Queer - ganz normal verrückt - Simon Rhys Beck - E-Book

Queer - ganz normal verrückt E-Book

Simon Rhys Beck

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Beschreibung

Ben versucht verzweifelt, sein Leben in den Griff zu bekommen, das völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Doch auch der Einzug in die betreute WG bringt nicht die erhoffte Besserung, denn die anderen Bewohner schleppen genauso viele Probleme mit sich herum wie Ben. Und Ben scheint das Chaos magisch anzuziehen. Die Situation droht erneut zu eskalieren - wäre da nicht Luka, der Typ aus der Parallelklasse. Luka ist anders. Er ist hübsch, smart und selbstbewusst. Erst durch die Gefühle, die er in Ben weckt, spürt der, was es heißt, zu leben. Aber auch der Weg, den Luka beschreitet, ist manchmal steinig.

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Simon Rhys Beck

Queer – ganz normal verrückt

Simon Rhys Beck

Verleger und Autor, geboren im Oktober 1975.

„Ich wohne mit meinen Lieben, zwei- und vierbeinig, im Grenzgebiet zwischen NRW und Niedersachen.

Mehr über meine Arbeit unter www.deadsoft.de

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Hamburg

www.himmelstuermer-verlag.de

E-mail: [email protected], September 2005

Zweite Auflage März 2015

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Coverfoto: Andreas Rödig

Cover nach einem Entwurf von daylinart

 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-554-3

ISBN e-Pub 978-3-86361-555-0

ISBN PDF 978-3-86361-556-7

Für Falk, später …

 

 

Kein Wort des Folgenden ist wahr. (Oder vielleicht doch?!)

 

 

Please understand. We don’t want no trouble.

We just want the right to be different.

That’s all.

 

(pulp)

I Prolog

Ich glaube, der Tag, an dem ich Luka kennenlernte, war der Beste meines Lebens.

Der Tag, an dem ich mich in ihn verliebte, war auf jeden Fall der Schönste!

Mein Name ist Ben, Benjamin, um genau zu sein. Ich bin jetzt 15 Jahre alt und habe in meinem Leben schon soviel Verrücktes erlebt, dass ich zu dem Entschluss gekommen bin, es aufzuschreiben.

Manchmal habe ich den Eindruck, mein Hirn ist schon voll – wie eine Festplatte, auf der einfach zu viel abgespeichert ist. Dann wird mir klar, dass eigentlich noch nie jemand eine Defragmentierung gemacht hat. Bei mir gibt es unzählige „schwarze Löcher“ im Schädel. Sachen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann – oder will. Manchmal ist es besser, sich nicht zu erinnern. Und manchmal ist es schrecklich.

Ich habe jemanden gefunden, der mich drängt, mich zu erinnern. Ich glaube, das tut mir gut. Aber es gibt auch Momente, da hasse ich den Typen wie die Pest. Er heißt Jan-Malte Binter und er ist mein Therapeut. Wir haben wohl ein ganz gutes Verhältnis zueinander. Was vielleicht daran liegt, dass wir uns auch ab und zu vermöbeln. Aber dazu später …

Irgendwie habe ich das Luka zu verdanken, dass ich Jan-Malte kennengelernt habe. Oder vielmehr seinen Eltern. Solche Eltern wie Luka hätte ich auch gern gehabt – aber vielleicht sollte ich irgendwo weiter vorn beginnen.

Vielleicht bei meinem Einzug in die Wohngruppe Meinkamp …

II Neuanfang

Völlig verloren stand ich mit meiner großen Sporttasche im Flur des Hauses. Es war nicht besonders kalt, aber ich fror erbärmlich und versuchte angestrengt, mein Zähneklappern zu unterdrücken.

Der Sozialarbeiter – Dietmar –, der mich während meines letzten Klinikaufenthalts betreut hatte, redete mit der Leiterin der WG. Ursula Meinkamp – eine richtige Schreckschraube! Von den anderen – meinen zukünftigen Mitbewohnern – war zum Glück niemand da.

Sie hatten mich alle unterschiedlich gemustert – von feindselig bis neugierig. Aber freundlich? Ich glaube, richtig freundlich war niemand zu mir gewesen.

„So, dann komm mal mit, Benjamin“, sagte die Meinkamp zu mir.

Dietmar schob mich vor sich her in eines der Zimmer. Ich hatte ein Einzelzimmer. Ein echter Luxus nach dem halben Jahr in der Klapse.

Erschöpft stellte ich meine Tasche auf den Boden und betrachtete die alten Möbel und den abgeschabten Teppich. Ich war unsäglich frustriert. Sah so wirklich mein Neuanfang aus? Was erwartete mich hier? Um ehrlich zu sein, erwartete ich ja nicht mehr viel von meinem Leben. Ich hatte schon so viel Scheiß miterlebt …

„Vielleicht willst du erst mal deine Sachen auspacken“, mutmaßte Dietmar.

