Provenzalischer Rosenkrieg - Sophie Bonnet - E-Book

Provenzalischer Rosenkrieg E-Book

Sophie Bonnet

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Beschreibung

Farbenprächtige Rosenfelder, ein geheimes Archiv der Düfte, mysteriöse Todesfälle …

Es ist Mitte Mai in der Provence. Pierre Durand genießt das Zusammenleben mit Charlotte, doch als deren Jugendfreundin Anouk auftaucht, ist es mit der Idylle vorbei. Die Rosenzüchterin steht unter Mordverdacht – ihr Nachbar wurde tot in seinem »Archiv der Düfte« aufgefunden, wertvolle Dokumente fehlen. Charlotte ist von der Unschuld ihrer Freundin überzeugt. Die Beweislage ist alles andere als eindeutig, und so macht Pierre sich auf die Suche nach der Wahrheit. Seine Ermittlungen führen ihn über Grasse bis ans Mittelmeer, wo drei Wochen zuvor bereits ein Parfümeur unter verdächtigen Umständen ums Leben kam …

»Niemand verbindet Genuss und Verbrechen so harmonisch wie Sophie Bonnet in ihren Provence-Krimis.« Hamburger Morgenpost

Lesen Sie auch weitere Romane der hoch spannenden »Pierre Durand«-Reihe!
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 373

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Buch

Es ist Mitte Mai in der Provence. Pierre Durand genießt das Zusammenleben mit Charlotte, doch als deren Jugendfreundin Anouk auftaucht, ist es mit der Idylle vorbei. Die Rosenzüchterin steht unter Mordverdacht – ihr Nachbar wurde tot in seinem »Archiv der Düfte« aufgefunden, wertvolle Dokumente fehlen. Charlotte ist von der Unschuld ihrer Freundin überzeugt. Die Beweislage ist alles andere als eindeutig, und so macht Pierre sich auf die Suche nach der Wahrheit. Seine Ermittlungen führen ihn über Grasse bis ans Mittelmeer, wo drei Wochen zuvor bereits ein Parfümeur unter verdächtigen Umständen ums Leben kam …

Autorin

Sophie Bonnet ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Mit ihrem Frankreich-Krimi Provenzalische Verwicklungen begann sie eine Reihe, in die sie sowohl ihre Liebe zur Provence als auch ihre Leidenschaft für die französische Küche einbezieht. Mit Erfolg: Der Roman begeisterte Leser wie Presse auf Anhieb und stand monatelang auf der Bestsellerliste, ebenso wie die darauffolgenden Romane Provenzalische Geheimnisse, Provenzalische Intrige, Provenzalisches Feuer und Provenzalische Schuld. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Erfahren Sie mehr über die Autorin auf: www.sophie-bonnet.de

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Sophie Bonnet

Provenzalischer Rosenkrieg

Ein Fall für Pierre Durand

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Karte

Prolog

Er sah über das Wasser, dorthin, wo das Boot aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Das Meer war ruhig, beinahe reglos, übergossen vom Weiß der Mittagssonne. Geblendet wandte er sich ab, folgte dem Farbverlauf von Tiefblau hin zu grünlichem Schwarz. An der Küste würden die Wasser die Farbe schimmernder Smaragde haben, funkelnd und blitzend in der Bewegung der ans Ufer rollenden Wellen.

Als sie losgefahren waren, war das Meer noch aufgewühlt gewesen. Der Wind hatte unzählige kleine Wellentürme hin und her geschoben, als seien sie Figuren eines Schachspiels. Die Bewegungen ließen das Boot schlingern, bis das offene Meer erreicht war, aber es machte ihm nichts aus. Er liebte das Auf und Ab, die Hüpfer über die Wellenkämme, die aufgepeitschte Gischt. So, wie er das Meer liebte.

Ihm hatte er ein Parfüm gewidmet, das dank der Reduzierung auf wenige Komponenten das Bild in der Sonne schimmernder Wellen hervorrief. Er hatte die Regeln der Parfümherstellung gebrochen, sie gebeugt, um das Meer selbst einzufangen, das ozeanisch Transparente, die flirrende Leichtigkeit. Eine kaum wahrnehmbare Brise und doch präsent.

Lange drohte das Projekt an der Unmöglichkeit zu scheitern, den Geruch so nachzubilden, dass er harmonisch mit der Haut verschmolz, ohne sich zu verändern. Doch nun hatte er es geschafft. Es war ihm gelungen, einen Meeresduft zu kreieren, der ohne Umwege, ohne jede Ablenkung direkt ins limbische System vordrang, wo er eine Gefühlsexplosion hervorrief, die den Träger unweigerlich euphorisierte. Es war ein Zufallstreffer gewesen, wie in den Historien vieler erfolgreicher Parfüms, dank einer unerwartet wirkungsmächtigen Komponente. Das Ergebnis war so stimmig, als habe sie sich im Strom der Gezeiten verborgen und nur darauf gewartet, von ihm, Lucien Aubert, entdeckt zu werden.

Er lächelte.

Unzählige Parfümeure hatten versucht, diese Emotionen zu bannen. Sie alle hatten ihre Kreationen nach dem Meer benannt – Baldessarini, Armani oder Linari –, die unter der Verwendung von Zitronenverbene, Ambra oder Zedernholz Bilder von Schiffsplanken und Sonnenöl hervorriefen. Nie die der anmutig rollenden Wellen, der offenen See.

Andere warben damit, die salzige Meeresluft einzufangen, während sie in Wahrheit einen erdig-grünen Akkord aus Lavendel und Eichenmoos erschufen, Duftnoten von frisch gemähtem Gras und Melone miteinander verschmolzen oder gar den Fokus auf Küchenkräuter legten, die im Zusammenspiel mit der Narzisse das Bild eines Spaziergangs an üppig bewachsenen Küsten heraufbeschworen. Es gab sogar einen synthetischen Duft, den man Meersalz nannte und werbewirksam als Kopfnote präsentierte. Dabei war es ein Nichts, viel zu flüchtig, ohne das Riechorgan auch nur im Mindesten zu beeindrucken.

Ein Kälteschauer durchzog seinen Körper. Zitternd fuhr er mit der Zunge über die Lippen und verzog unwillkürlich den Mund.

Salz – Atem des Meeres.

Wenn Autoren schrieben, die Luft rieche nach Salz, dann dachten sie an den Geruch, den das Meer in Küstennähe verströmte. Und der in Wahrheit eine Mischung aus verendeten Algen und der Ausdünstung eines sie zersetzenden Bakteriums war. Reines Salz duftete nicht, das war chemisch unmöglich. Die Teilchen waren zu fest im Ionengitter verankert, um sich zu lösen und als Geruch in die Nase zu steigen. Trotzdem wusste jeder Leser, was gemeint war.

»Die Luft roch nach Salz …«

Dieser Satz löste unmittelbar Sehnsucht aus, eine Erinnerung an Sommertage, an stahlblauen Himmel, an das Geräusch der Brandung, durch die man mit nackten Füßen watet. An den mit dem Meer verschmelzenden Horizont.

Ihm, Lucien Aubert, war es gelungen, genau dies einzufangen und in ein Gefühl des Glücks, der Zufriedenheit zu verwandeln.

