Rituale - Octavia E. Butler - E-Book

Rituale E-Book

Octavia E. Butler

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Beschreibung

Zwischen zwei Welten

Die dreigeschlechtlichen Oankali haben die Menschen wieder auf der Erde angesiedelt, die nach dem Atomkrieg für Jahrhunderte unbewohnbar war. Jetzt leben Menschen und Aliens zusammen, doch nicht alles ist friedlich: Während einige Menschen den Handel mit den Fremden akzeptiert haben und „Konstruierte“, mit Ooloi-Genen veränderte Kinder, zur Welt bringen, leben andere in abgeschiedenen, rein menschlichen Gemeinschaften. Doch die Ooloi, Angehörige des dritten Oankali-Geschlechts, haben sie unfruchtbar gemacht, sodass keine menschlichen Kinder mehr geboren werden können. Akin ist der erste männliche Konstruierte. In ihm steckt mehr Menschliches als in jedem anderen Hybridwesen – doch er hat auch Oankali-Gene und versteht, dass die Vermischung der beiden Spezies notwendig ist, wenn die Menschheit weiter überleben will …

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Seitenzahl: 462

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OCTAVIA E. BUTLER

RITUALE

Xenogenesis 2

Das Buch

Die dreigeschlechtlichen Oankali haben die Menschen wieder auf der Erde angesiedelt, die nach dem Atomkrieg für Jahrhunderte unbewohnbar war. Jetzt leben Menschen und Aliens zusammen, doch nicht alles ist friedlich: Während einige Menschen den Handel mit den Fremden akzeptiert haben und »Konstruierte«, mit Ooloi-Genen veränderte Kinder, zur Welt bringen, leben andere in abgeschiedenen, rein menschlichen Gemeinschaften. Doch die Ooloi, Angehörige des dritten Oankali-Geschlechts, haben sie unfruchtbar gemacht, sodass keine menschlichen Kinder mehr geboren werden können. Akin ist der erste männliche Konstruierte. In ihm steckt mehr Menschliches als in jedem anderen Hybridwesen – doch er hat auch Oankali-Gene und versteht, dass die Vermischung der beiden Spezies notwendig ist, wenn die Menschheit weiter überleben will …

Die Autorin

Titel der Originalausgabe

ADULTHOOD RITES

Aus dem Amerikanischen von Barbara Heidkamp

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1988 by Octavia E. Butler

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Inhalt

Das Buch

Die Autorin

Widmung

Erster Teil – Lo

Zweiter Teil – Phönix

Dritter Teil – Chkahichdahk

ERSTER TEIL

1

Er erinnerte sich an vieles von seinem Aufenthalt im Schoß.

Während er dort war, begann er, sich Geräusche und Geschmäcke bewusst zu werden. Sie sagten ihm nichts, doch er erinnerte sich an sie. Als sie wiederkehrten, bemerkte er es.

Als ihn etwas berührte, wusste er, dass es etwas Neues war – eine neue Erfahrung. Die Berührung war zuerst erschreckend, dann tröstlich. Sie durchdrang schmerzlos sein Fleisch und beruhigte ihn. Als sie sich zurückzog, fühlte er sich beraubt, zum ersten Mal allein. Als sie wiederkam, freute er sich – eine weitere neue Empfindung. Als er dieses Sichzurückziehen und Wiederkommen ein paar Mal erlebt hatte, lernte er Vorfreude.

Er lernte Schmerz erst, als es Zeit für ihn war, geboren zu werden.

Er konnte Veränderungen fühlen und schmecken, die um ihn herum vorgingen – das langsame Drehen seines Körpers, dann später der plötzliche Schub kopfüber, die Kompression zuerst seines Kopfes, dann allmählich über die Länge seines Körpers. Er hatte Schmerzen auf eine dumpfe, vage Weise.

Dennoch hatte er keine Angst. Die Veränderungen waren richtig. Es war Zeit für sie. Sein Körper war bereit. Er wurde in regelmäßigen Stößen vorwärtsgetrieben und von Zeit zu Zeit durch die Berührung seines vertrauten Begleiters getröstet.

Da war Licht!

Sicht war zuerst ein Ausbruch von Schock und Schmerz. Er konnte dem Licht nicht entrinnen. Es wurde heller und schmerzhafter, erreichte sein Maximum, als die Kompression aufhörte. Kein Teil seines Körpers war frei von dem grellen, rauen Leuchten. Später würde er sich daran als Hitze, als brennend erinnern.

