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Das Sachbuch zur Fußball-EM der Frauen 2022 in England: Martina Keller schreibt über ihr Leben als Fußball-Verrückte aus dem Blickwinkel einer aktiven Fußball-Spielerin, die kein Spiel ihres Lieblingsvereins Borussia Dortmund verpasst. Ein Buch nicht nur für Frauen, sondern für alle, die diesen Sport lieben! Als kleines Mädchen, mit sechs Jahren, nach der Fußball-WM in England, fing es an - und heute ist sie sechzig und spielt immer noch: bei Union 03, Bezirksliga Hamburg West. Mittlerweile könnten ihre Mitspielerinnen ihre Enkelinnen sein. Kurz: Fußball ist eine Droge für sie. Für ein Champions-League-Finale lässt sie den 50. Geburtstag ihrer Freundin sausen. Und im Urlaub auf Chios setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung, nur um eine Fußball-Kneipe zu finden, wo sie ihrer geliebten Borussia Dortmund die Daumen drücken kann. Seit einigen Jahren schreibt die Medizin- und Wissenschaftsjournalistin sogar Fußball-Reportagen, zum Beispiel über Bibiana Steinhaus. Kurz: Fußball ist das Leben von Martina Keller. In ihrem persönlichen Bekenntnis erzählt sie die Geschichte dieser großen Liebe, die ja immer auch etwas Verrücktes, Irrationales, manchmal vielleicht Ungesundes hat. Aber Fußball war immer mehr als nur ein Sport für sie. Fußball war zugleich auch ein Akt der Emanzipation: Als Mädchen tun, was Jungs tun, mit Körpereinsatz spielen, sich behaupten, Räume erobern. Kein aseptischer Sport wie Volleyball, der den Mädchen der Baby-Boomer-Generation viel selbstverständlicher zugestanden wurde. So ist ihre Bekenntnis auch eine Zeitreise über das wachsende Selbstbewusstsein von Frauen diesseits und jenseits des grünen Rasens. Vor allem anderen aber ist es eine Liebeserklärung an den Fußball, wie ihn alle mögen - voller Leidenschaft und Hingabe, wie es die Leser*innen von Axel Hacke, Christoph Biermann und Frank Goosen schätzen!
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2022
Martina Keller
Bekenntnisse einer Fußballverrückten
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
»Als ich 1966 mein erstes Fußballspiel im Fernsehen sah, verliebte ich mich in diesen Sport«, bekennt Martina Keller. Damals begann sie, dem Ball nachzujagen. Das tut sie noch heute, und wenn sie nicht auf dem Platz steht, fiebert sie mit den Dortmunder Borussen. Mittlerweile schreibt die Journalistin auch über das Spiel, das die Welt bewegt. Jetzt erzählt sie die Geschichte dieser großen Liebe, die ja immer auch etwas Verrücktes, Irrationales, manchmal vielleicht Ungesundes hat. Im Rückblick ist Fußball mehr als nur ein Sport für sie: Als Mädchen lernte sie, was damals nur Jungs lernten: mit Körpereinsatz spielen, den eigenen Platz behaupten, Räume erobern. So ist diese Liebeserklärung an den Fußball zugleich eine Zeitreise und eine Emanzipationsgeschichte.
Widmung
1 Fußball, meine Rettung
2 Herr Thoelke und das Fräulein Emig
3 Frauenteam Husum18
4 Tangofieber und Fußballpause
5 Chefin auf dem Platz
6 Spielfeldrand
7 Heimspiel
8 Comeback
9 Fußballwahnsinn
10 Heile Fußballwelt
11 Nachspiel
Dank
Für Leo
»Ich soll auf meine Waden achten?«
Ich klettere die blaue Holzleiter vom Dach herunter. Wir haben da oben im Schatten der Mauer ein bisschen gedöst, jetzt am Nachmittag werden die Temperaturen langsam erträglicher. Zeit zum Baden. Ich stecke Bücher in den Rucksack, Leo nimmt die Badesachen und eine Plastikflasche, die wir am Dorfbrunnen mit Wasser füllen wollen, badewasserwarm, aber lecker.
Es ist unser zweiter Urlaubstag auf der griechischen Insel Chios, die man in Deutschland vor allem wegen ihres Flüchtlingslagers kennt. Jetzt lockt unser Lieblingsstrand. Allerdings, ich überlege noch, ob ich den Nachmittag nicht doch lieber in der Dorfkneipe verbringen sollte. Heute ist der letzte Spieltag der Fußballbundesliga. Der Abstiegskampf diese Saison ist ein Drama. Vielleicht könnte ich das Spiel Werder gegen Köln im Kato Porta sehen … Letztes Jahr hatte Niko, der Besitzer, ein Bezahl-Abo für Sportsendungen.
Ich deute den Gedanken mit der Kneipe an. Nicht dein Ernst, oder? Leo schüttelt den Kopf. Halb fünf Uhr griechischer Zeit, wenn sie in Deutschland anstoßen, ist die ideale Zeit zum Baden. Vorher grillen nur Touristen in der Sonne. Wir sind zwar auch welche, aber doch nicht solche. Eigentlich fühlen wir uns sogar als Limbousii, so nennen sich die Bewohner unseres Dorfs Olymbi. Leo besitzt hier seit gut einem Vierteljahrhundert ein uraltes Haus mit mächtigen Gewölben und sieben Meter hohen Wänden. Mancher Türsturz allerdings ist so niedrig, dass selbst ich mit meinen 1,71 mir schon den Kopf gestoßen habe. Die Wände sind meterdick, vermutlich für die Ewigkeit gebaut. Als Leo und seine damalige griechische Freundin das Haus 1994 kauften, durften sie ein paar Tage zur Probe wohnen. In einer der Nächte bebte die Erde. Der Kleiderschrank habe gewackelt, erzählte Leo. Sonst nichts.
16.30 Uhr, Anstoß. Wir laufen zum Parkplatz am Dorfausgang, wo uns mit heiserem Schrei der Esel von Maria-Parkplatz begrüßt. Die kleine freundliche Frau, die meist Watte in den Ohren hat und ihre Brüste stets keck nach vorne streckt, heißt bei uns so, um sie von unserer liebsten Freundin Maria Koumaki und unserer Bekannten Maria-Koutsombolio, was so viel heißt wie Klatsch, und den geschätzt zwanzig weiteren Marias im Dorf zu unterscheiden. Leo startet den kleinen weißen Mietwagen und rollt in Richtung des Hauses, in dem Maria, ihr Mann und ihr Bruder wohnen. Hier am Dorfausgang, wo auch die Müllcontainer von Olymbi stehen, leben nur die Ärmeren. Marias Häuschen ist eine ehemalige Garage, von der Familie im Laufe der Jahre liebevoll aufgeputzt, mit einem kleinen Gärtchen und sogar mit einem Kiesweg drum herum, zu dem wir mit mehreren Eimern Kieseln von unserem Lieblingsstrand beigetragen haben.