Ich sah ihn nicht an. Vielleicht wollte ich erst mal sterben?

Ursula berührte mich am Arm, und ich zuckte zusammen.

„Du gewöhnst dich sicher schnell ein. Um sieben essen wir zu Abend. Bis dahin sind die anderen auch alle zurück.“

Mir graute davor.

Sie ließen mich allein. Eigentlich hatte ich meine Tasche auspacken wollen, doch meine Neugier siegte. Ich ging zur Tür und lauschte, denn ich war mir 100%ig sicher, dass sie noch über mich sprachen.

„Sie sollten vorsichtig sein, wenn Sie ihn so anfassen“, sagte Dietmar gerade. „Ich habe in der Klinik schon miterlebt, wie er bei so etwas ausflippen kann!“

„Vertrauen Sie mir ruhig. Ich kenne mich mit solchen Kindern aus. Sie wissen ja nicht, was wir schon für Knaller hier hatten! Wirklich ganz schlimme Fälle, die auch niemand mehr betreuen wollte. Da waren die Jugendämter sehr froh, dass wir …“ Sie entfernten sich von der Tür, und ich konnte nicht mehr verstehen, was sie laberten. Vermutlich das gleiche wie bei meinem „Aufnahmegespräch“. Wie toll diese Einrichtung war, wie gern die Jugendlichen hier wohnten, was sie alles schon erlebt hatten und, und, und …

Ich hatte da schon nach zwei Sätzen abgeschaltet. Diese Wohngruppe war eine Notlösung – die Einzige, die ich hatte.

Ich räumte meine Klamotten in den Schrank. Es müffelte in dem alten Teil und ich hoffte, dass meine Kleidung den Mief nicht annahm. Mit meinen Klamotten war ich eigen.

Meine Hände zitterten. Das lag wohl daran, dass sie vor zwei Wochen die Medikamente abgesetzt hatten, als klar wurde, dass ich entlassen werden konnte.

Ich hatte ein Etagenbett und entschied, oben zu schlafen. Oben war sicherer. Das Bett war noch nicht bezogen. Ich hatte keine eigene Bettwäsche.

Der Blick nach draußen war okay – ich sah auf eine Wiese, dahinter begann der Wald. Wenn ich abhauen wollte, hatte ich guten Sichtschutz. Abhauen? Ich war doch gerade erst angekommen!

Ich fühlte mich auf einmal müde und schwach und ließ mich auf die nackte Matratze fallen.

Und so verging die Zeit.

Irgendwann wurde die Tür zu meinem neuen Zimmer aufgerissen und zwei Mädchen kamen herein.

„Hallo! Na?“, sagte die eine. Sie hieß Yvonne, erinnerte ich mich und war 15 – so alt wie ich. Sie war so stark geschminkt, dass sie aussah, als trüge sie eine Maske.

„Hallo“, sagte ich leise.

Ohne mich zu fragen, hockten sie sich auf den klapprigen Schreibtisch.

„Und – schon ausgepackt?“, fragte das andere Mädchen. Sie hatte eine dunkle, dröhnende Stimme. Ich war sicher, dass dort, wo sie hinlangte, kein Gras mehr wuchs. In ihren Baggys sah sie eh aus wie ein Kerl. Ich nannte sie „das Tier“ – eigentlich hieß sie Denise. – Mann, sie hatte mit „Denise“ soviel gemeinsam wie ich mit einem Elefanten!

„He, ich hab’ dich was gefragt!“

„Ja, ein bisschen“, gab ich eingeschüchtert zurück.

„Und wie geht’s so?“ Das Tier kaute Kaugummi und schmatzte nervig laut dabei.

„Es geht. Muss ja …“

„Bist du immer so schüchtern?“, wollte nun Yvonne wissen und starrte mich in einer Art und Weise an, die ich nicht einordnen konnte.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Na ja, wird schon klappen mit uns“, sagte sie. Und dann verzogen sich die beiden glücklicherweise wieder. Ich wollte gerade aufatmen, da latschte der Nächste in mein Zimmer.

Ein Mann, vielleicht so 40, groß, breitschultrig, mit militärisch kurzen Haaren.

„Hallo, ich bin Rainer. Wir haben uns noch gar nicht kennengelernt.“

„Hallo.“

„Und – hast du auch einen Namen?“

Ich verdrehte die Augen. Als wenn er den nicht schon wüsste! Aber ich antwortete brav: „Ben.“

Er lachte. „Okay, Ben. Ich bin hier Erzieher. Arbeite schon seit fünf Jahren in dieser Einrichtung.“

Ich nickte und fragte: „Gab’s nichts Besseres?“

Überrascht sah er mich an. Doch er ging nicht darauf ein, sagte stattdessen: „Und – bist du gut hier gelandet? Hast ja eine turbulente Zeit hinter dir …“

„Mein ganzes Leben war bisher … turbulent“, äffte ich ihn nach. Ich hatte keine Ahnung, warum ich so unfreundlich zu ihm war. Er hatte mir ja nichts getan. Aber seine aufgesetzte Heiterkeit ging mir so was von auf den Keks.

