Provenzalische Täuschung - Sophie Bonnet - E-Book

Provenzalische Täuschung E-Book

Sophie Bonnet

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Beschreibung

Aromatische Trüffel, grüne Eichenwälder und ein toter Polizist – ein neuer Fall für den liebeswerten Ermittler Pierre Durand!

Es ist Trüffelzeit in der Provence. Pierre und Charlotte bereiten ihre Hochzeit vor, als eine Nachricht Sainte-Valérie in Aufregung versetzt: Gilbert Langlois – kürzlich in das Bergdorf gezogen, um Pierre seinen Posten streitig zu machen – liegt tot im Bach. Der Verdacht fällt auf Pierre, doch der glaubt zu wissen, wer der wahre Täter ist: Maurice Marechal, der Bürgermeister des Ortes. Fest entschlossen, ihn des Mordes zu überführen, beginnt Pierre verdeckt zu ermitteln. Die Spur führt ihn nach Mazan unweit des Mont Ventoux, wo sowohl das Opfer als auch Marechal aufgewachsen sind, und zu einem tragischen Fall aus der Vergangenheit. Alles deutet darauf hin, dass beide Geschehnisse miteinander verknüpft sind, als Pierre feststellt, dass es eine Person gibt, die sich an seine Fersen geheftet hat …

»Niemand verbindet Genuss und Verbrechen so harmonisch wie Sophie Bonnet in ihren Provence-Krimis.« Hamburger Morgenpost

Lesen Sie auch weitere Romane der hoch spannenden »Pierre Durand«-Reihe!
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 440

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Buch

Es ist Trüffelzeit in der Provence. Pierre und Charlotte bereiten ihre Hochzeit vor, als eine Nachricht Sainte-Valérie in Aufregung versetzt: Gilbert Langlois – kürzlich in das Bergdorf gezogen, um Pierre seinen Posten streitig zu machen – liegt tot im Bach. Der Verdacht fällt auf Pierre, doch der glaubt zu wissen, wer der wahre Täter ist: Maurice Marechal, der Bürgermeister des Ortes. Fest entschlossen, ihn des Mordes zu überführen, beginnt Pierre verdeckt zu ermitteln. Die Spur führt ihn nach Mazan unweit des Mont Ventoux, wo sowohl das Opfer als auch Marechal aufgewachsen sind, und zu einem tragischen Fall aus der Vergangenheit. Alles deutet darauf hin, dass beide Geschehnisse miteinander verknüpft sind, als Pierre feststellt, dass es eine Person gibt, die sich an seine Fersen geheftet hat …

Autorin

Sophie Bonnet ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Mit ihrem Frankreich-Krimi »Provenzalische Verwicklungen« begann sie eine Reihe, in die sie sowohl ihre Liebe zur Provence als auch ihre Leidenschaft für die französische Küche einbezieht. Mit Erfolg: Der Roman begeisterte Leser wie Presse auf Anhieb und stand monatelang auf der Bestsellerliste, ebenso wie die darauffolgenden Romane um den liebenswerten provenzalischen Ermittler Pierre Durand. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Die Romane der Pierre-Durand-Reihe:

Provenzalische Verwicklungen · Provenzalische Geheimnisse · Provenzalische Intrige · Provenzalisches Feuer · Provenzalische Schuld · Provenzalischer Rosenkrieg · Provenzalischer Stolz · Provenzalischer Sturm · Provenzalische Täuschung

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Sophie Bonnet

Provenzalische Täuschung

Ein Fall für Pierre Durand

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Copyright © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Troni

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Illustration Karte: www.buerosued.de

DK · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-28646-0V002

www.blanvalet.de

Karte

Prolog

Der Regen prasselte auf das Wagendach, als er den braunen Peugeot 208 vom Anwohnerparkplatz an der Rue de la Citadelle in Richtung des alten Stadttores lenkte. Die Straßen von Sainte-Valérie waren menschenleer. Wer konnte, der blieb zu Hause und sah den Kräften der Natur von einem beheizten Platz durch die Fensterscheibe zu.

Nur eine kleine Frau mit schmalen Schultern trippelte vor ihm über das Pflaster. Schwenkte den Schirm bei jedem Schritt hin und her, sodass der Wagen nicht passieren konnte.

»So ein verfluchter Mist«, flüsterte er und verzog den Mund.

Diese nervtötende Alte hatte ihm gerade noch gefehlt. Sie tauchte immer dann auf, wenn man sie am wenigsten brauchen konnte. Selbst draußen im Wald war sie ihm in die Arme gelaufen, vergangene Woche, als er gerade das Geld abholen wollte. Sie hatte vorgegeben, Pilze zu sammeln, aber womöglich war sie ihm gefolgt, weil sie wissen wollte, was er den lieben langen Tag so machte. Ihr war alles zuzutrauen. Neugierig, wie sie war. Und er fragte sich, ob es wirklich Zufall war, dass sie hier auftauchte, ausgerechnet jetzt.

Kurz überlegte er, den Wagen wieder auf dem Parkplatz abzustellen und sein Vorhaben zu vertagen, dann aber besann er sich. Die Regengüsse sollten sich laut Wettervorhersage bis zum Nachmittag zu wahren Fluten steigern. Wenn er jetzt nicht hinfuhr, dann würde das Geld womöglich aus dem Versteck gespült, und das Risiko wollte er nicht eingehen.

Ergeben folgte er der Frau im Schneckentempo, den Blick auf das rostrot gefärbte Haar geheftet, das sich vom trüben Wintergrau abhob wie ein Leuchtturmsignal im Meeresnebel. Schritt um Schritt setzte sie auf das Pflaster. Jetzt blieb sie sogar stehen, mitten auf der Gasse, und sah in den tiefschwarzen Himmel.

»Herrgott noch mal!«

Mit einem beherzten Tritt auf das Gaspedal ließ er den Motor aufjaulen. Öffnete, als auch das nicht half, das Wagenfenster und streckte den Kopf hinaus.

»Madame?«, rief er. »Madame Duprais, könnten Sie mich bitte vorbeilassen? Ich habe es eilig.«

Sie drehte sich um, tat überrascht, als habe sie ihn überhaupt nicht bemerkt. Ihre Knopfaugen blitzten auf.

»Ah, Sie sind es, Monsieur. Wo wollen Sie denn hin bei diesem ungemütlichen Wetter?«

»Das wollte ich Sie auch gerade fragen.«

Er setzte ein freundliches Gesicht auf, obwohl die Ungeduld in seinem Inneren tobte. Aber er durfte es sich mit der Alten nicht verscherzen. Wenn er erst einmal den angestrebten Posten innehatte, könnte sie ihm vielleicht sogar nützlich sein.

Madame Duprais klappte den sperrigen Regenschirm ein wenig zusammen, ohne einen Schritt zur Seite zu treten. Über ihr Gesicht rannen Tropfen, die sie mit dem freien Ärmel abwischte.

»Ich war im Frisiersalon. Gefällt Ihnen der Schnitt?«

Er nickte, mühsam beherrscht. Madame Duprais ging, das hatte er in den wenigen Monaten in Sainte-Valérie längst mitbekommen, alle drei bis vier Wochen in den Salon von Madame Farigoule, die sich mit den unterschiedlichsten Frisuren und Farbtönen an ihrer Kundin austobte, während sie den neuesten Dorfklatsch austauschten. Dieses Mal hatte sie der Alten rostrote Krissellöckchen verpasst, die ihren Kopf umgaben wie eine dieser Badehauben aus den Siebzigern.

Allerdings trug sie, wie er wusste, die Frisur schon seit einigen Tagen.

»Er steht Ihnen hervorragend.«

»Nicht wahr?« Madame Duprais strahlte. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das Plaudern mit Madame Farigoule genossen habe. Einem fällt ja geradezu die Decke auf den Kopf in dieser Jahreszeit. Es ist absolut nichts los im Ort. Und im Fernsehen kommt auch immer nur dasselbe.« Sie machte ein paar Schritte bis an das Seitenfenster und beugte sich vor. »Nun?« Der Geruch von Pfefferminzpastillen drang ins Wageninnere. »Wohin des Weges?«

Sie hatte es mit einem lauernden Unterton gesagt, der nichts Gutes verhieß. Er kannte Madame Duprais inzwischen lange genug, um zu wissen, dass sie nicht lockerließ, bevor er eine Antwort gab. Die Zeit rann dahin, und der Regen wurde immer stärker. Hastig suchte er nach einer Ausrede.

