saß und an sie dachte, wurde Pierres Lächeln breiter.
Charlotte war eine wunderschöne, stilsichere Frau, die mit ihren kastanienbraunen Locken und den Sommersprossen auf der Nase sehr natürlich wirkte. Und wenn sie lächelte, dann ging in seinem Herzen die Sonne auf. Sie an der Seite zu haben, war einfach wundervoll.
Ja, das Leben könnte herrlich sein. Wäre da nicht diese eine Sache, die wie ein Damoklesschwert über ihm hing: das Vorhaben seines Vaters, mit seiner jugendlichen Freundin Audrey nach Sainte-Valérie zu ziehen.
Abrupt hob Pierre die Lider und richtete sich wieder auf.
Mehr als einmal hatte er Alain gebeten, sich einen anderen Ort im Umfeld des Luberon zu suchen.
»Ménerbes ist eine echte Perle«, hatte er vorgeschlagen. »Das Dorf liegt direkt gegenüber auf der anderen Seite des Tales und ihr habt einen traumhaften Blick über die Weinfelder und die Ausläufer des Luberon. Oder ihr zieht nach Lourmarin. Das Renaissance-Schloss im Ort hat schon einige berühmte Künstler beherbergt, und die Gassen der Altstadt sind ähnlich pittoresk wie die in Sainte-Valérie.«
Nachdem sein Vater jeden Vorschlag mit abschätzigem Schnalzen beiseite wischte, war Pierre während eines Telefonates der Kragen geplatzt.
»Alles, nur nicht hier. Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Die Entscheidung musst du schon mir überlassen, mein Sohn«, antwortete Alain verschnupft. »Schließlich hast du das Dorf nicht für dich gepachtet. Es geht hier um mich und meinen Lebensabend. Den will ich gemeinsam mit Audrey im schönsten Ort des gesamten Vaucluse verbringen. Und der heißt ohne jeden Zweifel Sainte-Valérie.«
Und weil besagte Audrey mit ihren Leopardenkleidchen und dem hübschen Augenaufschlag sich hier als Immobilienmaklerin niederlassen und eine goldene Nase verdienen wollte, hing das Damoklesschwert gleichsam über Pierres Freund Farid, dem örtlichen Immobilienmakler, der ihm das alte Bauernhaus samt Ziege Cosima verkauft hatte. Und der wegen der sich zuspitzenden Immobilienkrise auch ohne Konkurrenz kaum Kundschaft fand. Weshalb die beiden sich zusammengetan hatten, um einen Umzug nach Sainte-Valérie zu verhindern.
Vergeblich.
Dieses Schwert würde nun also über ihnen herabfallen.
Pierre trank einen weiteren Schluck von der eisgekühlten citronnade, stellte das Glas wieder ab und verschränkte die Arme.
Sein Vater, der schon im quirligen Paris nicht eine Minute stillsitzen konnte, würde sich ins Dorfleben einmischen, um der Eintönigkeit des Landlebens zu entfliehen. Und – wie er bereits angedroht hatte – jeden Abend auf einen Sprung vorbeischauen, um ein Glas Wein zu trinken und über Gott und die Welt zu reden. Wobei er sicher auch den einen oder anderen guten Rat für seinen Sohn übrighatte und sein Tun mit kritischen Kommentaren begleiten würde. So, wie er es immer machte, seit Pierre denken konnte.
Er kniff die Lippen aufeinander. Wenn Alain tatsächlich mit seiner Lebensgefährtin nach Sainte-Valérie ziehen würde, wäre es vorbei mit dem ruhigen Dorfleben, das er so sehr liebte. Und für das er vor drei Jahren aus Paris hierhergezogen war.
Ihm fiel auf, dass er gar nicht wusste, welches Objekt sein Vater zurzeit im Visier hatte, und er wandte sich Farid zu.
»Wo liegt eigentlich das Haus, das Alain erwerben möchte?«
Der Freund angelte mit seinen behaarten Fingern einen Eiswürfel aus dem Glas, zerkaute ihn mit lautem Krachen. Dann legte er den Kopf schräg und ließ sich ein wenig zu lange Zeit mit der Antwort.
»Im Chemin de la Sénancole«, sagte er endlich.
»Im …« Pierre stieß ein Keuchen aus. »Doch nicht etwa das Steinhaus der pensionierten Lehrerin? Das liegt ja in unmittelbarer Nähe zu unserem Hof!«
Farid hob entschuldigend beide Hände.
Pierre versuchte sich an das verwitterte Häuschen zu erinnern, das bereits seit Längerem zum Verkauf stand. Ihm kam ein Gedanke, der eine leise Hoffnung mit sich trug.
»Hat es denn überhaupt einen Pool?«, fragte er. Denn das war laut Alain die Mindestanforderung für einen Kauf. Und weil sich die Gemeinde Sainte-Valérie im Gebiet des Parc national de Luberon befand, war es gar nicht so einfach, eine Genehmigung dafür zu erhalten.
Beim ersten von Alain anvisierten Haus war die angeblich vorliegende Baugenehmigung für den Pool tatsächlich nicht vorhanden. Wie Pierre über Gisèle, die Empfangsdame und gute Seele der mairie, herausfinden konnte, war der Antrag bereits vor Wochen abgelehnt worden. Weshalb der Immobilienmakler seinem Vater diesen Kauf ausreden konnte.
»Leider ja«, seufzte Farid mit dem Blick eines geprügelten Hundes.
Pierres zarte Hoffnung platzte wie eine Seifenblase. Matt ließ er sich wieder im Stuhl zurücksinken, als die Kellnerin die bestellten Burger mit côte de bœuf à la façon daube und frites mit einem Knall auf dem Tisch abstellte.