Und er – er ließ sich nicht mal abschrecken. „Was machst du denn gern – in deiner Freizeit? Hast du Hobbys?“

„Ich lese.“

„Und sonst?“

„Ich schreibe …“

Was wollte er hören?

„In der Klapse sind wir immer zum Schwimmen gefahren. Das war auch okay.“

Reichte das?

„Und Fußball?“, wollte Rainer wissen.

Ich schüttelte den Kopf.

„Schade. Die Jungs und ich spielen oft zusammen draußen.“

„Aha.“

Jetzt ging ihm doch langsam die Luft aus. „Ich lass dich mal wieder allein. Du weißt ja, dass du jederzeit zu uns kommen kannst. In einer Stunde gibt es dann Abendbrot. Und danach schauen Marco und Sven immer noch fern.“

Ich starrte ihn an, sah durch ihn hindurch. Und für einen Moment wusste ich gar nicht mehr, warum ich eigentlich hier war.

III WG-Leben

Mit einem unguten Gefühl, das meinen ganzen Körper zu lähmen schien, durchquerte ich den Wohnraum und setzte mich zu den anderen an den Tisch.

Das Tier, Yvonne, Sven und Marco (die beiden Kleinen), Ursula und Rainer saßen bereits dort. Einer fehlte. Niko fehlte – den hatte ich bei meinem Aufnahmegespräch kennengelernt. Er war schon 16, und irgendwie hatte ich den Eindruck gehabt, dass die anderen vor ihm kuschten.

„Hallo Benjamin“, krähte Ursula. „Setz dich doch.“

Ich nahm auf einem der freien Stühle Platz.

„Du sitzt auf Nikos Platz“, fauchte Marco dann auch sofort.

Ich stand auf. „Entschuldige, Niko“, sagte ich ironisch und tat so, als hätte ich mich auf einen Unsichtbaren gesetzt.

„Sag’ mal, Alter, wie oft warst du schon in der Irrenanstalt?“, fragte jetzt Sven.

Ursula sah ihn strafend an. „Das heißt Psychiatrie, Sven.“ Sie wandte sich an mich. „Du weißt ja, dass wir mit solchen Themen ganz offen umgehen. Das ist besser, als wenn ständig Gerüchte kursieren.“

Ich hockte mich auf einen anderen Stuhl.

„Drei Mal“, sagte ich zu Sven und grinste diabolisch.

Vor Schreck ließ der sein Messer fallen.

Mit einem Blick checkte ich das karge Abendbrot-Angebot. Kalter Zitronentee von Aldi, Brot, Wurst, Käse, Margarine – alles Aldi. Aber ich zwang mich eine Scheibe Brot zu essen. Ich war schon einmal zwangsernährt worden – das war allemal schlimmer.

Während ich gelangweilt auf meinem Brot herumkaute, rumpelte es an der Haustür und Niko kam hereinmarschiert. Er trug eine schwarze Sonnenbrille auf der Nase, die er auch im Haus nicht absetzte. „Guten Abend“, sagte er gedehnt.

Rainer war sofort auf den Beinen. „Hast du gekifft?“

Niko grinste albern, was als Antwort wohl reichen durfte.

Ursula sah ihn verärgert an. „Du kommst gleich noch ins Büro, Niko.“

Er zuckte mit den Schultern und wandte sich mir zu. „Da ist ja unser Neuer!“

Er setzte sich neben mich. „Hallo, Mann! Alles klar?“

Sein Grinsen sah so dämlich aus, dass ich ihn automatisch auch angrinste. „Ja, auf jeden Fall.“

„Hast ja unseren Fraß schon kennengelernt, wie ich sehe.“

Dazu wollte ich mich nun nicht weiter äußern. Reichte ja, wenn er Ärger bekam. „Auf Station“ hatten wir immer Strafarbeiten aufgebrummt bekommen, wenn wir uns daneben benahmen. Und ich schätzte, dass es hier ähnlich lief. Was wohl auf Kiffen stand?

Sven kicherte. „Niko ist breit“, verkündete er.

Marco sah ihn entsetzt an, aber Yvonne und Denise prusteten laut los.

„Mir reicht’s gleich“, sagte Ursula verärgert. „Mit euch zu essen, ist echt eine Strafe!“

„Tust du ja auch sonst nicht“, brummte Niko.

„Was hast du gesagt?“ keifte Ursula sofort.

Ich verkniff mir ein Grinsen.

„Ist doch toll hier zu essen“, sagte Niko laut. „Vor allem, wenn Yvonne ihre Möpse wieder so präsentiert.“

Ich sah zu ihr rüber. Sie trug wirklich ein ultraenges Top und warf sich noch extra in die Brust. War mir vorher noch gar nicht aufgefallen.