»Ich besuche einen Freund in Mazan«, sagte er schließlich. »Ich habe ihn lange nicht gesehen.«

Die Antwort schien sie zufriedenzustellen, denn sie zog den Kopf zurück und zwinkerte ihm zu. »Wie schön. Richten Sie ihm unbekannterweise meine allerbesten Grüße aus.«

»Das werde ich tun, Madame Duprais, au revoir.«

Endlich war der Weg frei. Er fuhr wieder an und lenkte den Wagen an der Alten vorbei. Freundlich winkend, als wäre sie eine Freundin. Verzog erst den Mund, als er in die Straße einbog, die durch das mittelalterliche Stadttor aus Sainte-Valérie hinausführte. Bei den Pollern hielt er den Transponder an den Kontakt und wartete, bis sie im Boden versanken. Wischte währenddessen mit einem Lappen über die beschlagene Windschutzscheibe und atmete tief durch, als sich das Glas sofort wieder trübte.

Er ärgerte sich über seine Ausrede. Hätte er nicht einfach sagen können, er fahre zum Einkaufen? Stattdessen Mazan! Der Ort war ihm so herausgerutscht, aus reiner Gewohnheit. Nun musste er den ganzen Tag irgendwo herumlungern, damit die Alte keinen Verdacht schöpfte. Er konnte ja schlecht sagen, er habe es sich anders überlegt.

Mir wird schon etwas einfallen, um die Zeit herumzubringen, dachte er, während er das Gebläse aufdrehte. Er war seit Wochen nicht mehr im Cinéma Le César in Apt gewesen. Vielleicht hatten die ja etwas Spannendes im Programm. Nun, da wieder Geld reinkam, war sogar noch eine große Tüte Popcorn drin.

Es war kurz nach eins, als er den Waldparkplatz passierte. Er drosselte das Tempo, um das Areal zu überblicken. Scannte die Reihen ab, bevor er das Gaspedal erneut herunterdrückte und der Hauptstraße weiter folgte, die nun bergan in Richtung Norden führte. Zufrieden, dass das Opfer sich an seine Vorgaben gehalten hatte und pünktlich wieder verschwunden war.

Nach wenigen hundert Metern erreichte er den Schotterweg, der den Waldarbeitern als Zufahrt diente. Er setzte den Blinker und hätte beim Einbiegen beinahe einen Motorroller übersehen, der gerade aus der Einfahrt geschossen kam. Der Fahrer balancierte mit ausgestreckten Beinen über den unebenen Weg. Hastig riss er das Lenkrad herum und machte ein Ausweichmanöver. Der Peugeot geriet ins Rutschen und kam einer Abböschung gefährlich nahe. Fluchend steuerte er gegen, bis die Reifen wieder Halt fanden und der Wagen zum Stehen kam.

Aufgebracht drehte er sich nach dem Motorroller um, doch der war längst außer Sichtweite. Also fuhr er wieder an, diesmal langsam und konzentriert. Bald verengte sich der Weg zu einem Pfad. Der Peugeot tauchte in einen Tunnel aus immergrünen Nadelhölzern und Buchen mit winterkahlen Ästen. Dort, wo sich der Pfad allmählich im Wald verlor, lenkte er den Wagen hinter einen Stapel Totholz und schaltete den Motor aus.

Mit einem Aufseufzen lehnte er sich zurück. Sein Herz klopfte heftig, und er konnte nicht sagen, ob es wegen des gerade noch verhinderten Zusammenstoßes war oder wegen der Anspannung, die ihn stets überfiel, wenn er das Geld abholte.

Was, wenn es dieses Mal schiefging?

»Verfluchter Idiot«, schimpfte er sich laut. »Du klingst wie eine Memme.«

Alles war bestens geplant, wie sonst auch. Nur würde er künftig den Wetterbericht konsultieren, bevor er ein Zeitfenster vergab.

Eine Weile lauschte er dem Prasseln des Regens auf dem Wagendach, in der Hoffnung, er möge bald nachlassen. Strich sich mit einem Blick in den Rückspiegel das wegen der Feuchtigkeit abstehende Haar glatt. Von den Tannenzweigen rollten dicke Tropfen, klatschten geräuschvoll auf die Frontscheibe, die bei ausgeschaltetem Gebläse sofort wieder beschlug.

Als der Regen nach einer halben Stunde unvermindert heftig vom Himmel fiel, zog er mit einem Seufzen die Kapuze seines Parkas über den Kopf und verließ den Wagen. Hastete fluchend über den aufgeweichten Boden. Bei jedem Schritt saugten sich seine Schuhe fest, es war ein Stöhnen, Schmatzen und Gurgeln. Das Wasser drang zu seinen Füßen und durchweichte den Stoff seiner Jacke.

Als er den Bach endlich erreichte, war er nass bis auf die Haut.

Das ehemals dünne Rinnsal war durch die Regenfälle angeschwollen. Mit einem großen Schritt stieg er über den gurgelnden Strom, bis er an dem Baum mit dem Astloch angelangt war, wo das in Zellophan eingewickelte Geldpäckchen auf ihn wartete. Doch als er die Hand hineinstreckte und tastend über den Hohlraum fuhr, fand er … nichts.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Bäuchlings lehnte er sich gegen den Stamm, während seine Hand weiter durch das Innere glitt. Er zog eine Vogelfeder hervor, Reste eines Nestes. Einen Käfer, der ihm über die Finger lief und den er angewidert abschüttelte. Aber kein Geld.

»Zut alors!«

Fluchend zog er die Hand zurück. Er würde es ihm heimzahlen, den Preis verdoppeln. Den Halunken auffliegen lassen. In Gedanken ging er die drakonischsten Strafen durch, als er spürte, wie sein Mobiltelefon in der Hosentasche vibrierte.

Er zog das Telefon hervor und starrte auf den Namen auf dem Display. Was für ein seltsamer Zufall, dachte er. Das Opfer konnte schließlich nicht wissen, dass er hinter den Erpressungen steckte. Was es wohl von ihm wollte? Kurz überlegte er, den Anruf zu ignorieren, aber die Neugier siegte.

»Das ist ja eine Freude«, rief er. Fröhlich, als hätte er lange auf diesen Anruf gewartet.

»Gefällt es Ihnen im Wald?«

»Im Wald? Was …?«

»Da staunen Sie, nicht wahr?«, schallte es nun durch den Hörer. »Sie dachten wohl, mit mir hätten Sie leichtes Spiel, aber da haben Sie sich geirrt. Ich bin nicht so dumm, wie Sie meinen. Sie sind aufgeflogen. Und wissen Sie, was? Sie können sich Ihre Erpressung in den Arsch stecken.«

»Hallo?« Der Anrufer hatte aufgelegt. »Putain!«

Irritiert und verärgert zugleich ließ er das Telefon sinken. Woher …?

Dahinter steckte bestimmt die schreckliche Madame Duprais. Er hatte es ja geahnt! Diese Person war imstande, die Polizei auf ihn zu hetzen.

Wütend stieß er die Luft aus. Er sollte sich jetzt besser beeilen. Alle Spuren beseitigen, solange es ihm noch möglich war. Ansonsten wäre alles vergebens gewesen. Hastig schob er das Telefon zurück in die Hosentasche, als sich in das Prasseln des Regens ein weiteres Geräusch mischte. Das Stöhnen und Schmatzen von Schuhen im Morast.

In plötzlicher Panik drehte er sich um. Er sah nur noch einen Schatten, eine Hand, die auf ihn zuschnellte, dann spürte er einen stechenden Schmerz im Bauch, einen Tritt in die Weichteile. Er brach zusammen, fiel auf die Knie, die in den morastigen Boden einsanken. Vergeblich versuchte er, sich aufzurappeln. Er robbte voran, als ein weiterer Stich ihn im Rücken traf. Dann noch einer und wieder einer, bis ihm die Kraft ausging und er liegen blieb, das Gesicht in der aufgeweichten Erde, während sein Gegner immer weiter auf ihn einhieb und jeder neue Stich nur noch ein ferner Druck war, schließlich ein Pochen. Alles, was er noch wahrnahm, waren die Kälte des Wassers und der Geruch nach Erde und feuchtem Waldboden.

Es war doch alles perfekt geplant, dachte er überrascht. Dann schloss er die Augen.

1

»Sieht sie nicht fantastisch aus?« Der Motor erstarb nach einem volltönenden Knattern. Dann erloschen auch die blau blinkenden Lämpchen seitlich des Windschildes. Luc Chevallier legte den Helm ab und stieg von dem Motorrad. Dabei strich er zärtlich über die weiße Verkleidung mit dem Streifen der police municipale. »Eine Yamaha MT09. Dasselbe Modell wie bei der Gendarmerie.«

Es war ein kühler Donnerstagmorgen Mitte März. Ein blasser Dunst lag über dem Dorf und der Rue des Oiseaux, deren Steinpflaster von den heftigen Regenfällen der vergangenen Tage feucht glänzte.