Sein Parfüm vermochte es, für einige Atemzüge das Bedürfnis nach Weite und unendlich scheinender Freiheit zu stillen. Und nun war endlich der Zeitpunkt gekommen, um seinem Hommage au Bleu zu dem Erfolg zu verhelfen, den es verdiente.

Ein schmerzhafter Stich fuhr ihm in die Brust, und er rieb sie, um die Kälte zu vertreiben, die ihn immer stärker umklammerte. Sein Herz hämmerte wild, trieb das Blut mit gewaltigen Donnerschlägen durch den Körper.

»Verdammte Scheiße, warum kommt denn niemand?«

Sein Sturz musste doch längst bemerkt worden sein. Er hatte auf dem Sonnendeck gedöst, als das Boot unerwartet anfuhr und voll beschleunigte. Durch den heftigen Ruck war er von der glatten Oberfläche gerutscht, hinab ins Meer. Alles ging so schnell, dass er keine Zeit hatte zu reagieren. Das Wasser umschloss ihn kalt, es war so eisig, dass es ihm für einen Moment den Atem nahm. Dann katapultierte er sich mit kräftigen Schwimmzügen wieder nach oben, gerade rechtzeitig, bevor die reflexartig einsetzende Atmung ihm das Salzwasser in die Lunge pumpen konnte. Er winkte, schrie zwischen dem Luftholen, in der irrigen Annahme, sein Rufen würde durch das Röhren des Motors bis zum Steuerstand dringen. Vergeblich.

Erst glaubte er, es sei ein Versehen, das schnell korrigiert werden würde. Wenn das Boot innerhalb von wenigen Augenblicken drehte, dann war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man ihn fand. Jede Minute aber, die darüber hinaus verstrich, machte die Suche zu einem Schicksalsspiel. Ein um nur wenige Zentimeter vom Wendepunkt abweichender Kurs konnte verheerend sein.

Doch dann erkannte er, dass das Boot nicht kommen würde und dass er einen großen Fehler begangen hatte, der ihn womöglich nun das Leben kostete.

In plötzlicher Panik bewegte er die Arme und strampelte mit den Beinen, bemüht, die zunehmende Taubheit zu vertreiben, die Kälte, die sich über seine Muskeln legte. Dabei sanken die Beine immer tiefer, als hielte ein Eisblock sie umschlossen, bis er schließlich aufgegeben hatte und sich treiben ließ.

Wie viel Zeit war seither vergangen? Fünfzehn Minuten oder bereits fünfzig?

Seine Kräfte schwanden zunehmend, lange vermochte er der Kälte nicht zu widerstehen. Trotz sommerlich warmer Luft war das Wasser eisig, die Temperatur betrug höchstens zwölf, dreizehn Grad. Warm für einen Apriltag, aber viel zu kalt für seinen Körper, der sich inzwischen anfühlte, als wolle er in Winterstarre verfallen.

»Zu Hilfe!«

Mühsam drehte er sich um seine eigene Achse. Nichts. Kein Boot, keine der vielen Jachten, die die nahe Bucht im Halbstundentakt ansteuerten. Sie waren zu weit draußen gewesen, abseits der üblichen Routen.

Plötzlich spürte er, wie sein Herz verkrampfte.

Nein, er konnte nicht länger warten und auf Hilfe hoffen, er musste selbst versuchen, ans Ufer zu gelangen, und zwar rasch!

Er blickte sich um, suchte die rettende Küste. Doch wohin er auch sah: überall nur Meer. Dann endlich glaubte er in einiger Entfernung einen Punkt auszumachen, der sich langsam auf ihn zubewegte.

Ein Boot! War es gekommen, um ihn zu retten?

Er würde ihm entgegenschwimmen, er musste es schaffen. Nein, er wollte nicht sterben, er hatte doch gerade erst begonnen, seine Freiheit zu genießen.

Ich habe doch noch so viele Pläne!

Entschlossen ruderte er mit den Armen, jede Bewegung war schmerzhaft. Nach wenigen Metern war es ihm, als schwimme er in Beton. Hektisch fing er an zu zwinkern, versuchte, die Benommenheit zu vertreiben, die sich seiner Gedanken bemächtigte, seiner Gedanken, die keinen Halt mehr fanden, sich verloren, mit den Wellen trieben … Bis er spürte, dass er sich in ihnen auflöste und sich dem Meer überließ. Eins mit ihm wurde.

Das Letzte, was er vor seinem inneren Auge wahrnahm, war das verschwommene Bild einer stürmischen Gewitternacht. Noch im selben Moment, als er die Lider schloss und zu sinken begann, erkannte er, dass er etwas übersehen hatte. Und dass er sie hätte warnen sollen.

1

»Salut, hier bin ich.«

Die Tür zur Wache schob sich auf, und mit der jungen Frau, die einen nach oben geklappten Schirm umklammert hielt, kam auch der Regen in den Raum.

»Moment, ich helfe Ihnen.« Pierre, der sich gerade gemeinsam mit seinem Assistenten Luc Chevallier über eine Akte gebeugt hatte, richtete sich auf und eilte ihr entgegen. Er hielt ihr die Tür auf und verschloss sie rasch wieder, bevor die hineindrängenden Tropfen auf dem Boden zu Pfützen werden konnten.

Die junge Frau schob die Kapuze ihrer Jacke zurück und zupfte eine hellblonde Haarsträhne zurecht, die sie zu einem seitlichen Zopf gebunden hatte.

»Danke.« Mit einem Ruck versuchte sie, den Schirm wieder in seine ursprüngliche Form zu biegen, und gab schließlich mit einem Schulterzucken auf. »Das ist schon der dritte in dieser Woche. Gibt es hier irgendwo einen Mülleimer?«

Pierre nahm ihr den Schirm ab, trug ihn in die Kaffeeküche, die zwischen dem Vorraum und seinem Büro lag, und warf ihn in die Tonne. »Mistwetter!«, murmelte er.

So ging es nun schon seit Wochen. Als Ende April eine Schönwetterfront über die Provence zog, hatten sie alle geglaubt, das Schlimmste sei endlich überstanden. Nur um wenige Tage später festzustellen, dass sie sich geirrt hatten, da es nur eine kurze Atempause gewesen war, bevor die nächste Kältewelle heranrollte. Seither war kaum ein Tag vergangen, an dem es nicht regnete, die Meteorologen sprachen vom schlechtesten Wetter seit gut sechzig Jahren. Selbst in Deutschland, wo ein Teil der Familie seiner Freundin Charlotte lebte, war das Wetter besser, geradezu sommerlich. Während sich die Temperaturen dort bei vollkommener Trockenheit auf irrwitzige dreißig Grad zubewegten, kamen sie im Luberon auf gerade einmal siebzehn. Und das auch nur zur Mittagszeit. Da war es wenig tröstlich, dass der Regen – wie in den Medien unermüdlich betont wurde – nach der historischen Dürreperiode vom Vorjahr ein Segen für die Natur sei und dringend notwendig, um die Grundwasservorräte aufzufüllen. Die Hälfte davon hätte sicherlich auch gereicht.

Brummelnd ging Pierre zurück in den Vorraum, wo sich Luc inzwischen der jungen Dame angenommen hatte.

»Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Ich bin Penelope Brunel. Bin ich zu spät?«

»Penelope … wer?« Luc warf Pierre einen fragenden Blick zu.