»Et voilà«, sagte sie und schob den Bon unter die Klammer des Zahltellerchens. »Darf ich gleich abkassieren?«
Farid sah sie mit emporgezogenen Brauen an. »Wir haben ja noch nicht einmal angefangen zu essen.«
»Das könnt ihr auch, nachdem ihr gezahlt habt. Und so geht es schneller.«
»Warum die Eile?«
Die Kellnerin schob sich einen Stift hinter das Ohr. »Ihr seht doch, was hier los ist!« Sie wies mit einer Kopfbewegung zu einer Gruppe junger Frauen in teuer wirkenden Sommerkleidchen, die sich seitlich der Stuhlreihen aufgebaut hatten. »Seit sich herumgesprochen hat, dass am Freitag die ZAZÀ-Fashion-Show stattfindet, ist hier die Hölle los. Der Chef will sich den zusätzlichen Umsatz nicht entgehen lassen, daher …« Sie zeigte mit entschuldigendem Lächeln auf den Bon.
Farid holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche. »Das verstehe ich gut«, sagte er. Mit Blick auf die wartenden Frauen zog er einen Schwung Visitenkarten aus seiner Hosentasche. »Kann ich die nachher auf dem Tisch liegen lassen?«, fragte er.
»Na klar.« Sie nickte.
Zufrieden lächelnd legte Farid einen Schein in die Schale und Pierre tat es ihm gleich.
Der Geruch des geschmorten Fleisches stieg ihm verlockend in die Nase. Mit einem Seufzen breitete er die Serviette über seinen Schoß. Der heutige Tag war turbulent gewesen, er hatte sich die Mittagspause mehr als verdient.
Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun dem mit einer Art provenzalischer daube gefüllten Burger, der von brauner Sauce derart triefte, dass er sich dazu entschloss, ihn mit Messer und Gabel zu essen, statt mit beiden Händen.
Schon der erste Bissen war unbeschreiblich gut.
Das tranchierte Rinderkotelett war rosa gebraten und zerging im Mund beinahe ebenso zart wie das über Stunden geschmorte Original. Ein Hauch von Knoblauch und Rosmarin. Dazu die Frische von knackigem Salat mit in Scheiben geschnittenen Tomaten. Und erst die mit der dicken Sauce getränkten Brioche-Hälften …
Pierre schloss genießerisch die Augen.
Schon als Kind hatte er es geliebt, den daube-Rest mit Weißbrot vom Teller zu wischen. Die in Sauce getränkte Scheibe war die Krönung eines jeden Essens, das Sahnehäubchen nach einem befriedigenden Mahl.
Pierre schlug die Augen wieder auf und schnitt ein weiteres Stück ab. Beugte sich vor, um es einigermaßen kleckerfrei in seinen Mund zu schieben. Kaute voller Genuss. Vergaß alles um sich herum. War ganz bei sich.
Essen, das war schon immer so gewesen, brachte ihn innerhalb kürzester Zeit wieder ins Gleichgewicht. Dieses hier war mehr als notwendig gewesen und es tat seine Wirkung.
2
»Oh, was habt ihr denn da Leckeres?«
Pierre sah auf. Didier Carbonne schlängelte sich durch das Grüppchen der wartenden Frauen. Ohne zu fragen, zog er einen freien Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte sich zu ihnen.
»Einen Burger à la daube«, antwortete Pierre, noch immer kauend.
Der ehemalige Uhrmacher fixierte den Teller. »Der sieht köstlich aus.«
»Ist er auch«, antwortete Farid, der den Burger offenbar eingeatmet hatte und sich nun sichtlich zufrieden vor seinem leeren Teller zurücklehnte, sodass sein Hemd über dem Bauch spannte.
Pierre ließ Messer und Gabel sinken. Carbonne sah hungrig aus und er ahnte, was nun kam. »Du hast doch bestimmt schon was in Charlottes Épicerie bekommen.«
Das kostenfreie Mittagessen war neben der Erlaubnis, mit Hilfe der gelehrigen Ziege Cosima im Eichenwäldchen seines Grundstücks Trüffel zu ernten, ein weiteres Angebot, um den am Existenzminimum lebenden Freund zu unterstützen.
Carbonne rieb sich den struppigen Bart. »Beh, da ist gerade kein Durchkommen. Man könnte meinen, diese dürren Leute essen den ganzen Tag nichts, aber nein, für ein pan bagnat stehen sie dann doch an. Wahrscheinlich zupfen sie sich nur den Salat mit Thunfisch raus und verfüttern das gute Brot an die Spatzen!« In gespielter Erschöpfung hob er die Arme. »Diese Menschen sind einfach überall. Sogar auf unserem Bouleplatz. Sie machen Selfies, während sie Kugeln werfen, die nicht einmal in die Nähe des cochonnet kommen. Ich wette, sie besetzen später auch die Bar du Sud. Wessen Idee war das eigentlich, diesen Modefuzzi einzuladen, direkt nach den Feux de la Saint-Jean? Wir können uns gar nicht mehr richtig bewegen in unserem eigenen Dorf!«
Pierre lächelte. Er mochte den Alten, der nun eine Flunsch machte wie ein verzogenes Kleinkind.
»Es ist chaotisch, zugegeben.«
»Chaotisch ist noch untertrieben.« Ein verächtliches Schnaufen. »Heute früh hat so ein bekloppter Lastwagenfahrer das westliche Stadttor blockiert und angefangen, Stühle auszuladen. Serge meinte, dass sein Gemüseproduzent deswegen nicht anliefern konnte. Der hat alle Stiegen einfach auf der Zufahrtsstraße abgestellt. Serge musste jede einzeln im Slalom an den Stuhltürmen vorbei zum Laden tragen. Eine Zumutung! Und du kannst dir sicher vorstellen, wie viel eine Kiste mit Blumenkohl, Karotten oder Brokkoli wiegt.«
Pierre schmunzelte. Eine Unannehmlichkeit, zugegeben. Aber die Situation war in Wahrheit nur halb so dramatisch wie dargestellt. »Dann hat Serge dir sicher auch erzählt, dass der Lastwagenfahrer nach einer Abmahnung mitsamt den Stühlen innerhalb von zehn Minuten wieder verschwunden war? Und dass ich ihm beim Tragen der Gemüsekisten geholfen habe, oder?«
Der Alte hob die Brauen, offenbar hatte der Krämer dieses Detail ausgelassen. Schließlich machte er eine abfällige Handbewegung. »Bof! Da siehst du mal, wohin das führt. Unser chef de police beim Kistenschleppen. Ich wette, du hast ein hübsches Fotomotiv fürs Urlaubsalbum abgegeben.« Seine Stirn umwölkte sich. »Möchte mal wissen, warum sämtliche Bürgermeister, die wir in den letzten Jahren hatten, sich alle Beine dafür ausreißen, Sainte-Valérie zur Touristenhochburg zu machen. Von Marianne Levy hätte ich das ehrlich gesagt nicht erwartet.«
Pierre nickte. Der Alte hatte recht.