„Gefällt dir wohl, was?“

„Nutte“, meinte Niko kaltlächelnd.

„Niko! Yvonne! Was soll das? Was ist los mit euch?“ Ursula war ganz außer sich.

Rainer stand einfach daneben und wusste nicht, was er machen sollte.

„Das macht ihr doch nur, um Benjamin zu beeindrucken!“

Das Tier lachte dröhnend.

Ich fühlte mich gleich heimisch und natürlich unheimlich beeindruckt.

Sven und Marco hatten unterdessen angefangen, sich mit Käsebröckchen zu beschmeißen.

„Marco! Sven! – Jetzt reicht es mir! Ich habe genug von euch!“ Ursula stand mit versteinerten Gesichtszügen auf und verließ den Raum. Sie überließ es Rainer, mit dem Chaos zurechtzukommen.

„Niko, jetzt hast du es wirklich zu weit getrieben!“ Rainer setzte sich wieder an den Tisch. Dort sah es mittlerweile so aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

„Darf ich gehen?“, fragte ich.

„Wer hat Küchendienst?“

Sven und Marco schrien: „Yvonne!“

„Nein, Denise!“, protestierte diese.

„Mir ist das egal, Hauptsache, es macht jemand“, sagte Rainer.

Mann, da hatte er sich ja richtig durchgesetzt.

„Dann mache ich es“, bot ich an. Das war mir wirklich zu kindisch.

„Wenn du das immer machst, werden sie dich irgendwann ausnutzen.“

Rainer hatte recht. Aber ich glaubte nicht, dass diese Dummbatzen mich ausnutzen konnten. Mein IQ war wahrscheinlich höher als der aller anderen Anwesenden zusammen.

„Was muss ich machen?!“

„Spülen, Geschirrspülmaschine einräumen, Tisch abwischen“, rief Yvonne begeistert.

Sollte ich da etwa Freunde gewonnen haben?

Ich begann den Tisch abzuräumen. Wahrscheinlich sollte ich auch saugen! Dann würde morgen zumindest keiner in Käseklumpen treten.

Niko stemmte sich von seinem Stuhl hoch. „Ich geh’ mal zu der Alten, Standpauke abholen!“

„Niko, du bist unmöglich.“ Rainer schüttelte missbilligend den Kopf.

„Is’ mir egal.“ Er schlenderte nach draußen, ohne die Sonnenbrille abzusetzen. Der war echt dicht.

IV Normalität

Ich wusste, dass sie mich zur Schule schicken wollten. Und das war ja auch ganz gut so. In der Klapse hatten wir auch Unterricht gehabt, aber – meine Güte – was waren das für Lehrer?! Die waren ja selbst verrückter als alle anderen! Irgendwelche Typen, die mit sich selbst ein massives Problem hatten und daher nur die Schüler unterrichten konnten, die in der Klapse waren.

Mir war es egal. Ich sollte wieder auf das Gymnasium. Mir fehlten zwar einige Monate, aber das sollte doch für mich kein Problem sein. Mein Gott, ich hatte einen IQ von 145 – das hatten sie in der Psychiatrie herausgefunden. Toll, oder? Konnte ich mir da irgendetwas für kaufen?

Ich holte mein Handtuch und wollte duschen. Aber das Bad war besetzt.

„Ich muss kacken! Lass mich in Ruhe!“, grölte Niko, als ich die Türklinke drückte.

„Sorry“, rief ich.

Zum Glück gab es zwei Badezimmer: eins für die Mädels und eins für die Jungs. Ansonsten hätten die sich hier wohl dauernd gezofft. War sicher auch vorgeschrieben für eine Wohngruppe.

Niko kam nach ein paar Minuten in mein Zimmer. Er setzte sich auf meinen alten Schreibtischstuhl.

„So lange ich hier bin, hat sich noch niemand bei mir entschuldigt.“

Ich sah von meinem Buch auf. „Echt nicht?“

„Sag’ mal, was bist du eigentlich für ein Freak?“

Ich legte das Buch zur Seite. „Wieso Freak? Weil ich mich entschuldige?“

„Nee, so allgemein.“

Ich betrachtete Niko, als wenn ich ihn zum ersten Mal sehen würde: kurze blonde Haare, im Nacken anrasiert, schlank, aber mit beachtlichen Oberarmen, einen etwas zu breiten Mund mit schmalen Lippen, blassblaue Augen – Skater-Klamotten.

„Weiß nicht, was du meinst.“

„Warum bist du hier? Was hast du schon so gemacht … und so …“

Ich stand auf. Ich wollte nicht mit ihm reden. „Ich geh’ jetzt duschen.“

Er folgte mir und setzte sich auf den Klodeckel.

„Das ist übrigens verboten.“

„Was? Auf dem Klodeckel sitzen?“, fragte ich und zog mich aus.