»Na, die Neue.« Die junge Frau betrachtete die vielen unbearbeiteten Akten und Zettel, die sich inzwischen nicht nur auf den Schreibtischen und in den Regalen stapelten, sondern auch auf Fußböden und Fensterbänken. »Ach du Schande! Das wird echt höchste Zeit.«

»Mademoiselle Brunel!« Sie war die neue Sekretärin, verdammt, er hatte sie vollkommen vergessen. Pierre streckte ihr die Hand entgegen. »Herzlich willkommen! Mein Name ist Pierre Durand, Chef de police municipale. Und das hier ist Luc Chevallier, mein Assistent.«

Arnaud Rozier hatte sie eingestellt, das war im März gewesen. Eine der letzten Amtshandlungen des alten Bürgermeisters, bevor er sich ins Privatleben zurückgezogen hatte. Mit tränenverschleiertem Blick hatte er die Hände auf Pierres Schultern gelegt und ihm versichert, wie stolz er immer auf seinen Chef de police gewesen sei. Und dass es ihm endlich gelungen sei, den Gemeinderat davon zu überzeugen, die lang ersehnte Sekretariatsstelle zu bewilligen. Der Name der neuen Mitarbeiterin sei Mademoiselle Brunel, und ab Mitte Mai werde sie dafür sorgen, dass endlich wieder Ordnung in die kleine, von der zunehmenden Verwaltungsarbeit überforderten police municipale komme.

Rozier hatte dabei die Arme ausgebreitet, als sei dies ein großzügiges Geschenk und keineswegs dringend notwendig, um den ihm gebührenden Dank entgegenzunehmen, den Pierre ihm schmunzelnd gewährte.

So war er eben, der ehemalige Bürgermeister. Selbstgefällig, jovial, leutselig. Dennoch hatte er sich in den vergangenen Monaten zum Positiven entwickelt. Seit dem letzten Fall war er wie geläutert, wesentlich aufmerksamer und umgänglicher als zuvor, aber es gab Dinge, die würden sich wohl nie ändern, nicht mal in hundert Jahren.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie bei uns anfangen, Mademoiselle Brunel«, sagte Luc in diesem Augenblick und schüttelte der jungen Frau überschwänglich die Hand.

»Nennen Sie mich bitte Penelope. Mademoiselle klingt so furchtbar alt.«

»In Ordnung, Penelope. Ich bin Luc.«

Pierre musterte die Kollegin, die sich sichtbar skeptisch an ihrem zukünftigen Arbeitsplatz umsah. So als überlege sie, die Wache fluchtartig wieder zu verlassen.

Er seufzte.

Tatsächlich hatte er gehofft, die Neue wäre eine gestandene Frau wie Gisèle, die bestens vernetzte Empfangsdame des Bürgermeisteramts. Die Seele des Dorfes kannte jeden und fand trotz ihrer Abneigung gegen technische Neuerungen immer Mittel und Wege, Pierre mit den dringend benötigten Informationen zu versorgen. Korrekt, geordnet und pflichtbewusst.

Penelope Brunel wirkte wie das genaue Gegenteil. Sie mochte Anfang zwanzig sein, vielleicht ein, zwei Jahre älter, so genau konnte er es bei der Frisur nicht sagen. Das hellblond gefärbte Haar mit der hochgebundenen Strähne hatte etwas Mädchenhaftes, die Bluse mit dem Glockenrock erinnerte an eine Schuluniform. Aber ihre großen Augen, und das war ermutigend, waren hellwach und blitzten vor Tatendrang.

Pierre wies ihr den freien Schreibtisch zu, der sich ebenso wie der seines Assistenten im Vorraum befand, zeigte ihr, wo sie ihre persönlichen Sachen verstauen konnte und wie die digitale Zeiterfassung funktionierte, die der neue Bürgermeister Maurice Marechal hatte installieren lassen. Er überließ es Luc, sie mit der täglichen Arbeit vertraut zu machen, zog sich in sein Büro zurück, schloss die Tür und atmete tief durch.

Es setzte ihm zu, dass er den Tag, an dem die Schreibkraft endlich ihren Dienst beginnen sollte, vergessen hatte. Dabei hatte Marechal sie vergangene Woche noch extra angekündigt. Aber die Arbeit hatte sich dermaßen aufgestaut, dass er jeden Morgen in sie eintauchte und sich mit einem Tunnelblick durch die Aktenberge arbeitete, ohne dass diese am Abend kleiner geworden wären, weil ständig neue Anträge hinzukamen.

Mit verschränkten Armen schaute Pierre durch das Fenster auf den Hinterhof, der bei schönem Wetter von Leinen durchzogen war, auf denen bunte Wäsche flatterte. Heute waren nur die Mülltonnen des Chez Albert zu sehen. Ein trostloser Anblick, dachte er, während er sich wieder an seinen Platz setzte, ebenso trostlos wie jeder einzelne Tag, an dem er sich mit den leidigen Auswüchsen der zunehmenden Bürokratie beschäftigte.

Widerwillig rückte er seinen Stuhl zurecht. Vor ihm lag die Akte eines stillgelegten Fahrzeugs, das seit Monaten nicht bewegt worden war und dessen Fahrer nun ausfindig gemacht werden musste. Er öffnete sie, holte das entsprechende Formular hervor und seufzte erneut.

So hatte er es sich nicht vorgestellt, das Leben als Chef de police municipale dieses bezaubernden Bergdorfes mit seinen warmherzigen, skurrilen Bewohnern. Als er den Posten als Commissaire im fernen Paris gegen das Leben eines Dorfpolizisten eingetauscht hatte, war es ihm wie ein Befreiungsschlag erschienen. Auf ihn hatte ein beschaulicher Alltag gewartet, der zuweilen von Kriminalfällen unterbrochen war, bei denen er – aus alter Gewohnheit und nicht immer zur Freude der zuständigen Beamten – ermittelte. Aber seit Einführung des Datenschutzgesetzes hatten die bürokratischen Pflichten dermaßen überhandgenommen, dass er sich immer öfter bei dem Gedanken erwischte, lieber im Bett bleiben zu wollen, statt zur Arbeit zu gehen.

»Das liegt sicher am Wetter«, hatte Charlotte gesagt, als er ihr beim Frühstück gestand, wie sehr ihn seine momentane Arbeitssituation nervte. »Du wirst sehen, sobald die Sonne scheint, sieht die Sache wieder anders aus.«

Er schüttelte zweifelnd den Kopf. Charlotte hatte gut reden. Sie brannte für ihre Arbeit! Innerhalb kürzester Zeit hatte sie aus ihrer Épicerie, in der sie auch Gerichte zum Mitnehmen anbot, jeden Tag frisch zubereitet und mit wechselnder Wochenkarte, einen beliebten Anlaufpunkt für Gäste und Einheimische gemacht. Es gab kaum eine Feier und keinen Empfang, für die sie nicht das Catering übernahm, sodass sie sich noch vor Weihnachten einen gebrauchten Lieferwagen gekauft hatte, um all die Einkäufe zu bewältigen und die Platten und Schüsseln auch zu den Häusern außerhalb des Dorfes zu transportieren.

Pierre sah von dem Formular auf und drehte sich erneut zum Fenster, starrte auf die Regentropfen, die gegen die Scheibe schlugen und in kleinen Rinnsalen hinabglitten.