Maria sitzt mit ihrem Mann auf der Veranda und winkt. Pou pate – wohin geht ihr?, fragt sie und versteht unsere Antwort wie üblich erst im dritten Anlauf. Sie ist womöglich noch schwerhöriger als im vergangenen Jahr, obwohl sie neuerdings manchmal ein Hörgerät trägt. Ihr Mann plagt sich mit Diabetes und einem Leberschaden, sein Lebensraum ist schon seit Langem auf Veranda, Wohnzimmer und Bett geschrumpft. Allerdings sieht er besser aus als im vorigen Jahr. Sein Gesicht, verwittert wie die Berge von Chios, wirkt nicht mehr gelblich, sondern leicht gebräunt.
Unser Mietauto rollt durch den Flickenteppich von Gemüsegärten, die unser Dorf umgeben. Jede Familie hat hier ein Stückchen Land, wo Tomaten, Gurken, Auberginen, Paprika angebaut werden. Wie immer halte ich Ausschau, ob sich vielleicht eine Schlange über den von Anisstängeln gesäumten schmalen Weg windet, was mich vom Auto aus mit einem wohligen Schauder erfüllt, besonders seit ich weiß, dass ein ganz kleines Exemplar den riesigen Hund unserer Nachbarin Eleni vor Jahren binnen Minuten zur Strecke brachte. Glücklicherweise ist von den vielen Arten auf Chios nur eine einzige giftig.
Da sich keine Schlange blicken lässt, wenden sich meine Gedanken wieder den wirklich wichtigen Dingen zu. »Jetzt kämpft mein Werder schon seit acht Minuten gegen den Abstieg«, sage ich zu Leo. Der wundert sich. »Wieso dein Werder? Du bist doch Dortmund-Fan.« Stimmt. Aber ich habe auch große Sympathie für Werder. Mich rührt die Treue zum jungen Trainer Florian Kohfeldt, obwohl der mit seinem Team bis zu diesem letzten Spieltag der Saison 2019/20 nur ein einziges Heimspiel gewonnen hat. Außerdem ist Werder was für Fußballromantiker, das halbe Management besteht aus ehemaligen Spielern.
Unauffällig schaue ich auf mein Smartphone, ob ich vielleicht erste Nachrichten vom Spiel bei kicker.de empfangen kann, aber das Mobilnetz auf Chios ist lückenhaft. Schon auf dem Weg zum Nachbardorf Mesta, wo ein Abzweig links zum Strand hinunterführt, habe ich keinen Empfang mehr. Also ergebe ich mich in mein Schicksal: Werder kämpft ums Überleben – und ich gehe baden. Vermutlich ist es das Vernünftigste. Ich male mir den Frust aus, wenn Werder es nicht schafft und ich schwitzend in der Kneipe ausgeharrt habe, statt im Mittelmeer zu schwimmen.
Die Ausgangslage ist wirklich verzweifelt, ich habe alle Eventualitäten durchdacht. Nur wenn Fortuna Düsseldorf bei Union Berlin Punkte lässt, hat Werder überhaupt noch eine Chance auf die Relegation – die beiden Entscheidungsspiele um den Klassenerhalt. Bei einer Düsseldorfer Niederlage reicht ein Sieg gegen den 1. FC Köln. Bei einem Unentschieden müsste Bremen die Kölner schon mit vier Toren Unterschied abfertigen. Das ist nach dem bisherigen Saisonverlauf ungefähr so wahrscheinlich wie ein Sturzregen aus dem makellos blauen Himmel über Chios an diesem heißen Junitag.
Aber es ist Fußball. Da geschehen solche Wunder. Dafür liebe ich diesen Sport, schon fast mein ganzes Leben lang.
Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, wo es nie besonders schön war, die Zechen, die Stahlindustrie … Heute ist das fast alles Geschichte, aber in meinen Kindertagen war der Himmel über dem Revier wirklich noch ziemlich grau. Ich erinnere mich an das Fernsehspiel Smog, 1973 im WDR ausgestrahlt, ich war dreizehn. Düstere, vernebelte Bilder, Schmiere auf Autoscheiben, torkelnde, um Luft ringende Fußgänger. Im Film löst die Landesregierung Smogalarm aus, kurzzeitig steht das Leben still – Lockdown würde man heute sagen. Die Zuschauer damals hielten das Szenario für so realistisch, dass sie besorgt beim Sender anriefen.
Mir blieb eine Szene im Kopf: Ein Fußballer bricht mitten im Spiel vor Tausenden von Fans zusammen und wird vom Platz getragen. Das Spiel geht dann weiter. Fußball oder Leben? Mancher Fan im Revier würde sich wohl für den Fußball entscheiden. Der gehört hier zum Kulturgut. Nirgendwo in Deutschland ist die Dichte an Traditionsklubs höher als im Ruhrgebiet: Borussia Dortmund, Schalke 04, VfL Bochum, MSV Duisburg, Rot-Weiß Oberhausen, Rot-Weiß Essen … Alle nur wenige Kilometer voneinander entfernt, aber große Rivalen. Wenn mein BVB gegen Schalke spielt, sind mehrere Hundertschaften Polizei im Einsatz.
Meine Familie kommt aus Bochum. Im Stadtteil Laer bauten meine Eltern Ende der 1950er-Jahre ein Mietshaus für vier Parteien, mit Koksheizung im Keller und vorausschauend auch schon mit einer Autogarage. Das Haus wurde auf dem Grundstück meines Opas errichtet, wo vorher ein Fachwerkhaus mit Plumpsklo im Garten stand. Es war die Wirtschaftswunderzeit. Mein Vater war Inspektor beim Finanzamt und hielt die Handwerker mit reichlich Bier und Schnaps bei Laune. Meine schwangere Mutter kämpfte mit ihrer Übelkeit und hatte schlaflose Nächte, weil sie nicht wusste, wie das alles zu bezahlen sei.
Kurz nach meiner Geburt im Februar 1960 zog die Familie in das neue Heim am Werner Hellweg. Nachbarn zwei Häuser weiter hielten Schweine und Hühner. Gegenüber war ein Milchladen, nicht weit davon ein Kaufmann und ein Büdchen, das ich liebte, weil es da rote Zuckererdbeeren, Salinos und Gummischlangen gab. Vorm Haus fuhr eine Straßenbahn. Die Haltestelle Dannenbaum war nach einer früheren Zeche benannt. Auf dem Gelände lief dann 1962 der erste Opel Kadett vom Band. Inzwischen ist dort ein DHL-Paketzentrum. Außerdem gab es noch ein altes Rittergut, auf dem man heute Hochzeiten mit Ritterrüstungsdekor feiern kann. Und natürlich den Laer’schen FC1906. Dessen Platz an der Havkenscheider Straße wurde mein zweites Zuhause.
