Raus aus der Krise - Geri Schnell - E-Book

Raus aus der Krise E-Book

Geri Schnell

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Beschreibung

Max Meier ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Nach der Scheidung hat er keine Motivation, keine Ziele und keine Freunde. Doch das Zusammentreffen mit Rebekka, einem 10 jährigen Mädchen, leitet die Wende ein. Er hört auf zu trinken und nimmt sich zusammen. Doch es folgen nochmals einige Rückschläge. Unter Mordverdacht hilft ihm Marina als Anwältin, dass der Mordverdacht fallen gelassen wird. Jetzt ist Marina Moser seine wichtigste Bezugsperson. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis geht es nur noch aufwärts.

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Seitenzahl: 689

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Geri Schnell

Raus aus der Krise

Die Geschichte eins Kämpfers

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Arbeitslos

Urlaub in Ägypten

Das Interview

Der Fall Anita

Die Verteidigerin

Die Webseite

Die Vereinsfeier

Die Hochzeit

Das Beschäftigungsprogramm

Die Tagung

Die Revolution

Der Flugzeugfriedhof

Der 1. Satellit

Der Kongress

Der Deal

Die Flucht

Der Sturm

Die Rache des FWJ

Die Verschwörung

Erfolgreich

Die Suche beginnt

Die Revolte

Aus dem Untergrund

Die Rückkehr

Erinnerung an die Vergangenheit

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Impressum neobooks

Arbeitslos

Raus aus der Krise!

Die Geschichte eines Kämpfers

von Geri Schnell

Frierend vor Kälte, erwacht Max Meier.

Wo bin ich?

Zögernd schaut er sich um. Es ist noch dunkel und er zittert am ganzen Körper. Er beobachtet seine Umgebung und stellt fest, dass er auf einer Bank im Friedhof geschlafen hat, doch nun hat ihn die Kälte aufgeweckt. Sein Kopf brummt, er versucht sich zu erinnern, wie er auf der Friedhofsbank gelandet ist, es gelingt ihm nicht! Langsam erhebt er sich und macht einige Turnübungen, um sich zu erwärmen. Er räumt seine Sachen zusammen, verstaut sie in seiner Tragetasche und schleicht davon. Die Bank ist zu ungemütlich und er macht sich auf den Weg zum Bahnhof. Wenn er sich nicht allzu sehr beeilt, ist das Bahnhofrestaurant schon offen und er kann einen Kaffee mit Schnaps bestellen, danach wird er sicher wieder etwas klarer denken können und vielleicht fällt ihm wieder ein, wie er den gestrigen Abend verbracht hatte.

Um auf die Strasse zu gelangen, muss er über den Zaun klettern, denn der Friedhof ist nachts geschlossen. Durch das noch schlafende Olten, schleicht er zum Bahnhof. Die menschenleeren Strassen wirken unheimlich und er fühlt sich als Störenfried. Wenn er es vermeiden kann, weicht er den wenigen Frühaufstehern aus, welche schon unterwegs sind. Die Meisten sind Bahnarbeiter, welche auf dem Fahrrad, durch die spärlich beleuchteten Strassen, zur Frühschicht fahren.

An der Kirchenuhr kann er erkennen, dass es erst halbsechs Uhr ist. Es dauert also noch einige Zeit, bis er seinen Kaffee mit Schnaps bekommt. Er macht noch einen kleinen Umweg, der Aare entlang.

In den Büschen am Ufer herrscht jetzt im Frühling reger Betrieb. Die Vögel zwitschern um die Wette. Das Singen der Vögel ist sein erstes freundliches Erlebnis an diesem Morgen. Als er noch gearbeitet hatte, konnte er keine solche Morgenstimmung geniessen. Nach dem Aufstehen hetzte er ins Büro und beachtete die Natur kaum.

Sein Kopf brummt immer noch und er hat es aufgegeben, sich an den gestrigen Tag zu erinnern. Wenn sich der Kopf nicht daran erinnern will, so wird er seine Gründe haben. Von weitem hat er die Typen gesehen, die ungeduldig warten, bis der Kellner das Bahnhofrestaurant aufschliesst. Diese ungepflegten Herumtreiber mit ihren Dreitagebärten, sind sehr neugierig und das geht ihm auf die Nerven. Er wartet bis fünf Minuten nach sechs Uhr. Erst dann, wenn die Dreitagebärtigen ihre Plätze eingenommen haben, geht er rein, so kann er sich allein an einen freien Tisch setzen.

Es dauert einige Zeit, bis er bei Roberto seinen Kaffee bestellen kann. Im letzten Moment entschliesst er sich, statt dem Kaffee mit Schnaps, nur ein Cappuccino zu bestellen. Nach dem ersten Schluck bereut er seinen Entschluss, denn langsam erinnert er sich wieder an den gestrigen Tag und diese Erinnerungen haben überhaupt nichts Erfreuliches an sich.

Gestern, am 1. April 2021 wurde die Scheidung rechtskräftig, wie es so schön heisst. Unter Aufsicht seines ehemaligen Schwiegervaters, war er gestern bei seiner Exfrau und durfte die ihm zugesprochenen Sachen abholen. Auch die Einzimmerwohnung, in der er seit der Trennung wohnen durfte, musste er räumen, sie gehörte seinem Schwiegervater. Walter Zingg, der einzige Kollege, der noch zu ihm hält, half ihm die wenigen persönlichen Dinge abzuholen. Viel war es nicht und da Max noch keine Wohnung gefunden hat, gab es zusätzlich das Problem, dass er nicht wusste, wohin er seine armseligen Sachen deponieren soll.

Ein brummender Kopf ist noch das geringere Übel als diese Erinnerungen. Bis jetzt ging es ihm wenigstens finanziell noch gut, doch nun ist auch sein Bankkonto gesperrt, um sicherzustellen, dass er seine Alimente bezahlen kann.

«Was ist denn das für ein vornehmer Herr?», ruft einer vom Tisch der Dreitagebärtigen. Max verbirgt sich tief hinter der Zeitung, welche eben erst aufgelegt wurde und verhält sich so, als hätte er nichts gehört.

Die suchen doch nur einen Dummen, der eine Runde zahlen muss, oder der im Kartenspiel ausgenommen wird, denkt Max.

Ein bisschen Gesellschaft würde ihm guttun, doch Max kann sich noch nicht damit abfinden, dass das sein neues Zuhause ist.

Als Arbeitsloser hat man am frühen Morgen eigentlich viel zu tun. Man muss die Inserate studieren, auch wenn man genau weiss, dass wieder nichts Passendes zu finden ist. Das Stempeln im Arbeitsamt, wird seine erste Tätigkeit sein. Vorher muss er sich noch etwas zurechtmachen. Das letzte Mal, hatte der Beamte in seinem sauberen, mit Krawatte verzierten Hemd gedroht: «Herr Meier, wenn sie nochmals ungewaschen und unrasiert hier auftauchen, dann streichen wir unsere Unterstützung. Sie müssen vermittlungsfähig sein, damit Sie Arbeitslosengeld kassieren dürfen!»

Bevor sich Max in der Toilette zurechtmachen will, hat er noch genügend Zeit, die Zeitung zu lesen. Viel Erfreuliches steht nicht drin. Wenn er richtig zusammengezählt hat, so sind wieder 200 Stellen gestrichen worden. Also, zweihundert neue Berufskollegen. Die Aussichten werden immer schlechter. Was tun die Politiker dagegen? Reden, reden und nochmals reden. Statt über neue Stellen, reden alle vom Sparen, also müssen Stellen abgebaut werden.

Seit der Corona-Krise hat sich die Wirtschaft noch nicht erholt. Alle Staaten sind überschuldet und beginnen zu sparen. Wer hat damit gerechnet, dass als Folge des Corona-Virus die Steuereinnahmen so drastisch einbrechen. Nun muss man sparen.

Das Lesen der Zeitung hat ihn so geärgert, dass er sich einen Zweier Roten bestellt. Nur so ist die ganze Misere zu ertragen. Den ersten Schluck hätte er am liebsten wieder ausgespuckt, doch dann fühlt er sich stark. In Gedanken fällt er über seine Exfrau her. Sie ist an allem Schuld. Sie wollte ihn nicht verstehen. Zuerst arbeitete er sich für das neue Einfamilienhaus fast zu Tode und dann, als er einmal ein Problem hatte, liess sie ihn fallen, wie eine heisse Kartoffel. Zehn Jahre lang, domminierten seine Arbeit und die beiden Buben, den Lebensinhalt. Es ist verdammt hart, wenn man beides innert ein paar Monaten verliert. Max versinkt im endlosen Selbstmitleid.

«Noch einen», ruft Max dem Kellner zu.

Dann grübelt Max wieder über seine verpatzte Ehe nach. Was hat er nur falsch gemacht? Später bestellt er noch einen Zweier.

«Musst du nicht Stempeln gehen?», fragt ihn plötzlich einer vom Tisch der Dreitagebärtigen.

«Oh, verdammt, das habe ich glatt vergessen. Denen werde ich heute gehörig die Meinung sagen. - Zahlen!»

«Macht zwölf vierzig!»

Max legt fünfzehn Franken auf den Tisch.