Anfang April hatte Charlotte neben ihrer Küchenhilfe Jean noch zwei weitere Kräfte eingestellt: die Köchin Marianne, die Charlotte mit tiefer Dankbarkeit zur Seite stand, weil sie sich schon fast damit abgefunden hatte, mit Anfang sechzig keine Anstellung mehr zu finden. Außerdem Isabelle Poncet, eine der beiden Töchter des örtlichen Mechanikers, die sich seit der Teilnahme an Charlottes Kochkurs für die heimische Küche begeisterte und nun als Verkaufskraft hinterm Tresen stand.

Und ganz nebenbei, so als sei es nichts weiter als ein Spaziergang, organisierte Charlotte in regelmäßigen Abständen gemeinsam mit dem Sommelier Martin Cazadieu Genussreisen durch die Provence, die sich größter Beliebtheit erfreuten. Sogar ein Kochbuch hatte sie geschrieben.

Pierre seufzte. Vier Monate waren vergangen, seit Charlotte und er zusammengezogen waren. Es war die beste Entscheidung seines Lebens, und doch führte sie ihm nun täglich vor Augen, welchen Unterschied es machte, wenn der Beruf einen erfüllte.

Eine graue Katze sprang auf den steinernen Absatz vor dem Fenster und lugte herein. Erschrocken löste sich Pierre aus der Erstarrung und beschloss, sich einen Kaffee mit unanständig viel Zucker zu holen. Damit ließe sich vielleicht keine Begeisterung herbeizaubern. Aber sicher das nötige Durchhaltevermögen.

2

Aus dem Vorraum drang fröhliches Lachen. Pierre hob den Kopf, rieb sich den Nacken und sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf, und sein Magen machte sich mit einem Grummeln bemerkbar. Der Stapel der zu erledigenden Dinge war durchaus ein wenig geschrumpft, es sprach also nichts dagegen, die Mittagspause vorzeitig einzuläuten.

Er stand auf, nahm seine Jacke vom Haken und zog sie über. Dann ging er in den Vorraum, wo Luc und Penelope Schulter an Schulter vor ihrem Computer saßen und die Köpfe zusammensteckten.

»Ich bin dann mal weg.«

Luc sah auf. »Wo willst du hin?«

»Patrouillieren.«

»Bei dem Wetter?«

»Die Sicherheit der Dorfbewohner ist mir auch bei Regen ein Anliegen.«

Luc grinste. Jeder wusste, was es hieß, wenn Pierre auf Patrouille ging: den Kopf frei machen, durchatmen, den Gedanken ihren Lauf lassen. Oder: etwas zu essen organisieren.

»Bringst du mir was mit?«

»An was hast du gedacht?«

Luc warf einen Blick auf die Wochenkarte der L’Épicerie provençale, die an der Korbtafel neben einem Plan von Sainte-Valérie und dem Veranstaltungskalender hing, auf dem der nächste Termin – ein Bouleturnier – rot umkreist war.

»Eine Portion Kartoffel-Ziegenkäse-Auflauf mit Oliven. Und ein Stück von der Rosencremetorte, ja? Ich denke, wir werden die Mittagspause durcharbeiten, damit Penelope am Nachmittag selbständig weitermachen kann.«

»So schnell? Meinst du nicht, wir sollten ihr mehr Zeit geben, um sich im System zurechtzufinden?«

»Unsinn. Penelope ist echt schlau, in null Komma nichts hat die das drauf.« Er nickte ihr anerkennend zu. »Du bist wirklich toll. Auf so jemanden haben wir lange gewartet.«

Die Angesprochene errötete.

Pierre runzelte die Stirn. Eine eigenartige Stimmung hing im Raum. Ein Flirren, das Lucs Freundin Florence sicher nicht behagen würde.

»Soll ich Ihnen auch etwas mitbringen?«, fragte er die junge Kollegin.

»Oh ja, gerne. Die Torte klingt lecker.«

Pierre nickte. Er zog die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht und trat vor die Tür. Der Regen hatte fast noch an Intensität gewonnen, stürzte auf das Steinpflaster und spritzte zu allen Seiten.

Unter dem Schutz der Kapuze eilte er in Richtung der Rue du Pontis, in der Charlottes Épicerie lag. Die Gassen waren wie leergefegt. Nur ein Mann in Anzug und eleganten Schuhen hastete vorüber, eine durchweichte Zeitung über dem gesenkten Kopf, er rutschte eher, als dass er ging. Es war der neue Bürgermeister, wie Pierre erst erkannte, als er bereits vorüber war. Was daran liegen mochte, dass Marechal normalerweise sehr aufrecht ging, sogar ein wenig nach hinten geneigt und mit raumgreifendem Schritt.

Nach wenigen hundert Metern erreichte Pierre jenen Teil der Stadtmauer, an dem man normalerweise einen wundervollen Blick über die frühlingshaft ergrünende Ebene hatte, bis zum Luberon. Heute jedoch versank alles hinter einem grauen Schleier. Und obwohl es erst Mittag war, brannten bereits die Lichter der Straßenlaternen und warfen ihr Licht über das nassglänzende Pflaster.

Die Fensterscheiben der Épicerie waren beschlagen. Eine Frau stieß gerade die Tür auf, in der Hand eine floral bedruckte Papiertüte, die inzwischen zu Charlottes Markenzeichen geworden war. Die Kundschaft liebte diese Tüten und verwendete sie gerne weiter, sei es für Einkäufe, zur Aufbewahrung oder gar als Geschenkverpackung.

Pierre trat ein und war augenblicklich von dem Geruch nach Thymian und Knoblauch umhüllt, der wohl von dem noch dampfenden pâté en croûte kam, einem mit verschiedenen Schichten Fleisch gefüllten Krustenbrot, das Isabelle gerade frisch aufschnitt. Vor dem Verkaufstresen hatte sich eine Schlange gebildet, aus der in diesem Moment eine alte Dame ausscherte, um sich eines der frisch zubereiteten Gerichte im Einmachglas aus dem Regal zu nehmen. Ein coq au vin für zwei Personen, wie Pierre im Vorbeigehen erkannte, das neben dem cassoulet und der Bouillabaisse zu den Gerichten gehörte, die Charlotte standardmäßig für ihre Kunden bevorratete.

Pierre drängte sich an den Wartenden vorbei in Richtung Küche und dachte, dass sie mit ihrem Konzept ein wirklich gutes Händchen bewiesen hatte.

Während das Wetter draußen nasskalte Kapriolen schlug, erzeugte drinnen die Kombination aus modernem Interieur und provenzalischem Flair eine geradezu sonnige Atmosphäre. Die Pendelleuchten tauchten den Tresen in warmes Licht, und das helltürkis gemusterte Fliesenschild, auf dem die Kreidetafel mit den Wochengerichten angebracht war, erinnerte unwillkürlich an das Meer oder an einen klaren provenzalischen Morgenhimmel.

»Bonjour, Isabelle!«, rief er der Verkäuferin zu und eilte nach hinten.

»Salut, Pierre.«

Charlotte stand mit dem Rücken zu ihm. In der Hand einen Teller mit Rosencremetorte, die sie einer Frau mit rotbraunen, zu einem hohen Zopf gebundenen Haaren hinhielt.