Dass die Modenschau, mit der Stardesigner Cyril Fontanel die Herbst-Winter-Kollektion seiner Marke ZAZÀ präsentieren wollte, in Sainte-Valérie stattfand, noch dazu mitten in der Hochsaison, war eine sehr kurzfristige und in seinen Augen übereilte Entscheidung gewesen.
Die Bürgermeisterin hatte ihn erst letzten Sonntag telefonisch darüber in Kenntnis gesetzt, als er gerade mit Charlotte beim Frühstück saß.
»Die ursprüngliche Location steht nicht mehr zur Verfügung. Monsieur Fontanel befand sich in einer absoluten Notlage und es war mir und dem Gemeinderat eine Ehre, ihm da herauszuhelfen«, hatte sie die enge Planung erklärt. Dabei schwang ein sanfter Singsang mit, wie immer, wenn sie jemanden für eine Sache zu gewinnen suchte. »Dank Cyril Fontanel und ZAZÀ haben es unsere traditionellen provenzalischen Stoffe, die indiennes, bis in die Welt der Luxusmode geschafft, daher ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, ihn nach Kräften zu unterstützen.«
Pierre nickte. »Und wo genau soll diese Modenschau stattfinden?«
»Sie zieht sich in Form eines natürlichen Laufsteges entlang der Rue du Portail bis zur Aussichtsplattform an der Rue de Pontis.«
»Mitten durch die belebtesten Gassen unseres Dorfes?«, fragte Pierre irritiert nach.
»Keine Sorge, das Event findet abends statt, weit nach der Ladenschlusszeit«, drang es ausgesprochen fröhlich durch den Hörer. »Wir riegeln den Bereich für die Dauer der Show von der Öffentlichkeit ab.«
Für einen Moment fragte sich Pierre, ob die Bürgermeisterin den Verstand verloren hatte. »Das ist unmöglich zu schaffen!«, rief er aus. »Am Dienstag finden bereits die Feierlichkeiten zur Sommersonnenwende statt. Vor Mittwoch können Luc und ich kein weiteres Sicherheitskonzept durchsetzen. Außerdem liegt die Verantwortung für derartige Veranstaltungen nicht in der Hand der police municipale.«
»Wir bekommen polizeilichen Beistand aus dem Umland«, beschwichtigte Madame Levy ihn. »Den Einsatz wird ein Kollege von der Gendarmerie aus L’Isle-sur-la-Sorgue leiten.«
Pierre verzog den Mund. »Doch nicht etwa Capitaine Fichot?« Mit dem war er vor drei Jahren heftig aneinandergeraten.
»Nein, der Mann heißt Daubert. Capitaine Jean-Baptiste Daubert. Sie als Chef de police municipale sorgen dabei für die Sicherheit rund um die Location und befehligen alle hinzugezogenen Kräfte der Stadtpolizei. Mehr dazu erfahren Sie bei der Einsatzbesprechung. Kommen Sie am Montag um Punkt acht Uhr in die mairie. Und bringen Sie Ihren Assistenten mit.«
Damit war das Telefonat beendet. Nachdenklich ließ Pierre das Telefon sinken.
Charlotte sah ihn fragend an. »Ist etwas passiert?«
Mit kurzen Worten gab er das Gespräch wieder.
»Cyril Fontanel macht sein Defilee direkt vor meiner Épicerie?«, rief sie aus und dabei ging ein Leuchten über ihr Gesicht. »Das muss ich gleich Martin erzählen. Wir sollten das kulinarische Wochenende in meinem Laden starten statt in seiner Weinhandlung. Von dort aus haben unsere Gäste einen Logenplatz auf das Geschehen. Wir stellen uns einfach mit dem Begrüßungs-Crémant in der Hand vor den Laden und genießen die Show. Das wird toll!«
»Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, entgegnete Pierre, erstaunt über die geradezu mädchenhafte Begeisterung seiner Frau. »Der Bereich soll komplett abgesperrt werden.«
»Dazu müssten sie den Anwohnern schon verbieten, während der Veranstaltung ihre Häuser zu verlassen.« Charlotte verzog keine Miene. »Ist das rechtlich überhaupt durchsetzbar?«
Pierre zuckte die Schultern. »Mit Sicherheit zaubert die Bürgermeisterin irgendeine Ausnahmegenehmigung aus dem Ärmel.«
»Mir egal. Wir haben bodentiefe Fenster. Es kann uns niemand nehmen, hindurchzuschauen.«
»Ich wusste nicht, dass du so ein Fan bist«, bemerkte Pierre mit einem Schmunzeln. »Dieser Cyril Fontanel scheint ja richtig bekannt zu sein.«
»Bekannt ist gar kein Ausdruck. Er gehört zu den wichtigsten Designern Frankreichs. Warte mal, ich zeig dir was.«
Charlotte eilte die Treppe hinauf in den ersten Stock. Pierre hörte das Knarren der Schranktür, das Hasten von nackten Füßen über den Steinboden, kurz darauf war sie wieder auf der Treppe zu sehen. In der Hand eine elegante große Tasche, die sie sich auf ihrer Hochzeitsreise in Saint-Tropez gekauft hatte. Ein Shopper mit einem schwarz-weißen Blumenmuster, unterbrochen von Tragegriffen in pudrig-warmem Apricot, die sich vom Taschenboden hinaufzogen.
»Diese Farbe ist der Trend der Saison. Sie heißt Peach Fuzz.«
Pierre runzelte die Stirn. Ihm war natürlich bewusst, dass Charlotte gerne schöne Sachen trug. Aber dass sie sich derart für einen Designer begeistern konnte, hatte er noch nicht bemerkt. Vielleicht lag es auch daran, dass ihn Mode einfach nicht interessierte.