Der Kellner sucht nach Kleingeld.

«Stimmt so.»

Er hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er es sich gar nicht mehr leisten kann, grosszügig zu sein. Schliesslich macht er sich ungewaschen und unrasiert auf den Weg zum Arbeitsamt.

Der Beamte will ihn zuerst gar nicht reinlassen, drückt dann aber beide Augen zu. Es hat heute eine längere Kolonne, vermutlich ist wieder eine Firma geschlossen worden, oder der Beamte kam zu spät. Jeder in der Schlange, schaut sich mitleidig nach Max um. Sie haben sofort bemerkt, dass er grosse Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Jedem fällt auf, dass sein Outfit dem Beamten garantiert missfallen wir. Nur gut, dass man schon vorher drankommt. Der Beamte wird sicher sauer werden. Das wird ein Theater absetzen.

«Was guckt ihr alle so blöd? Ihr Deppen!», grölt Max, «darf man sich nicht voll laufen lassen, wenn man mit 31 schon geschieden wird? Wenn die eigenen Kinder einem nicht mehr sehen wollen? Wenn man keine Wohnung hat und die Nacht auf einer Friedhofsbank schläft und man an diesem Scheissschalter anstehen muss?»

Beschämt schauen die Kolonnensteher nach vorne. Wie wird der Beamte reagieren? Jeder erwartet, dass er loslegt, doch der Beamte bleibt ruhig.

Max randaliert weiter, schimpft über die unfähigen Politiker, über seine Exfrau und über seinen Exchef, der nach Brasilien verduftet ist. Plötzlich wird die Kolonne schnell kürzer. Der Beamte beeilt sich, die letzten noch Anstehenden so schnell wie möglich abzufertigen. Es sind eh nur noch die hoffnungslosen Fälle. Die sind im Moment nicht zu vermitteln. Max Meier wäre mit seiner Ausbildung noch jemand, den man unterbringen könnte, aber der Beamte sieht ein, dass heute nichts zu machen ist. In dieser Verfassung schickt man ihn besser nicht auf Stellensuche, das wäre kontraproduktiv.

Endlich ist Max an der Reihe, er streckt seine Karte in den Schalter und erwartet, dass der Beamte loslegt. Der drückt aber nur seinen Stempel auf die Karte und gibt sie ihm zurück.

«Und, wo soll ich heute Nacht schlafen?», fragt Max den Beamten, «ich musste meine Wohnung räumen. Ich habe nur diese Plastiktasche.»

«Das ist Ihr Problem, versuchen Sie es bei der Heilsarmee, oder beim Pfarrer», schlägt der Beamte vor und bemüht sich, das Türchen zu schliessen.

Bald darauf steht Max wieder vor dem Arbeitsamt auf der Strasse und weiss nicht wie es weiter gehen soll. Die zwanzig Franken, welche ihm pro Tag zum Verbrauchen bleiben, hat er für heute schon fast ausgegeben. Er wird das Budget überziehen müssen.

«Hast du Probleme? - Ich bin Otto», stellt sich der verlauste Typ vor, «komm doch mit zum Gleisspitz, dort treffen sich viele Obdachlose. Gemeinsam ist es einfacher zu ertragen.»

Max ist diese Einladung nicht unangenehm. Er hat immer noch Probleme mit anderen Leuten zu sprechen. Doch, dank seinem alkoholisierten Zustand überwindet er seine Hemmungen.

«Ich kann ja mal vorbeischauen», antwortet Max.

Auf dem Weg zum Gleisspitz gibt ihm Otto einige nützliche Typs: «Kauf deine Weinflasche im Supermarkt und nicht in der Kneipe, sonst bist du zu schnell pleite. Wenn du das Geld richtig einteilst reicht es weiter, als du denkst.»

Je länger Max mit Otto zusammen ist, umso unheimlicher wird er ihm. Seine Ratschläge haben zwar etwas für sich. Max hatte jedoch zu lange etabliert gelebt, um diese Tagediebe zu verstehen. In seinem jetzigen Zustand ist ihm das egal, es tut ihm gut, wieder mit jemandem zu reden, denn seit der Gerichtsverhandlung hat er nur mit dem Kellner und dem Beamten im Arbeitsamt gesprochen.

Am Gleisspitz ist Max schockiert. So hat er sich immer den Letten in Zürich vorgestellt. Dass es so etwas auch im biederen Olten gibt, überrascht ihn. In kleinen Gruppen hängen die unmöglichsten Typen rum. Max ist sich noch nicht bewusst, dass er gute Aussichten hat, auch so ein Landstreicher zu werden. Normalerweise wäre er sofort umgekehrt und hätte sich aus dem Staub gemacht. Nun trottet er Otto hinterher, der geht auf eine Gruppe zu, die sich im hinteren Teil des Parks, auf zwei Parkbänken ausgebreitet hat. Die Gruppe nimmt von den Neuankömmlingen kaum Notiz.

Otto kramt in seinen Taschen. Nach und nach kommen verschiedene Gegenstände zum Vorschein. Otto legt sie vor sich auf den Parkboden und ist beschäftigt, bis ihm plötzlich einfällt, dass er ja jemand mitgebracht hat.

«Soll ich dir auch einen Schuss beschaffen», fragt er Max, «in deinem Zustand würde ich zwar darauf verzichten, zusammen mit Alkohol gibt es ein Horrortrip. Aber wenn du nur sehr wenig nimmst, dann ginge es schon.»

«Nein danke», erwidert Max, «ich kenne mich in solchen Dingen nicht aus.»

Otto lässt sich nicht weiter stören und macht in seinen Vorbereitungen weiter. Max schaut sich in der Gruppe um, ob er wenigstens einen findet, dem er seine beschissene Lage erklären kann. Die meisten der Gruppe sind auf ihrem Trip und deshalb nicht ansprechbar. Ein etwa neunzehnjähriges Mädchen diskutiert mit einem Jungen über ihre Probleme mit den Freiern. Die Diskussion ist für Max kaum verständlich, fast für jedes Wort haben die einen Ausdruck, welcher er noch nie gehört hat. Der Streit dreht sich um den Unterschied, zwischen der Tätigkeit als Strichjunge und der einer Hure. Der Unterschied liegt vor allem in der Bezahlung, anscheinend verdient der Strichjunge bedeutend mehr, muss aber die verrückteren Dinge über sich ergehen lassen.

Otto ist inzwischen auf seinem Trip. Max kennt das bisher nur vom Fernsehen. Es wird ihm schlecht und er muss sich fast übergeben. Auf jeden Fall reicht es ihm für heute, das ist wirklich nicht sein Umgang. In Zukunft wird er einen grossen Bogen um den Gleisspitz machen.

Wieder auf der Strasse angelangt, merkt er, dass er wieder nüchtern wird. Nach diesem Schock kann er allerdings mit seiner Situation besser umgehen. Verglichen mit denen, geht es ihm richtig gut.

Jeder Schritt, den er der Aare entlang geht, erinnert ihn an seine Buben. Was machen sie jetzt? Sicher gefällt es ihnen bei den Grosseltern, schliesslich können sie dort machen was sie wollen. Ob sie ihn vermissen? Vermutlich nicht, denn in letzter Zeit, war er wirklich unausstehlich. Die belastenden Probleme der Arbeit konnte er zu schlecht verstecken und brachte seine schlechte Laune mit nach Hause.

Bei einer Parkbank, von der man auf die Aare blicken kann, setzt er sich und betrachtet das träge dahinfliessende Wasser. So langsam gehen ihm seine Erinnerungen wieder auf die Nerven, er öffnet eine Weinflasche, welche er im Supermarkt gekauft hat und trinkt in einem Zug, die halbe Flasche aus.

Nun macht er sich Gedanken wie es weiter gehen soll. Er will nicht den ganzen Tag mit seinen schweren Tragetaschen unterwegs sein. Es ist ein kühler Frühlingstag und es sind noch nicht viele Spaziergänger unterwegs. Er nimmt seine Wanderung wieder auf. Nun hat er das Stadtgebiet verlassen und erreicht ein kleines Auenwäldchen. Er erinnert sich an die Zeit, als er noch Mitglied im Fischerclub war. Dieser Club hatte hier eine kleine Hütte. Vielleicht haben die den Schlüssel immer noch am gleichen Ort versteckt, er will nachsehen. Tatsächlich findet er den Schlüssel schnell, er ist nicht mehr am gleichen Ort versteckt, doch das Versteck ist nicht origineller gewählt worden. Er nimmt sich vor, heute Abend hier zu übernachten, am Tag getraut er sich nicht in die Hütte einzudringen, das Risiko ist ihm zu gross. Er deponiert seine Taschen hinter dem kleinen Geräteschuppen unter einem Busch. Dort wird niemand nachsehen und die Sachen sind vom Regen geschützt. Er steckt sich einige Dingen in einen Plastiksack und verlässt sein neues Zuhause wie ein Dieb. Jetzt trägt er nur noch die Weinflasche, das Geld und sein Nachtessen auf sich. Das Handy lässt er zurück, es hat keinen Akku mehr und die SIM-Karte ist beinahe leer.