»Es schmeckt wunderbar«, sagte die Fremde. Sie leckte die Gabel noch einmal ab und sah auf. »Du hast Besuch.«

Charlotte drehte sich um, strahlte ihn an. »Das ist er, mein Pierre!« Sie stellte den Teller ab und gab ihm einen Kuss. Dann wies sie mit geradezu huldvoller Bewegung auf die Frau. »Darf ich vorstellen? Das ist Anouk, meine Freundin aus Banyuls-sur-Mer.«

»Die Anouk?« Pierre fiel auf, dass er noch nie eine von Charlottes Freundinnen kennengelernt hatte. Was wohl daran lag, dass sie in Deutschland aufgewachsen und während ihrer Ausbildung zur Köchin durch ganz Frankreich gereist war. Die Sommerferien hatte die Familie stets in der Heimat ihrer südfranzösischen Mutter verbracht, und Anouk hatte Charlotte in dem Zusammenhang mehrfach erwähnt. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Freut mich sehr.«

»Mich ebenfalls.«

Hellgraue Augen, unter denen dunkle Schatten lagen. Ein breiter, wohlgeformter Mund. Als sie den Händedruck erwiderte, umgab sie der Hauch eines Parfüms. Ein holzig-warmer Duft. Elegant und sinnlich. Aber auch ein wenig sperrig.

»Sie war gerade in der Nähe und hatte die spontane Idee, mich zu besuchen«, erzählte Charlotte. »Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben? Drei Jahre, vier?«

»Mit Sicherheit.« Anouk lächelte, und ihr Mund wurde noch breiter. »Beim letzten Mal hast du noch in diesem Gourmetrestaurant in Marseille gearbeitet und warst mit einem Kerl zusammen, der dir die Welt zu Füßen legen wollte. Wie hieß er noch?«

»Nicolas.« Charlotte verdrehte die Augen. »Er hat sich in eine Artistin vom Cirque du Soleil verguckt und wollte mit ihr durch Europa touren, bevor er kalte Füße bekommen hat. Aber da wollte ich dann nicht mehr.«

»So ein Mistkerl!«

»Ich sollte ihm dankbar sein. Sonst wäre ich niemals aus Marseille fortgegangen. Und hätte Pierre nicht kennengelernt.« Charlotte schmiegte sich an ihn. »Wie lange bleibst du in Sainte-Valérie, Anouk? Wir könnten abends irgendwo was essen gehen, was meinst du? «

Die Freundin schüttelte bedauernd den Kopf. »Heute Abend muss ich wieder zu Hause sein. Ich hätte eigentlich gar nicht wegfahren dürfen, die Rosen stehen in voller Blüte. Sie sind spät dran in diesem Jahr, und wir müssen sie ernten, bevor der Regen sie verdirbt.«

»Es gibt Rosenfelder in Banyuls-sur-Mer?« Pierre hob erstaunt die Brauen.

»Nein«, antwortete Charlotte lachend. »Anouk ist vor einigen Jahren in die Nähe von Grasse gezogen. Sie hat eine alte Rosenplantage gekauft und neu bewirtschaftet. Damit beliefert sie die Crème de la Crème der Parfümindustrie.«

»Du übertreibst!« Anouk strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Noch beliefere ich nur einen der verarbeitenden Betriebe. Aber vielleicht ändert sich das bald. Morgen kommt der ChefParfümeur eines Luxuslabels und will sich meine Rosen ansehen. Das ist natürlich noch streng geheim, es geht um einen Exklusivvertrag für die nächsten fünf Jahre.« Sie lächelte. „Hervé hat das für mich eingefädelt.«

»Ist das dein neuer Freund?«

»Gott bewahre, nein! Hervé ist schon über siebzig, er könnte mein Vater sein. Er ist mein Nachbar, und zwar der beste, den man sich vorstellen kann. Seine Kenntnisse über Rosendüfte sind enorm, in seinem Archiv lagert sogar ein Fläschchen Rosenwasser aus dem Jahr 1870.«

»Archiv?« Charlotte riss die Augen auf. »Sag bloß, du meinst den Hervé Bousquet!«

»Ja, du hast von ihm gehört?«

»Natürlich. Und du warst bei ihm im Haus?«

»Sogar mehr als einmal. Gerade gestern habe ich dort mit ihm zu Abend gegessen.«

»Wer in aller Welt ist das?«, fragte Pierre irritiert.

»Monsieur Bousquet ist der Grandseigneur der Düfte«, antwortete Charlotte mit leuchtenden Augen. »In seinem Archiv lagern mehrere tausend Blumenessenzen aus zwei Jahrhunderten und viele historische Parfüms samt Formeln. Darunter sogar welche aus dem 17. Jahrhundert. Er ist quasi das Duftgedächtnis Südfrankreichs.«

»So wie in der Osmothèque in Versailles?« Pierre hatte einmal darüber gelesen. Das Museum vor den Toren von Paris beherbergte eine einzigartige Sammlung von Duftstoffen aus mehreren Jahrhunderten.

»Ja«, antwortete Anouk, »nur ist das Archiv älter und privat geführt. Die Bousquets besaßen früher selbst Blumenplantagen: Jasmin, Iris, Nelken und Rosen. Hervés Urgroßvater Henri führte außerdem eine landwirtschaftliche Schule, in der er junge Landwirte in der Kunst des Parfümpflanzenanbaus unterwies. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Vermächtnis der Duftstoffe rund um Grasse zu bewahren. Alles, was jemals extrahiert, destilliert oder mittels Enfleurage gewonnen wurde, jede Blüte, jedes Kraut, jedes Holz. Alleine von den Ölen der Rose de Mai existieren mehrere tausend Flakons.«

»Vielleicht«, ergänzte Charlotte, als Pierre bedauernd die Schultern hob, »kennst du ihn auch aus der Klatschpresse. Seine Affären mit diversen Filmschauspielerinnen in den sechziger Jahren waren oft ein Thema.«

»Ja, kann sein, das kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Charlotte …« Anouks Gesicht sah nun ganz ernst aus. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss bald los. Kannst du dir nicht ein Stündchen frei nehmen? Wir könnten gemeinsam zu Mittag essen.«

»Jetzt?« Charlotte spähte zweifelnd nach vorne. Noch immer stand eine Schlange vor dem Thekenbereich. Gerade stieß der Wind die Tür auf und trieb neue Kunden herein. »Ich kann Isabelle jetzt unmöglich alleine lassen.«

»Ach, komm schon, wir haben uns so lange nicht gesehen.«

Charlotte zögerte. »Na schön«, sagte sie endlich, »du hast recht. Wir könnten ins Chez Albert gehen. Begleitest du uns, Pierre?«

Er nickte und sah neugierig zu Anouk. Wer war diese Frau, der es gelang, Charlotte nicht nur inmitten der Hauptverkaufszeit in ein Gespräch zu verwickeln, sondern sie auch noch von ihren Pflichten loszueisen? Ob sie sich beim Mittagessen über ihre Jugendzeit austauschten? »Nichts lieber als das.«

Er versprach nachzukommen, sobald er Luc und Penelope das bestellte Essen in die Wache gebracht hatte. Und während er zusah, wie die Verkäuferin den Kartoffel-Ziegenkäse-Auflauf und zwei Stücke der mit gezuckerten Blättern dekorierten Rosencremetorte einpackte, dachte er, dass er sich die Gelegenheit ganz gewiss nicht entgehen lassen würde.