„Nein, zu zweit in die Dusche.“ Er musterte mich neugierig, das fiel mir auf. „Du darfst nur drei Minuten duschen.“

„Was?“

Er grinste. „Sparmaßnahme.“

„Wieso darf man nicht zu zweit in die Dusche?“, fragte ich naiv.

Niko machte eine unmissverständliche Handbewegung.

„Ist ja schlimmer als in der Klapse“, kommentierte ich.

„Wieso warst du da?“, wollte er wissen.

Ich seifte mich ein. „Wollte meinen Vater kaltmachen!“

Er starrte mich ungläubig an. „Das glaube ich nicht.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Mir doch egal.“

„Was hast du da an den Armen?“

Eine Frage, die mich immer wieder aus dem Konzept brachte. „Narben. – Sieht man doch, oder?“

Niko nahm meinen gereizten Tonfall gelassen hin.

„Ursula hat gesagt, wir sollen dich nicht darauf ansprechen.“

Na, wenn sich alle so an Ursulas Vorschriften hielten …

Irgendwer klopfte an die Tür.

„Hey, wer ist da drin?“

Rainer.

„Ich!“, brüllte ich.

„Und wer noch?“, wollte er wissen.

Ich grinste Niko an. „Keiner. Ich führe Selbstgespräche.“

„Beeil dich ein bisschen, Benjamin. Ihr sollt nicht endlos duschen!“

Endlos? Ha ha … Da vermiesten sie einem selbst die Dusche. Aber ich war die Kontrolle ja gewöhnt.

Nach dem Duschen folgte Niko mir wieder in mein Zimmer. Mann, der war ja richtig anhänglich.

„Was wolltest du denn mit ihm machen?“

„Mit wem?“, fragte ich und zog mich an. Meine Haare waren so nass, dass mir kleine Bäche den Rücken herunterliefen.

„Mit deinem Vater!“

„Hab’ ihn mit seiner Dienstwaffe bedroht“, erklärte ich nüchtern. „Ich wollte ihn echt umbringen, den Bastard!“

„Wow!“ Niko fand das wohl noch irgendwie cool. Für mich war es nur das Ende einer langen und qualvollen Reise gewesen. Es hatte sich so ergeben. Eine Frage von Logik vielleicht. Aber das konnte keiner nachvollziehen.

„Wie lange wohnst du schon hier?“, fragte ich, um ihn abzulenken. Das Thema gefiel mir nicht.

Er dachte nach. „Seit vier Jahren.“

„Und – deine Familie?“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kannste vergessen. Meine Mutter hat ständig neue Typen, und ich habe …“, er zählte nach, „… mittlerweile sieben Geschwister!“

„Ich bin Einzelkind“, erklärte ich. „Und meine Eltern haben es trotzdem nicht geschafft.“

Niko sah mich nachdenklich an, dann stand er auf und ging einfach.

Ich legte mich mit meinem Buch ins Bett. Noch immer konnte ich mir nicht vorstellen, dass dies hier mein Zuhause für die nächsten Jahre sein sollte. Aber eine bessere Alternative wusste ich auch nicht. Ich fragte mich, ob die Frau vom Jugendamt wirklich nach einer Unterkunft für mich gesucht hatte. Oder hatte sie mir vielleicht nur die erstbeste Möglichkeit vorgeschlagen? Zuzutrauen war es ihr allemal. Ich glaubte nicht daran, dass sie sich engagierte. Warum auch? Was hatte sie schon mit mir zu tun?

Vielleicht hatten sie aber auch keine andere WG gefunden, die mich aufnehmen wollte. Immerhin hatte ich versucht, meinen Vater umzubringen. Und Psychiatrie-Nachbereitung machten sie wohl alle nicht so gern.

„Hey, Verrückter! Abendbrot!“, schrie Sven von draußen.

Ich seufzte leise. Hoffentlich war Ursula nicht wieder da. Sie ging mir jetzt schon auf die Nerven.

Aber meine Hoffnungen wurden enttäuscht. Ursula saß mit am Tisch und wachte mit strengem Blick darüber, dass niemand zu viel Aufschnitt aß. War wie im Gefängnis, irgendwie.

„Benjamin“, sagte sie, „ich wollte noch mal wegen morgen mit dir sprechen. Da sollst du ja wieder zur Schule gehen.“

Ich nickte und goss mir ein wenig von dem schmackhaften Zitronentee ein.

„Ich bringe dich morgen hin. Dann sprechen wir gleich mit deinem neuen Lehrer. Du kannst ja erst einmal schauen, wie es dir dort gefällt.“

Ich sah sie lange an. Und wenn es mir nicht gefiel? Durfte ich dann wieder gehen?