Pierre umrundete das funkelnagelneue Motorrad und nickte anerkennend. Die Maschine wirkte, als wäre sie eigens für seinen Assistenten gefertigt. Sie machte ihn irgendwie männlicher, reifer. Sogar Lucs Schultern, die trotz Hanteltrainings noch immer schmal waren, wirkten in dem gefütterten Blouson der motards regelrecht breit.

»Sehr cool!«, rief auch Penelope Brunel, die junge Schreibkraft der Wache, sichtlich beeindruckt von Lucs neuem Gefährt. Dabei nickte sie, dass ihr hoher blonder Zopf auf und ab wippte. »Darf ich mal damit fahren? Ich habe einen Führerschein.«

»Du? Du bist doch noch ein halbes Küken.« Luc strich sich mit beiden Händen über das vom Helm verstrubbelte Haar. »Es sei denn, ich bekomme dafür einen Kuss.«

»Vergiss es. Also, lässt du mich nun mal fahren?«

»Ich würde ja so einiges für dich tun«, sagte er mit bedauerndem Grinsen. »Aber was das angeht, muss ich leider passen. Am Ende nimmt mir unser lieber Bürgermeister die Maschine noch weg, bevor ich das erste billet verteilt habe. Er hat gesagt, er zähle auf mich. Und ich will ihn nicht enttäuschen.«

Pierre hob die Brauen angesichts der mitschwingenden Ehrfurcht, aber er schwieg.

Als Maurice Marechal verkündet hatte, die police municipale zukunftstauglich zu machen, war Pierre sofort hellhörig geworden. Er hatte nicht vergessen, mit welcher Vehemenz der Bürgermeister vergangenen Sommer seinen Duzfreund Gilbert Langlois auf den Posten des Chef de police municipale hatte heben wollen. Einen Posten, den Pierre dafür hätte räumen müssen. Zum Glück war es anders gekommen. Die Intrige, die damals im Dorf für viel Aufregung gesorgt hatte, schienen viele schon wieder vergessen zu haben.

Nicht aber Pierre.

Die plötzliche Zugewandtheit, mit der Maurice Marechal nun seinen Assistenten um den Finger wickelte, nahm er ihm nicht ab.

»Ach was, Chef«, hatte Luc abgewunken, als Pierre ihm vergangene Woche von seinen Bedenken erzählte. »Der Bürgermeister hat eine Menge Geld ausgegeben, damit ich die Zusatzausbildung zum Policier motocycliste bei der CNFPT absolvieren kann. Er will nichts weiter, als dass sein Polizeiapparat reibungslos funktioniert. Und es geht ja wirklich nicht nur um uns und unseren Dienst. Maurice Marechal legt überall Hand an, um die Sicherheit in Sainte-Valérie zu verstärken.«

Da musste Pierre ihm allerdings recht geben. Der Bürgermeister hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Dorf bis zum Beginn der Sommersaison auf Vordermann zu bringen. Er hatte sogar an den beiden Toren, die ins Innere der Stadtmauer führten, hydraulische Poller anbringen lassen, die sich ausschließlich für die mit Transpondern ausgestatteten Lieferanten und Anwohner in den Boden senkten. Seither war der Verkehr wesentlich ruhiger geworden, was die Bewohner von Sainte-Valérie wohlwollend zur Kenntnis nahmen.

Ja, man könnte meinen, alles wäre in bester Ordnung, wäre im vergangenen Herbst nicht Gilbert Langlois nach Sainte-Valérie gezogen.

Pierre atmete tief durch. Die Luft, die in seine Lunge strömte, war kalt und roch nach dem Rauch der alten Öfen, mit denen noch immer manch ein Dorfbewohner sein Haus heizte. Immerhin hatte es endlich aufgehört zu regnen. Für den heutigen Tag waren sogar steigende Temperaturen angesagt, siebzehn Grad bei wolkenlosem Himmel. Noch aber war davon nichts zu spüren.

Fröstelnd zog Pierre den Reißverschluss seiner Jacke höher und sah hinüber zu dem schmalen Steinbau schräg gegenüber der Wache. Zu jenem Fenster im ersten Stock, hinter dem sein Kontrahent jeden Morgen mit einer Tasse Kaffee in der Hand stand, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn im Blick habe.

Das Fenster war verschlossen, wie in den Tagen zuvor auch. Es hieß, Langlois besuche einen Freund. Seinetwegen konnte der Kerl bis zum Sankt Nimmerleinstag fortbleiben.

»Was ist, willst du hier festfrieren?«, fragte Luc in seine Gedanken. Sein Assistent stand im Eingang zur Wache und hielt die Tür auf, hinter der Penelope gerade verschwand.

Pierre warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war gleich neun, und er hatte noch nichts gefrühstückt. Charlotte und er hatten verschlafen, was nicht oft vorkam. Aber als sie sich endlich aus dem Bett geschält und in der Kälte des Morgens angezogen hatten, da war nicht einmal mehr Zeit für einen Kaffee gewesen. Hätte Charlotte ihn nicht direkt vor der Wache abgesetzt, damit er sich rechtzeitig ins Zeiterfassungssystem einloggen konnte, dann hätte er wenigstens ein süßes Teil aus ihrer Épicerie mitnehmen können. Aber er hatte dem Bürgermeister den Triumph einer Verwarnung nicht bieten wollen.

Pierre dachte an die frischen Backwaren, die inzwischen gewiss die Auslagen füllten. An die viennoiseries gourmandes mit dem Rosinenbrot, dessen Vanillefüllung besonders cremig war, an die Zimtschnecken und die brioches mit Puderzucker. An den Kuchen mit dem Aroma von Orangenblüten, den Charlotte gestern nach Feierabend noch frisch gebacken hatte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

»Zeit für den morgendlichen Rundgang«, sagte er. »Den übernehme heute ich.«

Luc grinste breit. »Dann kommst du bestimmt auch bei Charlotte vorbei, oder? Besorgst du mir einen craquelin? Mit Nougatcremefüllung bitte.«

»Mir bitte auch«, rief Penelope aus dem Inneren der Wache.

Jetzt musste Pierre doch schmunzeln. Die kalten Monate hatten auch etwas Gutes. Nun, da kaum Touristen unterwegs waren, blieb genügend Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens.

»Wird erledigt«, sagte er.

Pierres Rundgang führte über die Place du Village und am Dorfbrunnen vorbei zum Bouleplatz, wo sich einige in dicke Jacken gehüllte Spieler versammelten, um den vom Regen reichlich ramponierten Sandboden zu glätten. Vor dem Chez Albert fegte der Wirt die von der Platane herabgerissenen Blätter und Zweige beiseite – und mit ihnen einen aufgeweichten Papierstrohhalm, den jemand achtlos hatte fallenlassen – , als sich in diesem Moment die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer schoben.

Es war, als habe jemand einen Zauberstab geschwungen und die Szenerie mit Farbe übergossen. Urplötzlich war der Platz überzogen von einem Glitzern, einem hoffnungsvollen Funkeln, sodass Pierre die Augen zusammenkniff und stehen blieb, um die Verwandlung zu bestaunen.

Auch der beleibte Gastronom hielt in seinem Tun inne. Er richtete sich auf, stützte sich auf den Besenstiel und hob sein blasses Gesicht der Sonne entgegen, sodass Pierre unwillkürlich an einen aufgequollenen Hefeteig denken musste.

»Salut, Albert«, rief er. »Herrliches Wetter, nicht wahr? Man kann den Frühling förmlich riechen.«

»Bonjour, Pierre«, antwortete der Angesprochene und wies mit dem Kopf in Richtung der nördlichen Stadtmauer. »Es klart auf, endlich. Jetzt ist sogar wieder die Kalkspitze des Mont Ventoux zu erkennen.«

Pierre folgte seinem Blick. Tatsächlich. Zwischen Kirchturm und Burgruine war der schemenhafte Umriss des gut fünfunddreißig Kilometer entfernt liegenden Berges zu sehen, der sich majestätisch aus dem Plateau de Vaucluse erhob. Die Alten nannten ihn »den Windumbrausten«, weil der Mistral nirgends schärfer und ausdauernder blies als dort. Den »Wächter über das Rhônetal«, »Olymp der Provence«.

»Wann steigt eigentlich eure große Feier?«, fragte Albert, noch immer auf den Besenstiel gestützt. »Wolltet ihr nicht im Frühling heiraten?«

»Im Mai. Die Einladungen gehen bald raus.«

Pierre nickte dem Gastronomen noch einmal zu und setzte seinen Weg fort. Zufrieden lächelnd.