Es kühlte abrupt ab.

Etwas dämpfte das Licht. Er konnte noch immer sehen, doch sehen war nicht länger schmerzhaft. Sein Körper wurde sanft abgerieben, als er in etwas Weiches und Tröstliches eingetaucht lag. Er mochte das Reiben nicht. Es bewirkte, dass das Licht zu zucken und zu verschwinden, dann wieder abrupt sichtbar zu werden schien. Doch es war die vertraute Präsenz, die ihn berührte, ihn hielt. Sie blieb bei ihm und half ihm, das Reiben ohne Furcht zu ertragen.

Er wurde in etwas eingewickelt, das ihn überall berührte außer im Gesicht. Er mochte nicht das schwere Gefühl von ihm, doch es schloss das Licht aus und tat ihm nicht weh.

Etwas berührte die Seite seines Gesichts, und er drehte sich um, den Mund offen, um es zu nehmen. Sein Körper wusste, was zu tun war. Er saugte und wurde mit Nahrung und dem Geschmack von Fleisch belohnt, das so vertraut war wie sein eigenes. Eine Zeitlang nahm er an, dass es sein eigenes war. Es war immer bei ihm gewesen.

Er konnte Stimmen hören, konnte sogar einzelne Laute unterscheiden, obschon er keinen von ihnen verstand. Sie fesselten seine Aufmerksamkeit, seine Neugier. Er würde sich auch an diese erinnern, wenn er älter war und in der Lage, sie zu verstehen. Doch er mochte die sanften Stimmen, auch ohne zu wissen, was sie waren.

»Er ist wunderschön«, sagte eine Stimme. »Er sieht vollkommen menschlich aus.«

»Einige seiner Züge sind nur kosmetisch, Lilith. Schon jetzt sind seine Sinne mehr über seinen Körper verstreut als deine. Er ist … weniger menschlich als deine Töchter.«

»Das hatte ich mir gedacht. Ich weiß, dass sich dein Volk noch immer Sorgen macht über menschgeborene Männer.«

»Sie waren ein ungelöstes Problem. Ich glaube, wir haben es nun gelöst.«

»Aber seine Sinne sind doch in Ordnung?«

»Natürlich.«

»Das ist alles, was ich erwarten kann, schätze ich.« Ein Seufzer. »Soll ich dir danken, weil du dafür gesorgt hast, dass er so aussieht – dass er menschlich erscheint, sodass ich ihn lieben kann … für eine Weile?«

»Du hast dich noch nie bei mir bedankt.«

»… nein.«

»Und ich glaube, du wirst sie weiter lieben, auch wenn sie sich verändern.«

»Sie können nichts für das, was sie sind … was sie werden. Bist du sicher, dass auch alles andere in Ordnung ist? Dass all die nicht zusammenpassenden Stückchen von ihm so gut wie möglich übereinstimmen?«

»Es gibt nichts in ihm, was nicht zusammenpasst. Er ist sehr gesund. Er wird ein langes Leben haben und stark genug sein, zu ertragen, was er ertragen muss.«

2

Er war Akin.

Dinge berührten ihn, wenn dieser Laut gemacht wurde. Er wurde getröstet oder genährt, oder er wurde gehalten und gelehrt. Körper-zu-Körper-Verständnis wurde ihm gegeben. Er kam dahin, sich als sich selbst zu begreifen – individuell, abgegrenzt, separat von all den Berührungen und Gerüchen, all den Geschmäcken, Anblicken und Geräuschen, die ihn erreichten. Er war Akin.

Doch er lernte, dass er auch ein Teil der Menschen war, die ihn berührten – dass er in ihnen Bruchstücke von sich selbst finden konnte. Er war er selbst, und er war jene anderen.

Er lernte rasch, sie durch Geschmack und Fühlung zu unterscheiden. Er brauchte länger, um sie durch Ansehen oder Geruch zu erkennen, aber Geschmack und Fühlung waren fast eine einzige Empfindung für ihn. Beide waren ihm schon so lange vertraut gewesen.