»Cyril Fontanels elegante Kollektionen sind farblich von der Natur inspiriert«, erklärte sie geduldig. »Für seine Marke ZAZÀ verwendet er beispielsweise den Sandton der provenzalischen Strände, das Grün der Pinien oder das Azur unseres Himmels. Die angekündigte Kollektion enthält alle Schattierungen des Abendlichts. Pastelliges Violettblau, sanftes Apricot, ein abgetöntes Gelb. Aber sein Signature-Look sind provenzalische Muster in Schwarz-Weiß im Zusammenspiel mit unifarbenen Elementen. Damit hat er sich einen Namen gemacht.«
Pierre fielen die bunt bedruckten Tischdecken, Kissenbezüge und Geschirrhandtücher ein, die Charlotte bei ihrem Einzug mitgebracht hatte und die den schlicht eleganten Stil der Einrichtung wunderbar akzentuierten.
»Ich dachte immer, provenzalische Muster seien farbenfroh?«, sagte er.
»Normalerweise sind sie das auch. Aber Cyril Fontanel hat sie zu einer Kunstform erhoben, um ihnen neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. Er dekonstruiert quasi die alten Traditionen, indem er den ursprünglich knallbunten Mustern die Farben entzieht, um sie en bloc und damit sehr präsent nach außen zu stellen. Auf diese Weise trägt er eine jahrhundertealte Kunst in die Zukunft.«
»Woher weißt du das alles?«
»Das stand in Harper’s Bazaar. Ich habe das Magazin beim Friseur gelesen.« Charlotte lächelte versonnen. »Oh, ich kann es kaum erwarten, Fontanel einmal live zu sehen.«
Pierre hatte nur genickt und sich nachdenklich einen letzten Kaffee eingeschenkt. Eines war ihm durch Charlottes Einspruch klar geworden: Die Bewohner von Sainte-Valérie würden sich nicht davon abhalten lassen, die Modenschau aus ihren Häusern heraus zu bestaunen. Der Laufsteg würde trotz der Absperrungen einen nur unzureichend geschützten Bereich darstellen.
Eine Befürchtung, die sich während der Einweisung der Sicherheitskräfte durch die Bürgermeisterin und den Chef der Eventagentur Adrien Martinez noch verstärkte.
Da man auch internationale Celebrities erwartete, wurde für Pierre und seinen Assistenten Luc Chevallier eilig ein Schießtraining anberaumt, um die hinzugezogenen Beamten von der police municipale aus Cabrières-d’Avignon und der Gendarmerie aus L’Isle-sur-la-Sorgue effektiv zu unterstützen.
Sogar eine Hollywoodschauspielerin, die bereits zweimal für einen Oscar nominiert gewesen war, stand auf der Gästeliste. Was besonders Pierres Assistenten zum Schwärmen brachte, der ein Faible für unerreichbare Schönheiten hatte.
»Sie ist die sexiest woman alive«, hatte Luc mit stark akzentuiertem Englisch ausgerufen, als sie nach der Einsatzbesprechung in die Wache zurückkehrten. »Und wir kommen ihr so nah wie kaum jemand auf der Welt. Vielleicht ergattere ich ja ein Autogramm?« Er lachte keckernd. »Für meinen lieben Luc. Die anderen werden mich darum beneiden!«
Pierre rollte die Augen. »Untersteh dich, sie im Dienst danach zu fragen.«
Die junge Schreibkraft Penelope, die in der Wache geblieben war, legte den Kopf schief. »Von wem redet ihr?«, fragte sie.
Sie strich das hellblonde Haar zurück, das sie seit einigen Wochen nicht mehr zu einem hohen Zopf gebunden trug, sondern offen. Es ließ sie erwachsener wirken, wie Pierre fand. Eine Wandlung vom Mädchen zur jungen Dame, was vom beinahe knielangen Faltenrock und dem blütenweißen Top, das auf dem Bund abschloss, unterstrichen wurde. Noch bis vor Kurzem war der Bauchnabel häufig frei geblieben.
»Na, von Juliette Clark.« In Windeseile ergoogelte Luc das Foto eines Klatschmagazins, von dessen Titelblatt ihnen eine natürlich gestylte Brünette mit auffallend großem Mund entgegenlachte. »Ein Superstar, ein hell funkelnder Stern, der unser kleines, bescheidenes Dorf mit Glitzerstaub adelt.«
Nun ja, bescheiden war sicher nicht der richtige Ausdruck, dachte Pierre. Als historisch gewachsener, lebendiger Ort mit herrlichem Blick über das Luberontal besaß Sainte-Valérie einen ganz eigenen Glanz und Pierre verstand sehr gut, warum der hochgelobte Couturier genau hier sein Defilee stattfinden lassen wollte. Als Alternative zu Tarascon, wo das Event ursprünglich geplant gewesen war.
»Ist eigentlich bekannt, warum das Ganze so kurzfristig verschoben wurde?«, fragte er seinen Assistenten. Er erinnerte sich nicht daran, dass dieser Punkt bei der Besprechung erwähnt worden war.