Er mochte seine Arbeit. Gerade jetzt, außerhalb der Saison, wo es weniger Diebstähle, Falschparker und verloren geglaubte Hunde gab. Und damit weniger Papierkram, der seit vergangenem Frühjahr ohnehin in das Aufgabengebiet von Penelope Brunel fiel, die alles rasch und gewissenhaft erledigte. Seit die junge Frau zum Team der Wache gehörte, beschränkte sich Pierres Arbeit vor allem darauf, mit sichtbarer Präsenz einen Beitrag zum allgemeinen Sicherheitsgefühl zu leisten und darüber hinaus guten Kontakt zu den Dorfbewohnern zu pflegen. Was ihm besonders leichtfiel. Die Zeiten, da die Einwohner von Sainte-Valérie ihm als gestrandetem Pariser Commissaire mit Misstrauen begegneten, waren längst vorbei. Er war der Chef de police municipale, ihr Dorfpolizist. Und er war es gerne.

Pierre schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte die Rue du Portail hinab, die Prachtstraße des Ortes mit dem hübschen Pflaster aus sonnenförmig ausgelegten Steinoliven. Hier befanden sich die meisten Geschäfte. Er passierte den Souvenirladen, eine der beiden Boutiquen, das Geschäft für Wohnaccessoires und den Blumenladen von Madame Orset, in dessen Schaufenster Kübel mit Tulpen in allen Farben standen, die sie frisch von den Feldern rund um Forcalquier und bei Jonquières erstanden hatte.

Vor dem Schaufenster mit dem Plakat einer grauhaarigen Dame mit extravagant gestuftem Haar lehnte die Inhaberin des Friseursalons und rauchte eine Zigarette. Madame Farigoule schenkte Pierre ein strahlendes Lächeln, das sie sonst nur für den Bürgermeister übrighatte, dem sie zu dessen Leidwesen bei jeder Gelegenheit schöne Augen machte. Selbst der sonst so bärbeißige Krämer Serge Oudard, der gerade eine Kiste mit Tomaten auf der Auslage abstellte, warf Pierre einen fröhlichen Morgengruß zu.

Ja, die Sonne macht etwas mit den Menschen, dachte Pierre, als er an der südlichen Stadtmauer stehen blieb und den herrlichen Blick auf das Luberontal genoss, ein regenzerzauster Flickenteppich aus Feldern, Wiesen und Eichenwäldchen. Auch die Natur schien sich dem Licht entgegenzurecken. Die knallgelben, flauschig-runden Blüten der Mimosen wetteiferten mit dem Stahlblau des Himmels. Und wohin man sah, leuchteten die weißen und rosafarbenen Blüten der Mandel- und Aprikosenbäume.

Pierre sog die blumengeschwängerte Luft ein und lächelte. Es war Charlottes Vorschlag gewesen, die für November geplante standesamtliche Trauung auf Anfang Mai zu verschieben. Eine gute Entscheidung, wie er fand. Es heiratete sich einfach schöner, war die Natur erst zur vollen Pracht erblüht. Und wenn man den Rest seines Lebens miteinander verbringen wollte, kam es auf ein paar Monate nicht an.

Charlottes L’Épicerie provençale lag gegenüber der Stadtmauer in den gewölbeartigen Räumen einer ehemaligen Weinhandlung. Der alte Muff war einer Mischung aus modernem Interieur und provenzalischem Flair gewichen. Charlotte hatte die Steinmauern neu verputzen lassen, jetzt wirkte der Raum hell und freundlich. Strahlender Blickpunkt war das türkisblau gemusterte Fliesenschild hinter der Verkaufstheke, über dem eine große Schiefertafel hing. Darauf standen neben den einheimischen Spezialitäten auch die landestypischen Gerichte zum Mitnehmen geschrieben – agneau confit, taboulé orientale, cassoulet, pans bagnats und verschiedene Quiches – , die sie täglich frisch mit Hilfe ihres Personals zubereitete.

Mit dem Feinkostladen hatte Charlotte sich im Frühjahr vor zwei Jahren einen Traum erfüllt. Seither gab es immer neue Köstlichkeiten auf ihrer Karte. Etwa jene sagenhaften craquelins, mit Nougatcreme gefüllte Briocheteigküchlein mit knusprig-süßer Hülle, die sie um die Weihnachtszeit für ihre Kundschaft kreiert hatte. Und die seither einen festen Platz auf der Schiefertafel innehatten.

Durch die Glasscheibe erblickte er Charlotte, die gerade mit einer casserole aus der Küche kam. Ihre kastanienbraunen Locken hatte sie zusammengebunden, und ihre Wangen waren erhitzt vom Küchendunst.

Bei ihrem Anblick ging ihm das Herz auf. Er liebte ihr sonniges Wesen, ihre unvergleichliche Mischung aus südfranzösischem Temperament und deutscher Akkuratesse, und er winkte ihr zu, doch sie war so vertieft in ihr Tun, dass sie ihn nicht bemerkte. Pierre legte die Hand auf die Klinke der Eingangstür und wollte sie gerade herunterdrücken, als sein Telefon klingelte. Es war Luc.

»Keine Sorge, ich habe eure craquelins nicht vergessen«, sagte er, in der Annahme, dass sein Assistent aus Ungeduld anrief. »Ich betrete gerade die Épicerie.«

»Die …? Ach so, das ist es nicht.« Luc senkte die Stimme. Jetzt raschelte es, als halte er die Handfläche seitlich an den Hörer. »Vor meinem Schreibtisch stehen zwei völlig aufgelöste Urlauberinnen, die in den Wäldern von Sainte-Valérie etwas entdeckt haben. Sie sagen, es könnte eine Leiche sein.«

»Eine Leiche?« Pierre ließ die Türklinke wieder los. Die craquelins konnten warten. »Ich bin sofort bei dir.«

2

Die beiden Frauen, die auf den Stühlen vor Lucs Schreibtisch warteten, waren leichenblass. Pierre schätzte sie auf Ende fünfzig. Sie hatten beide kinnlanges, aschblondes Haar und trugen olivgrüne Funktionsjacken.

Die größere, eine hagere Person mit spitzer Nase, setzte gerade ihre Brille ab und nahm dankbar ein Taschentuch entgegen, das Penelope ihr vom benachbarten Schreibtisch aus reichte.

»Die Damen kommen aus der Bourgogne«, raunte Luc, der Pierre an der Tür abgefangen hatte. »Sie machen hier einen Wanderurlaub. Zurzeit wohnen sie in der Auberge Signoret.«

»Hast du schon Kopien von ihren Ausweisen gemacht?«

»Selbstverständlich. Sie heißen Corinne Gosselin und Martine Poulain.«

Pierre nickte, doch als er zu den beiden Frauen an den Schreibtisch trat, hatte er ihre Namen zu seinem Leidwesen schon wieder vergessen. »Guten Tag. Ich bin Pierre Durand, Chef de police municipale. Mein Kollege sagt, Sie hätten möglicherweise einen Leichnam entdeckt?«

»Jetzt, im Nachhinein bin ich mir nicht mehr ganz sicher«, sagte die kleinere mit ruhiger Stimme. »Es könnte auch ein Haufen weggeworfener Kleidung gewesen sein.«

Die Hagere schüttelte heftig den Kopf. »Ich schwöre dir, ich habe eine Hand gesehen. Sie war grob und fleischig.«

»Und wenn es nur ein Pilz war? Ich meine, wir waren doch nicht nahe genug dran.«

Pierre sah Luc fragend an.