3

Der Regen hatte von einem Moment auf den anderen nachgelassen und der Sonne Platz gemacht, die zaghaft hinter davonziehenden Wolken hervorlugte. Gemächlich ergoss sie ihre Strahlen über die Place du Village, malte die grauen Fassaden bunter und die Blätter der Platanen grüner. Und als schwinge sie einen unsichtbaren Zauberstab, kam mit einem Schlag Leben in die Gassen.

Kinder stürmten über das glänzende Pflaster und sprangen in Gummistiefeln durch die Pfützen. Eine Gruppe Touristen folgte angeregt schnatternd ihrem Reiseführer, der mit hoch erhobenem Stab auf die Église Saint-Michel zustrebte und dabei immer wieder gen Himmel schaute, als traue er dem Frieden nicht.

Drüben beim Bouleplatz entdeckte Pierre den alten Uhrmacher Didier Carbonne, der gemeinsam mit Arnaud Rozier den Sandboden glättete, um für das Turnier zu üben, das am kommenden Wochenende stattfinden sollte.

Pierre zog die Jacke aus und hob die Hand zum Gruß, als Rozier aufblickte. Der ehemalige Bürgermeister sah erholt aus. Das zuletzt so fahle Gesicht war braun gebrannt, und Pierre fiel auf, dass der schon immer ein wenig vorgewölbte Bauch noch ein wenig stattlicher geworden war.

»He, Pierre, Moment mal!« Rozier ließ die Harke fallen und lief auf ihn zu.

»Arnaud, schön, dich zu sehen. Wie war euer Urlaub?« Pierre klopfte Rozier auf die Schulter, als im Hintergrund ein empörtes Kläffen erklang.

»Ruhig, Beaufort!«, rief der ehemalige Bürgermeister über die Schulter in Richtung Sandplatz, wo ein weißer Hund mit grauvioletten Sprenkeln und Schlappohren an seiner um einen Baum gebundenen Leine auf- und abhüpfte. »Na ja«, sagte er, wieder an Pierre gewandt, »eigentlich ganz gut. Wir konnten nach der turbulenten Zeit endlich wieder durchatmen. Aber nun, da wir wieder hier sind, fällt mir ehrlich gesagt die Decke auf den Kopf.«

»Ich hatte gehofft, du genießt den vorzeitigen Ruhestand?«

»Ja, das tue ich, aber irgendwann ist auch mal gut. Ich bin nicht der Typ, der den ganzen Tag herumgammelt oder mit dem Hund spazieren geht, mir fehlen die Aufgaben.«

»Was ist mit dem Komitee für das Bouleturnier?«

»Das habe ich doch nur gegründet, um dem Ganzen einen halbwegs professionellen Anstrich zu geben, aber was mache ich, wenn das Wochenende vorbei ist?«

»Du könntest dich anderweitig im Dorf engagieren. Hilfsbedürftige gibt es genug.«

»Lass gut sein. Die Versorgung Hilfsbedürftiger überlasse ich lieber Nanette. Nein, das ist es nicht, was ich brauche.« Er zog die Mundwinkel nach unten. »Ich komme nicht klar ohne meinen Beruf, ich habe das Amt des Bürgermeisters immer gerne ausgeübt. Ich sehne mich danach, wieder an meinem Schreibtisch zu sitzen und die Geschicke des Dorfes zu leiten.« Er sah hinüber zum ersten Stock der mairie, zur großen Fenstertür mit dem französischen Balkon, hinter dem sein ehemaliges Büro lag. »Und nun sieh es dir an. Alles ändert sich, sogar die Farbe der Vorhänge.«

»Du bist doch freiwillig gegangen, um mehr Zeit mit deiner Frau zu verbringen.«

»Ja, auch deshalb. Aber die schickt mich fort, sobald ich ihr auf die Nerven gehe. Und das tue ich, weil mir die Decke auf den Kopf fällt.« Er lächelte traurig. »Nein, vor allem bin ich gegangen, weil ich gemerkt habe, dass die Dorfbewohner nicht mehr hinter mir stehen. Sie haben einem absurden Vorwurf mehr geglaubt als meinen Beteuerungen, und das schmerzt. Noch immer.«

»Du meinst die anonyme Anzeige wegen Korruption.«

»Die sich im Nachhinein als Verleumdung herausgestellt hat. Ich wüsste nur zu gerne, wer die lanciert hat.« Sein Blick wanderte wieder zur mairie. »Bist du gerade auf dem Weg dorthin?«

»Nein. Ich bin zum Essen verabredet.« Pierre schaute auf seine Uhr, es war kurz vor eins, höchste Zeit, dass er ins Restaurant kam. »Es tut mir sehr leid, Arnaud«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«

Rozier nickte tapfer. »Wenigstens scheint wieder die Sonne, nicht wahr? Hoffen wir mal, dass es bis zum Wochenende so bleibt. Bei Regen können wir das Turnier vergessen.«

»Ich drücke die Daumen.«

Pierre verabschiedete sich und schritt eilig voran.

Das Chez Albert lag an der Ostseite des Platzes, ein schmales Gebäude mit grüner Markise, dessen Terrasse verwaist war. Von den Platanen trommelten große Wassertropfen auf die nackten Tischplatten und begleiteten Pierre auf seinem Weg ins Lokal.

Kaum dass er die Tür aufgestoßen hatte, empfing ihn eine Mischung aus Essensgeruch und dem Dunst nasser Jacken und Mäntel, die eng aneinandergepresst an der Garderobe hingen. Noch bevor Pierre den Gastraum betrat, kündete lautes Stimmengewirr davon, dass das Chez Albert bis auf den letzten Platz besetzt war. Man hatte in der Mitte des Raumes mehrere Tische zu einer großen Tafel zusammengestellt, an der eine Reisegruppe gerade ihre Bestellung aufgab. Die beiden Kellnerinnen hatten sichtlich Mühe, den vielen Handzeichen, den Rufen nach Getränken und Speisen nachzukommen.

Pierre sah sich suchend um und entdeckte Charlotte und Anouk in einer Nische am Fenster, die Köpfe eng beieinander, in ein reges Gespräch vertieft. Pierre schlängelte sich an Rucksäcken und Einkaufstaschen, die an Stuhllehnen baumelten, vorbei zu dem Tisch der beiden.

»Versprich mir, es niemandem zu erzählen«, sagte Anouk in diesem Moment leise und fixierte Charlotte, die mit hochroten Wangen nickte.

Pierre hielt inne. Er kam ungelegen, das war überdeutlich. Er erinnerte sich, dass Anouk nicht eingestimmt hatte, als Charlotte ihn bat, sie zu begleiten. Er hatte es nicht beachtet, zu begierig war er darauf gewesen, mehr über Charlottes Jugendzeit zu erfahren. Nun aber, da er die beiden in diesem intimen Moment sah, dachte er, dass es sicher besser wäre, sie alleine zu lassen.

In diesem Augenblick hob Charlotte den Kopf. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. »Da bist du ja. Komm, setz dich.«

Pierre sah zu Anouk, auch ihr Mund lächelte, aber die großen grauen Augen taten es nicht. Sie waren verquollen, als hätte sie geweint.