Dass ich mich mit knapp sechs in den Fußball verliebte, war einigermaßen unwahrscheinlich, weil es Frauen- und Mädchenfußball zu der Zeit noch gar nicht gab. In der Vereinschronik des Laer’schen FC tauchen Mädchen sogar erst 2012 auf. Aber es ist passiert.
Ostern 1966 kam ich in die erste Klasse der katholischen Grundschule in Bochum-Laer. Den Schulweg schaffte ich alleine, meine Mutter hatte ihn mit mir ein paarmal geübt. In der Schule allerdings fühlte ich mich verloren, lief in jeder großen Pause unserer Klassenlehrerin Fräulein Benning hinterher. Sogar bis ins Lehrerzimmer. Dann entdeckte ich, dass ein paar Jungs während der Pause mit einem Tennisball kickten. Von da an war ich beschäftigt, mit Zugucken. Die Lehrerin verwarf den Gedanken, mich wegen fehlender Schulreife ein Jahr zurückstellen zu lassen.
Wenige Wochen später war es vollends um mich geschehen. Ich sah mein erstes richtiges Fußballspiel, das Weltmeisterschaftsfinale England gegen Deutschland in Wembley, zusammen mit meinen Eltern im Wohnzimmer. Der Schwarz-Weiß-Fernseher war die erste große technische Errungenschaft unserer Familie. Die zweite war ein blauer Ford Taunus für meinen Vater. Die dritte eine Waschmaschine für meine Mutter. Nach der Niederlage mussten meine aufgewühlten Eltern erst mal an die Luft. Ich an ihrer Hand hatte nur einen Gedanken: »Wir sind Vizeweltmeister.« An Bilder erinnere ich mich nicht, nur an dieses überwältigende Gefühl.
Die ikonischen Aufnahmen vom Spiel habe ich erst viel später entdeckt: Wie Torwart Hans Tilkowski, waagerecht in der Luft liegend, sich nach hinten wendet, um den Schuss von Geoff Hurst zu verfolgen, der von der Unterkante der Latte zurückprallt. Wie drei deutsche Spieler den Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst bestürmen, der auf Tor erkennt, weil sein russischer Linienrichter es so signalisiert hat. Später gab der Linienrichter zu, den Ball gar nicht hinter der Linie gesehen zu haben. Er vermutete ihn nur dort, weil Hurst gleich jubelte. Und dann Uwe Seeler, der nach der Niederlage vom Rasen schleicht, flankiert von einem Tubabläser, einem Offiziellen, einem Sicherheitsmann. Den Kopf so tief auf der Brust, dass man fürchten muss, er fällt ihm gleich runter.
Ich erinnere die Vorfreude auf die nächste Weltmeisterschaft, vier Jahre später in Mexiko. Ich wäre dann zehn, rechnete ich aus, also unglaublich viel älter. Ich würde sehr viele Spiele sehen dürfen.
Zur Einstimmung kaufte ich mir vor dem Turnier von meinem Taschengeld ein Buch im Leineneinband über die WM-Teilnehmer, mit Fotos der roten Teufel aus Belgien und vom Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras. Dann eine Enttäuschung, die ich noch heute spüre: Ich durfte das Halbfinale gegen Italien nicht sehen. Ein Jahrhundertspiel, sagt man heute. Übertragen wurde ab 23 Uhr. Meine Eltern fanden das zu spät und schickten mich ins Bett.
Seit Wembley spiele ich. Auf dem Schulflur. Im Hof. Im Park. Es brauchte nur einen Ball und ein paar Jungs, die mich mitmachen ließen. Ich kickte auch allein im Garten. Ball hochhalten, gegen die Garagenwand pöhlen, stundenlang. Mein späterer Schwager Friedel, Freund meiner elf Jahre älteren Schwester Gabi, musste ständig ran. Wir spielten zwischen Teppichstangen, auf kleine Tore. Es habe ihm Spaß gemacht, mit mir zu kicken, sagt er heute, mit fünfundsiebzig. Weil ich so »gallig« auf den Ball war. Oft hatte ich ihn am Rand der Niederlage. Dachte ich jedenfalls. Als er mir kürzlich gestand, er habe mich extra rankommen lassen, war ich enttäuscht.
Ich bildete Teams, mit den Mädchen und vereinzelten Jungs aus der Nachbarschaft. Wir spielten im benachbarten Garagenhof. Nicht immer waren wir willkommen. Wenn der Ball zu oft gegen die Garagentore schepperte, jagten Anwohner uns davon. In unserem Garten verschwand der Ball zwischen allerlei Zierbüschen auf sorgfältig geharkten Beeten. Oder flog in die Blüten der beiden Kirschbäume. Immer mal wieder landete er auch im Garten unseres anderen Nachbarn, wo der furchterregende Barry wachte, wohl eine Mischung aus ungarischem Hirten- und deutschem Schäferhund. Einmal ruinierte ich das Rosenbeet meines Vaters, was der mit einem Tag Fußballverbot ahndete – Höchststrafe.
Es war die Zeit der Sommerferien. Andere Eltern fuhren mit ihren Kindern an die Nordsee. Meine blieben wie fast immer in Bochum. Mir war das nur recht. Ich verbrachte jeden Nachmittag beim Laer’schen FC. Dort spielten große Jungs quer über den Platz. Ich stand so lange sehnsüchtig am Rand, bis sie mich mitmachen ließen. In kurzer Turnhose, Turnhemd und blauen Baumwollturnschuhen gab ich alles. Nur ein einziger der großen Jungs fragte mich mal nach meinem Namen. Die anderen nannten mich »das Mädchen«. An dem Tag, als mein Vater mir das Kicken verbot, ging ich trotzdem zum Platz, zum Zuschauen, voller Sehnsucht. Den Schmerz kann ich noch spüren.
16.50 Uhr griechischer Zeit. Zwanzig Minuten gespielt zwischen Werder und Köln. Das Meer am Strand von Apothika sieht spiegelglatt aus. Ladi, sagen die Griechen, Öl. Leo bohrt den Stiel unseres Sonnenschirms in den Kieselstrand. Der Schirm ist jetzt ein Vierteljahrhundert alt. Einige Metallrippen staksen wie Stricknadeln in die Luft. Wir stecken die verblichenen gelben, roten und grünen Baumwolldreiecke wieder fest. Das hält nicht lange, aber ich liebe diese Ruine. Die neuen Schirme sind alle aus Kunststoff. Hinter uns ragt ein steiler Hang aus rötlichem Gestein empor, rechts und links sanfte Hügel. Unverändert all die Jahre. Nur ein großer Felsbrocken ist durch die letzten Winterstürme ins Rutschen geraten und steht jetzt am Strand wie ein Sockel ohne Statue.