Dieser hob die Schultern. »Es gibt kein Foto vom Tatort«, murmelte er. »Wir haben nur ihre Aussagen.«

»Und wo«, fragte Pierre, an beiden Frauen gewandt, »haben Sie diesen … Kleiderhaufen gesehen?«

Die Kleinere kam ihrer Freundin zuvor. »So genau können wir das nicht sagen. Wir waren schon ein ganzes Stück unterwegs in Richtung der Fontaine de Vaucluse. Der Wassertopf der Quelle soll gut gefüllt sein und kräftig sprudeln. Ein Naturschauspiel, das wir uns nicht entgehen lassen wollten.«

»Nahe der Fontaine de Vaucluse? Das wäre dann eventuell eine andere Zuständigkeit.«

»Nein, nein, wir waren noch im Gebiet von Sainte-Valérie«, entgegnete die Hagere und setzte ihre Brille wieder auf. Dann zog sie eine Wanderkarte aus der Jackeninnentasche, die sie mit einer energischen Bewegung auf dem Tisch ausbreitete. »Sehen Sie hier.« Mit spitzem Finger tippte sie auf den Parkplatz am Waldrand, der etwa zwei Kilometer nordwestlich von Sainte-Valérie lag. »Dort sind wir losgelaufen und waren höchstens fünfzehn Minuten unterwegs. Laut meiner Handy-App sind es von dort noch gut vier Kilometer bis zur Quelle.«

»Ja, höchstens fünfzehn Minuten«, bekräftigte ihre Freundin. »Wir sind sofort umgekehrt, um Meldung zu machen.«

Pierre beugte sich über die Karte, auf der die Höhenlagen verzeichnet waren. »Und wo ungefähr liegt der Fundort?«

Die beiden starrten unschlüssig auf den Plan, schließlich fuhr die Kleinere mit dem Finger einen Weg entlang, der parallel zu einem Bach verlief. »Irgendwo hier.«

»Nein, das war ein Stück weiter«, widersprach die Hagere. »Das weiß ich ganz genau.«

Pierre blies die Luft durch die Wangen. Das bezeichnete Gebiet war groß. Zu groß, um ohne die beiden Frauen auf die Suche zu gehen. »Ich schlage vor, wir fahren gemeinsam zum Wald, und dann zeigen Sie mir die Stelle.«

Die beiden Freundinnen warfen sich einen raschen Blick zu.

»Muss das sein?«, fragte die Kleinere und zog die Schultern nach vorne, sodass sie fast wie ein Schulmädchen wirkte, das eine Strafarbeit aufgebrummt bekam.

»Es würde uns sehr weiterhelfen.«

»Na schön.« Die Hagere straffte den Rücken. »Bringen wir es hinter uns.«

Der Parkplatz lag seitlich einer in engen Kurven hinaufführenden Straße. Luc war schon vor ihnen eingetroffen und holte gerade eine Rolle Absperrband aus der Transportbox des Motorrades. Pierre stellte den Dienstwagen direkt daneben ab, dann tauchte die kleine Truppe in den Kiefernwald ein.

Schweigsam liefen sie hintereinander her, ein jeder in seine Gedanken vertieft. Vorneweg die Hagere, die energischen Schrittes voranging, als sei sie gewohnt, dass man ihr widerspruchslos folgte. Hinter ihr Luc mit der kleineren Frau, neben der selbst er wie ein Riese wirkte. Pierre bildete das Schlusslicht.

Der von geschliffenen Steinen übersäte Weg war an manchen Stellen noch feucht, und man musste aufpassen, um nicht auszurutschen. Aber es war inzwischen regelrecht warm geworden, und Pierre öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, während er sich aufmerksam umsah.

Dort, wo ein Brand vor Jahren große Flächen vernichtet hatte, riss die Sicht auf. Über die nachgewachsene Macchialandschaft aus Thymian, Wacholder und Ginsterbüschen konnte man über die Monts de Vaucluse blicken, deren gezackte Kalkspitzen in der Vormittagssonne leuchteten. Ein gewaltiges Massiv, das sich in östlicher Richtung bis zum Plateau d’Albion erstreckte, mit seinen im Sommer weithin sichtbaren Lavendelfeldern.

Bald standen die Bäume wieder dichter. Lärchen und Fichten wechselten sich mit blattlosen Buchen ab, der Weg war bedeckt von abgerissenen Zweigen und Ästen. Diesen Teil des Waldes hatte, wie Pierre feststellte, die Forstverwaltung offenbar noch nicht geräumt.

»Dort hinten ist es!«, rief die Hagere plötzlich, und ihre Stimme kiekste vor Aufregung. Sie streckte den Arm aus und zeigte auf den Bach, der ein Stück unterhalb des Weges verlief. Seitlich seines natürlichen Bettes hatte das Wasser eine schlammig-braune Spur hinterlassen, die sich wie eine Narbe über die Senkung legte. »Sehen Sie? Da.«

Tatsächlich. Mitten im Wasser trieb ein schlammgrüner Parka, dessen Stoff sich in der sanften Strömung hin und her bewegte. Dazu etwas, das wie umspülte Baumstämme anmutete, die jemand mitten in den Bach gerollt hatte.

Doch als Pierre die Augen zusammenkniff und den Blick fokussierte, konnte er erkennen, dass die sich im Wasser bewegende Jacke einen menschlichen Körper umhüllte, der mit dem Gesicht nach unten im Flussbett lag. Und dass die umspülten Teile keine Baumstämme waren, sondern Hosenbeine.

Pierre schluckte. Er verabscheute den Anblick des Todes und musste sich zusammenreißen, um den beiden Damen ein Gefühl von Tatkraft und Sicherheit zu vermitteln. Mechanisch aktivierte er die Kamera seines Mobiltelefons und zoomte den Körper heran. Gedrungene Statur, ein beinahe kahler Hinterkopf. Offenbar ein Mann.

»Sie warten hier«, wies er die Frauen an. Dann winkte er Luc, ihm zu folgen.

Vorsichtig kletterten sie den Hang hinab. Der Regen hatte den Untergrund stark aufgeweicht, und das am Boden liegende Herbstlaub war nurmehr eine glitschige Masse, sodass Pierre immer wieder Halt an Baumstämmen und Ästen suchte, um nicht auszurutschen.

Während er unten angekommen auf Luc wartete und sich die Erde von der Hose klopfte, rasten seine Gedanken in dem Versuch, die Situation zu erfassen.

Gut möglich, dass der Mann ebenfalls den Hang hinabgestolpert und unglücklich aufgeschlagen war. Fragte sich nur, wie er dann bis zum Bach kommen konnte. Vielleicht war er ja auch Opfer eines Querschlägers geworden. So etwas kam immer wieder vor, jetzt, mitten in der Jagdsaison.

Doch als Pierre am Ufer angelangt war und in die Hocke ging, um die Leiche zu betrachten, lösten sich seine Spekulationen im Licht der Eindeutigkeit der Lage sofort auf. Der Parka des Toten wies Löcher auf, die von Stichverletzungen zeugten. Zweifellos war der Mann Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.

Mit einem Seufzen betrachtete Pierre das im Wasser liegende Gesicht und schob einen Zweig beiseite, der sich am stiernackigen Hals verfangen hatte.

»Kennst du ihn?«, fragte Luc, der sich interessiert nach vorne beugte, die Hände auf die Oberschenkel gestützt.

»Nein«, antwortete Pierre, obwohl ihn eine plötzliche Ahnung befiel. Dieser Nacken … »Wir sollten ihn mal umdrehen.«

Luc schüttelte heftig den Kopf. »Nee, lass das mal lieber die Kollegen vom Kommissariat machen. Der liegt schon zu lange hier. Sieh nur, wie gedunsen die Haut ist. Das wird kein schöner Anblick, glaub mir.« Er richtete sich auf.

Auch Pierre erhob sich. Suchend sah er sich um. Schließlich griff er einen herumliegenden Ast vom Boden und schob ihn mit breit aufgestellten Beinen unter den Körper. Bewegte ihn dann nach vorne, sodass sich der Tote ein Stück drehte.

Der Anblick war grauenhaft.

»Verdammte Scheiße!«, stieß Pierre hervor und trat einen Schritt zurück. Dabei ließ er den Ast los, sodass der Körper wieder in seine alte Position verfiel. Das Gesicht war fast bis zur Unkenntlichkeit verquollen. Und dennoch hatte er keinen Zweifel mehr, wer vor ihnen im Bach lag.

»Habe ich es dir nicht gesagt?«, feixte Luc und verzog den Mund, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Das hätten wir uns echt ersparen können.«

»Das ist es nicht. Hast du ihn denn nicht erkannt?«

»Nein. Du?«

»Und ob«, sagte Pierre und schluckte heftig. »Es ist Gilbert Langlois.«

3

Pierre hatte sofort im Kommissariat von Cavaillon angerufen, wo er den Fund in kurzen Zügen schilderte und den Standort durchgab, damit die Beamten ihn gleich fanden. Nun stand er neben Commissaire Robert Lechat, einem jungen, hochgewachsenen Kollegen, mit dem er bereits in der Vergangenheit gut zusammengearbeitet hatte.

Die Sonne schickte ihre Strahlen durch die kahlen Zweige und beleuchtete die mit Flatterband abgesperrte Fläche, als wären es Scheinwerfer einer Filmkulisse. Nur, dass diese Szenerie real war.

Am Ufersaum kauerte der Gerichtsmediziner Louis Papin neben einer Plastikplane und nahm die inzwischen geborgene Leiche in Augenschein. Wie er so dahockte, in seinem schwarzen Mantel, und dabei auf und ab wippte, sah er aus wie ein Rabe, der nach Brotkrumen pickte. In einer Schale lag der Inhalt der Hosentaschen des Opfers: Ein Autoschlüssel der Marke Peugeot und ein vollkommen aufgeweichtes Portemonnaie.