Er hatte seit seiner Geburt Stimmunterschiede gehört. Nun begann er, mit diesen Unterschieden Identitäten zu verknüpfen. Als er, innerhalb von Tagen nach seiner Geburt, seinen eigenen Namen gelernt hatte und ihn laut sagen konnte, brachten ihm die anderen ihre Namen bei. Sie wiederholten sie, wenn sie sehen konnten, dass sie seine Aufmerksamkeit gewonnen hatten. Sie ließen ihn beobachten, wie ihr Mund die Worte formte. Er begriff rasch, dass jeder von ihnen durch eine oder beide von zwei Lautgruppen gerufen werden konnte.

Nikanj Ooan, Lilith Mutter, Ahajas Ty, Dichaan Ishliin und der, der nie zu ihm kam, obschon Nikanj Ooan ihm dessen Fühlung und Geschmack und Geruch beigebracht hatte. Lilith Mutter hatte ihm ein Printbild von ihm gezeigt, und er hatte es mit all seinen Sinnen untersucht: Joseph Vater.

Er rief nach Joseph Vater, und stattdessen kam Nikanj Ooan und brachte ihm bei, dass Joseph Vater tot war. Tot. Gestorben. Fortgegangen und würde nicht wiederkommen. Trotzdem war er ein Teil von Akin gewesen, und Akin musste ihn kennen, wie er alle seine lebenden Eltern kannte.

Akin war zwei Monate alt, als er begann, einfache Sätze zu bilden. Er konnte nicht genug davon bekommen, gehalten und unterrichtet zu werden.

»Er ist aufgeweckter als die meisten meiner Mädchen«, bemerkte Lilith, als sie ihn an sich hielt und ihn trinken ließ. Es hätte schwierig sein können, von ihrer glatten, wenig hilfreichen Haut zu lernen, außer dass sie ihm so vertraut war wie seine eigene – und oberflächlich betrachtet so wie seine eigene war. Nikanj Ooan lehrte ihn, seine Zunge zu benutzen – sein am wenigsten menschliches sichtbares Organ –, um Lilith zu studieren, wenn sie ihn stillte. Während vieler Fütterungen kostete er sowohl ihr Fleisch als auch ihre Milch. Sie war ein Sturm von Geschmäcken und Texturen – süße Milch, salzige Haut, glatt an manchen Stellen, rau an anderen. Er konzentrierte sich auf eine der glatten Stellen, richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, sie zu untersuchen, sie gründlich, minutiös wahrzunehmen. Er nahm die vielen lebenden und toten Zellen ihrer Haut wahr. Ihre Haut lehrte ihn, was es hieß, tot zu sein. Ihre tote äußere Schicht bildete einen deutlichen Kontrast zu dem, was er als das lebende Fleisch darunter wahrnehmen konnte. Seine Zunge war so lang und sensitiv und geschmeidig wie die Sinnestentakel von Ahajas und Dichaan. Er schickte eine Faser von ihr in das lebende Gewebe von Lilith' Brustwarze. Er hatte ihr weh getan, als er dies das erste Mal versucht hatte, und der Schmerz war durch seine Zunge zu ihm zurückgeleitet worden. Der Schmerz war so scharf und überraschend gewesen, dass er sich schreiend und weinend zurückzog. Er wollte sich nicht beruhigen lassen, bis Nikanj ihm zeigte, wie man untersuchte, ohne Schmerzen zu verursachen.

»Das«, hatte Lilith bemerkt, »war fast so, als wäre ich mit einer heißen, stumpfen Nadel gestochen worden.«

»Er wird es nicht wieder tun«, hatte Nikanj versprochen. Akin hatte es nicht wieder getan. Und er hatte eine wichtige Lektion gelernt: Er würde jeden Schmerz teilen, den er verursachte. Also war es am besten, vorsichtig zu sein und keine Schmerzen zu verursachen. Er würde Monate nicht wissen, wie ungewöhnlich es für einen Säugling war, den Schmerz einer anderen Person zu erkennen und sich selbst als die Ursache dieses Schmerzes zu erkennen.

Nun nahm er, durch die Fleischranke, die er in Lilith hineingestreckt hatte, Ausdehnungen von lebenden Zellen wahr. Er konzentrierte sich auf einige wenige Zellen, auf eine einzelne Zelle, auf die Bestandteile jener Zelle, auf ihren Kern, auf Chromosomen innerhalb des Kerns, auf Gene entlang der Chromosomen. Er untersuchte die DNS, welche die Gene bildete, die Nukleotide der DNS. Da war etwas jenseits der Nukleotide, das er nicht wahrnehmen konnte – eine Welt von kleineren Partikeln, in die er nicht hineingelangen konnte. Er verstand nicht, warum er diesen letzten Schritt nicht machen konnte – wenn es der letzte war. Es frustrierte ihn, dass irgendetwas jenseits seiner Wahrnehmung war. Er wusste davon nur durch vage, ungreifbare Gefühle. Als er älter war, kam er dazu, es als einen Horizont zu betrachten, der stets zurückwich, wenn er sich ihm näherte.