»Nein«, sagte er rasch, »ich wollte nur kurz Bescheid sagen, dass ich es leider nicht schaffe, mit euch zu essen. Mir ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Eine … eine Akte, die dringend bearbeitet werden muss.«

Verblüfft runzelte Charlotte die Stirn. »Seit wann interessieren dich denn Akten? Pierre war«, erklärte sie ihrer Freundin, »in seinem vorigen Berufsleben Kommissar. Er hat sich entschieden, der höheren Beamtenlaufbahn den Rücken zu kehren, um genau jenen Aktenbergen und Pflichtübungen zu entgehen, wegen denen er uns nun sitzen lassen möchte.«

Es hatte scherzhaft geklungen. Offenbar versuchte sie beides – das intime Gespräch mit der Freundin und Pierres Anwesenheit – einigermaßen anständig zu vereinen.

»Es war eher das ständige Taktieren, das mich das Weite suchen ließ«, entgegnete Pierre mit einem Schmunzeln. »Ist schon in Ordnung. Ihr habt sicher viel zu besprechen nach all den Jahren.«

Anouk lächelte. »Das haben wir tatsächlich. Aber wir sind gerade fertig geworden. Na komm, setz dich zu uns. Wir haben vor lauter Reden noch gar nichts bestellt, du kommst also genau richtig.«

»Du musst unbedingt die légumes farcis probieren«, sagte Pierre, dessen Magen wie aufs Stichwort vernehmlich knurrte. »Erntefrisches Gemüse aus dem Luberon mit einer pikanten Hackfleischfüllung. Und erst die Sauce!« Er küsste Daumen und Zeigefinger.

»Das klingt wunderbar. Ich werde …« Das Klingeln ihres Telefons ließ Anouk innehalten. Mit zusammengezogenen Brauen zog sie es aus der Tasche und schaute auf das Display. »Das ist meine Haushaltshilfe«, sagte sie überrascht und nahm das Gespräch an. »Aminata, was gibt es denn?« Und im nächsten Moment: »Oh mein Gott, ist er verletzt?«

»Ich glaube, nicht.« Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung war laut geworden. Obwohl Anouk das Telefon mit weißen Fingerknöcheln ans Ohr presste, war jedes Wort, mit starkem Akzent vorgetragen, zu verstehen. »Aber er bewegt sich nicht mehr. Ich habe Angst, dass er tot ist. Kannst du rüberkommen?«

»Ich bin nicht zu Hause. Ruf einen Krankenwagen. Und am besten auch gleich die Polizei.«

»Die Polizei? Kannst du das nicht machen?«

»Von hier aus? Was soll ich denen denn sagen? Bitte, Aminata, ruf am besten vom Festnetz aus an.«

»Schön, ich mache es, dir zuliebe. Aber danach verschwinde ich.«

»Lass bitte die Tür angelehnt, damit die Sanitäter reinkönnen. Ich mache mich sofort auf den Weg.« Anouk ließ den Hörer sinken. Sie war blass geworden.

»Was ist denn passiert?« Charlotte sah sie besorgt an.

»Es geht um Hervé. Er ist …« Sie brach ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aminata hat ihn gefunden. Er lag auf dem Boden, regungslos. Ich fürchte …«

»Bei dir im Haus?«

»Nein. Aminata putzt montags immer bei ihm. Sie hat mich angerufen, weil …« Anouk sprang auf und zog ihren Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich muss sofort zu ihm.«

Auch Charlotte erhob sich. »Soll ich dich nicht besser fahren?«

»Nein, das schaffe ich schon.« Anouk nickte mit Nachdruck, das Gesicht starr, beinahe maskenhaft.

Charlotte drückte sie an sich. »Melde dich, wenn du mehr weißt, versprochen?«

»Ja.« Anouk schüttelte die Umarmung ab, dann drehte sie sich um und stürmte ohne ein weiteres Wort aus dem Lokal.

Pierre sah ihr durchs Fenster nach, bis ihr rotbrauner Schopf in Richtung des westlichen Parkplatzes verschwand. Ihre Bewegungen waren seltsam ruckartig gewesen, mechanisch. Als müsse sie sich zusammenreißen, Hysterie unterdrücken oder gar Panik. Instinktiv warf er einen Blick auf seine Uhr. Sieben Minuten nach eins.

»Eigenartig«, flüsterte er. Es war keine untypische Reaktion für jemanden, der den Tod eines Nahestehenden befürchten musste. Aber irgendetwas irritierte ihn, wenngleich er nicht sagen konnte, was.

»Vielleicht hat die Haushaltshilfe überreagiert«, sagte Charlotte. »Vielleicht war es ja nur ein unglücklicher Sturz, bei dem Monsieur Bousquet das Bewusstsein verloren hat. Anouk wird sich bald melden und Entwarnung geben, du wirst sehen.« Sie nickte, während sie redete, als wollte sie sich damit Mut zusprechen. »Die Arme hat wahrlich genug durchgemacht.«

Sie erhoben sich von ihren Stühlen und drängten sich an der Reisegruppe und der erstaunten Kellnerin, die gerade mit gezücktem Block auf sie zukam, vorbei ins Freie. Schweigsam gingen sie über den Platz bis zur Rue du Portail, wo sich ihre Wege trennten.

»Sicher hast du recht, ma douce«, flüsterte Pierre mit einiger Verspätung, als Charlotte längst die Gasse entlang in Richtung der Épicerie eilte.

Als sie am Abend gemeinsam nach Hause fuhren, saß Charlotte auf dem Beifahrersitz und überprüfte die Funktionstüchtigkeit ihres Mobiltelefons. Sie ließ es während des Abendessens nicht aus den Augen und legte es beim Zubettgehen neben sich auf den Tisch.

Doch auch als die Nacht hereinbrach und sie eng aneinandergeschmiegt einschliefen, hatte sich Anouk noch immer nicht gemeldet.

4

Als Pierre am nächsten Morgen die Treppe hinabstieg, waren die Räume des Erdgeschosses in das orangefarbene Licht der aufgehenden Sonne getaucht. Charlotte saß aufrecht und auf der Unterlippe kauend vor dem Fernseher, wechselte im Sekundentakt das Programm. Sämtliche Regionalsender hatten nur noch ein Thema: den Tod von Hervé Bousquet. Azur TV zeigte gerade eine Sondersendung mit Ausschnitten aus dem Leben des bekannten Archivars.

»Ist es nicht schrecklich?«, sagte Charlotte, ohne ihn anzusehen. »Wie es Anouk wohl gerade geht …?«

»Warte, ich will das sehen.« Pierre setzte sich neben sie, nahm ihr vorsichtig die Fernbedienung aus der Hand und legte diese, bevor sie wieder umschalten konnte, beiseite.

Hervé Bousquet war ein gut aussehender Mann Anfang siebzig gewesen, mit vollem aschgrauem Haar und einem spitzbübischen Lachen. Dem Moderator zufolge war er bereits zweimal verheiratet gewesen und dennoch kinderlos. Von seiner letzten Frau hatte er sich vor vier Jahren getrennt, seither lebte er alleine und zurückgezogen in seinem Haus bei Grasse.

Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigten nun einen jungen Mann mit weit aufgeknöpftem Hemd und einer Zigarette in der Hand in lässiger Pose. Neben ihm eine Filmschönheit, die den Arm um ihn gelegt hatte. Bilder aus einem Atelier, im Gespräch mit Yves Saint-Laurent.