Erleichtert geht er den Weg zurück in die Stadt. Die Aussicht, dass er heute Nacht nicht im Freien übernachten muss, ist eine grosse Erleichterung für ihn. Am Bahnhof setzt er sich auf eine Bank und beobachtet das emsige Treiben. Nach einem kräftigen Schluck wird er ruhiger und döst auf der Bank ein. Nur jede Stunde wird er aufgeweckt, dann hält der Regionalzug auf diesem Geleise. Aber nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei und er hat wieder seine Ruhe. Seine Kleidung ist noch einigermassen ordentlich. Auch sein Bart ist inzwischen so lang geworden, dass er als Bart erkennbar ist und nicht unsauber wirkt. So fällt Max auf dem Bahnhof nicht unangenehm auf, lediglich den Leuten, welche in seine unmittelbare Nähe gelangen, fällt seine Alkoholfahne auf und sie machen entsprechende Bemerkungen.

Langsam wird es dunkel und er riskiert es, in die Fischerhütte einzudringen. Am Anfang getraut er sich nicht Licht zu machen. Im Dunkeln findet er das Sofa, auf welchem er sich ausstreckt und sofort einschläft.

In den frühen Morgenstunden erwacht er. Jetzt getraut er sich das Licht einzuschalten, denn um diese Zeit ist sicher niemand in dieser Gegend unterwegs. Am Anschlagbrett findet er alle Anlässe, welche der Verein im laufenden Monat plant. Er kann genau ablesen, wann er in der Hütte Besuch erwarten muss. Das Vereinsleben der Fischer ist nicht sehr rege, so dass er nicht oft gestört wird. Für die nächste Zeit hat er damit einen Stützpunkt gefunden. Er ist stolz auf sich, dass er eine bessere Bleibe gefunden hat, als mancher langjährige Obdachlose.

Die nächste Zeit vergeht wie im Flug. So langsam hat er einen regelmässigen Tagesablauf. Er hat genug Geld, um jeden Tag zwei Flaschen Wein zu kaufen und ist dauernd betrunken. Er kapselt sich von allen anderen Menschen ab und lebt sein Einsiedlerleben.

Heute liegt Max wieder in der Sonne und versucht sich im Schachspielen. Der Schachcomputer ist eines der wenigen Dinge, die er aus der Ehe mitnehmen konnte, seine Exfrau hatte keine Verwendung für den Computer. In letzter Zeit schafft er es, den Computer wenigstens in der dritten Stufe zu schlagen, so ist er motiviert, sein Gehirn zu gebrauchen.

Er ist ins Spiel vertieft, trotzdem fällt ihm auf, dass er von einem Mädchen beobachtet wird. Lange beachtet er es nicht, mittlerweile ist er es gewohnt, dass ihn Leute anstarren. Das Mädchen beweist grosse Ausdauer. Es hat lange schwarze Haare. Das Mädchen dürfte etwa zehn Jahre alt sein.

Durch den ungebetenen Zuschauer wird er vom Spiel abgelenkt. Er schaut öfters zum Mädchen hinüber. Sie lässt sich aber nicht stören und beobachtet ihn weiter.

«Oh verdammt», flucht Max vor sich hin, «jetzt ist die Dame futsch!»

Einen Augenblick lang ärgert er sich über die Zuschauerin, welche ihn zu dem Fehler verleitet hat.

Ist nicht schlimm, jetzt muss ich kämpfen, wenn ich nicht verlieren will, denkt er für sich und die nächsten paar Züge spielt er stark und erobert wenigstens einen Turm zurück. Als er wieder aufschaut ist das Mädchen verschwunden.

Die nächsten Tage ist er wieder öfter auf der Wiese, doch das Mädchen taucht nicht mehr auf. Wegen dem Mädchen hat er doch tatsächlich seinen Alkoholkonsum eingeschränkt. Nach drei Tagen vergeblichen Hoffens, dass es nochmals auftaucht, greift er wieder zur Flasche und holt nach, was er die letzten drei Tage versäumt hat.

So ist er am nächsten Tag in einem so schlechten Zustand, dass er nicht einmal Schachspielen kann. Den ganzen Nachmittag döst er an seinem Lieblingsplatz dahin und erschrickt, als eine Mädchenstimme ihn fragt: «Spielst du heute nicht Schach?»

Verdutzt schaut er auf und da steht das schwarzhaarige Mädchen und spricht sogar mit ihm. In seiner Überraschung bringt er zuerst kein Wort heraus.

«Ich habe schlecht geschlafen und bin heute nicht gut drauf.»

«Darf ich es versuchen? Du kannst dafür mit meinem Handy, The Muscle Hustle spielen, weisst du wie es geht?», fragt das Mädchen scheu.

«Kannst du Schachspielen?»

«Nicht gut, ich habe meinem Vater zugeschaut, aber er meint, ich sei noch zu klein dazu, ich solle lieber lernen.»

Max stellt dem Mädchen die leichteste Stufe ein.

«Also, versuch es, weisst du wie die Figuren aufgestellt werden?»

Das Mädchen stellt die Figuren auf. Max muss nur den König und die Dame vertauschen, dann kann sie mit dem Spiel beginnen. Nach dem ersten Zug ist er schon versucht, ihr einen anderen Zug vorzuschlagen, lässt es aber bleiben, doch schon nach zehn Minuten hat sie die ersten Probleme.

«Da steht doch gar keine Figur, was will er den mit diesem Zug?»

Max stellt fest, dass sie wohl einen Zug falsch gezogen hatte.

«Da kann ich nicht mehr helfen, du hast einen falschen Zug gemacht, du musst von neuem beginnen», er stellt die Figuren wieder in die Ausgangsstellung.

«Puh!», ruft sie entrüstet, «du stinkst furchtbar nach Alkohol. Lassen das, ich stelle lieber selber auf!»

Max wäre am liebsten im Boden versunken, aber es hat ja Recht, wäre sie doch nur gestern gekommen. Er zieht sich zurück und spielt mit dem Handy. Es ist lange her, dass er das letzte Mal ein Spiel gespielt hat.

Plötzlich bricht das Mädchen in einen Jubelschrei aus: «Jetzt konnte ich ihm die Dame nehmen!», sie freut sich riesig. Die Überlegenheit in den Figuren kann sie allerdings nicht ausnutzen, da sie die Möglichkeiten zum schachmatt setzen, noch nicht genug kennt, Figuren erobern geht schon recht gut, aber es gelingt ihr einfach nicht, zum Ende zu kommen.

«Oh, es ist schon so spät», stellt sie plötzlich fest, «ich muss sofort nach Hause. Danke, dass ich es versuchen durfte.»

Noch bevor er es nach ihrem Namen fragen kann, nimmt das Mädchen ihr Handy und schon ist sie verschwunden. Max fühlt sich bedeutend besser. Die Begegnung mit dem Mädchen wirkt auf ihn wie ein Wunder. Genau genommen waren es nur ein paar Worte, die er mit dem Mädchen gewechselt hatte. Es waren aber die ersten Worte seit langer Zeit, die er mit einem Menschen gesprochen hatte, der ihm etwas bedeutet.

Die nächsten Tage sind für Max die Hölle auf Erden, er will sich nicht noch einmal sagen lassen: «Du stinkst!» Also kauft er keinen Wein mehr. Der Entzug trifft ihn mit voller Wucht und er kann sich vor Schmerzen kaum bewegen. Er weiss selbst nicht, wo er die Kraft hernimmt im Supermarkt am Alkoholgestell vorbei zu gehen, aber er schafft es. Am nächsten Tag fühlt er sich so schlecht, dass er sich den ganzen Vormittag im Wäldchen versteckt. Am Nachmittag hat er einen Termin, er darf sich für eine Stelle bewerben. Max gibt sich Mühe, den Job zu kriegen, doch die Aussichten sind bei vierzig Bewerbern nicht gross.

Es dauert über eine Woche bis Max sich wieder auf seinen Platz wagt. Noch immer kämpft er mit seinen Entzugserscheinungen. Es gibt Zeiten, da geht es ihm schon besser, dann wird er wieder von einem Schüttelfrost geschüttelt, dass er glaubt sterben zu müssen. Die Abstände zwischen den Anfällen werden zum Glück immer länger und vor allem denkt er in seinen guten Phasen, nicht mehr an seine Exfrau und seine Buben, sondern an das schwarzhaarige Mädchen.

«Wie sie wohl heissen mag? Julia, Roberta oder gar Natascha?»

Dann, - er denkt sich gerade einen kniffligen Zug aus und ist in seinen Gedanken versunken, hört er plötzlich die Stimme des Mädchens: «Guten Tag, wie läuft das Spiel?»

Er erschrickt, es hört sich an, als ob ein Engel zu ihm sprechen würde. Ängstlich schaut er auf. Endlich steht sie wieder da und schaut auf ihn herab.

«Schön dich wieder zu sehen. Hast du Lust zu spielen», fragt er, nachdem er sich wieder etwas gefasst hat.

«Eigentlich schon, aber ich sehe, dass du gerade in einer interessanten Partie steckst, ich schaue noch ein bisschen zu, vielleicht kann ich so etwas lernen.»