Er verlagerte seine Aufmerksamkeit von der Frustration über das, was er nicht wahrnehmen konnte, zu der Faszination dessen, was er wahrnehmen konnte. Lilith' Fleisch war weitaus aufregender als das Fleisch von Nikanj, Ahajas und Dichaan. Da war etwas verkehrt mit ihrem – etwas, das er nicht verstand. Es war sowohl erschreckend als auch verführerisch. Es sagte ihm, dass Lilith gefährlich war, obschon sie auch wichtig war. Nikanj war interessant, aber nicht gefährlich. Ahajas und Dichaan waren sich so ähnlich, dass er Mühe hatte, Unterschiede zwischen ihnen wahrzunehmen. In mancher Hinsicht war Joseph wie Lilith gewesen. Tödlich und zwingend. Doch er war Lilith nicht so ähnlich gewesen wie Ahajas Dichaan. Tatsächlich war er, obwohl er zweifellos ein Mensch gewesen und wie Lilith hier, auf dieser Erde, geboren worden war, nicht mit Lilith verwandt gewesen. Ahajas und Dichaan waren Geschwister, wie die meisten Oankalipaare. Ooloi sollten nicht mit ihrem männlichen und weiblichen Partner verwandt sein, sodass sie ihre Aufmerksamkeit auf die genetischen Unterschiede ihrer Partner konzentrieren und Kinder konstruieren konnten, ohne gefährliche Fehler von allzu großer Vertrautheit und allzu großem Selbstbewusstsein zu machen.

»Gib acht«, hörte er Nikanj sagen. »Er studiert dich wieder.«

»Ich weiß«, antwortete Lilith. »Manchmal wünsche ich, er würde einfach trinken wie Menschenbabies.«

Lilith rieb Akins Rücken, und das Flackern von Licht zwischen ihren Fingern und um sie herum störte seine Konzentration. Er zog sein Fleisch aus ihrem zurück, ließ dann ihre Brustwarze los und schaute Lilith an. Sie schloss Kleidung über ihre Brust, hielt ihn aber weiter auf ihrem Schoß. Er war immer froh, wenn Leute ihn hielten und miteinander redeten, sodass er zuhören konnte. Er hatte schon mehr Worte von ihnen gelernt, als er bisher zu benutzen Gelegenheit gehabt hatte. Er sammelte Worte und setzte sie allmählich zu Fragen zusammen. Wenn seine Fragen beantwortet wurden, erinnerte er sich an alles, was ihm gesagt wurde. Sein Bild von der Welt wuchs.

»Wenigstens ist er in seiner physischen Entwicklung nicht stärker oder schneller als andere Babies«, sagte Lilith. »Bis auf seine Zähne.«

»Es sind schon früher Babies mit Zähnen geboren worden«, erwiderte Nikanj. »Physisch wird er bis zur Metamorphose seinem menschlichen Alter entsprechend aussehen. Er wird sich seinen Weg aus etwaigen Problemen herausdenken müssen, die seine Frühreife schafft.«

»Das wird ihm bei manchen Menschen nicht viel nutzen. Sie werden es ihm übelnehmen, dass er nicht vollkommen menschlich ist und dass er menschlicher aussieht als ihre Kinder. Sie werden ihn hassen dafür, dass er viel jünger aussieht, als er klingt. Sie werden ihn hassen, weil sie keine Söhne haben durften. Deine Leute haben menschlich aussehende Jungen zu einer sehr kostbaren Ware gemacht.«

»Wir werden nun mehr von ihnen erlauben. Alle fühlen sich sicherer, was ihr Zusammenmischen betrifft. Bis jetzt konnten zu viele Ooloi die nötige Mischung nicht erkennen. Sie hätten Fehler machen können, und ihre Fehler könnten Monster sein.«

»Die meisten Menschen denken, dass sie genau das gemacht haben.«

»Du auch immer noch?«

Schweigen.