»Nein, davon haben sie nichts erzählt. Vielleicht weiß das Netz mehr darüber?« Luc tippte auf seinem Handy herum und hob schließlich die Schultern. »Auf dem Instagram-Account von ZAZÀ steht was von unvorhergesehener Unnutzbarkeit der gebuchten Räume. Aber dafür muss man ja nicht gleich den Ort wechseln.«
»Möglicherweise ging es dem Designer um die Durchsetzung eines bestimmten Konzeptes?« Penelope erhob sich und betrachtete den mehrseitigen Ablaufplan, den Pierre gerade an die Pinnwand geheftet hatte. »In der Einführung steht, dass der Walk eine Huldigung an die damalige Inhaberin von Tissu Hebrard sei«, sagte sie an die beiden Kollegen gewandt. »In der Fabrik, in der das Event ursprünglich stattfinden sollte, hat man Stoffe wohl noch auf herkömmliche Weise mit den typisch provenzalischen Mustern bedruckt.«
Luc zog fragend die Augenbrauen nach oben. »Und was hat das mit Sainte-Valérie zu tun?«
»Nun warte doch mal, ich bin noch nicht fertig.« Penelope drehte sich wieder zur Pinnwand um. »Zazà Hebrard verstarb im Juni vor zehn Jahren urplötzlich«, las sie vor. »Damit verlor die Provence auch eine ihrer bedeutendsten Traditionsstätten. Zazàs Vision vom Erhalt provenzalischer Kultur jedoch soll in Cyril Fontanels Kreationen weiterleben, weshalb seine Marke ihren Namen trägt. Als Symbol für die Eleganz und Würde der Verstorbenen und für eine bessere Welt.Denn der Name Zazà stammt aus dem Hebräischen und bedeutet Licht. Und das soll in dieser Ausweichlocation das zentrale Thema sein.« Sie wandte sich den beiden zu. »Wenn man sich die Namensgebung des Defilees ansieht, ist die gewählte Strecke mehr als passend. Une promenade lumineuse … Um halb neun steht die Abendsonne an der Aussichtsplattform genau so, dass die Models geradewegs ins Licht laufen.«
»Eine Modenschau als symbolischer Akt«, resümierte Pierre. »Und zugleich eine Verbeugung vor einer offenbar besonderen Frau, der Namensgeberin seiner Kollektion.«
»Eines ist sicher«, ereiferte sich Luc, wobei er die Arme in die Luft warf. »Dieses Ereignis wird unser Dorf für einen Tag als hellen Stern am Modehimmel erstrahlen lassen. Eine total authentische Kulisse, im Gegensatz zu den pompösen Fashion-Shows in Paris.«
Pierre lächelte angesichts der ungebremsten Begeisterung, die der von Charlotte in nichts nachstand. Doch auch er als ehemaliger Pariser Commissaire, der hier im ländlichen Sainte-Valérie seine Heimat gefunden hatte, konnte nicht verhehlen, dass ihn dieses Detail stolz machte.
Ein lautes Schnauben riss ihn aus seiner Erinnerung und holte ihn zurück auf die Terrasse des Café le Fournil, wo Didier Carbonne seinem Groll auf die Bürgermeisterin erneut laut Ausdruck verlieh.
»Aber nein, es muss ja gleich die ganz große Nummer werden«, schimpfte der Alte, während er völlig selbstverständlich einen Schluck von Pierres citronnade trank. »Als gäbe es einen Preis für das überlaufenste Dorf. Dank ihr werden wir noch zum neuen Disneyland.«
Pierre verspürte den Impuls, seine Vorgesetzte zu verteidigen.
Marianne Levy, gleichzeitig Bürgermeisterin und Kuratorin des Burgmuseums, war im Vergleich zu ihrem Vorgänger ein Goldstück. Sie war eine zugewandte und immer gut gelaunte Person, die das Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger im Blick hatte.
Meistens zumindest.
»Du weißt doch, wie sehr Madame Levy die provenzalische Kultur am Herzen liegt«, beschwichtigte Pierre den Alten. »Sie denkt, diese Modefirma tue etwas für die Attraktivität alter Stoffe und Muster. Sieh mal«, er lächelte ihm aufmunternd zu, »es sind nur noch zwei Tage bis Freitag. Sobald das Event vorbei ist, wird sich die Lage deutlich entspannen.«
»Ich kann es kaum erwarten.« Carbonnes Augen hefteten sich auf Pierres Teller. Er hob seinen Stuhl an, rückte näher und schluckte heftig. »Lass mich doch wenigstens mal probieren. Na los, ich will dir nichts wegnehmen. Ich beiße nur mal kurz ab.«
Probieren oder nur mal kurz abbeißen, das hieß bei Carbonne immer satt essen. Gab man ihm zum Beispiel ein Sandwich, so schob er es sich meist so weit in den Mund, dass am Ende ein winziger Zipfel übrig blieb.
Pierre überlegte, dem Uhrmacher besser selbst ein großes Stück mit dem Messer abzuschneiden, als er seinen Assistenten Luc auf sie zukommen sah. Das kurze Haar verstrubbelt, die Augen geweitet.
»Hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht.«
»Was ist denn los?«
»Madame le maire will dich sehen. Es ist dringend.«
»Sofort?« Pierre sah bedauernd auf den restlichen Burger. »Lass mich wenigstens aufessen.«
»Dafür ist keine Zeit.« Luc trat von einem Bein auf das andere und erhöhte die Dringlichkeit seines Tonfalls. »Die anderen sind bereits alle versammelt.« Er beugte sich zu ihm. »Ich habe Marianne Levy noch nie so aufgelöst gesehen.«
Das klang tatsächlich besorgniserregend.
»Also gut.«
Pierre legte das Besteck ab, erhob sich und gab seinen Teller mit einem Nicken frei, woraufhin Carbonne mit beiden Händen zugriff und seine verbliebenen Zähne in den Burger schlug, als habe er Sorge, sein Gönner könne es sich wieder anders überlegen.
Seinem Freund Farid warf Pierre einen bedauernden Blick zu, sie würden das Thema Alain und Audrey ein anderes Mal fortsetzen. Dann folgte er Luc zum Bürgermeisteramt.
3
Das Büro der Bürgermeisterin war in helles Sonnenlicht getaucht. An dem runden Tisch in der Mitte des Raumes saß Einsatzleiter Capitaine Jean-Baptiste Daubert von der Gendarmerie in L’Isle-sur-la-Sorgue, der ihnen freundlich zunickte, bevor er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirnglatze tupfte. Neben ihm Adrien Martinez, den Pierre ebenfalls von der ersten Besprechung her kannte.
Der Eventmanager war Mitte dreißig, sehr schlank und trug zum Hemd helle Shorts, aus denen trainierte Waden ragten. Dazu Sneaker in einem Muster aus Schwarz, Weiß und Grau. Er streckte die Füße weit von sich, sodass jeder den seitlichen Aufdruck der Luxusmarke Balenciaga sehen konnte. Aufreizend lässig hing er im Stuhl, einen Arm über der Rückenlehne baumelnd, obwohl ihm die Anspannung ins Gesicht geschrieben stand.