Sie setzt sich ihm gegenüber auf die Wiese. Er macht seinen nächsten Zug und wartet gespannt, wie der Computer darauf antwortet. Bis der nächste Zug angezeigt wird, hat er Zeit und beobachtet das Mädchen. Sie hat tatsächlich schöne braune Augen. Heute trägt sie ein buntes T-Shirt und blaue Jeans.

«Wie heisst du?», fragt er und ist erleichtert, dass er die Frage endlich gestellt hat.

«Rebekka, aber alle nennen mich Rebi und, - wie heisst du?»

«Ach, ich bin der Max.»

Der Computer zeigt seinen Zug an und der gibt Max zu denken, es steht schlecht um ihn, noch ein solcher Fehlzug von ihm und er kann aufgeben. In dieser Situation würde er um eine oder zwei Stufen herunterstellen, aber jetzt getraut er sich nicht. Doch dann sieht er plötzlich einen guten Ausweg aus der misslichen Lage. Er macht seinen Zug, jetzt muss er lange Warten bis die Antwort des Computers kommt, den diesmal hat der ein Problem.

«Das dauert aber lange», meint Rebi, «da hast du ihm eine harte Nuss zum Knacken aufgegeben.»

Stumm warten die beiden auf die Antwort vom Computer. Max hätte sich die Haare raufen können, aber es fällt ihm nichts ein, was er Fragen könnte, dabei hätte ihn so vieles interessiert, aber er hat Angst, dass sie ihn ebenfalls ausfragt und da kann er nicht gross auftrumpfen. Endlich zeigt der Computer seinen Zug an.

«Aa, er macht den erwarteten Zug», freut sich Max, «er hat es nicht bemerkt.»

Max zieht seinen Zug und das Warten geht wieder los.

«Bist du oft hier?», fragt Rebi.

«In letzter Zeit schon, ich liebe diesen Platz, er ist so ruhig.»

«Ja, es ist sehr ruhig hier», meint sie, dann sitzen sie wieder stumm da.

«Oh, - dieser Mistkerl», schimpft Max, als der nächste Zug angezeigt wird, «jetzt kann ich aufgeben.»

«Darf ich dich etwas fragen?», das Mädchen schaut Max schüchtern an.

«Fragen darf man immer», antwortet Max, «ich weiss nur nicht, ob ich antworten kann. Ich hoffe die Frage ist nicht zu schwer.»

«Weisst du», beginnt Rebi schüchtern mit der Frage, «weisst du, wie Gott aussieht und wo er wohnt?»

Max ist total überrascht, mit so einer Frage hat er überhaupt nicht gerechnet.

«Das ist wirklich eine sehr schwere Frage. Ich weiss nicht, ob ich die richtige Person bin, sie zu beantworten. Was meinen deine Eltern dazu?» versucht er etwas Zeit zu gewinnen.

«Das ist ja mein Problem», beginnt Rebi und nun sprudelt es nur so heraus, «wenn ich meine Eltern etwas frage, sagen sie immer, Gott weiss schon, warum das so ist, du musst nur Gott fragen, der wird dir den rechten Weg zeigen; passe nur auf, Gott sieht schon, wenn du nicht brav bist.

Alles was ich frage, wird im Zusammenhang mit Gott gebracht und deshalb ist es für mich sehr wichtig, zu wissen, wer Gott überhaupt ist. Auf meine Gebete habe ich bis jetzt keine Antwort erhalten.»

«Weisst du Rebi», antwortet Max vorsichtig, «diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, jeder stellt sich da etwas anderes vor. Ich könnte dir jetzt meine Meinung über Gott erklären, aber ob es für dich das Richtige ist, kann ich nicht versprechen, dazu müsste ich dich besser kennen.»

«Aber was hat das mit Gott zu tun?», fragt Rebi verwundert, «wenn Gott alles weiss und kann, so hat das sicher mit mir nichts zu tun.»

«Da irrst du dich. Jeder Mensch kann sich selber seine Gedanken über Gott machen, nur muss er auch damit umgehen können und wenn ich dir jetzt erzähle, wie ich zu Gott stehe, so hilft dir das nicht weiter! Wenn ich dir erklären würde, wie du dir Gott vorzustellen kannst, muss ich auch die Verantwortung dafür übernehmen, dass du damit leben kannst. Das vergessen leider viel Prediger.»

Rebi kann mit der Antwort von Max nicht viel anfangen und sitzt einige Zeit stumm da.

«Warum fragst du nicht deinen Pfarrer?», will Max wissen.

«Ach, für den ist alles so selbstverständlich. Da redet Moses mit Gott, wie mein Vater mit seinem Chef, dann macht er schnell sein Wunder, später ist er wieder zornig und am Schluss vergibt er wieder alles. Nur wie er aussieht, dieser Gott, das darf man ihn nicht fragen, das ist Gotteslästerung! Wie es zu diesen Wundern kam, das ist für den Pfarrer so selbstverständlich, dass man sich dumm vorkommt, wenn man danach fragt und ob die Strafen gerecht, oder ungerecht sind, darf man sich auch nicht fragen, das ist allein die Angelegenheit von Gott.»

In ihren Augen kann Max lesen, wie sehr sie diese Fragen interessiert und dass sie niemanden hat, der ihr darauf eine klare Antwort geben will, oder kann. Ist es seine Sache, sich in ihr Leben einzumischen? Kann sie mit seinen Vorstellungen, die er sich über Gott macht, leben? Ausserdem ist er über seine Ansicht zu Gott selber verunsichert, in letzter Zeit hat er sich zu diesem Thema überhaupt keine Gedanken mehr gemacht. Irgendwie muss er auf ein anderes Thema ablenken, also meint er: «Willst du nochmals eine Partie spielen?»

«Du weichst der Frage auch aus!», stellt sie fest, «eine klare Antwort ist für mich interessanter als Schach spielen, aber eben, niemand will mit mir über solche Sachen reden.»

«Aber Rebi, versteh mich doch, ich habe zur Zeit selber grosse Probleme und weiss nicht, wer in diesen Fragen recht hat, ausserdem habe ich mich schon lange nicht mehr mit solchen Fragen beschäftigt», versucht er sich herauszureden, «wenn du mich für den Anfang etwas Einfacheres, Erklärbares fragen könntest, will ich mich bemühen, eine richtige Antwort zu finden.»

«Was verstehst du unter einer einfachen Frage? Für mich ist jede Frage, die ich mir nicht beantworten kann, gleich schwer?»

«Für mich gibt es schon Unterschiede, ich kann dir zum Beispiel recht gut erklären, wie ein Computer funktioniert, denn davon verstehe ich etwas, das habe ich gelernt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es dich interessiert und ausserdem, weiss ich nicht, ob ich es einfach erklären kann.»

«Das ist wieder typisch, die Erwachsenen interessieren sich nur für Dinge, mit denen man Geld verdienen, oder die Umwelt kaputt machen kann.»

«Es kann sein, dass du da Recht hast, aber wir haben es halt so gelernt. Während der ganzen Schulzeit wurde immer auf unser Berufsziel hingearbeitet und ich gebe zu, dass ich jahrelang nur für den Beruf gelebt habe. Meine Interessen galten immer technischen Sachen, die Natur wurde in meiner Erziehung vernachlässigt.»

«Da ist es kein Wunder, dass so viele Tiere vom Aussterben bedroht sind. Vielleicht können sie mir diese Frage beantworten, wieso darf der Mensch über das Schicksal von Tieren bestimmen?

«Das ist immer noch eine schwere Frage, aber sie liegt mir doch schon bedeutend näher, als das Problem mit Gott, da weiss ich wenigstens, um was es geht. Ob ich kompetent genug bin, ist nicht sicher.»

«Na, wie ist das jetzt mit den Tieren?»

«Wenn ich mich an meine Jugend erinnere, so war das so! - Am Abend ist man mit dem Vater durch den Garten spaziert, mit Sperberaugen wurde jeder Schädling aufgespürt und gnadenlos vernichtet. Es wurde ganz klar unterschieden, in nützliche und schädliche Tiere. Es war ganz selbstverständlich, dass eine Schnecke sofort getötet wurde. Wehe, wenn eine Laus oder eine Raupe sichtbar wurde. Mein Vater holte noch am selben Tag die Giftspritze und versprühte in grosser Panik das Gift, meistens mit der dreifachen Konzentration, als die, welche eigentlich nötig gewesen wäre.»

«Es ist also wieder das alte Lied, die Erziehung ist an allem schuld, man ist nicht schlecht, man wurde nur falsch erzogen», mit traurigem Blick schaut das Mädchen Max an, «immerhin hast du dich bemüht, eine Antwort zu geben. Ich muss jetzt sowieso nach Hause.»

«Es ist auch nur eine Erklärung aus meiner bescheidenen Sicht, wie ich es erlebt habe, ich hoffe, dass unsere Generation die Jugend etwas besser aufs Leben vorbereitet. Leider kann ich diese Probleme auch nicht lösen, ausserdem habe ich nicht die Macht dazu. Ich kann ja versuchen, mich bis zum nächsten Treffen umfassender zu informieren. Auf solche Fragen bin ich im Moment nicht vorbereitet. Auf jeden Fall war es interessant, mit dir zu reden, ich hoffe, wir sehen uns wieder?»