»Sei zufrieden, Lilith. Eine Gruppe von uns war der Meinung, dass es am besten sei, ganz auf menschgeborene Knaben zu verzichten. Wir könnten Mädchen für Menschenfrauen und Knaben für Oankalifrauen konstruieren. Wir haben das bis jetzt getan.«

»Und alle betrogen. Ahajas will Töchter, und ich will Söhne. Andere denken genauso.«

»Ich weiß. Und wir kontrollieren Kinder auf Weisen, wie wir nicht sollten, um sie reif zu machen als oankaligeborene Männer und menschgeborene Frauen. Wir kontrollieren Neigungen, die einzelnen Kindern überlassen bleiben sollten. Selbst die Gruppe, die vorschlug, dass wir diesen Weg einschlagen, weiß, dass wir es nicht sollten. Aber sie hatten Angst. Ein Knabe, der menschlich genug ist, um einer Menschenfrau geboren zu werden, könnte eine Gefahr für uns alle sein. Doch wir müssen es versuchen. Wir werden von Akin lernen.«

Akin fühlte sich enger an Lilith gehalten. »Warum ist er solch ein Experiment?«, wollte sie wissen. »Und warum sollten menschgeborene Männer ein solches Problem sein? Ich weiß, dass die meisten Vorkriegsmänner dich nicht mögen. Sie haben das Gefühl, dass du sie verdrängst und sie zwingst, etwas Perverses zu tun. Von ihrem Standpunkt aus gesehen haben sie recht. Doch du könntest die nächste Generation lehren, dich zu lieben, gleichgültig, wer ihre Mütter sind. Du müsstest nur früh damit anfangen. Sie indoktrinieren, bevor sie alt genug sind, andere Ansichten zu entwickeln.«

»Aber …« Nikanj zögerte. »Wenn wir so blind, so plump arbeiten müssten, hätten wir nicht handeln können. Wir müssten euch eure Kinder wegnehmen, bald nachdem sie geboren würden. Wir würden es nicht wagen, euch zu vertrauen, sie großzuziehen. Ihr würdet nur zum Züchten gehalten – wie nicht empfindungsfähige Tiere.«

Schweigen. Ein Seufzer. »Du sagst so scheußliche Dinge in einer so sanften Stimme. Nein, scht, ich weiß, es ist die einzige Stimme, die du hast. Nika, wird Akin die Menschenmänner überleben, die ihn hassen werden?«

»Sie werden ihn nicht hassen.«

»Doch, das werden sie! Er ist kein Mensch. Sie nehmen Anstoß an nichtmenschlichen Frauen, aber sie versuchen gewöhnlich nicht, ihnen zu schaden, und sie schlafen sogar mit ihnen – wie ein Rassist mit andersrassigen Frauen schläft. Aber Akin … Sie werden ihn als eine Bedrohung sehen. Verdammt, er ist eine Bedrohung. Er ist einer von denen, die sie ersetzen.«

»Lilith, sie werden ihn nicht hassen.« Akin fühlte sich aus Lilith' Armen gehoben und eng an Nikanjs Körper gehalten. Er rang nach Atem angesichts des Schocks bei dem Kontakt mit Nikanjs Sinnestentakeln, von denen viele ihn hielten, während sich andere schmerzlos in sein Fleisch gruben. Es war so einfach, sich mit Nikanj zu verbinden und zu lernen. »Sie werden ihn für schön halten und wie sie selbst«, fuhr Nikanj fort. »Wenn er alt genug ist, dass sein Körper enthüllt, was er wirklich ist, wird er erwachsen sein und fähig, sich zu behaupten.«

»Fähig, zu kämpfen?«

»Nur, um sein Leben zu retten. Er wird dazu neigen, Kämpfe zu vermeiden. Er wird sein wie oankaligeborene Männer jetzt – ein einsamer Wanderer, wenn er keine Partner hat.«

»Er wird sich mit niemandem niederlassen?«

»Nein. Die meisten Menschenmänner sind nicht gerade monogam. Kein konstruierter Mann wird es sein.«

»Aber …«

»Familien werden sich verändern, Lilith – sind im Begriff, sich zu verändern. Eine komplette konstruierte Familie wird aus einer Frau, einem Ooloi und Kindern bestehen: Männer werden kommen und gehen, wie es ihnen beliebt und wie sie aufgenommen werden.«

»Aber sie werden kein Zuhause haben.«

»Ein Zuhause wie dieses würde ein Gefängnis für sie sein. Sie werden haben, was sie wollen, was sie brauchen.«