Links neben ihm saß ein Mann Ende dreißig, dessen Foto Pierre inzwischen aus der Tagespresse kannte: der Designer Cyril Fontanel. Er hatte den Blick auf sein Handy geheftet und schien ihr Eintreten nicht zu bemerken.
»Das ist er«, flüsterte Luc Pierre ins Ohr. Laut genug, dass Fontanel den Kopf hob.
»Bonjour«, sagte Pierre und die Anwesenden erwiderten den Gruß.
Bis auf Madame le maire Levy, die mit im Wind flatterndem Rock an der geöffneten Balkontür lehnte. Die Augen geschlossen, als müsse sie sich sammeln, vollständig in den Lärm der vor ihr liegenden Place du Village gehüllt.
Von Luc kam nur ein heiseres Krächzen.
Sein Assistent wirkte ein wenig aufgeregt angesichts des Glanzes in dem schlicht ausgestatteten Raum. Und tatsächlich umgab den Stardesigner ein unsichtbares Strahlen, als wäre seine Bekanntheit eine Art Gesamtkörperpolitur.
Fontanel trug eine schmal geschnittene Anzughose zu glänzend schwarzen Schuhen mit hoher Sohle, dazu ein cremefarben gestricktes Kurzarmshirt. Kinnlanges, mit Gel gebändigtes Haar, ein perfekt getrimmter Fünf-Tage-Bart. Nussbraune Augen, die Pierre jetzt neugierig musterten, als wolle er die Polizeiuniform – hellblaues Polohemd, dunkelblaue Hose zu derben Stiefeln – auf ihre Modetauglichkeit prüfen.
Die wahre Strahlkraft allerdings ging von einer großen, dünnen Frau Ende vierzig aus, die mit kerzengeradem Rücken auf ihrem Stuhl saß. Das dunkle Haar hatte sie straff zu einem Knoten gebunden, die Lippen waren dunkelrot geschminkt. Was einen starken Farbkontrast zu dem bodenlangen weißen Kleid mit den kurzen Puffärmeln abgab.
Eine gewisse Unnahbarkeit umgab sie, eine Selbstbeherrschung samt ausgewiesener Eleganz. Sie könnte auch Flamencotänzerin sein, dachte Pierre, oder eine Meisterin des Tangos. Nur die übergroße schwarze Ledertasche, die an einem langen Riemen über der Stuhllehne hing, und der Montblanc-Kugelschreiber auf dem vor ihr liegenden Notizblock verrieten die Geschäftsfrau.
Jetzt drehte sich auch Madame Levy zu ihnen um. Ihre Wangen glühten in kleinen roten Kreisen, wie immer, wenn etwas sie in Aufregung versetzte. Das mit Blumenranken bedruckte Kleid, dessen in breite Falten gelegter Rock an provenzalische Trachten aus dem vergangenen Jahrhundert erinnerte, war ein wenig verknittert, als hätte sie darin geschlafen. Als sie Pierre und Luc bemerkte, stieß sie einen lauten Stoßseufzer aus.
»Schön, dann kann es ja endlich losgehen. Monsieur Durand, Monsieur Chevallier, setzen Sie sich doch.« Sie schloss die Fenstertür, woraufhin der Lärm augenblicklich erstarb. Dann stellte sie ihnen den Stardesigner und die elegante Frau vor. Christelle Marot war bei ZAZÀ für die Pressearbeit zuständig. »Und nun verrate ich Ihnen den Grund für diese Zusammenkunft.«
»Na endlich!«, brummelte Adrien Martinez. Er richtete sich auf und sah auf seine teure Armbanduhr. »Wäre fein, wenn Sie rasch zur Sache kommen. Der Zeitdruck ist auch so schon hoch genug.«
»Den Druck kann ich Ihnen nehmen.« Mit spitzen Fingern hob die Bürgermeisterin eine Klarsichthülle mit einem Schreiben von ihrem Arbeitsplatz und warf es in die Mitte des Besprechungstisches, als handelte es sich um eine Briefbombe.
»Was ist das?«, fragte Luc und wich zurück.
»Das will ich Ihnen gerne sagen«, stieß Marianne Levy mit hörbarer Erschöpfung aus. »Ich habe Sie herbeordern lassen, weil ich Ihnen eine Mitteilung zu machen habe.« Es folgte eine dramatische Pause, in der sie den Designer mit einer Mischung aus Bedauern und Entschlossenheit ansah. »Wir müssen das Ganze abblasen.«
»Wie bitte?« Cyril Fontanel wurde kreidebleich. »Sind Sie verrückt geworden?« Er warf seinem Eventmanager einen hilfesuchenden Blick zu.
Martinez tippte mit spitzem Finger auf die Klarsichtfolie. »Warum? Was ist das?«
»Eine anonyme Drohung«, antwortete Capitaine Daubert an Stelle der Bürgermeisterin, er war offenbar eingeweiht. »Das Schreiben befand sich im Briefkasten der mairie, zusammen mit der eingehenden Post.«
Pierre beugte sich vor. Ein Computerausdruck mit eleganter, geradliniger Schrift. Es waren nur wenige Worte zu lesen:
Sidi Tar’tri ben Tar’tri.
Cyril, gestehe oder du wirst das Defilee nicht überleben.
»Sidi … Was soll das bedeuten?«, fragte er.
Die Bürgermeisterin lächelte nachsichtig. »Das Zitat stammt aus einem Buch von Alphonse Daudet: Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon. Es bezeichnet die Hauptfigur, einen Aufschneider und Wichtigtuer, der all seine Abenteuer nur in der Fantasie erlebt und schließlich in die Welt zieht, um sich zu beweisen. So landet er in Algier, wo er sich sinnlichen Genüssen hingibt. Die dortigen Einwohner nennen ihn Sidi Tar’tri ben Tar’tri. Was so viel bedeutet wie: mein Herr Tartarin, Sohn des Tartarin.«
Pierre nickte. Er kannte die Geschichte des skurrilen Maulhelden, wie wohl nahezu jedes französische Schulkind, hatte aber mit den Jahren den Inhalt vergessen.