Leo läuft gleich ins Wasser. Ich suche im spärlichen Schatten unseres Schirms ein bisschen Schutz. Und schaue aufs Smartphone. Natürlich kein Empfang. Dann bade ich auch. Ein unterirdischer Frischwasserzufluss sorgt für Kühle. Ich treibe auf dem Rücken, sehe zwei Griechinnen mit weißen Hündchen an der Leine vorbeispazieren. Am Wochenende sind wir an unserem Lieblingsstrand nicht mehr allein. Aber erst im August, wenn die Auslandsgriechen und Chioten vom Festland ihre Heimatinsel besuchen, liegen die Körper hier dicht an dicht. Sardeles nennen die Einheimischen den Anblick.
Ich werfe verstohlen einen Blick aufs Smartphone. 17.10 Uhr. Gleich Halbzeit. Leo hat’s bemerkt. »Willst du los?«, fragt er, kein Vorwurf in der Stimme. Mein Freund ist meist sehr nachsichtig mit mir. Wenn wir uns beeilen, kann ich bei Niko noch die zweite Halbzeit sehen. Während der Fahrt vom Strand zurück checke ich mindestens sechsmal, ob mein Smartphone wieder Empfang hat. Kurz vor Olymbi ist es so weit, und ich fasse es nicht: Werder führt 3:0 gegen Köln, Düsseldorf liegt bei Union Berlin 0:1 zurück. Bei diesem Stand ist Werder in der Relegation! Sie wären dann Drittletzter der ersten Liga und würden gegen den Drittbesten der zweiten Liga antreten. Der Gewinner aus Hin- und Rückspiel ist die darauffolgende Saison erstklassig.
Leo biegt in die enge Gasse um die Stadtmauer von Olymbi ein, durch die Dorfbewohner sogar Pick-ups steuern. Bei Niko springe ich raus, frage nach, ob er für mich das Spiel zeigt. Große Enttäuschung! Er hat sein Sport-Abo wegen Corona vorübergehend gekündigt. Aber ich habe einen Plan B. Bei Niko gibt es WLAN, ich springe also wieder ins Auto, Leo lässt mich in der Nähe von unserem Haus raus, ich hole schnell meinen Laptop und renne zurück.
Im Kato Porta wähle ich mich auf der dubiosen russischen Seite ein, über die man auch ohne zu zahlen internationale Fußballspiele verfolgen kann, probiere einen Kanal nach dem anderen und habe endlich ein Bild mit russischem Kommentar. Es steht jetzt 5:0 für Werder, und mein Smartphone meldet, dass Union auf 2:0 erhöht hat. Das Wunder von der Weser!
Die Sache ist gelaufen, ich könnte meinen Laptop zusammenklappen und gehen. Aber wenn ich schon alle Tore verpasst habe, will ich doch Werders Triumph wenigsten bis zur letzten Minute auskosten. Glücklich schaue ich auf ruckelnde Bilder, erlebe das 6:1 immerhin live. Als ich gegen halb sieben die Tür zu unserem Haus öffne, hat Leo schon das Essen vorbereitet.
In Kindertagen war mein Lieblingsklub der VfL Bochum, das liegt ja nahe. Mein Vater hatte mich 1967 zum ersten Mal mit »anne Castroper« genommen, wie das Stadion an der Castroper Straße bei den Bochumern zu der Zeit hieß. Damals waren die Stadien noch nicht nach dem jeweiligen Klub-Sponsor benannt. Ich glaube, es war eine Partie gegen Fortuna Köln. Ich war sieben und erinnere das Gedränge vorm Kassenhäuschen, die bröckeligen Betonkanten der Stehplätze in der Kurve und wie mein Vater mich hochhob, damit ich besser sehen konnte. Wenn der VfL fast ins Tor traf, ging ein Raunen durch die Menge. Das verursachte mir ein angenehmes Kribbeln im Magen.
Mein Vater war kein großer Fußballfan, aber mir zuliebe besorgte er Autogramme, zum Beispiel von Hans Walitza, dem Torjäger des VfL. Vom beinharten Abwehrspieler Erwin Galeski, von Linksaußen »Rakete« Eggeling. Als das Team 1971 in die Bundesliga aufstieg, hing ich am Radio. Die Bundesligakonferenz am Samstag im WDR-Hörfunk wurde meine Lieblingssendung. Anschließend stritt ich mit meinem Vater, der Raumschiff Enterprise statt der ARD-Sportschau sehen wollte. Wie gesagt, er war kein echter Fan. Meine Eltern entschärften später den Konflikt, indem sie mir einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher schenkten, mit orangem Gehäuse.
Eine Kollegin wollte kürzlich mal wissen, wer damals meine weiblichen Vorbilder gewesen seien. Ich hatte keine. Fand Breitners Flankenläufe toll, die weiten Pässe von Netzer, Beckenbauers elegantes Spiel mit dem Außenrist. Frauenfußball war ja seit 1955 verboten. Und es dauerte, bis die alten Herren im Deutschen Fußball-Bund endlich ein Einsehen hatten. Der erste Mensch hatte bereits seinen Fuß auf den Mond gesetzt, als sie Frauen 1970 das Kicken im Verein erlaubten. »Damen als Vorspeise zur Bundesliga«, titelte die Bild-Zeitung. Allerdings durften Frauen nur zweimal dreißig Minuten ran, keine Stollenschuhe tragen, mussten im Winter ein halbes Jahr pausieren. In Bochum meldete der TuS Harpen ein Frauenteam, aber im fünf Kilometer entfernten Laer bekam ich davon nichts mit. Im Fernsehen, überhaupt in den Medien, fand Frauenfußball nicht statt. Wo sollte ich da weibliche Vorbilder hernehmen? Ich kannte kein einziges anderes Mädchen, das es mit dem Fußball ernst meinte, so wie ich.
1972 besuchten meine Eltern mit mir meine Schwester Monika in Kiel, sie ist 15 Jahre älter, heiratete, als ich sechs war. Sie und ihr Mann Jürgen waren leidenschaftliche Segler, also machten wir an Bord der Mona einen Ausflug über die Ostsee nach Maasholm, ein Örtchen an der Schlei-Mündung. Es war das Jahr der Fußballeuropameisterschaft, in der Hafenkneipe zeigten sie abends ein Spiel des deutschen Teams. Ich kannte jeden Spieler beim Namen und kommentierte eifrig. Die Kneipenbesucher waren amüsiert, mein Vater ein bisschen stolz, und ich träumte mich auf den Platz: Im richtigen Moment am richtigen Ort stehen, den Ball rein machen, Nationalspieler sein! Im Männerteam natürlich, ein Frauenteam gab es ja noch nicht.