»Die Fähigkeit, ihren Kindern Väter zu sein?«

Nikanj hielt inne. »Sie könnten beschließen, mit ihren Kindern in Verbindung zu bleiben. Sie werden nicht permanent mit ihnen zusammenleben – und kein Konstruierter, ob Mann oder Frau, jung oder alt, wird das als einen Mangel empfinden. Es wird normal für sie sein, und zweckmäßig, da es immer viel mehr Frauen und Ooloi als Männer geben wird.« Es raschelte mit seinen Kopf- und Körpertentakeln. »Handel bedeutet Veränderung. Körper verändern sich. Lebensweisen müssen sich verändern. Dachtest du, deine Kinder würden nur anders aussehen?«

3

Akin verbrachte einen Teil des Tags mit jedem von seinen Eltern. Lilith nährte ihn und lehrte ihn. Die anderen lehrten ihn nur, doch er ging eifrig zu ihnen allen. Ahajas hielt ihn gewöhnlich nach Lilith.

Ahajas war groß und breit. Sie trug ihn, ohne dass sie sein Gewicht zu bemerken schien. Er hatte nie Müdigkeit in ihr gespürt. Und er wusste, dass es ihr Spaß machte, ihn zu tragen. Er konnte Vergnügen fühlen, sobald sie Fasern ihrer Sinnestentakel in ihn grub. Sie war die erste Person, die ihn auf diese Weise mit mehr als einfachen Emotionen erreichen konnte. Sie war die erste, die ihm multisensorische Bilder und Signaldruck vermittelte und ihm half, zu verstehen, dass sie ohne Worte zu ihm sprach. Als er heranwuchs, begriff er, dass auch Nikanj und Dichaan dies taten. Nikanj hatte es sogar schon getan, bevor Akin geboren wurde, doch er hatte es nicht verstanden. Ahajas hatte ihn erreicht und ihn rasch gelehrt. Durch die Bilder, die sie für ihn schuf, erfuhr er von dem Kind, das in ihr wuchs. Sie übermittelte ihm Bilder von dem Kind und schaffte es sogar, dem Kind Bilder von ihm zu übermitteln. Es hatte mehrere Präsenzen: alle seine Eltern außer Lilith. Und es hatte ihn. Geschwister.

Er wusste, dass er männlich sein würde, wenn er groß war. Er verstand männlich, weiblich und ooloi. Und er wusste, dass, weil er männlich sein würde, das ungeborene Kind, das zu Beginn seines Lebens viel weniger menschlich erscheinen würde als er, schließlich weiblich werden würde. Es gab ein Gleichgewicht hierbei, eine Natürlichkeit, die ihm gefiel. Er sollte eine Schwester haben, mit der er aufwuchs – eine Schwester, aber kein Ooloigeschwister. Warum? Er fragte sich, ob das Kind in Ahajas ooloi werden würde, doch sowohl Ahajas als auch Nikanj versicherten ihm, dass es das nicht würde. Und sie wollten ihm nicht sagen, woher sie es wussten. Also sollte dieses Geschwister eine Schwester werden. Seine sexuelle Entwicklung würde Jahre dauern, doch Akin betrachtete es schon als »sie«.

Dichaan nahm ihn gewöhnlich, nachdem Ahajas ihn Lilith zurückgegeben und Lilith ihn gestillt hatte. Dichaan lehrte ihn über Fremde.

Zunächst waren da Akins ältere Geschwister; einige waren von Ahajas und wurden menschenähnlicher, und einige waren von Lilith und wurden oankaliähnlicher. Es gab auch Kinder von älteren Geschwistern, und schließlich, erschreckenderweise, nicht verwandte Leute. Akin konnte nicht verstehen, warum einige der Nichtverwandten Lilith ähnlicher waren, als Joseph es gewesen war. Und keiner von ihnen war wie Joseph.

Dichaan verstand Akins unausgesprochene Verwirrung.

»Die Unterschiede, die du zwischen Menschen – zwischen Menschengruppen – wahrnimmst, sind das Ergebnis von Isolation und Inzucht, Mutation und Anpassung an unterschiedliche Erdumgebungen«, sagte er, wobei er jeden Gedanken mit vielen, raschen Bildern illustrierte. »Joseph und Lilith wurden in völlig verschiedenen Teilen dieser Welt geboren – in seit langem getrennten Völkern. Verstehst du?«

»Wo ist Josephs Art?«, fragte Akin laut.