Wenige Meter von dem Gerichtsmediziner entfernt untersuchten Beamten der Spurensicherung den Boden und spähten im Flussbett nach weiteren Gegenständen, die der Tote bei sich getragen haben könnte. Sie machten Fotos und Skizzen vom Fundort und von der Umgebung. Eine Kollegin der police nationale beriet sich gerade mit dem Leiter des Teams. Die Aussichtslosigkeit des Unterfangens war ihren Gesichtern anzusehen. In der vergangenen Woche hatte es zeitweilig so stark geschüttet, dass das Wasser wie eine Wand hinabgestürzt war. Hatte es je Spuren am Tatort gegeben, so waren diese längst davongespült.

Der Commissaire zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in kleinen Kringeln in die Luft.

Eins seiner wenigen Laster, wie Pierre wusste. Der junge Kollege war ein Ausbund an Tugend, der sich ausschließlich vegetarisch ernährte und jeden Morgen vor der Arbeit eine Runde joggte. Robert Lechat war stets adrett gekleidet. Und egal wie windig es auch sein mochte, sein volles braunes Haar saß immer akkurat zurückgekämmt.

»Und«, fragte der Commissaire, »was denkst du? Du sagtest, du hast ihn gekannt.«

»Allerdings.« Pierre rieb sich das Kinn. »Ein unangenehmer Typ. Sehr direkt und polemisch. Gilbert Langlois hat nie einen Konflikt gescheut.«

»Klingt, als könntest du ihn nicht ausstehen.«

Pierre sah Lechat offen an. »Nicht ausstehen ist noch untertrieben.«

»Was hat er denn getan?«

»Er war scharf auf meinen Posten. Unser Bürgermeister, Maurice Marechal, wollte Langlois nach meiner Suspendierung im vergangenen Sommer als meinen Nachfolger einsetzen. Die beiden kannten sich noch von früher. Es war eine ziemlich hinterhältige Intrige, die aber aufflog. Du kannst dir sicher vorstellen, wie angefasst ich war. Langlois hat damals trotzdem seinen Job als Polizist in Mazan gekündigt und ist hergezogen.«

Lechat sah ihn verwundert an. »Warum hat er das getan?«

»Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht ist er ja nicht freiwillig gegangen.«

Der Commissaire zog an seiner Zigarette. »Ich werde die Kollegen in Mazan dazu befragen«, sagte er und ließ den Rauch durch die Lippen fließen. »Wo hat er zuletzt gearbeitet?«

»Soweit ich weiß, war er ohne Beschäftigung.«

»Tatsächlich?« Lechat runzelte die Stirn. »Und wovon hat er gelebt?«

»Keine Ahnung.«

»Hat Langlois Verwandte, die uns mehr darüber erzählen können? Oder Freunde?«

Pierre zuckte mit den Schultern. »Außer dem Bürgermeister ist mir niemand bekannt, und selbst mit dem ist er inzwischen zerstritten. Langlois hat zwar versucht, sich bei einigen Dorfbewohnern anzubiedern. Er war regelmäßig zu Gast in der Bar du Sud und auf dem Bouleplatz, wo er seine Telefonnummer verteilt hat, falls wer jemand Neues im Team bräuchte. Aber es hat ihn keiner angerufen, weil er ständig dummes Zeug geredet hat. Das hat die anderen irgendwann genervt. Es braucht Geduld, um Teil der Dorfgemeinschaft zu werden, da sind die Bewohner von Sainte-Valérie eigen, ich kann da ein Lied von singen. Wer sich mit Macht hineindrängen will, der beißt auf Granit.«

Lechat nahm noch einen Zug von der Zigarette und schnippte sie auf den nassen Boden, wo sie augenblicklich verglomm. »Und worum ging es bei dem Streit mit dem Bürgermeister?«

»Langlois war wütend auf Marechal, weil der angeblich vor dem Druck des Präfekten eingeknickt war und deshalb das Versprechen, ihm meinen Posten zu geben, nicht halten konnte.«

Lechat nickte nur, und Pierre war froh, dass der Commissaire seine eigene Rolle in der Angelegenheit nicht weiter hinterfragte. Ein ermordeter Konkurrent, das lud geradewegs zu Spekulationen ein.

Tatsächlich war er, das musste Pierre zugeben, für einen kurzen Moment erleichtert gewesen, als er Langlois in dem Toten erkannt hatte. Die zweite Reaktion auf den Fund war Scham gewesen, weil eine derartige Erleichterung angesichts des Todes nicht angebracht war. Aber er war auch nur ein Mensch, wer sollte ihm das verübeln.

Gilbert Langlois hatte ihm in den vergangenen Monaten stark zugesetzt.

All die Unwahrheiten, die er über ihn in Umlauf gebracht hatte! Von Vetternwirtschaft war die Rede gewesen. Von Klüngeleien mit dem Präfekten, den Pierre angeblich bestochen hatte, damit dieser die Suspendierung rückgängig machte.

Dem ehemaligen Polizisten aus Mazan schien jedes Mittel recht gewesen zu sein, um Pierre zu diskreditieren. Bei den Dorfbewohnern hatten diese Geschichten nicht verfangen, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Die meisten kannten und schätzten ihren Chef de police municipale. Aber es hatte Pierre stärker belastet, als er zugeben wollte. Sainte-Valérie war längst seine Heimat geworden, sein Herzensort. Und Gilbert Langlois hatte sich wie ein Dorn hineingebohrt.

Nun, da er darüber nachdachte, erkannte Pierre, dass das glückselige Gefühl am heutigen Morgen nicht nur mit dem sonnigen Wetter und der guten Laune der Dorfbewohner zusammenhing, sondern auch mit der Abwesenheit seines Kontrahenten. Das Dorf war so friedlich gewesen wie schon lange nicht mehr. Und – die Erleichterung brach sich erneut Bahn – es gab nun nichts mehr, was diesen Frieden stören könnte.

Ein Aufkreischen riss Pierre aus seinen Gedanken, gefolgt von einem lauten Fluch.

Er sah zum Hang hinüber, den Luc in diesem Moment herunterschlitterte und -stolperte, bis er endlich bei seinen Kollegen zum Stehen kam.

»Monsieur Chevallier«, begrüßte Commissaire Lechat ihn amüsiert und betrachtete die schlammverschmierten Hosenbeine. »Warum haben Sie nicht die Steckleiter genommen?«

Luc drehte sich zu der nur drei Meter entfernt angebrachten Leiter um, die die Abböschung inzwischen sicherte, und kratzte sich am Kopf. Dann reichte er Pierre den Schlüssel des Polizeiwagens.

»Ich habe die beiden Damen wie gewünscht in der Pension abgesetzt. Sie haben es sofort dem Portier erzählt. Bis wir zurück sind, weiß es das ganze Dorf. Nicht nur deshalb. Rate mal, wer mich am Auto abgefangen hat?« Er grinste breit und beantwortete die Frage gleich selbst. »Madame Duprais.«

Pierre rollte mit den Augen. »Das ist unsere neugierige Witwe«, erklärte er dem Commissaire. »Sie hat den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als die Augen und Ohren aufzusperren und jede Neuigkeit herumzutratschen. Und«, wandte er sich wieder an Luc, »was hat sie gewollt?«

»Sie hat mich gefragt, warum wir die beiden Damen durch die Gegend kutschieren, ob denn etwas passiert sei. Und da die Wanderinnen sowieso gerade alles dem Portier der Auberge erzählt hatten, dachte ich, es schadet sicher nicht, sie ebenfalls ins Bild zu setzen. Vielleicht hat sie ja etwas mitbekommen und kann uns weiterhelfen. Und, was soll ich sagen, ich hatte recht.«

Luc machte eine Kunstpause, wobei sein Grinsen immer breiter wurde.

»Na los«, forderte Pierre seinen Assistenten auf, »erzähl schon, was hat sie gesagt?«

»Madame Duprais meinte, sie hätte sich schon gewundert, wo Gilbert Langlois abbleibt. Sie habe ihn zuletzt am Mittwoch vergangener Woche gesehen, als er das Dorf in seinem braunen Peugeot verlassen hat. Seither stand der Wagen nicht mehr auf dem Anwohnerparkplatz, wo er ihn sonst immer abstellt.«

Pierre hob die Brauen. »Madame Duprais hat den Parkplatz kontrolliert?«

»Ja. Es hat sie offenbar so sehr beschäftigt, dass sie täglich nachgeschaut hat, ob der Wagen da ist.«

»Und warum hat sie uns nicht Bescheid gesagt?«

»Keine Ahnung, das habe ich sie nicht gefragt.«

Pierre nickte. Es hätte ohnehin nicht viel geändert. »Auf dem Waldparkplatz stand der Peugeot jedenfalls nicht«, murmelte er. »Entweder der Mörder ist damit weggefahren oder der Wagen steht irgendwo in der Nähe.«

»Hast du das Kennzeichen?«, fragte Lechat.