«Wenn es geht schaue ich wieder vorbei, in einer Woche haben wir Schulferien und da fahre ich zu meiner Grossmutter. Vielleicht kann ich die nächste Woche noch einmal vorbeischauen. Viel Spass beim Schachspielen. Tschüs Max.»

«Tschüs Rebi, - schöne Ferien, wenn wir uns nicht mehr treffen.»

Max schaut dem Mädchen lange nach, bis es hinter einer Biegung verschwunden ist. Er wäre ihm gerne gefolgt. Es hätte ihn interessiert, wo Rebi wohnt. Doch es ist besser, wenn sich die Begegnungen rein zufällig ergeben. Die Diskussion mit Rebi hat ihm sehr gutgetan, sie ist zwar nur ein kleines Mädchen, aber sie ist die erste Person seit mehreren Monaten, mit der er ein ernstes Gespräch geführt hat. Nach Monaten des Alleinseins, ist das wie ein Durchbruch zu einem Neuanfang.

In der Nacht hat er sehr schlecht geschlafen, die Fragen von Rebekka lassen ihm keine Ruhe. Wie wurde dieses Mädchen erzogen? Anscheinend wird alles auf Gott fixiert. Gott sieht alles, Gott bestraft alles, Gott vergibt alles. Eigentlich ist diese Erziehungsmethode veraltet, aber es gibt anscheinend immer noch Eltern, welche den Weg des geringsten Widerstands gehen, es ist viel einfacher zu sagen: Gott hat es so gewollt, als eine vernünftige Erklärung abzugeben.

Am nächsten Tag muss Max wieder zum Arbeitsamt. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiter und niemand unternimmt etwas dagegen. Es ist das letzte Mal vor den Ferien, in den Sommerferien muss man nicht stempeln gehen. Was sicher die Beamten genauso freut, wie die Arbeitslosen. Obwohl die Beamten sehr effizient arbeiten, dauert es lange, bis Max endlich an die Reihe kommt. Danach verlässt er sofort das Arbeitsamt und macht sich auf den Weg zur Bibliothek. Er weiss noch nicht recht, wie er an das Problem mit Gott herangehen soll. Also sucht er zuerst Bücher aus, welche sich einfach mit der Natur und dem Leben von Tieren befassen. Es ist sehr heiss und er zieht sich in den Schatten eines Baumes zurück. Nach langer Zeit beginnt er wieder zu lesen.

Dazwischen beobachtet er immer wieder den Weg, aber Rebi kommt heute nicht. Dafür vertieft er sich immer mehr in sein Buch, der Autor versucht die Zusammenhänge der Natur zu erklären, was ihm teilweise gut, in gewissen Punkten jedoch nur mittelmässig und schwerverständlich gelingt. Trotzdem kommt er schnell vorwärts. Das erste Mal stellt er fest, dass arbeitslos sein, auch seine guten Seiten hat. Dass Rebekka heute nicht kommt, macht ihm gar nicht viel aus, da er sich noch nicht genügend vorbereitet fühlt, um die Diskussion fortzusetzen. Er hofft, dass er bei der nächsten Begegnung ihre Fragen besser beantworten kann.

Im späteren Nachmittag hat er einen grossen Teil des Buches gelesen. Danach legt er sich an seinen Platz und denkt einfach nach. Er muss das Gelesene erst verarbeiten.

Welche Aussichten hat unsere Erde? unsere Erde! Liegt da bereits das Problem? Ist es wirklich unsere Erde? Seit Generationen hat der Mensch das Gefühl, er kann mit der Erde machen was er will.

Als er jung war, wurde nur nach technischem Fortschritt gestrebt. Man erfand Maschinen, man produzierte, man machte Geschäfte, man kaufte und niemand wusste, warum wir diese oder jene Maschine oder diese Geräte brauchten. Wer etwas erfand, das eigentlich niemand brauchen konnte, der organisiert einfach eine intensive Werbekampagne und schon lief das Geschäft. Jeder kaufte das Gerät, auch wenn er es nur ein, zwei Male brauchte. Noch schlimmer war, dass man so billig wie nur irgendwie möglich produzieren musste. Kosten für den Umweltschutz, waren Ausgaben, welche das Produkt nur teuer machten, aber nichts einbrachten. Die Ursache der Umweltprobleme war ihm eigentlich schnell klar, man lebte jahrelang über den Verhältnissen, man verlor das Gefühl für brauchbare und unbrauchbare Dinge und über allfällige Spätfolgen machte man sich gar keine Gedanken. Die Erde war unermesslich gross und der Mensch so unermesslich klein, dass es unmöglich schien, dass der Mensch die Erde in irgendeiner Form beeinflussen konnte. Gott, respektive die Natur ist viel zu mächtig, dass er sich von uns schwachen Menschen ins Handwerk pfuschen lässt.

Das ist alles gut und recht, aber was kann ein Max Meier an der ganzen Sache ändern? Gut, er ist arbeitslos, das heisst, dass er sich an der weiteren Zerstörung der Erde nicht mehr so stark beteiligt, denn auch seine Flaschen müssen hergestellt und entsorgt werden. Aber genügt das? Reicht es aus, wenn eine Person ein bisschen weniger Schmutz produziert? Je mehr er darüber nachdenkt, umso klarer wird ihm, dass er das Problem selber nicht lösen kann. Da könnten vielleicht Politiker etwas ausrichten, aber auch die geraten sehr schnell unter enorme Sachzwänge.

Da ist der Herr Direktor der Firma X, welche gerade der Partei eine grosse Spende hat zukommen lassen, da muss man auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen, das heisst, man muss sich mit den Journalisten gut stellen, denn die machen die öffentliche Meinung. Für Max gibt es da noch die egoistische Seite, er möchte gerne wieder eine Arbeit haben und die gibt es erst wieder, wenn die Wirtschaft floriert. Und wie soll man das alles einem kleinen Mädchen erklären? Gut so klein ist sie auch nicht mehr, aber die Probleme sind so komplex, dass man sie jemandem, ohne breite Allgemeinbildung nicht so leicht erklären kann. Dann schläft er plötzlich ein. Er träumt wie man die Erde retten könnte, es war alles so einfach und klar, doch als er aufwacht, weiss er leider nicht mehr, was er geträumt hat.

Urlaub in Ägypten

Max steigt aus dem Bus, der ihn vom Flughafen zum Bahnhof gebracht hat. Nun steht er auf diesem belebten Platz und beobachtet skeptisch die vielen Menschen, welche alle in ihrer typisch gemütlichen Art, den Platz bevölkern. Auf der Strasse kämpfen sich Hunderte von Autos durch den Verkehr, jedes sieht aus wie das andere, nur die Nummer auf der Türe ist unterschiedlich. Es sind die berühmten Taxis von Kairo. Max kann es noch gar nicht glauben, aber er steht in Kairo.

Bis zum Aussteigen aus dem Bus ist seine Reise vom Reisebüro organisiert, doch ab diesem Zeitpunkt, muss er sich selbst organisieren. Als Erstes beschafft er sich einen Stadtplan von Kairo, dann hängt er seinen Rucksack um und macht sich auf die Suche nach einem Hotel.

Unschlüssig steht er vor dem Bahnhof, als auch schon ein junger, hochgewachsener Araber, Max in gebrochenem Englisch fragt: «Kann ich dir helfen?»

«Entschuldigung, mit mir kannst du kein Geschäft machen! Ich habe keinen Job und reise günstig», antwortet Max auf englisch.

Max kann seinen nächsten Schritt nicht in aller Ruhe planen. Der arabische Junge weiss genau was er braucht. In seinem gestenreichen Englisch, wird eifrig diskutiert und verhandelt. Nach einiger Zeit schlürft Max hinter Mustafa her. Wenigstens hat der begriffen, dass er nicht wie andere Touristen, im Taxi reisen will, sondern lieber zu Fuss geht. Dieser Umstand schreckt Mustafa in keiner Weise ab, sondern bestärkt ihn nur noch in seiner Überzeugung, dass er genau der richtige Fremdenführer für Max ist.

Voller Zweifel folgt Max seinem neuen Freund. Hat er die richtige Wahl getroffen? Immerhin hat er den erstbesten Jungen, der ihn angesprochen hat, zu seinem privaten Fremdenführer gemacht und nun folgt er ihm durch dieses Menschengewühl, ohne zu wissen, wohin es geht. Lockt er ihn in einen Hinterhalt, um ihn auszurauben? Max ist wachsam. Nebst einer Kreditkarte trägt er einige kleine Dollarscheine auf sich. Zudem musste er bereits am Flughafen, eine grössere Menge ägyptische Pfund wechseln, da er kein Reisearrangement gebucht hat. Schon diese paar Pfund wären vermutlich für diesen Jungen ein Vermögen.

Nach mindestens einer halben Stunde Fussmarsch durch Kairo, hält Mustafa bei einem kleinen Hotel, in dem sonst nur Einheimische absteigen. Mustafa erledigt alle Formalitäten und verabschiedet sich. Max ist froh, dass er seinen Schatten los ist, denn er ist todmüde und will sich ausruhen.