Marco und Sven saßen wie auf heißen Kohlen. Wir hatten später als sieben angefangen zu essen, und die zwei wollten ihren Kinderscheiß nicht verpassen, irgendso einen Animationskram. Ursula war da knallhart: Wenn noch gegessen wurde, blieb der Fernseher aus. – Diese zwei kleinen Jungs sollten gleich lernen, wo es langging. Dabei hatten sie in ihrem Leben sicher auch schon mehr Scheiß ertragen müssen, als für Elfjährige gut war. Sie hatten auf so vieles bisher verzichten müssen – hier ging der Verzicht weiter. Soviel war klar.

„Du sollst echt auf Ginnasium?“, fragte Yvonne erstaunt.

Ich nickte und ignorierte, dass sie das Wort nicht korrekt aussprach.

„Bist du so schlau oder was?“

Komische Frage.

„Das werden wir sehen“, antwortete ich diplomatisch.

„Kommst du nach dem Abendessen in mein Zimmer?“, fragte Niko. Es klang ganz harmlos, und weder Ursula noch Rainer schöpften irgendeinen Verdacht. Doch ich sah, wie die anderen sich heimliche Blicke zuwarfen. Was hatte das nun zu bedeuten?

An diesem Abend hatte Niko Küchendienst. Er maulte nicht darüber, und ich blieb in der Küche, um ihm zu helfen.

Als Rainer gerade nicht in Hörweite war, fragte ich: „Warum soll ich zu dir kommen?“

Er grinste mich an. „Wirst du schon sehen.“

„Jetzt sag’ schon!“

„Nur, wenn du abtrocknest!“

Ich schob mich von der Arbeitsplatte hinunter, auf der ich gesessen hatte.

„Ist übrigens auch verboten.“

„Abtrocknen?“, fragte ich.

Er lachte. „Nein, auf der Arbeitsplatte herumhocken. – Du wirst dich noch an einige Dinge gewöhnen müssen.“

Er warf mir ein Handtuch zu und ich trocknete ab.

„Du hilfst ihm ja schon wieder“, bemerkte Rainer, der an der Küche vorbeiging, um den Müll nach draußen zu tragen.

„Bin halt hilfsbereit“, sagte ich. Und zu Niko: „Also?“

„Wir spielen heute Abend ein Spiel“, flüsterte er.

„Wer ist wir?“

„Na, wir alle zusammen. Ist aber geheim! Davon darf niemand was wissen!“

„Und die anderen wissen auch Bescheid?“, fragte ich.

Er nickte.

Ein Spiel. Na, Niko jedenfalls schien ganz begeistert davon. Ich wollte erst einmal abwarten. Wer wusste schon, was die hier lustig fanden …

Aber mir schien eh, als wollten sie mich auf ihre Gemeinschaft einschwören.

 

Später am Abend weihten sie mich dann tatsächlich in ihr „geheimes Spiel“ ein. Flaschendrehen. – Ich fragte mich, was daran so geheimnisvoll war, doch das wurde mir bald klar.

Wir saßen alle auf dem Boden in Nikos Zimmer, die Flasche in der Mitte des Kreises. Niko spendierte Cola.

Yvonne begann. „Der, auf den die Flasche zeigt, muss Niko einen Kuss geben.“

„Was für einen Kuss?“, fragte das Tier misstrauisch.

„Na, einen richtigen, mit allem drum und dran …“

Sven und Marco schüttelten sich vor Ekel.

Ich fragte mich, ob Yvonne nicht insgeheim hoffte, dass die Flasche auf sie selbst zeigen würde … Aber dazu kam es nicht. Die Flasche blieb mit der Öffnung zu Niko liegen.

„Und nun?“, fragte Marco.

„Knutsch’ ich mich eben selbst!“ Niko stand auf und leckte hingebungsvoll seine Fensterscheibe ab, in der sich sein Gesicht spiegelte.

„Iiihh!“, kreischte Sven.

Yvonne und Denise lachten.

Als Nächstes war Niko dran. „Der, auf den die Flasche zeigt, muss eine ganze Woche lang mein Zimmer aufräumen.“

„Nein, das ist gemein“, protestierte Marco sofort aufgebracht. Doch ein Blick von Niko ließ ihn verstummen.

Aha, dachte ich, so wurden hier die Arbeiten verteilt.

Die Flasche zeigte auf mich. Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern und ließ die Schadenfreude der anderen und Nikos spöttisches Grinsen über mich ergehen. Wenn’s mehr nicht war …

Dann war ich dran. „Der, auf den die Flasche zeigt, muss heute noch das Bad saubermachen, vor allem das Klo!“

„Das Jungsklo?“, fragte Yvonne angeekelt.

Ich nickte.

Dieser super Job fiel auf Sven. Der fing fast an zu heulen.

„Das mache ich nicht! So eine Scheiße!“

„Halt den Mund!“, pflaumte Niko ihn an. „Du kennst die Spielregeln.“

„So eine Scheiße!“, fluchte er wieder weinerlich. Aber er trollte sich.