»Nein, aber das lässt sich rasch herausfinden.«

Pierre holte sein Telefon hervor und rief in der mairie an, den Direktanschluss der Empfangsdame und guten Seele Gisèle. Kurz schilderte er den Vorfall, dann bat er sie, in der Registrierung nachzusehen, welches Kennzeichen Langlois zur Nutzung des Transponders für die Poller am Stadttor angegeben hatte. »Und wenn Sie schon dabei sind, dann sehen Sie bitte auch gleich nach, wann er ihn zuletzt verwendet hat.«

»Das mache ich gerne«, erklärte Gisèle nach einer kurzen Pause, in der sie offenbar überlegte, ob sie zumindest pro forma einige Worte des Bedauerns fallen lassen sollte. Sie tat es nicht.

Das Klacken einer Computertastatur war zu hören. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Gisèle, die im vergangenen Jahr sechzig geworden war, noch eine Schreibmaschine aus den Achtzigern besessen und sämtliche Korrespondenz stur per Brief oder Fax erledigt. Inzwischen hatte auch sie die Vorteile der digitalen Welt für sich entdeckt. Zur Erleichterung aller.

»Ah, da ist es ja«, sagte sie nun. »Haben Sie etwas zu schreiben?« Sie wartete, bis Pierre die Frage bejahte, und gab dann das Kennzeichen durch. »Für die Ausfahrtszeiten am Stadttor muss ich den Sicherheitstechniker fragen, auf das Programm habe ich keinen Zugriff. Sagen Sie«, die Empfangsdame stockte, »gibt es schon eine Ahnung, wer der Täter sein könnte?«

»Wir stehen noch ganz am Anfang. Warum?«

»Die Vorstellung, dass in unserem idyllischen Sainte-Valérie ein Mörder wohnt, der andere brutal niedersticht … Das ist schon sehr beklemmend.«

»Es ist ja noch nicht gesagt, dass der Mörder aus unserem Dorf stammt«, beruhigte Pierre sie. »Es könnte genauso ein Auswärtiger gewesen sein. Jemand, den Langlois im Wald getroffen hat.«

»Hoffentlich haben Sie recht.« Sie atmete tief durch. »Ich melde mich, sobald ich die Funkdaten habe.«

Pierre gab dem Commissaire gerade das Autokennzeichen durch, als der Gerichtsmediziner auf sie zukam. Begleitet von Lechats Kollegin, die ihre Beratung mit der Spurensicherung offenbar abgeschlossen hatte.

»Darf ich vorstellen?«, sagte der Commissaire und wies mit einer Handbewegung auf die Frau. »Das hier ist Lieutenante Fenech. Sie war vorher in Marseille und ist seit Anfang des Jahres Teil unseres Teams. Und das«, er zeigte auf Pierre und Luc, »sind die Kollegen Durand und Chevallier von der police municipale. Sie werden uns bei der Aufklärung des Verbrechens helfen.«

»Angenehm.«

Lieutenante Feneches Händedruck war kräftig, was zu ihrer durchtrainierten Statur passte. Ihr Gesicht war kantig mit ausgeprägtem Kinn und eng stehenden Augen, das dunkelbraune, schulterlange Haar hatte sie zu einem straffen Zopf geflochten.

»Ganz meinerseits«, sagte Pierre, dann begrüßte er auch den Gerichtsmediziner mit Handschlag. »Irgendwelche Erkenntnisse?«

»Die Leiche ist in einem schlechten Zustand«, berichtete Papin und fuhr sich über den grauen Schnurrbart. »Unmöglich, sich bei der Tatzeit festzulegen. Dazu muss ich erst weitere Untersuchungen machen.«

Lechat nickte. »Wir haben gerade den Hinweis erhalten, dass er zuletzt vergangenen Mittwoch gesehen wurde, also genau vor acht Tagen. Kommt das hin?«

Papin wiegte den Kopf. »Schwer zu sagen. Die Haut ist noch nicht ablösbar, und es gibt auch keine beginnende Algenbildung. Eines jedoch ist sicher: Der Täter wollte offenbar ganz sichergehen. Ein Messerstich traf den Magen, acht weitere verteilen sich über den Rücken. Den Eintrittswinkeln zufolge hat der Täter weitergemacht, als die Leiche längst am Boden lag.«

»Neun Stiche?«, Pierre runzelte die Stirn. Das waren weit mehr, als er auf den ersten Blick bemerkt hatte. Der Täter hatte offenbar eine enorme Wut im Bauch gehabt. Er sah zu den Männern, die die schwarze Folie über dem Toten zusammenschlugen und ihn in eine Zinnwanne hoben. Die Reflexion der Sonnenstrahlen auf dem Metall übte eine geradezu unwirkliche Anziehungskraft aus, die etwas Makaberes hatte. »Stimmt der Tatort denn mit dem Fundort überein?«, fragte er.

»Es sind Treibverletzungen vorhanden. Der Bach war zeitweilig über die Ufer getreten und besaß eine gewisse Strömungskraft, die den Mann ein Stück mitgerissen hat. Vielleicht drei Meter, höchstens vier, nicht mehr. Genaueres kann ich aber erst nach Abschluss der Untersuchungen sagen. Ich lasse den Leichnam jetzt ins Labor bringen. Sollte sich etwas Neues ergeben, melde ich mich.«

Papin nickte in die Runde und entfernte sich.

»Gut, dann teilen wir uns auf«, bestimmte Lechat. »Lieutenante Fenech, Sie stellen ein Team zusammen, das den Wald nach dem verschwundenen Auto durchkämmt, einem braunen Peugeot 208.« Er reichte ihr den Zettel, auf dem er das Kennzeichen notiert hatte. »Sie selbst kümmern sich um die anderen Routinen. Kontoeinsicht, Verbindungsnachweise, zu benachrichtigende Verwandte und so weiter. Ich werde die Kollegen von der police municipale in Mazan anrufen, um Auskünfte zum Ausscheiden von Langlois einzuholen. Vielleicht wissen die ja auch etwas zu seinen letzten Einkünften.« Er drehte sich zu Pierre. »Du treibst beim Vermieter einen Schlüssel für die Wohnung des Toten auf und siehst dich mit deinem Assistenten und einem Kollegen der Spurensicherung dort um. Wir treffen uns um …«

Das Klingeln eines Telefons unterbrach Lechats Ausführungen.

Pierre warf einen Blick auf sein Display und nahm ab. »Gisèle, was gibt’s?«

»Ich habe jetzt die Transponderdaten«, antwortete die Empfangsdame. »Gilbert Langlois hat das Dorf am vergangenen Mittwoch um zwölf Uhr vierundfünfzig verlassen. Ich habe mir außerdem die Daten aller Personen geben lassen, die die Schranken der beiden Stadttore vor und nach diesem Zeitpunkt passiert haben.«

»Um zwölf Uhr vierundfünfzig«, wiederholte Pierre. »Sehr gut, ich aktiviere jetzt den Lautsprecher, damit die Kollegen mithören können.« Er legte das Telefon auf einen Baumstumpf, damit er die Hände frei hatte. Dann zückte er Notizbuch und Stift. »Legen Sie los.«

»Es war wenig Verkehr an dem Tag, bis auf den gewerblichen. In der Stunde vor Langlois’ Ausfahrt haben zwei Fahrzeuge einer Baufirma den Ort durch das Haupttor verlassen, die Lieferanten eines Gastronomiegroßhandels und die eines Getränkehändlers. Gefolgt von Didier Carbonnes Kastenwagen, der hat das große Stadttor um zwölf Uhr siebenunddreißig passiert und kam nach etwa eineinhalb Stunden zurück. Er wird Ihre beiden Ziegen versorgt haben.«

Pierre nickte. Seit einiger Zeit kam der alte Uhrmacher deutlich später auf den Hof als sonst. »Stimmt. Carbonne scheidet ebenfalls aus, für den lege ich die Hand ins Feuer.«

»Danach«, fuhr Gisèle fort, »sind nur noch die Wagen eines Paketunternehmens registriert und der einer Reinigungsfirma. Nichts, was uns interessieren dürfte. Um zwölf Uhr dreiundzwanzig allerdings«, sie senkte die Stimme, »also einunddreißig Minuten vor dem Opfer, ist ein Renault Austral Hybrid durch das kleine Stadttor gefahren. Der Transponder wurde um dreizehn Uhr achtunddreißig erneut registriert. Der Wagen gehört Elodie Marechal.«

Commissaire Lechat hob die Brauen. »Ist das die Ehefrau des Bürgermeisters?«

»So ist es. Madame Marechal ist eine geborene Pannetier.« Gisèle hatte mit bedeutungsschwangerer Stimme gesprochen, jetzt machte sie eine Pause, als erwarte sie einen entsprechenden Kommentar.