Das Zimmer ist sehr klein und ausser einem Bett und einem Stuhl, bietet es keinen weiteren Luxus. Die Toilette und das Bad befinden sich auf dem Flur. Das Bett ist recht bequem und sauber bezogen. Also legt er sich hin und kann endlich in Ruhe nachdenken.

Bevor Rebekka zu ihren Grosseltern in die Osterferien fuhr, hatte er sie noch einmal getroffen. Sie spielte zusammen eine Partie Schach. Es gab keine allzu grosse Diskussion über Gott. Max fühlte sich noch nicht ausreichend vorbereitet. Er versuchte etwas mehr über das Mädchen zu erfahren. Rebekkas Mutter arbeitet aushilfsweise, in einem Altersheim, allerdings in unregelmässigen Abständen. Ihre Eltern sind sehr religiös und besuchen jeden Sonntag die Versammlung in einer kleinen Kapelle. Die genaue Bezeichnung der Vereinigung kann, oder will sie ihm nicht sagen. Für ihn spielt das keine Rolle, denn er kennt die Grundsätze dieser Gemeinschaft sowieso nicht.

Nach der Abreise von Rebekka, vertrieb sich Max die Zeit mit Lesen. Er war wieder allein und es kam zu ein paar Rückfällen, er vermisste Rebekka und darüber tröstete er sich einige Male, mit einer Flasche Wein aus dem Supermarkt. Es wurde jedoch nie mehr so schlimm, wie vor dem ersten Treffen mit Rebekka. In seiner Hütte konnte er kaum noch schlafen, da im Frühling bis tief in die Nacht Leute unterwegs sind. So war seine Bleibe immer mehr gefährdet. Er beschloss, in die Ferien zu fahren. Das Arbeitsamt bewilligt die Ferien, denn momentan sind die Aussichten auf eine Stelle gering.

Nach langem hin und her, wagte er es, bei einem Reisebüro anzufragen. Eigentlich wäre er gerne nach Israel, dem Land der Bibel, gefahren. Die Angebote waren aber sehr teuer.

Dann stellte er fest, dass ein Last-Minute Ticket nach Kairo keine hundert Franken kostet. Die müssen Touristen aus dem Osterurlaub zurückfliegen und so ist der Flug extrem günstig.

Ägypten hatte letztes Jahr ebenfalls schwer unter dem Corona-Virus zu leiden. Die Krankheit forderte vor allem unter den Strassenhändler und in der Tourismus-Industrie viele Opfer. Besonders Männer erkrankten, die Frauen waren durch den Schleier besser geschützt, was sich später in der Statistik bemerkbar machte.

Nun versuchen die Ägypter, die Tourismus-Industrie langsam wieder in Schwung zu bringen. Wenn er die günstigeren Lebensbedingungen in Kairo einrechnet, müsste ihn der Kairoausflug am Ende günstiger zu stehen kommen, als wenn er in Olten bleibt.

Schliesslich ging alles sehr schnell. Bei Walter Zingg holte er seinen Fotoapparat, stopfte den Schlafsack und den Schachcomputer in den Rucksack und verabschiedet sich von Walter.

Auf der Bank lud er sich einige Dollars, auf eine Kreditkarte, welche nur Kreditkarte heisst, aber nicht überzogen werden kann und schon trampte er per Autostopp nach Kloten. Sein Kairoabenteuer konnte beginnen. In der Flughafentoilette zog er seine besten Kleider an und los ging die Reise. Während er nachdenkt, wie es Rebekka bei ihrer Grossmutter geht, schläft er ein.

Als er wieder aufwacht, stellt er fest, dass er hungrig ist. Er sucht die Toilette auf, um sich etwas frisch zu machen. Sobald er die Toilette betreten hat, bereut er, dass er nicht in einem besseren Hotel abgestiegen ist. Die Einrichtungen sind sehr primitiv und der Geruch ist überwältigend. Natürlich hat es nur kaltes Wasser, das in einem schwachen Rinnsal aus dem Hahn läuft. Auf den Toiletten kann man nur im Stehen.

Kurze Zeit später verlässt er das Hotel und macht sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Von einem Strassenhändler kauft er einen Spiess. Danach setzt er sich in eine kleine Strassenkneipe, in welcher Einheimische heftig diskutierten und bestellt einen Pfefferminztee. Dann denkt er über sein Ägyptenabenteuer nach.

«Warum ist er nach Ägypten geflogen?»

Eigentlich weiss er es selber nicht. Er fühlt nur, dass in den Pyramiden, vielleicht die Antwort auf die Frage: «Wer ist Gott?», versteckt sein könnte. Er ist aber nicht so optimistisch, die Antwort zu finden, nachdem vor ihm Tausende von studierten Leuten, keine Antwort darauf gefunden haben. Weiter überlegt er sich, welche Sehenswürdigkeiten er in Ägypten besuchen will. Da steht sicher der Besuch der Pyramiden an erster Stelle, dann das ägyptische Museum, Luxor mit dem Tal der Könige und dem Karnak-Tempel, Abu Simbel und den Assuan Staudamm. Er hat genügend Zeit, sich alles anzusehen, drei Wochen sind eine lange Zeit.

Nach einer Weile gibt ihm das Herumsitzen auf die Nerven, die Versuchung ist zu gross, immer den Männern zuzusehen, wie sie miteinander gestikulieren. Er hat das Gefühl, es sei ihnen unangenehm, wenn er sie dauernd beobachtet. Also kramt er aus seinem Rucksack, den er vorsichtshalber, wenn auch ohne Schlafsack und Kleider, mitgenommen hat, seinen Schachcomputer hervor und beginnt zu spielen. Er wählt eine relativ schwere Stufe, mit der er ziemlich zu kämpfen hat.

Nun ist er so ins Spiel vertieft, dass er seine Umwelt praktisch vergisst. Plötzlich fällt ihm auf, dass der Geräuschpegel in der Kneipe nicht mehr regelmässig ist, sondern zwischen Ruhe und lautem kommentieren wechselt und genau in dem Rhythmus, in welchem er seine Züge zieht. Vor einem Zug herrscht gespannte Ruhe und nach jedem Zug wird lautstark kommentiert. Verlegen schaut sich Max um, jeder hat seinen Stuhl so gestellt, dass er einen Blick aufs Schachbrett werfen kann. Max wird ganz verlegen, aber das anerkennende Nicken der Männer macht ihm Mut, sie halten ihn für einen guten Spieler. Max bereut, dass er nicht eine schwächere Stufe eingestellt hat, denn, wenn man beim Schachspiel beobachtet wird, macht man schnell einen Fehler und auf dieser Stufe darf er sich keinen Fehler erlauben, sonst ist die Partie verloren.

Erfreut stellt Max fest, dass die Leute ihm die Daumen drücken. Wenn er einen Bauer verliert, geht ein enttäuschtes Raunen durch die Kneipe. Als er die Dame erobern kann, kommt es zu einem Sturm der Begeisterung, als wenn in einem Fussballstadion ein Tor fällt. Die Spannung erlebt den Höhepunkt, als seine Dame immer mehr eingekesselt wird und eigentlich keine Aussicht mehr besteht, sie zu retten, doch ein Zug, nachdem er die Dame verloren hat, stösst Max mit seinem Turm auf die Grundlinie vor und die Partie ist beendet. Schachmatt! Das Erstaunen im Lokal ist gross, denn die wenigsten haben diesen Zug gesehen, durch den Abzug des Pferdes, welches ihm die Dame raubte, war die Grundlinie nicht mehr gedeckt.

Nach diesem Sieg wird Max wie ein König gefeiert. Seinen Tee muss er nicht bezahlen und das nächste Glas steht auch schon auf seinem Tisch. Als Max die Figuren neu aufstellen will, kommt der Wirt und zeigt auf seine Uhr, es ist unmissverständlich, das Lokal muss schliessen.

Als Max am nächsten Morgen nach einem überraschend guten Frühstück auf die Strasse tritt, wartet Mustafa bereits auf ihn. Er diskutiert eifrig mit einem Jungen, welcher gestern beim Schachspielen zugeschaut hatte. Sobald sie ihn erblicken, hört die Diskussion auf. Mustafa begrüsst Max freundlich. Auch Aladin, wie der andere Junge heisst, begrüsst ihn wie einen alten Freund. Max muss einsehen, dass er mit zwei Fremdenführern zu den Pyramiden reisen muss. In einer gestenreichen Rede versucht er ihnen klar zu machen, dass er sie nicht bezahlen kann, was sie aber nicht von ihrem Vorhaben abbringen kann.

«Du guter Freund», erklären sie ihm, «was willst du heute sehen?»

Es ist natürlich klar, dass Max am ersten Tag gleich zu den Pyramiden will.

«Wir nehmen die Strassenbahn», schlägt Mustafa vor.

Dies ist allerdings leichter gesagt als getan. Die Strassenbahn ist, hoffnungslos überfüllt. Max ist das erste Mal froh, dass er zwei Führer bei sich hat. Sie schimpfen so mit den Leuten an der Tür, dass sich mindestens fünf Leute aus dem Tram verabschieden und auf das Nächste warten. Eingeklemmt zwischen seinen Führern, die Kamera fest umklammert, zwängt sich Max auf das Trittbrett. Er kommt nicht weit ins Innere des Wagens, doch es reicht, dass er einigermassen sicher nach Gizeh gelangt. Der Geruch ist nicht sehr angenehm und in Gizeh ist er froh, dass ihm nichts gestohlen wurde.