Niko rief ihm noch ein „ich kontrollier’ das hinterher“ nach.

Wir warteten, bis er wieder da war. Und ich fragte mich, was wohl noch alles passieren würde.

Da wir reihum drehten, war jetzt das Tier dran. „Der, auf den die Flasche jetzt zeigt …“, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, „der muss sich hier vor allen nackt ausziehen!“

Erstaunt sah ich zu Niko rüber, doch der schien nicht überrascht.

Und – wen traf dieses Schicksal? – Natürlich mich! Ich hätte es mir ja denken können. Die Kleinen quiekten vor Vergnügen.

Ich stand langsam auf. Na, wenn das also das Aufnahmeritual sein sollte … Es gab Schlimmeres.

Alle starrten mich erwartungsvoll an, und ich begann, mich auszuziehen.

„Yeah, Peepshow“, kommentierte Denise süffisant.

„Ausziehen, ausziehen“, skandierten Marco und Sven, aber Niko rief sie sofort zur Ruhe. Seine Augen brannten auf meiner nackten Haut. Aber auch Yvonne schaute mich an, als hätte sie noch nie einen nackten Typen gesehen. Und das glaubte ich bei ihr nun überhaupt nicht!

Wenn Rainer oder Ursula jetzt reinkamen – keine Ahnung, was dann passierte … Wahrscheinlich würden sie ausflippen. Vielleicht schmissen sie mich dann sofort wieder raus.

„Grips wie ein Professor, aber einen Körper wie ein kleiner Junge“, sagte Yvonne schließlich, als ich nackt war. Sie tat desinteressiert, sah aber auch nicht weg.

Niko lachte. „Kleiner Junge? Das sehe ich anders … Für 15 ist er doch … gut ausgestattet!“

Das Tier lachte dröhnend.

„Reicht das?“, fragte ich. Meine Wangen brannten, ich war doch rot geworden. Und das ärgerte mich.

„Yo, Benny, zieh dich lieber wieder an. Bevor die Weiber dir noch was weggucken …“

Ich zog mich wieder an.

Yvonne schmollte und warf Niko bedeutungsvolle Blicke zu. Hatten die zwei was miteinander?

„Ich gehe jetzt ins Bett“, verkündete ich, als ich das Shirt wieder an hatte. Die Aktion wurde mir doch etwas unheimlich. Wer wusste schon, wie weit sie hier gehen würden?

Auch Niko stand auf. Er hielt mich am Arm fest. „Kein Wort darüber, klar?“

Ich nickte.

 

In dieser Nacht hatte ich einen Albtraum, der mir so vertraut war wie ein guter Freund. Ich lief endlose Gänge entlang, sie sahen aus wie Krankenhausflure. Ich wusste, dass jemand hinter mir her war. Ich hörte die Schritte meines Verfolgers. Irgendwann würde er mich eingeholt haben. Ich versuchte, schneller zu laufen, wurde aber stattdessen langsamer! Ich stolperte fast über meine eigenen Füße. Dazu kam, dass ich immer schlechter sehen konnte. Ich wusste, er würde mich einholen. Und plötzlich hatte ich den dringenden Wunsch, stehen zu bleiben. Ich wollte gucken, wer mich verfolgte. Aber ich konnte nicht. Die Angst trieb mich weiter. Ich war fast blind, meine Schritte wurden immer langsamer. Und plötzlich fiel ich! So tief. Ich wachte auf, weil das Gefühl des freien Falls so erschreckend war. Ich war nass geschwitzt.

V Schule und mehr … oder weniger

Das Frühstück lief ähnlich ab wie das Abendessen. Es war vielleicht etwas ruhiger, was daran lag, dass alle noch im Halbschlaf waren. Es gab das gleiche Brot, Margarine – aber statt Wurst oder Käse standen Honig und Marmelade von Aldi auf dem Tisch.

Mir war klar, dass ich das höchstens eine Woche aushalten würde.

„Kann ich Kaffee bekommen?“, fragte ich.

Ursula – sie sah morgens noch schlimmer aus als sonst – schüttelte den Kopf.

„Nein, Kaffee erst ab 16!“

„16 Uhr?“, hoffte ich.

„Nein, 16 Jahre natürlich!“

Na toll, das konnte ja heiter werden.

„Und wenn ich ihn mir selbst kaufe?“, schlug ich vor.

„Nein, Benjamin. Kaffee ist nicht gesund. Wir haben hier unsere Grundsätze. – Du kannst Kakao trinken!“

Oder dein Blut, dachte ich wütend.

„Ist Sven noch nicht aufgestanden?“, fragte sie.

Marco zuckte desinteressiert mit den Schultern und schlürfte seinen Kakao.

„Du bist ekelhaft“, stellte Yvonne fest. „Hör mal auf zu schlürfen!“ Sie trug heute einen Rock, der kaum mehr als ein breiter Gürtel war.