»Und was bedeutet diese Anrede auf dem Brief?«, fragte Capitaine Daubert. Es klang ungehalten.
»Es scheint«, überlegte Pierre und wandte sich an Cyril Fontanel, »als bezichtige Sie jemand einer Sache. Was sollen Sie gestehen, haben Sie eine Idee?«
Der Designer schüttelte langsam den Kopf, als ringe er um Fassung. Seine Augen waren wie eingefallen, lagen tief in den Höhlen. »Ich habe keine Ahnung.«
»Nun …« Christelle Marot neigte sich ihm zu. »Vielleicht sollten wir den anderen besser erzählen …«, sagte sie mit rauer Stimme, die nach vielen Zigaretten klang. Ein interessanter Gegensatz zu der nach außen gezeigten Disziplin.
»Nein!«
»Was«, insistierte Capitaine Daubert, »sollten Sie uns besser erzählen?«
Die Pressesprecherin legte eine Hand auf den Arm ihres Chefs. »Es ist nur zu deinem Besten.«
»Wie bitte?« Fontanels Stimme kippte. »Ich sag dir, was zu meinem Besten ist: weiterzumachen wie bisher. Der Schmierkram stammt mit Sicherheit von einem Neider. Diese Leute gönnen mir den Erfolg nicht. Sie wollen mir den Triumph dieser Show zu Ehren meiner verehrten Mentorin verleiden.« Er holte stotternd Luft. »Die gesamte Presse wird sich darauf stürzen. Und was ist mit den Stars, die extra für das Event anreisen? Wie stehe ich denn da, wenn jetzt alles abgeblasen wird!«
»Sie glauben also, jemand wolle Ihnen schaden«, rekapitulierte Pierre ruhig.
Der Designer nickte heftig.
»Und haben Sie eine Ahnung, wer?«
»Was weiß denn ich!« In einer verzweifelten Geste hob er die Hände. »Fristlos gekündigte Mitarbeiter, die Konkurrenz, abgewiesene Fans … Je bekannter man ist, desto mehr Hater gibt es. Die zeigen sich natürlich nicht öffentlich. Sie schießen aus dem Hinterhalt. Lancieren hier was und dort. Bis sie alles zerstört haben.«
»Und was«, wiederholte Capitaine Daubert, nun etwas schärfer, »meinte Madame Marot, sollten Sie uns besser erzählen?«
Mit einem Seufzen ließ sich Fontanel im Stuhl zurückfallen. »Ich habe vor einigen Tagen eine ähnliche Nachricht bekommen.«
»Wie lautete der Inhalt?«
Fontanels Finger wies in Richtung des Briefes. »So was in der Art, nur bezog sich das Ganze auf die Show in Tarascon.«
Seine Begleiterin richtete sich auf. »Cyril, gestehe oder du wirst Tarascon nicht lebend verlassen«, zitierte sie. »Das Sidi Tar’tri ben Tar’tri war dem Satz ebenfalls vorangestellt.«
Capitaine Daubert zog die Brauen zusammen. »Und Sie haben wirklich keine Ahnung«, er sah den Designer streng an, »was Sie gestehen sollen?«
»Nein, wenn ich es Ihnen doch sage!«
»Wo ist dieser Brief jetzt?«
»Ich habe ihn weggeworfen.«
»Und er sah genauso aus?«
»Ja, ich denke schon.« Fontanel zuckte die Schultern. »Ich habe nicht darauf geachtet. Wir hatten ja gerade erst das Hotel bezogen. Die Nachricht lag auf dem Schreibtisch meines Zimmers. Auf dem Umschlag stand mein Name.«
»Handschriftlich?«
»Nein, auf dem Kuvert klebte ein Etikett.«
»Haben Sie nachgefragt, wie es dort hinkam?«
»Ja, das habe ich. Jemand hatte es in den Hotelbriefkasten geworfen und die Rezeptionistin hat es pflichtbewusst weitergeleitet.«
Capitaine Daubert verschränkte seine massigen Arme. »Warum sind Sie damit nicht zur Polizei gegangen?«
»Wieso hätte Cyril das tun sollen?«, sprang Christelle Marot dem Designer bei. »Derlei Nachrichten erhält er andauernd.«
»Solche Briefe?«, hakte Pierre nach.
»Na ja, nicht auf Papier, sondern online. Aber eben auch Morddrohungen. Als er sich geoutet hat, bekam er sie zuhauf.«
»Sie sind …?«, entfuhr es Luc und biss sich im selben Moment auf die Lippen.