Sogar, dass er zwei Fremdenführer hat, erweist sich als Vorteil, denn Max ist sofort umringt von laut gestikulierenden Jungs, welche sich ebenfalls als Führer anerbieten, es wäre unmöglich gewesen, ohne einen solchen zu den Pyramiden zu kommen. Aber das energische Einschreiten seiner beiden Freunde, gibt ihm die nötige Bewegungsfreiheit. So heftig um den Job gestritten wird, wenn einmal klargestellt ist, wer zu wem schaut, hat man seine Ruhe.

Nach einem kurzen Fussmarsch sieht Max endlich die Spitzen der drei Pyramiden auftauchen und kurze Zeit später, kann er sie in der vollen Grösse betrachten. Er ist überwältigt, wie es wohl jedem Besucher geht, wenn er das erste Mal vor diesen Riesen steht.

Seine beiden Führer zeigen sich von der besten Seite, sie sind echte Profis und es wird ihnen sogar gestattet, sich frei in der Pyramide zu bewegen, ohne dass sie sich einer Gruppe anschliessen müssen, ein grosser Unterschied ist es allerdings nicht, da doch dauernd Gruppen unterwegs sind.

Der ganze Tag ist geprägt von zahlreichen neuen Eindrücken. Am Abend geht es total erschöpft zurück ins Hotel. Aladin macht ihn darauf aufmerksam, dass man ihn heute Abend in der Strassenkneipe erwartet. Er soll schon zum Nachtessen kommen, denn der Wirt will ihm eine Mahlzeit offerieren.

Nachdem Max fünf Tage lang in Kairo von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit geführt wird, nimmt er sich vor, den heutigen Tag in aller Ruhe zu geniessen. Er fährt am Morgen nochmals zu den Pyramiden, mischt sich diesmal nicht in den Touristenstrom, sondern setzt sich etwa zweihundert Meter von den Pyramiden entfernt, auf einen Stein und denkt darüber nach, was er in dieser Woche alles gesehen hat. Auch heute kommen Mustafa und Aladin mit. Damit er seine Ruhe hat, hat er das Schachspiel dabei und die Zwei spielen gegeneinander. So kann Max in aller Ruhe die Pyramiden betrachten und seine Überlegungen anstellen.

Warum stehen diese Riesen in der Wüste? Wer hat sie gebaut? Was war die Motivation für diese Schinderei? Er versucht sich die tausend Sklaven vorzustellen, wie sie die schweren Steine langsam in die Höhe schleiften. Die Pyramiden seien in zwanzig Jahren gebaut worden, das macht rund 7‘000 Tage. Bei 2.3 Millionen Steinblöcken, mussten an einem Tag mehr als dreihundert Steine gesetzt werden. Das macht in der Stunde immer noch dreissig Stück, was wiederum heisst, dass alle zwei Minuten ein Stein an seinen Ort gebracht wurde. Wenn man berücksichtigt, dass in grosser Höhe langsamer gearbeitet wurde, so musste sicher in der Anfangsphase jede Minute ein Stein gesetzt werden. Eine unglaubliche Leistung, auch vom Organisatorischen her. Wenn man dann noch die wunderbaren Kunstwerke berücksichtigt, welche auch in diesen zwanzig Jahren geschaffen wurden, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Warum wurden diese Bauwerke gebaut? Dachten die Pharaonen schon an die Millionen Touristen, welche ihren Nachkommen zu Arbeit und Brot verhelfen? Wohl kaum? Warum war der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod so stark? Waren es die Überlegungen von einigen wenigen Menschen? Den Priestern und Pharaonen! Oder war es ein Mittel, das Volk zu beherrschen? Waren ausserirdische Besuche daran beteiligt, wie EvD vermutet.

Max hatte eigentlich nie den Eindruck, dass beim Pyramidenbau mit überlegener Technik gearbeitet wurde. Allerdings gibt es nicht viele Darstellungen von Steine schleppenden Sklaven. Dabei müsste doch diese Baustelle so eindrücklich gewesen sein, dass die Künstler dieses Motiv nicht hätten übersehen können. Und doch könnten die ausserirdischen Götter die Motivation für dieses gewaltige Bauvorhaben gewesen sein. Hatten diese Angst vor einem Atomkrieg und wollten sie einige Leute nach der Katastrophe wieder ins Leben zurückholen und mussten diese deshalb an einem sicheren Ort aufbewahrt werden?

Max beginnt sich einige Möglichkeiten auszudenken. Zuerst die klassische mit den diktatorischen Pharaonen. Er versucht sich vorzustellen, wie diese auf die Idee gekommen waren, solche Bauwerke zu erstellen? War es ein Baumeister, der einfach eine Offerte einreichte und dem Pharao einreden wollte, dass er sich mit diesem Bau unsterblich macht?

Max hat doch erhebliche Mühe mit diesem Gedanken. Immerhin waren die Pyramiden nicht kontinuierlich immer grösser geworden, sondern bereits die ersten Pharaonen bauten die grössten Pyramiden. Gut, in Sakkara hat es am Anfang noch nicht richtig geklappt und es kam zu einem Unfall, doch schon die nächsten wurden zu den riesigen Pyramiden. Es waren also die ältesten Kulturen, welche die gewaltigsten Bauten errichteten, ganz im Gegensatz zu der üblichen menschlichen Art, welcher immer grösser zu bauen pflegt.

Später wurden die Bauten wieder einfacher. Zu denken gibt ihm auch, dass der Hauptaufwand in Bauten für die Toten konzentriert wurde und weniger in Palästen für die lebenden Priester und Könige. Die lebten auch in Palästen, aber im Vergleich zum Aufwand für die Toten, blieben die Paläste relativ bescheiden.

Wenn die Pharaonen die treibende Kraft waren, dann muss man sich am Ersten eine Diktatur vorstellen, ähnlich jener des dritten Reichs. Dies ist für Max sehr erstaunlich, dass bereits eine der ersten grossen Kultur, die grösste Diktatur der Geschichte wahren. Daraus müsste man eigentlich ableiten, dass die Diktatur die ursprünglichste Regierungsform ist. Dieser Gedanke entspricht gar nicht dem Geschmack von Max und er sucht nach einer anderen Lösung.

Wieder versetzt er sich in Gedanken zurück in diese Zeit. Diesmal stellt er sich vor, dass Ausserirdische auf der Erde wirken. In ihrem Raumschiff umkreisten sie die Erde. Nur an einigen Stellen der Erde konnten sie landen. Die meiste Zeit verbrachten sie in ihrem Raumschiff, in dem sie angenehme Lebensbedingungen vorfanden. Sie interessierten sich für die Erdbewohner und möchten sie in ihrer Entwicklung voranbringen. In ihrem Raumschiff hatten sie jedoch nicht viele Rohstoffe mitnehmen können, also waren sie darauf angewiesen, dass mit irdischen Baustoffen gebaut wurde. Für den Abbau der Rohstoffe, wurden die Erdbewohner angelernt. Dank ihrer überlegenen Technik konnten sie diese mühelos beherrschen. Sicher wurden auch Versuche gemacht, die Erdbewohner mit den Ausserirdischen zu kreuzen, die späteren Göttersöhne! Warum sie am Nil eine Kultur aufbauten, wissen vermutlich nur die Götter selbst. War es das Klima mit ausreichend Wasser, oder war es die Tatsache, dass das Wetter hier sehr beständig ist und man jederzeit landen konnte? Auf jeden Fall war es ein Punkt, welcher vom Weltraum aus sehr gut gefunden werden konnte und sicher beim Landeanflug weniger Probleme aufgab, als die Orte im südamerikanischen Dschungel.

Max stellt sich vor, wie in der Wüste die Raumschiffe gelandet sind. Waren es die Pharaonen selber oder waren die Pharaonen die Nachkommen der Besucher? Auf jeden Fall würde dadurch ihre enorme Macht verständlich.

Vielleicht waren sie auf der Erde zurückgeblieben und erwarteten, dass sie wieder von einem Raumschiff abgeholt wurden. Ob dieser Aufenthalt freiwillig oder unfreiwillig erfolgte, hätte Max sehr interessiert, aber solche Fragen konnten beim besten Willen nicht beantwortet werden, es bleibt nur die Spekulation. Konnten für den Bau, einige spezielle Baumaschinen eingesetzt werden? oder war es einfach der Überlebenswille der Zurückgebliebenen. Die ihr Leben unbedingt weiter verlängern wollten, dass sie von den wiederkehrenden Astronautenkollegen gefunden und sie später auf ihren Heimatplaneten wieder ins Leben zurückkehren konnten. Ob sie dort effektiv zum Leben erweckt werden sollten, oder ob es nur darum ging, dass sie dort begraben sein wollten, spielt an und für sich keine Rolle. Der Aufwand, mit welchem das Leben nach dem Tod vorbereitet wurde, deutet eher auf eine Wiedererweckung hin.