»Den Namen habe ich schon mal gehört«, sagte Pierre, »ich kann ihn nur nicht zuordnen.«

»Aber ich«, rief Luc. »Die Familienlinie der Pannetiers geht bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück. Nach der französischen Revolution war die Burg von Sainte-Valérie in ihrem Besitz, bis ein Vorfahr sie achtzehnhundertneunzig zu einem symbolischen Wert von einem Franc dem Dorf übergeben hat.«

»Richtig, Luc«, kam es aus dem Lautsprecher. »Madame Marechals Vater, Thierry Pannetier, war früher einer der größten Unterstützer von Sainte-Valérie. Er und seine Frau Marlène haben lange Zeit hier gelebt, jetzt wohnen sie bei Goult, weil ihre rheumatischen Gelenke die Steigungen in Sainte-Valérie nicht mehr vertragen. Monsieur Pannetier hat viel für unser Dorf getan. Die hübschen Pflastersteine in der Rue du Portail, die hätte der damalige Gemeinderat ohne seine großzügige Unterstützung gewiss nicht verlegen lassen.«

Pierre musste schmunzeln. Gisèle wusste alles über diesen Ort und dessen Bewohner. Die Art jedoch, wie sie Elodie Marechals Vater erwähnte, ließ ihn aufmerken.

»Das erzählen Sie uns doch sicher nicht ohne Grund?«

»Nun, Monsieur Pannetier besitzt einen gewissen Standesdünkel, der auch seiner Tochter anhängt. Ich frage mich, was Elodie Marechal wohl von der Verbindung ihres Mannes zu Gilbert Langlois gehalten hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diesen ungehobelten Poltergeist mochte. Langlois hat ja eine Zeit lang sogar offen über den Bürgermeister hergezogen. Den hat das ziemlich verärgert.«

»Wollen Sie damit etwa andeuten, Madame Marechal könnte Langlois ermordet haben, um die Ehre ihres Mannes zu retten?«

»Und ihre eigene.« Im Hintergrund war eine Tür zu hören. Gisèle räusperte sich. »Ich fantasiere nur ein wenig herum. Gewiss ist sie nur zum Einkaufen gefahren. Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss hier weitermachen.«

»In Ordnung«, sagte Pierre. »Danke, Gisèle, ich denke, ich sollte mal mit dem Bürgermeister über die Sache sprechen.«

»Tun Sie das. Er ist allerdings seit vergangenem Freitag krankgeschrieben. Eine Erkältung.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Monsieur le maire arbeitet, soweit es seine Kräfte erlauben, von zu Hause aus. Chemin des Liserons Nummer fünf, das hübsche kleine Eckhaus.«

Nachdenklich beendete Pierre das Gespräch. »Das Auto von Madame Marechal«, wiederholte er. »Was meint ihr, hat das etwas zu bedeuten?«

»Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass unser Bürgermeister den Kerl loswerden wollte«, ereiferte sich Luc. »Zwischen Langlois und ihm herrschte Eiszeit. Vielleicht hat Maurice Marechal ja selbst im Wagen seiner Frau gesessen? Die Zeit passt, mittwochs ist die mairie schon ab zwölf geschlossen, er hätte das Ganze in aller Ruhe erledigen können. Und ratet mal, woher seine Erkältung kommt, so, wie es an dem Tag geschüttet hat, hm? Marechal lockt seinen ehemals guten Kumpel unter einem Vorwand in den Wald und bringt ihn dort eiskalt um.« Er schlug mit der geballten Faust auf die Handinnenfläche. »Zack, bumm. So einfach ist das. Fall gelöst!«

Den Worten folgte eine Pause, in der Pierre einen raschen Blick mit Commissaire Lechat wechselte. Es war tatsächlich eine Möglichkeit.

»Das alleine reicht mir nicht«, sagte die Lieutenante mit hoch konzentriertem Gesichtsausdruck. »Mord ist schon ein gewaltiger Schritt. Ein normaler Bürger hat viel zu große Hemmungen davor, jemanden zu töten, das wird oft unterschätzt. Es müssten schon weitere Hebel dazukommen. Emotionalere, die auch die Heftigkeit des Angriffes erklären.«

»Diesen Punkt möchte ich trotzdem gerne klären«, entgegnete Pierre. »Ich schlage vor, ich fahre zum Bürgermeister und übermittele ihm die Nachricht vom Tod seines ehemaligen Freundes. Vielleicht kann ich darüber hinaus etwas über das Verhältnis der beiden in Erfahrung bringen. Luc, du besorgst den Schlüssel und gehst mit dem Kollegen von der Spurensicherung zur Wohnung des Opfers. Ich komme später nach. Am besten, wir halten unsere erste Lagebesprechung in der Wache ab.« Er sah auf seine Armbanduhr, es war zwanzig nach zwölf. »Wir treffen uns um zwei.« Pierre bemerkte Lechats schiefes Grinsen. »Habe ich etwas vergessen?«

»Nein … Chef.« Jetzt lachte Lechat. »Wir machen es so, wie du gesagt hast.«

4

Das Haus der Marechals lag an der westlichen Stadtmauer, am Übergang zur Rue du Pontis. Es war ein alter, ursprünglich dreistöckiger Steinbau mit smaragdgrünen Fensterläden, der seit einer aufwendigen Sanierung eine weitere Etage mit Dachterrasse und Pool hinzubekommen hatte, die sich optisch nahtlos in die bestehende Bebauung einpasste.

Obwohl der Chemin des Liserons nur wenige Meter von der beliebten Aussichtsplattform entfernt lag, war die Gasse kaum frequentiert. Was nicht nur daran lag, dass sie recht eng war. In diesem Teil von Sainte-Valérie gab es weder Geschäfte noch Gastronomie, weshalb die meisten Besucher des Ortes nach wenigen Metern kehrtmachten. Nur im Sommer, wenn die untergehende Sonne ihr pastellfarbenes Licht über die Ebene breitete, dann sah man auch hier vereinzelt Personen, die sich für ein Foto vor dem Panorama in Pose warfen.

Ein wunderbarer Ort für ein Stadthaus, dachte Pierre, der an der Mauer stehen blieb, versunken in die Schönheit des frühlingshaft anmutenden Landstrichs, in den sich violette, rosafarbene und gelbe Blütentupfen mischten. Von hier aus hatte man einen unverbauten Blick über die dunkel schimmernden Wälder, die sich in Richtung Westen bis nach Fontaine-de-Vaucluse erstreckten.

Als Pierre die Klingel betätigte, fiel ihm auf, wie idyllisch der Eingangsbereich wirkte. An der weiß lackierten Holztür hing ein Türklopfer, der wohl eher als Dekoration gedacht war. Seitlich der Stufen standen Töpfe mit Agaven und Palmen, die mit Stroh und Jute vor der nächtlichen Kälte geschützt waren. Neben dem Eingang bemerkte er ein aus Ton gebranntes und glasiertes Namenschild, das offenbar von Kinderhand gefertigt worden war.

»Hier wohnen Maurice, Elodie, Hugo und Rose Marechal«, las Pierre leise vor.

Es klang nach Familienidylle, nach heiler Welt. Nicht nach den Intrigen und Ellenbogenkämpfen, die er von Marechal gewöhnt war.

Aber irgendwie passte es trotzdem zu dem jugendlich dynamischen Bürgermeister, der sich als Fachanwalt für Familienrecht vor allem dadurch von seinem Vorgänger Arnaud Rozier unterschied, dass er das Thema Familie auch politisch vorantrieb.

»Kinder sind unsere Zukunft«, hatte er im Wahlkampf gepredigt und versprochen, etwas gegen die Vergreisung der provenzalischen Dörfer zu unternehmen, die mehr und mehr in die Hände von Zweitwohnungsbesitzern aus aller Welt gerieten. »Geben wir den Menschen einen Grund hierzubleiben. Schaffen wir ihnen eine Heimat, in der sie Arbeit und gute Verdienstmöglichkeiten finden und so zum Wachstum und Wohlstand unserer Gemeinde beitragen.«