»Schwul«, bestätigte Fontanel. »Wie fünfundachtzig Prozent aller weltbekannten Modemacher. Also nichts Außergewöhnliches, sollte man meinen. Doch ich komme vom Land, die Menschen dort sind sehr konservativ. Derartige Anfeindungen sind mir nicht neu, daher haben wir das Schreiben auch nicht ernst genommen.«
»Das hätten Sie aber tun sollen«, fuhr nun die Bürgermeisterin auf. »Vor allem, nachdem es diesen furchtbaren Mord gegeben hat.«
»Es gab einen Mord?«, hakte Pierre überrascht nach. Er hatte das Gefühl, einen überaus wichtigen Teil nicht mitbekommen zu haben. »Wann und wo?«
»Eine Frau wurde brutal niedergeschlagen«, erklärte Martinez. »In der Fabrikhalle von Tissu Hebrard, in der die Modenschau ursprünglich stattfinden sollte. Und wir haben sie gefunden, ich, Aimée und Marius. Das sind die beiden Mitarbeiter, die mir bis zum Eintreffen der restlichen Crew bei den Vorbereitungen helfen. Wir sind zur Fabrik gefahren, um uns die Fortschritte bei den Vorbereitungen anzusehen. Die Frau lag direkt am Eingang in einer riesigen Blutlache …« Der Eventmanager verzog den Mund. »Es war schrecklich. Wir haben die Polizei gerufen und augenblicklich beschlossen, mit der Veranstaltung umzuziehen. Deshalb sind wir jetzt hier. Ich meine, wer will schon eine Hommage machen an einem Ort, der nach frischem Blut riecht?«
»Das ist also der wahre Grund für die Verschiebung«, murmelte Pierre und sah Madame Levy erstaunt an. »Und Sie haben davon gewusst.«
»Ja, davon schon«, bestätigte die Bürgermeisterin. Ihre Wangen waren jetzt tiefrot. »Aber nicht, dass es vorab eine Morddrohung gab.« Sie hob den Zeigefinger und fuchtelte damit vor Martinez herum. »Das hätten Sie mir erzählen müssen.«
»Warum?«, antwortete der kopfschüttelnd. »Die Morddrohungen galten Cyril und in der Fabrik ist eine wildfremde Frau gestorben. Ich sehe da keinen Zusammenhang.«
»In der neuen Drohung ist ebenfalls kein Zusammenhang zu erkennen«, mischte sich Christelle Marot ein. »So etwas ist in unserer Branche vollkommen normal.« Sie verschränkte ihre schlanken Finger, wie um zu beten, und als sie fortfuhr, schwang ein Flehen in ihrer Stimme. »Ich bitte Sie. Diese Veranstaltung ist enorm wichtig für unsere Marke und wir sind Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie, verehrte Madame le maire, uns bisher so überaus warmherzig und unkompliziert zur Seite standen. Sainte-Valérie ist für uns der ideale Ort, um Tarascon zu ersetzen …«
»Sie haben uns doch nur ausgewählt, weil sich kein anderer so kurzfristig dazu bereit erklärt hat«, entfuhr es Marianne Levy mit einer Schnippischkeit, die Pierre gar nicht an ihr kannte. »Glauben Sie mir, wir Bürgermeister pflegen einen guten Austausch. Und ich Rindvieh war so gutmütig, mich auf Sie einzulassen. Hätte ich das mit der Morddrohung von Beginn an gewusst, dann hätten wir uns den ganzen Aufwand sparen können.«
Die Schultern der Pressedame sackten kurz zusammen, bevor sie den Rücken in geübter Contenance wieder straffte. »Wir können nicht schon wieder verschieben. Das ist weder zeitlich noch organisatorisch machbar. Die Modenschau findet statt. Sie muss stattfinden.«
Jetzt klangen ihre Worte nicht mehr nach einer Bitte. Eher war es eine Aufforderung. Pierre dachte, dass er selten eine Frau kennengelernt hatte, bei der sich Charisma und Autorität derart interessant die Waage hielten.
»Eine Absage kommt überhaupt nicht infrage«, rief nun auch Cyril Fontanel aus, dessen Gesicht inzwischen wieder Farbe angenommen hatte. »Der Tod dieser Frau steht in keinerlei Zusammenhang mit dem Schmierkram.«
»Sie machen es sich zu einfach«, widersprach Capitaine Daubert. »Die Tote könnte eine Warnung sein. Jemand versucht, Ihre Show zu verhindern, und zwar mit allen Mitteln. Ich denke, wir sollten das ernst nehmen, bevor noch jemand zu Schaden kommt.«
Luc schnalzte mit der Zunge. »Eine Warnung ist es, wenn man der Zielperson eine tote Ratte vor die Tür legt oder eine Schweinezunge. Aber gleich eine ganze Frau?«
Der Vergleich ließ Capitaine Daubert auflachen. Er verlegte sich angesichts der entsetzten Blicke im Raum jedoch rasch auf ein Hüsteln.
»Sie haben die Tote also nicht gekannt, Monsieur Fontanel?«, vergewisserte sich Pierre.
»Nein«, antwortete der Designer rasch. Er beugte sich vor, als habe er Krämpfe, rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Das mit dem Mord ist ein unglücklicher Zufall.«
»Die Fabrikhalle ist offenbar in den letzten Jahren zu einem Treffpunkt von Herumlungernden geworden«, mischte sich Martinez ein. »Überall Schnapsflaschen und Zigarettenkippen. Auch der Riegel an der Tür war aufgebrochen, weshalb ein neuer bestellt werden musste. Wer weiß, warum diese Frau dort war. Vielleicht wollte sie sich das Gebäude einfach nur ansehen und hat diese Typen bei irgendetwas gestört. Möglicherweise ist sie auch Zeugin eines anderen Verbrechens geworden. Und bam! Verstehen Sie?« Er schlug mit der geballten Faust auf die offene Fläche seiner anderen Hand.
»Ja, so wird es gewesen sein.« Fontanel richtete sich wieder auf, in seinen Augen stand wilde Entschlossenheit. »Und dieser anonyme Schmierfink nutzt das für seine Zwecke, indem er einen zweiten Drohbrief absetzt, der durch die Tat eine völlig neue Relevanz hat. Ich flehe Sie an, werte Madame le maire.« Er sah ihr mit einem Ausdruck von Verzweiflung direkt in die Augen. »Sie dürfen ihn nicht damit durchkommen lassen. Gebieten Sie dieser Farce Einhalt.«
Die Bürgermeisterin schüttelte den Kopf. »Das Ganze gehört strafrechtlich untersucht.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl und wanderte im Raum auf und ab. »Unter diesen Umständen können wir das Event auf gar keinen Fall stattfinden lassen. Zu Ihrem Schutz und zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger.«
»Nein, verdammt!« Cyril Fontanel stand ebenfalls auf. Sein Gesicht war jetzt tiefrot. »Das ist doch genau das, was diese Person erreichen will. Es gibt nicht den einen Grund, warum mich jemand töten sollte, aber ich habe genügend Konkurrenten, die mir den Erfolg neiden. Und die sich ins Fäustchen lachen, wenn ich die Veranstaltung wegen einer anonymen Drohung absage. Ich bekomme laufend solche Schmierereien. Wenn ich da jedes Mal klein beigegeben hätte, dann hätte es auch damals keine Show in den Salinen von Aigues-Mortes gegeben oder am Strand von Sanary-sur-Mer.«
»Das ist etwas anderes«, wandte die Bürgermeisterin ein, »immerhin wurde diesmal eine Frau ermordet. Und ich kann es nicht zulassen …«