Vorerst kam ich in die Klassenmannschaft. Ich besuchte ein Bochumer Gymnasium, mit Latein als erster Fremdsprache. »Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben«, sagte unser Latein- und Klassenlehrer, wenn einer der Fußballer mal wieder seine Vokabeln nicht konnte. Den elfjährigen Hartmut, der den Ball 36-mal jonglieren konnte, brachte er zum Weinen. Der Lateinlehrer war klein, fast quadratisch, hatte eine auffällige Narbe am Jochbein. Ein Weltkriegsteilnehmer, seine Hände zitterten, wenn er nach Klassenarbeiten die Hefte verteilte. Seine Kriegserlebnisse hatten ihn aber nicht milde gestimmt. »Willst du ein schlechter Mensch werden?«, fragte er, wenn einer beim Übersetzen versagte. Der Schuldige musste dann aufstehen, der Lehrer scherzte auf seine Kosten, die Klasse lachte. Mancher hatte von diesen Demütigungen noch Jahre später Albträume.
Ich hatte von dem Mann nichts zu befürchten, jedenfalls nicht, was die Noten angeht. Mit mir hatte er ein anderes Problem. Seit ich sieben war, litt ich unter Ängsten. Meine Welt war ins Wanken geraten, als der Rektor der Grundschule im dritten Schuljahr erzählte, in Millionen von Jahren würde die Erde in die Sonne rasen und alles Leben wäre zu Ende. Millionen von Jahren sind eigentlich beruhigend weit weg, aber nicht für mich damals. Weinend lief ich aus dem Unterricht fort und nach Hause und fragte meine Mutter, ob es einen lieben Gott gebe. Der schien mir der drohenden Katastrophe als Einziger gewachsen. Wahrheitsgemäß antwortete sie, sie wisse es nicht so genau.
Dieses Erlebnis war sicherlich nur Auslöser, aber seit jenem Tag geriet mein Kinderleben aus den Fugen. Abends wagte ich nicht einzuschlafen, weil ich vielleicht das Atmen vergessen könnte. Ich hatte Angst zu essen, weil ich fürchtete, ich könnte mich verschlucken und ersticken. Ich hielt es für möglich, dass meine Adern platzten und ich verblutete. Oder dass ich an Krebs erkrankte. Oder dass die Lebensmittel im Supermarkt vergiftet wären. Ich entwickelte eine Phobie gegen Turnhallen, Schwimmhallen und Brücken. Ich versuchte, meinen Atem zu kontrollieren, was aber nur dazu führte, dass ich hyperventilierte. Der Lateinlehrer, dessen Nerven im Krieg wohl gelitten hatten, ertrug es nicht, wenn ich vor ihm in der Bank mit den Schultern ruderte, nach Luft rang, mir der Schnodder aus der Nase lief. Einmal stauchte er mich so zusammen, dass ich vor lauter Schreck die Angst vergaß. Das hielt nur leider nicht vor.
Den anderen Kindern blieb nicht verborgen, dass mit mir was nicht stimmte. Der kleine Joey, der in vielen Fächern auf vier oder fünf stand und früh die Schule verlassen musste, rief in den Pausen »Keller, die arme Irre!« durch die Klasse.
Ich selbst hielt es durchaus für möglich, dass ich verrückt würde, auch wenn ich nicht genau wusste, was das bedeutet. Ich konnte mir auch vorstellen, dass ich mich nur träumte. Manchmal redete ich zu jemandem und sah mir dabei wie aus großer Ferne zu. Bin das ich oder was ist das, was da spricht? Jede Selbstverständlichkeit war mir abhandengekommen. Wenn Panik mich mal wieder zu überwältigen drohte, sagte ich stur vor mich hin: »Zwei und zwei sind vier, zwei und zwei sind vier …«, um mich zu vergewissern, dass mein Kopf funktionierte, dass die Welt noch ihre Ordnung hatte. Der Lateinlehrer riet meinen Eltern, mich von der Schule zu nehmen. Aber ich war eine sehr gute Schülerin, trotz allem. Deswegen durfte ich bleiben.
Es gab auch eine Welt, in der ich jede Beklemmung vergaß. Jeden Montag und jeden Donnerstag versank ich im Kicker. Jede Schulstunde zeichnete ich Fußballer vor mich hin. Jeder Sportschau fieberte ich entgegen. Und dann diese Aufregung bei Liveübertragungen im Fernsehen! Ich erinnere noch das Pokalendspiel 1973, zwischen Mönchengladbach und Köln. Unentschieden nach 90 Minuten. Dann kommt Netzer, wechselt sich selbst ein. Donnert den Ball mit seiner ersten Aktion links oben ins Netz. Seine beiden Luftsprünge danach! Fußball – das waren große Gefühle, aber nie eine wirkliche Katastrophe. Eine Niederlage ist ja nicht existenziell. Das war damals wichtig für mich. Einmal allerdings versagte der Zauber: Ich war zum Training mit der Klassenmannschaft verabredet. Unser üblicher Platz an der Bochumer Krümmede war jedoch mit Polizeisportlern belegt, die Jungs zogen einen Kilometer weiter, zum Lohring. Dazwischen eine riesige Eisenbahnbrücke. Ich kam nicht rüber und blieb weinend zurück.
Meine Eltern waren ratlos. Sie wussten nicht, was mit mir los war, und auch nicht, wie sie mir helfen könnten. Sie baten um ein Gespräch beim Schulpsychologen. Aber der war offenbar überlastet. Es gab auf Jahre hinaus keinen Termin. Sie brachten mich zu einem Psychiater. Der verordnete mir Valium zur Beruhigung, ein Mittel, von dem man schnell abhängig werden kann, meine Mutter nahm das auch, denn sie brauchte ebenfalls Hilfe. Weil sie mittlerweile erfahren hatte, dass mein Vater schon seit Jahren eine Geliebte hatte, im Alter meiner Schwester Gabi. Übrigens auch eine Kollegin von Gabi beim Finanzamt. Ich schluckte eine einzige Valium-Tablette. Dann sagte ich, ich würde davon duselig im Kopf. Und weigerte mich, mehr zu nehmen. Der Psychiater wollte ausschließen, dass es etwas Organisches bei mir wäre. Meine Hirnströme sollten gemessen werden. Als er aber meinen Kopf verkabelte, geriet ich in Panik. Meine Aufregung war so groß, dass sich das Elektroenzephalogramm, wie das im Medizinerjargon heißt, nicht auswerten ließ.