„So gehst du nicht in die Schule, Yvonne“, bestimmte Ursula. „Niko, schau mal nach, ob Sven wieder eingeschlafen ist!“

Er zog eine Grimasse, stand dann aber auf und holte den kleinen Sven aus dem Bett.

Yvonne zog sich wütend einen anderen, etwas längeren Rock an. Ich fragte mich, ob sie gestern auch schon soviel Oberweite gehabt hatte.

Sven sah alles andere als ausgeschlafen aus, als er sich an den Tisch setzte.

„So geht das nicht!“, schimpfte Ursula, „Wenn du morgens nicht aus den Federn kommst, musst du abends eben früher ins Bett!“

Sven registrierte das gar nicht richtig.

„Sag’ mal, Benjamin, sind die Ärmel von deinem Pullover nicht etwas zu lang?“, nörgelte Ursula weiter.

Ich sah an mir hinunter. Ich trug meinen schwarzen Lieblingspullover. Der war eng geschnitten, mit extra langen Ärmeln, die meine Hände verdeckten.

„Nö, das muss so“, erklärte ich. Wenn sie mir verbieten wollte, mit diesem Pullover in die Schule zu gehen, würde ich ausrasten. Sie schwieg – ihr Glück!

Es gab Gedrängel im Bad, direkt bevor wir los wollten. Niko war kurz vor einem echten Wutanfall, aber er nahm sich gerade noch einmal zusammen. Beeindruckend, wie sich sein Gesicht veränderte, wenn er sauer war.

Ursula schob mich vor sich her zu ihrem Wagen, einem Passat Kombi.

„Normalerweise fährst du auch mit dem Bus“, erklärte sie, „Aber heute machen wir mal eine Ausnahme.“

Ich überlegte, ob ich nicht lieber heute schon mit dem Bus fahren sollte. Die alte Schreckse mit in die Schule zu nehmen war echt peinlich! Aber ich hatte wohl keine andere Wahl. Und so ergab ich mich meinem Schicksal.

Die Schule war ein riesiger grauer Kasten, fünfhundert Schüler. Lange kalte Gänge, ich erschauderte. Diese Gänge würden mich wohl mein Leben lang erschrecken. Ursula begleitete mich ins Sekretariat. Ich sah mich um und fühlte mich unwohl. Das alles zerrte an meinen Nerven. Mir war schlecht. Ich wollte nicht mehr in die Klasse! Ich wollte … verschwinden. Am besten für immer.

Mit versteinertem Gesicht begrüßte ich meinen neuen Klassenlehrer, Herrn Kornung. Ich hörte, wie Ursula ihm meine Problematik schilderte, als wäre ich gar nicht anwesend. Und irgendwie war ich das auch nicht. Dass ich versucht hatte, meinen Vater zu killen, das verschwieg sie allerdings.

„Ja, es wird wohl kein Problem sein, dich in die Klasse einzugliedern, Benjamin“, sagte Herr Kornung. „Deine neuen Mitschüler sind alle sehr nett!“

„Sagen Sie bitte Ben zu mir oder Benny“, bat ich ihn. „Benjamin ist der Horror für mich.“

Er nickte. „Gut, dann Ben.“

„Morgen kannst du dann schon mit dem Bus fahren“, sagte Ursula erneut. Hielt die mich eigentlich für doof? Oder dachte sie, ich litte an jugendlichem Alzheimer?

„Vielleicht fährt Niko mal mit deiner Linie – dann kann er dir alles zeigen.“

Ja, glaube sie denn, ich könnte nicht mit dem Bus fahren?

Ich schlich hinter Herrn Kornung her Richtung Klassenraum und fühlte mich, als ginge ich zu meiner eigenen Hinrichtung.

„Warst du denn schon mal auf einer Schule für Hochbegabte?“ fragte Kornung.

„Nein, nur in der Klapse“, antwortete ich müde.

Er lächelte etwas irritiert. „Es wird sicher leicht für dich, den Anschluss zu finden. Mach’ dir keine Sorgen.“

Sorgen? Ich starb gerade vor Angst!

Kornung öffnete die Klassentür und blieb mit mir zusammen vor der Klasse stehen.

„Das ist Ben, euer neuer Mitschüler. Ich denke, ihr werdet euch gut verstehen.“

Die Augenpaare, die mich musterten, waren feindselig. Zumindest bildete ich mir das ein. Wahrscheinlich war das nicht so – aber ich fühlte mich wie ein Kriegsgefangener. Sie würden mich foltern, um Geständnisse aus mir herauszupressen …

Ich sollte mich zu einem Jungen an den Tisch setzen, der aussah wie Harry Potter. Er hieß Thomas und war sicher der Klassenstreber. Und ausgerechnet an den sollte ich mich halten! Ich trug’s mit Fassung. Zumindest würde Thomas/ Harry mir nicht gefährlich werden. Bei den anderen war ich mir noch nicht so sicher.