Wie sahen sie wohl aus? Woher kamen sie? Warum konnten sie nicht mehr zurück? Was machten sie hier? Lauter interessante Fragen, doch die Antworten sind sehr schwer auffindbar. Er hat sich jedoch vorgenommen, Rebekka eine glaubwürdige Erklärung für Gott zu geben. Er will sie nicht mit Standardfloskeln abspeisen, und da muss er zumindest selber sicher sein.

In Gedanken sah er die Pharaonen vor sich, wie sie die Leute anwiesen, was zu tun war. Bei der geringsten Auflehnung wurde nicht lange gefackelt, denn ohne ihre Waffen waren die Einwanderer gegen die Menge machtlos, also mussten sie jede Auflehnung im Keim ersticken. Max schauderte bei dem Gedanken, aber er konnte es sich nicht anders vorstellen, sicher versuchten sie die Ordnung vor allem dank Belohnungen aufrecht zu erhalten, daher ist sicher so häufig die Rede von einem gütigen Gott.

«Hallo, wo bist du?», fragt Aladin.

Sie haben ihre Partie beendet und nun fällt ihnen plötzlich auf, wie weit weg Max in Gedanken ist. Brutal wird Max in die Wirklichkeit zurückgeholt. Er weiss nicht mehr, wie lange er dagesessen und geträumt hat, aber es gefällt ihm, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen.

Sie mischen sich wieder unter die Leute und machen sich auf den Weg zur Strassenbahnstation.

Am späteren Nachmittag des nächsten Tages, kämpft sich Max in den Zug nach Luxor. Wie immer ist die dritte Klasse total überfüllt. Max hat von Mustafa einheimische Kleidung erhalten und mit seiner stark gebräunten Haut hätte man ihn glatt für einen Araber halten können.

Das Einsteigen ist für ungeübte nicht einfach, doch dank der Hilfe von Mustafa und Aladin, die ihn zum Bahnhof begleitet haben, gelingt es, durch das Fenster einzusteigen. Mustafa begleitet ihn auch nach Luxor. Einen Sitzplatz ist nicht zu finden. Das Stehen fällt einem allerdings leicht, es herrscht ein solches Gedränge, dass man nicht umfallen könnte.

Die Fahrt wird eine harte Angelegenheit, es dauert vier Stunden, bis sich Max wenigstens auf seinen Rucksack setzen kann. Dann dauert es nochmals einige Stunden, bis er sich endlich hinsetzen kann. Erschwerend kommt der unerträgliche Gestank hinzu, an den sich Europäer wohl nie gewöhnen können. Von der Toilette rinnt ein Bächlein quer durch das Abteil, die Toilette scheint verstopft zu sein.

Max ist total fertig, als er nach zwölf Stunden in Luxor eintrifft. Mustafa scheint das Ganze nichts auszumachen. Frisch, als wäre er erst eingestiegen verlässt Mustafa den Zug und steuert direkt auf eine Pferdekutsche zu. Er begrüsst den Kutscher wie einen alten Bekannten, dann steigt er ein und fordert Max auf, das gleiche zu tun. Max ist müde. Er vergisst, dass er sich einen solchen Luxus gar nicht leisten kann, was soll's, es kostet höchstens ein paar Pfund, in Kairo hat er ja zum Nulltarif gelebt.

Mit der Kutsche fahren sie Nil abwärts und bald liegen die letzten Häuser von Luxor hinter ihnen. Nach gut einem Kilometer biegen sie etwas vom Nil weg und halten bei einem grösseren Haus.

Mustafa wird freudig begrüsst. Es muss ein Verwandter der Familie sein. Die arabische Gastfreundschaft ist schon erstaunlich, so hart sie mit einem Unbekannten feilschen können, mit einem Freund teilen sie wirklich alles und das, ohne an eine Entschädigung zu denken. Im Gegenteil, sie wären beleidigt, wenn man die Gastfreundschaft bezahlen wollte. In der Beziehung können die Europäer von den Arabern einiges lernen.

Ausser den enormen Leistungen der alten Ägypter, hinterlässt auch die Natur im Niltal bei Max einen starken Eindruck. Es ist erstaunlich zu sehen, was alles wächst, sofern Wasser zugeführt wird. Dagegen ist ein Meter weiter nichts mehr als Wüste. Fehlt das Wasser, ist der Boden sandig und steinig. Man gelangt mit einem Schritt vom Paradies in die Wüste. Die Bewässerungsmethode der Ägypter erscheint uns recht primitiv. Mit ihren einfachen Wasserrädern, angetrieben von Ochsen, Dromedaren oder Eseln, bewässern sie ihre Felder. Wir Europäer hätten die Tiere schon längst durch elektrische Pumpen ersetzt. Jeder Bauer würde so viel Wasser wie nur irgendwie möglich, auf seine Felder bringen, mit dem Ergebnis, dass andere nichts mehr bekämen und er selber den Boden überfordert. Man kann nur hoffen, dass die Ägypter bei ihrer Bewässerungsart bleiben und sich nicht von einem eifrigen Pumpenverkäufer animieren lassen, auf elektrische Pumpen umzustellen, sonst könnte ein Paradies sehr schnell zum letzten Mal aufblühen, um dann für immer zu verdorren.

Im Tal der Könige ist Max viel unterwegs. Auch hier findet er keinen direkten Hinweis auf seine Frage: «Wer war Gott?»

Die enormen Leistungen, welche vor viertausend Jahren vollbracht wurden, versetzen uns in Staunen und doch gibt es auch Darstellungen, welche wir heute wohl schöner zeichnen würden. Es gibt auch keine Hinweise auf abstrakte Kunst, was wohl bedeutet, dass das Fotografieren noch nicht bekannt war. Das Ziel war immer noch etwas so darzustellen, wie man es sah. Noch mehr Probleme hat Max mit den Göttern, welche Kreuzungen zwischen verschiedenen Tieren darstellen.

«Welchen Schluss soll man daraus ziehen?», fragt sich Max. Gab es die Götter in dieser Form wirklich? Dies würde einige Hinweise in alten Schriften auf die Sodomie bestätigen. Aber man findet keine Mumien und Skelette von solchen Wesen. Wo sind sie geblieben, wenn sie doch Götter waren, müssten sie zuerst in den Sarkophagen zu finden sein. Man findet sie jedoch nur auf Bildern und in Stein gemeisselt. Waren es die falschen Götter, welche vom Richtigen Gott vernichtet wurden? Oder haben die Erdbewohner Ihre Götter, nie zu Gesicht bekommen, so dass sie, als sie verschwunden waren, in diese wilden Phantasien projiziert wurden? Versuchten die Priester, dem einfachen Volk, nur Eindruck zu machen, indem sie ihnen solche Wesen zeigten? Vor allem früher bewunderten die Menschen, die überlegenen Tiere, welche schneller laufen, länger schwimmen, oder Dürreperioden besser überstehen konnten und meistens auch mehr Nachwuchs zeugenten.

Mit Mustafa hat er eine Woche lang alle Tempel und Ruinen der Umgebung besucht. Mit zwei alten Fahrrädern gelangen sie überall hin, auch wenn es manchmal recht anstrengend ist und oft geschoben werden muss. Besonders die Fahrt nach Abu Simbel war eine harte Angelegenheit, obwohl sie einen grossen Teil der Fahrt auf dem Schiff zurücklegten. Von den Ruinen war Max enttäuscht, irgendwie wollte die Faszination, welche von anderen Orten ausging, dort nicht aufflammen. Vermutlich ist die moderne Technik doch noch zu gegenwärtig. Es fällt ihm auf, dass praktisch keine Touristen Abu Simbel besuchen.

Allmählich erkennt Max, dass die Ägyptenreise sehr interessant verläuft, aber die wesentlichen Fragen nicht beantwortet werden. Mit jeder möglichen Antwort sind neue Fragen verbunden. Er hat genug vom oberen Niltal gesehen und will zurück nach Kairo.

Er besorgt zwei Tickets. Diesmal bucht er die Fahrt nach Kairo, in der zweiten Klasse. Für Mustafa ist das die reinste Verschwendung. Am Anfang der Fahrt fühlen sie sich wie Könige und geniessen es, sich vom Kellner bedienen zu lassen. Herrscht in der dritten Klasse ein unglaubliches Gedränge, so ist es hier die Einsamkeit, welche einem bedrückt.

Erstaunt stellen sie fest, dass kein einziger Europäer im Zug reist. Er wundert sich darüber, denkt sich aber nichts dabei und geniesst die reichliche und qualitativ gute Mahlzeit, welche serviert wird. Danach legen sie sich ins gemachte Bett und schlafen schnell ein.

Max hat noch nicht tief geschlafen, als er plötzlich geweckt wird. Der Zug wird mit einer Vollbremsung gestoppt. Der Schaffner gestikuliert in Panik wie wild vor Max herum. Max realisiert, dass etwas nicht stimmt. Mustafa klärt ihn kurz auf.

«Der Zug wird von religiösen Fanatikern gestoppt. Der Schaffner befürchtet, dass sie es auf die Touristen abgesehen haben. Schnell ziehe deine arabische Kleidung an, wir müssen versuchen zu flüchten!»