Meine Eltern blieben letztlich mit ihrem verstörten Kind allein. Meine Mutter saß abends an meinem Bett, wenn ich mal wieder Angst hatte einzuschlafen. In den Ferien fuhr sie mit mir in das Soleheilbad Bad Rothenfelde am Rande des Teutoburger Walds, damit ich vielleicht aufhören würde zu hyperventilieren. Mein Vater verbrachte seine Urlaube anderweitig. Im Alltag war er aber für mich da. Brachte mich zur Schule und holte mich wieder ab, wenn mich Straßenbahnfahren überforderte. Hatte ich einen schlechten Tag, kam er in der großen Pause zum Schulhof, damit ich bis zum Ende der Unterrichtsstunden durchhielt. Er strich die Wände in meinem Kinderzimmer grün, weil die Farbe Grün beruhigend wirken sollte. Ich bekam auch einen kleinen Dackel, Ede, auf Anraten des Psychiaters. Zudem ließen meine Eltern mir die Mandeln rausnehmen, weil sie dachten, meine vielen Halsentzündungen könnten mit meiner desolaten Verfassung zu tun haben.
Ich selbst versuchte, meine Ängste wegzutrainieren. Gegen die Höhenangst kletterte ich aufs Garagendach und sprang wieder runter. Noch mal rauf, noch mal runter. Und noch mal. Ich versuchte über Brücken zu gehen, an der Hand meines Vaters. Ich ging allein einkaufen. Das war eine Mutprobe, obwohl der Edeka-Laden nur sieben Minuten entfernt lag. Ebenso wie Pommes essen mit meinem Vater in einem stickigen Imbiss, unter den Augen fremder Menschen. Stolz zeichnete ich die Szene mit mir auf dem Hocker in mein Tagebuch. Ostern 1972 verbrachte ich mit meiner Mutter im Sauerland, in einem Holzhäuschen von Bekannten. Einmal ging ich mit Ede eine Kanne Milch holen, auf einem zwei Kilometer entfernten Bauernhof. Den Rückweg schaffte ich fast nicht. Um Atem ringend stolperte ich vor mich hin, da sah ich in der Ferne eine Gestalt, die meine Mutter zu sein schien. Sie verschwand aber wieder. Als ich näher kam, war sie es tatsächlich. Sie war mir heimlich entgegengekommen, weil sie Sorge hatte, ob ich durchhalte. Ich weinte vor Erleichterung.
»Noch acht, noch sechs, noch vier, noch zwei …« Sonja macht mich echt fertig. Gerade animiert sie mich zur Standwaage – auf einem Bein stehen, das andere im rechten Winkel nach hinten strecken, sodass Bein und Oberkörper eine Waagerechte bilden. Und dann mit dem Standbein hoch und runter, hoch und runter … Mir läuft der Schweiß, tropft auf den bunten Knüpfteppich, den ich unten im großen Zimmer unseres Hauses in Olymbi ausgebreitet habe. Hier sind die Temperaturen selbst im griechischen Sommer noch halbwegs angenehm. Wenn man nicht gerade ein 45-minütiges Work-out mit Sonja absolviert. Wir haben im Haus kein WLAN, kein Telefon, natürlich auch keinen Fernseher, aber ich habe mir das vor dem Urlaub aus der Mediathek der Turngemeinde Bornheim in Frankfurt auf den Laptop geladen.
Vor dem blauen Banner der Turngemeinde, in einem Sportstudio mit Holzhandlauf an der Wand, macht Sonja in ihrem schwarzen Muskelshirt ordentlich Tempo. Ich bin erst bei Minute elf, aber ich weiß schon jetzt: Das gibt drei Tage Muskelkater. Den Tipp mit der Turngemeinde habe ich von meinem Lieblingskollegen Jochen, der selbst kein Freund sportlicher Anstrengung ist, aber Sport soll ja gesund sein, deshalb ist er Vereinsmitglied. Weil Sportstudios während der Corona-Pandemie schließen mussten, hat die Turngemeinde eine Mediathek eingerichtet. Vorerst ist sie auch für Nichtmitglieder zugänglich. Vor unserer Abreise nach Chios habe ich verschiedene Work-outs durchprobiert und fünf runtergeladen. Mein Plan für die Ferien: alle zwei Tage ein Work-out oder aber joggen. Ich will nach der Rückkehr fit sein für unser Trainingslager mit Union 03.
Allerdings muss man schon ziemlich besessen sein, um dieses Programm durchzuhalten, bei Außentemperaturen von über 30 Grad. Auch jetzt, im großen Zimmer, muss ich kämpfen, damit Sonja mich nicht abhängt. Sie ist auf dem Boden angelangt, was es nicht einfacher macht. Gerade praktiziert sie das seitliche Planking. Plank heißt Unterarmstütz, habe ich nachgeschaut. Ihr durchtrainierter Körper ruht auf dem linken Unterarm, der andere zeigt senkrecht in die Höhe, ihr Pferdeschwanz schleift fast über den Boden, die beiden Füße liegen seitlich übereinander, der Körper bildet eine schräge Linie, und dann Hüfte hoch, Hüfte runter. »Durchhalten!«, feuert sie ihr virtuelles Publikum an: »Hoch, hoch, hoch«. Ich stöhne und schwitze und verfluche meinen Ehrgeiz. Kann ich nicht Urlaub machen wie andere Menschen auch? Nur lesen, baden, Ausflüge machen, schön essen gehen? Aber ich finde, Fußball macht nur Spaß, wenn man rennen kann, Kondition hat. Deshalb muss das sein.
Deshalb muss ich auch joggen. Nicht um unser Dorf herum, obwohl das das Einfachste wäre – es gibt da keine Steigungen. Aber ich will mich nicht zum Gespött der Limbousii machen. Die einen arbeiten hart in ihren weit verstreuten Gärten und verstehen nicht, dass man sich bei der Hitze einfach so anstrengen mag. Die anderen haben einen Job im Büro oder in einem Restaurant und verstehen das erst recht nicht. Jedenfalls habe ich hier noch nie jemanden joggen sehen. Deshalb mache ich es, wenn wir allein vom leeren Strand zurückkehren, am Abend. Leo lässt mir Vorsprung und sammelt mich dann mit dem Auto wieder ein. Allerdings ist es um 19 Uhr immer noch sehr heiß. Und vom Strand aus geht es erst mal nur bergauf. Einmal hielt ich eine halbe Stunde durch. Danach kriegte ich vor Erschöpfung Schnupfen. Seitdem fährt Leo mich bis dahin, wo die Steigung aufhört, und lässt mich nach einer halben Stunde Runterlaufen wieder einsteigen. Mein Freund ist wirklich sehr nachsichtig mit mir. Das sagte ich ja schon.