Hervé Bousquet schien in jungen Jahren auch als Parfümeur außerordentlich erfolgreich gewesen zu sein. Gebannt verfolgte Pierre die Berichte über Bousquets Arbeit für Luxuskonzerne in Paris und Mailand und von seinen Kreationen, die den Markt nachhaltig beeinflusst hatten.

Als das umfangreiche Archiv der Düfte Erwähnung fand, erhöhte Pierre die Lautstärke und beugte sich vor.

»Man hat den Toten in einem der normalerweise für Unbefugte unzugänglichen Räumen gefunden«, sagte der Moderator, während seltene Aufnahmen aus dem Archiv zu sehen waren, dessen Türen Bousquet vor einigen Jahren für eine Dokumentation geöffnet hatte. Die Kamera glitt über gläserne Kühlschränke mit herausziehbaren Regalböden, in denen unscheinbare braune Fläschchen lagerten, und weiter zu einem Raum, eingerichtet wie eine Bibliothek, nur dass in den Regalen statt der Bücher Aktenschuber standen. Jetzt waren die Hände des Archivars zu sehen, der eine Mappe hervorzog, in der ein altes vergilbtes Schriftstück lag.

»Einige der historischen Formeln sind offenbar verschwunden«, erklärte die Stimme im Hintergrund. »Die Polizei geht davon aus, dass es ein Raubmord war. Unser Reporter vor Ort weiß mehr.«

Das Bild wechselte zu einem Mann, der sich vor einem schmiedeeisernen Tor postiert hatte, durch dessen Verzierungen ein prachtvolles, quittengelb gestrichenes Herrenhaus mit weißen Holzläden zu sehen war.

»Noch halten sich die Polizeibehörden bedeckt. Aber aus gut informierten Kreisen haben wir erfahren, dass der Tod des Archivars gestern Vormittag eingetreten ist. Zur Person, die die Leiche gefunden hat, gibt es keine näheren Informationen, es scheint jedoch bereits eine Verdächtige zu geben.«

Es folgten verwackelte Nachtaufnahmen eines weiteren Hauses, auf das der Kameramann offenbar beim Filmen zugelaufen war. Ein breiter Bungalow, weiß mit dunklen Fensterläden. Das Objektiv zoomte an einem Polizeiwagen vorbei zum Eingang, fokussierte eine beleuchtete Tür, durch die gerade zwei Beamte ins Haus traten.

»Das ist ja Anouks Haus!«, rief Charlotte aus und schlug entsetzt die Hände vor den Mund.

»Woher weißt du das?«

»Sie hat mir Fotos davon gezeigt.«

»Bei der Frau«, erklärte der Reporter, der jetzt wieder im Bild war, »handelt es sich um die Nachbarin des Ermordeten. Hat der Archivar sie in sein Haus gelassen, in die geheiligten Räume, in denen er seine Schätze aufbewahrte? Musste er sterben, weil er ihr zu sehr vertraute? Wir wissen es nicht. Noch nicht.«

Nun hielt es Charlotte nicht mehr auf dem Sofa. »Das ist doch blanker Unsinn! Zum Todeszeitpunkt war Anouk hier, in Sainte-Valérie.«

»Keine Sorge, das sind bloß Spekulationen«, sagte Pierre ruhig. »Alles, was wir sehen, ist ein Wagen der Kriminalpolizei. Vielleicht haben sie Anouk nur als Zeugin vernommen.«

Charlotte hörte ihm längst nicht mehr zu. »Sieh nur!«

Pierre folgte ihrem Fingerzeig. Über den Bildschirm flackerte ein verpixeltes Foto von Anouk, auf dem sie lasziv lächelnd in die Kamera blickte.

»Aus unbestätigten Quellen wissen wir, dass es sich bei der Nachbarin um die siebenunddreißigjährige Anouk D. handelt.« Der Reporter presste eine Hand ans Ohr und lauschte kurz, bevor er weitersprach. »Soeben höre ich, dass in wenigen Minuten der Generalsekretär der Sous-Préfecture von Grasse vor die Kamera treten wird. Das ist ungewöhnlich früh für einen Mordfall. Offenbar gibt es interessante Neuigkeiten, ich bleibe dran.«

»Das gibt’s doch nicht!« Aufgebracht tippte Charlotte etwas in ihr Mobiltelefon.

Pierre drehte den Ton ab. »Was tust du denn da?«

»Ich suche die Telefonnummer der zuständigen Behörden in Grasse. Ich will mich als Zeugin melden.«

»Wir wissen doch noch gar nicht, ob deine Freundin wirklich verdächtigt wird.«

Charlotte schnalzte unwillig mit der Zunge und wandte sich ab. Mit hochroten Wangen lauschte sie dem Freizeichen, um dann, kaum dass jemand abgehoben hatte, auf den Menschen am anderen Ende der Leitung einzureden.

»Anouk Debris ist unschuldig. Sie war zum Zeitpunkt der Tat hier bei uns. Wir können es bezeugen. Wer ich bin? Charlotte Berg. Wie bitte? Ja, sie war hier, in Sainte-Valérie. Von Viertel vor zwölf bis kurz nach eins. Gut, ich warte.« Sie verdrehte die Augen, wiederholte einen Moment später ihr Anliegen und wurde dabei immer unruhiger. »Sie hatte vorher einen Termin in der Gegend. In Oppède-le-Vieux, ja, genau. Ganz sicher.« Stille. »Das kann nicht sein!«, rief sie schließlich aus. »Nein, ich will mich nicht beruhigen. Hören Sie mir zu, Anouk Debris ist unschuldig. Und ich glaube nicht, dass es dem Generalsekretär der Sous-Préfecture gefallen wird, wenn er vor die Kamera tritt, um die angeblich Schuldige zu präsentieren, und am Ende wie ein Idiot dasteht, nur weil irgendein Inspektor sich zu fein ist, einen Hinweis entgegenzunehmen.«

Pierre legte eine Hand auf Charlottes Arm, doch sie sprang auf und schüttelte heftig den Kopf, während sie angestrengt in den Hörer lauschte.

»Was sagen Sie da?« Ihre Stimme kippte. »Es ist Ihre verdammte Pflicht!«

Das Gespräch drohte zu eskalieren, so würde sie gewiss nicht weiterkommen.

»Charlotte …« Pierre machte eine beschwichtigende Handbewegung. Er hatte sie noch nie so aufgelöst gesehen.

»Mach du es doch besser!« Mit einem wütenden Aufschrei warf sie ihm das Telefon entgegen und rannte aus dem Wohnzimmer.

Pierre fing es auf und hob es ans Ohr. »Hallo? Mein Name ist Pierre Durand«, sagte er. »Chef de police municipale aus Sainte-Valérie. Mit wem spreche ich?«

»Bonjour, hier Inspektor Louis Gernot.«

Pierre hatte fest damit gerechnet, dass der Beamte längst aufgelegt hatte. Stattdessen nun diese ruhige, monotone Stimme.

»In Ordnung, Monsieur l’Inspecteur. Mademoiselle Berg und ich haben gestern mit Anouk Debris zu Mittag gegessen und möchten uns als Zeugen melden. Gibt es dabei ein Problem?«