Fußball spielt hier übrigens kaum einer. Fußball findet im Fernsehen statt – oder beim Wetten im Internet. Niko, der frühere Bürgermeister von Olymbi, nicht der Besitzer vom Kato Porta, hat sogar mal auf Spiele in der deutschen Regionalliga gewettet, erzählte mir Leo. Überall werde manipuliert, auch in den unteren Ligen, habe Niko behauptet, man dürfe nicht naiv sein. Wie er das meint, woher er das weiß, kann ich ihn leider nicht mehr fragen. Niko ist wohl der einzige Mensch, der je mitten auf Chios ertrunken ist. Bei einem Wintersturm hatte er seinen Pick-up an der kleinen Brücke am unteren Dorfausgang geparkt. Sie führt über ein Felsenbett, das die meiste Zeit des Jahres trocken liegt, doch bei Regen fließt hier ein Bach, der sich an diesem Tag offenbar in einen reißenden Strom verwandelte. Als Niko betrunken aus der Dorfkneipe kam, fiel ihm ein, dass er sein Handy im Pick-up vergessen hatte. Er ging es holen, da überspülte der Strom die Brücke und stürzte den Pick-up ins Bachbett. Das Fahrerhäuschen wurde zum Gefängnis, Niko kam nicht mehr raus.
Auf Fußballspiele zu wetten war nie mein Ding, und nur selten habe ich als Kind mal mit meiner Mutter Toto gespielt. Das Wichtigste war immer, selbst zu kicken und beim Fußball zuzugucken, ob es Länderspiele im Fernsehen waren, Bundesligapartien im Stadion oder ein Kreisklassekick beim Laer’schen FC. Mein Tagebuch füllte sich mit Fußball. »Ich bin in die Klassenmannschaft gekommen.«
Der erste Eintrag 1971, ich war fast elf. Viele folgten: »Ich bin VfL-Fan. Die Wand ist voll von Fußballbildern.« Oder: »VfL hat gestern gegen Schalke nach gutem Spiel 1:4 verloren.« Ein Bericht von der Partie gegen die Parallelklasse, die anderen gewannen mit 4:3. »In der 1. Halbzeit hatte Alex allein vor dem Tor den Schlussmann angeschossen. Aber die Revanche kommt noch.« Dazu Zeichnungen von Fußballern in allen Lagen – beim Grätschen, Jubeln, Dribbeln. Die Aufstellung der deutschen Elf, beim legendären ersten Sieg 1972 in Wembley, den ich im Tagebuch vorhersagte: »Maier, Beckenbauer, Höttges, Breitner, Schwarzenbeck, Netzer, Hoeneß, Wimmer, Grabowski, Müller, Held.«
Ich klebte auch einen Artikel über die Bochumer »Fohlenelf« in mein Tagebuch: Mit einem Durchschnittsalter von 23 sei der VfL das jüngste Bundesligateam, schrieb die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Ich rechnete nach und kam auf einen Schnitt von 24. Weitere Berechnungen ergaben, dass der Hamburger SV, die Offenbacher Kickers und der 1. FC Köln älter waren als das VfL-Team, die Revierrivalen von Schalke 04 allerdings jünger. Alles im Tagebuch dokumentiert. Die Daten für meine Kalkulationen lieferte das Kicker-Sonderheft zum Saisonauftakt, mit allen Mannschaftsfotos. Das besorgte ich mir sofort nach Erscheinen. Den normalen Kicker zweimal die Woche auch, am Büdchen. Bald wurde ich aber Abonnentin, weil ich sowieso keine Ausgabe ausließ, das kam billiger. Weihnachten 1971 schenkten meine Eltern mir lauter Sportgeräte: eine Turnrolle, eine Turnstange und vor allem einen Ball. Den nahm ich sogar beim Spazierengehen mit, um unterwegs mit meinem Vater ein bisschen zu kicken.
Bei den Jungs kam ich mit Fußball gut an. Jedenfalls im Alter von elf. Ich wurde zur Klassensprecherin gewählt, das erste und einzige Mal. Das ging nur mit Stimmen der Jungs – die waren in unserer Klasse klar in der Mehrheit. Ich versuchte, die anderen Mädchen für Fußball zu begeistern. Bei meiner liebsten Freundin Barbara hatte ich Erfolg. Sie kam sogar mal mit zum Training der Klassenmannschaft, spielte Verteidigerin, so gut sie konnte. Die Jungs hätten sie als meine Freundin akzeptiert, sagt Barbara heute. Sie schaut noch immer gern Sportschau und Länderspiele, anders als Jasper, ihr jüngster Sohn, mein Patenkind. Die meisten anderen Mädchen lasen damals Bravo und schwärmten für die Bay City Rollers. Ich fand Fußballer süß. Die Kremers-Zwillinge von Schalke. Mittelfeld-Ass Jürgen Köper vom VfL. Aber auch die aus meiner Klasse. Und die aus der Parallelklasse. In jeder großen Pause kickten wir mit einem Tennisball auf kleine Tore.
Die Parallelklasse bestand nur aus Jungs. Nicht jeder war begeistert, dass ein Mädchen in den Pausen mitmischte. Wenn es darum ging, Teams zu bilden, wurde ich anfangs als Letzte gewählt, genauso wie ein sehr dicker Junge. Das änderte sich aber schnell, ich stieg in der Hierarchie auf, was ich mit Stolz registrierte. Einer der Jungs wollte mich trotzdem nicht dabeihaben. »Die Keller spielt immer so hart«, sagte Bernward. Ich habe noch den Klang seiner Stimme im Ohr. Die Bemerkung fand ich ungerecht, denn ich habe nie unfair gespielt. Trotzdem versuchte ich nun, an meiner Technik zu feilen. Ich übte Dribblings und Tricks mit dem Tennisball, sogar in der Wohnung. In meinem Tagebuch notierte ich: »Ich glaube, die finden mich blöd, weil ich wie ein Junge spiele und auch nicht zimperlich bin.« Ein erster Rollenkonflikt – nicht der letzte. Bei Spielen der Klassenmannschaft schauten inzwischen auch Mädchen zu. Mir fiel auf, dass die Jungs sich für sie interessierten. Für mich nicht. Ich trug keine Kleider, Partys waren mir egal, geschminkt habe ich mich nur beim Karneval.
Dann eine schwere Krise, ausgelöst durch meinen Vater, ich war dreizehn. Mein Vater, der mir doch beigebracht hatte, wie man sich freiläuft, der mich manchmal zum Training der Klassenmannschaft fuhr, der mich mit ins Stadion nahm, fand plötzlich, ich solle lieber schwimmen als Fußball spielen. Damit meine rechte Schussbeinwade nicht zu muskulös werde. »Das ist der größte Mist des Jahrhunderts«, schrieb ich in mein Tagebuch. »Wenn ich ein Junge wär, käme ich wahrscheinlich in die Nationalelf … Aber als Mädchen muss ich auf meine Waden achten.« Empört erörterte ich die sportlichen Alternativen: Neben Schwimmen noch Turnen, Tischtennis und Leichtathletik. »Die letzte Möglichkeit ist, dass ich Fußball nur noch mit links spiele. Und ich glaube, das werde ich trotz allem tun. Vorläufig.«
Fußball aufgeben – das kam nicht infrage. Für das Kicken habe ich sogar Schule geschwänzt – manche Doppelstunde verbrachte ich lieber mit Spielen auf kleine Tore, die wir mit unseren Tornistern bauten. Sonst war ich eine eifrige Schülerin, ich hatte Spaß am Lernen. Es nervte mich, wenn die Klasse unsichere Referendare oder auch junge Lehrer fertigmachte, die andere Vorstellungen von Pädagogik hatten als ihre vom Weltkrieg geschädigten älteren Kollegen. Vielleicht gab es davon an unserem humanistischen Gymnasium besonders viele. Ein Englischlehrer gab mal einem Schüler eine Ohrfeige. Die älteren Latein- und Griechischlehrer waren gefürchtet. Der Geschichtslehrer, dessen leere rechte Augenhöhle man sehen konnte, wenn man seitlich in seine Brille schaute, diktierte uns in die Hefte, was wir zu lernen hätten. Wer das auswendig abspulen konnte, kriegte eine Eins. Bei der Abschlussreise vor dem Abitur, über den Peloponnes, war er dabei. Und leugnete gegenüber unserem griechischen Busfahrer die Verbrechen der Wehrmacht in Dörfern wie Distomo, Chortiatis oder Kalavryta.
Jeden Samstag nach Unterrichtsschluss kickten wir mit dem Tennisball auf dem asphaltierten Schulhof der benachbarten Weilenbrink-Schule. Manchmal kam ein Lehrer auf dem Nachhauseweg vorbei und schaute eine Weile zu. Ich weiß noch, wie ich einen Steilpass erlief und den Ball lässig ins Tor schob, als gerade unser Religionslehrer vorbeikam, in den ich ein bisschen verliebt war. Er war Vikar in einer Bochumer Gemeinde, und ich war stolz, vor seinen Augen zu glänzen. Sein Unterricht war besonders. Er stellte uns Fragen, die ihn selbst bewegten. Las mit uns Texte von Naturwissenschaftlern wie Nils Bohr, die sich mit Transzendenz befassten. Diskutierte, warum sich die Existenz Gottes nicht beweisen lasse, ebenso wenig wie seine Nicht-Existenz. Diesem Lehrer wurde Jahre später von einem Tag auf den anderen untersagt, Religion zu unterrichten, weil dem Bischof zu Ohren gekommen war, dass er nicht im Zölibat lebte. Als ich ihn nach Jahrzehnten wiedersah, hatte er seine langjährige Freundin geheiratet. »Und? Noch in der Kirche?«, war seine erste Frage. »Nö. Und selber?« »Auch nicht.« Die Frage nach Gott beschäftige ihn aber noch immer.
Mit fünfzehn gingen die Mädchen und manche Jungs aus meiner Klasse in die Tanzschule. Mit meiner Mutter kaufte ich einen halblangen Rock, der mir um die Knie flatterte, und meine ersten Schuhe mit Absatz, hellbraun und glänzend. Sonst trug ich Jeans, Pulli und Parka, das hatten die meisten damals an. Im neuen Outfit kam ich mir wie verkleidet vor. Tanzlehrer Bobby Linden war ein aufgedrehter dünner Mann mit spitzem Kinn, der zu schlechter Musik schlechte Witze machte. Die Tanzstunde selbst war ein Albtraum. Zum Auffordern setzten sich die Mädchen auf die eine Seite des Saals, die Jungs auf die andere, dann durften die Jungs wählen. Ich gehörte zu denen, die bis zuletzt sitzen blieben. Als der Abschlussball bevorstand, hatte ich noch immer keinen festen Tanzpartner. Die fünf übrig gebliebenen Jungs durften sich eins der übrig gebliebenen drei Mädchen aussuchen. Mich nahm ein Dachdeckerlehrling, der beim Ball nach kurzer Zeit verschwand.
Das Beste an der Tanzstunde war, dass sie samstags vor 15.30 Uhr beendet war. Von Bobby Linden aus, also von der Kortumstraße nahe der Bochumer Innenstadt, hatte ich es nicht weit bis zum Stadion an der Castroper Straße, wo der VfL spielte. Zeit zum Kleiderwechseln blieb nicht. Ich stöckelte mit meinen Tanzschuhen zum Spiel, stand mitten unter den VfL-Fans in der Ostkurve. Wenn keine Tanzstunde war, traf ich mich mit einer Clique von Jungs aus meiner Klasse zum Stadionbesuch. Es waren dieselben, mit denen ich mich auch sonntagvormittags zum Fußballspielen verabredete, mit Lederball auf kleine Tore, auf einem öffentlichen Kickplatz. Einer von ihnen gefiel mir besonders gut. Christian, 1,93 groß, halblange blonde Haare. Er spielte auch Basketball, sogar in der Oberliga. Zudem hatten wir in der Schule dieselben Leistungskurse, Mathe und Latein, nicht mehr bei unserem früheren Klassenlehrer, sondern bei unserem Rektor, der es verstand, die alten Texte lebendig werden zu lassen, griechische und lateinische Philosophie mit uns diskutierte oder auch mal eine frivole lateinische Satire lesen ließ.
Es war die Zeit, da mein Vater befand, das Kind sei endlich gesund. Er könne die Familie nun verlassen und nach neun Jahren zu seiner Geliebten ziehen. Es war auch die Zeit, da der Schulpsychologe erstmals einen Termin für mich frei hatte, aber ich nahm ihn nicht mehr in Anspruch. Ich hatte viele Ängste überwunden, indem ich trainierte, was mir Angst machte. Zwar hatte ich noch immer hypochondrische Anwandlungen, aber für einen Kurztrip mit meinen Eltern nach London bestieg ich sogar ein Flugzeug. Für meinen Vater war dies der letzte Beweis, dass ich genesen sei. Er zog aus.
Fußball gehörte weiter zu meinem Leben, aber ich kündigte mein langjähriges Kicker-Abonnement. Das Spielen selbst war mir wichtig, erst noch mit den Freunden aus der Schule, zu denen nun auch ältere Jungs gehörten, aus der Klasse von Christians Bruder. Später dann mit einer Gruppe von Studenten an der Bochumer Universität, wo Christian und ich zu studieren begannen. Wir hatten uns gegen Ende der Schulzeit verliebt, er war mein Freund. Ich hielt bei den Männern gut mit. 1981, nach fünf Semestern, wechselte ich mit Christian an die Universität Göttingen. Ich war 21 Jahre alt und hatte noch nie mit Frauen gekickt.