»Es gibt nun Dörfer von ihnen im Südwesten. Sie heißen Chinesen.«

»Ich will sie sehen.«

»Das wirst du. Du kannst zu ihnen gehen, wenn du älter bist.« Er ignorierte Akins Anfall von Frustration. »Und eines Tages werde ich dich auf das Schiff mitnehmen. Du wirst auch Unterschiede bei den Oankali sehen können.« Er vermittelte Akin ein Bild vom Schiff – eine gewaltige Kugel aus riesigen, immer noch wachsenden, vielseitigen Platten wie der Panzer einer Schildkröte. Es war in der Tat die äußere Schale eines Lebewesens. »Dort«, fuhr Dichaan fort, »wirst du Oankali sehen, die niemals auf die Erde kommen oder mit Menschen handeln werden. Im Augenblick bedienen sie das Schiff auf Weisen, die eine andere physische Form verlangen.« Er vermittelte Akin ein Bild, und Akin fand, dass es einer riesigen Raupe ähnelte.

Akin übertrug eine stumme Frage.

»Sprich laut!«, sagte Dichaan zu ihm.

»Ist es ein Kind?«, fragte Akin, der an die Veränderungen dachte, die Raupen durchmachten.

»Nein. Es ist erwachsen. Es ist größer als ich.«

»Kann es sprechen?«

»In Bildern, in taktilen, bioelektrischen und biolumineszenten Signalen, in Pheromonen und in Gesten. Es kann mit zehn Gliedmaßen gleichzeitig gestikulieren. Doch seine Kehl- und Mundteile bringen keine Sprache hervor. Und es ist taub. Es muss an Orten leben, wo es sehr laut ist. Die Eltern meiner Eltern hatten jene Form.«

Dies erschien Akin schrecklich – dass Oankali gezwungen waren, in einer hässlichen Gestalt zu leben, die ihnen nicht einmal erlaubte, zu hören oder zu sprechen.

»Was sie sind, ist für sie ebenso natürlich wie das, was du bist, für dich«, sagte Dichaan zu ihm. »Und sie stehen dem Schiff viel näher, als wir es können. Sie sind Gefährten für es, kennen seinen Körper besser als du deinen. Als ich ein wenig älter war als du jetzt, wollte ich einer von ihnen sein. Sie ließen mich ein wenig von ihrer Beziehung zum Schiff probieren.«

»Zeig es mir.«

»Noch nicht. Es ist etwas sehr Mächtiges. Ich werde es dir zeigen, wenn du etwas älter bist.«

Alles sollte geschehen, wenn er älter war. Er musste warten! Er musste immer warten! Frustriert hatte Akin aufgehört zu sprechen. Er konnte nicht umhin, alles zu hören und zu behalten, was Dichaan ihm sagte, doch er wollte tagelang nicht mehr mit Dichaan reden.

Und doch war es Dichaan, der begann, ihn in der Obhut seiner älteren Geschwister zu lassen, ihn sie untersuchen zu lassen – während sie ihn gründlich untersuchten. Sein Liebling unter ihnen war Margit. Sie war sechs Jahre alt – zu klein, um ihn zu tragen, doch er war zufrieden, wenn er auf ihrem Rücken reiten oder auf ihrem Schoß sitzen durfte, solange sie angenehm mit ihm umging. Sie hatte keine Sinnestentakel wie seine oankaligeborenen Geschwister, doch sie besaß Ansammlungen von sensitiven Knötchen, die wahrscheinlich Tentakel werden würden, wenn sie groß war. Sie konnte einige von ihnen an die glatten, unsichtbaren Sinnesflecken auf seiner Haut anpassen, und die beiden konnten sowohl Bilder und Emotionen als auch Worte austauschen. Sie konnte ihn lehren.

»Du solltest vorsichtig sein«, sagte sie, als sie ihn aus einem heftigen Nachmittagsregen in den Schutz ihres Familienhauses brachte. »Deine Augen folgen oft nicht. Kannst du mit ihnen sehen?«

Er dachte darüber nach. »Ich kann es«, antwortete er, »aber ich tue es nicht immer. Manchmal ist es einfacher, Dinge von anderen Teilen meines Körpers aus zu sehen.«

»Wenn du älter bist, wird man von dir erwarten, dass du dein Gesicht und deinen Körper Leuten zuwendest, wenn du mit ihnen sprichst. Du solltest schon jetzt Menschen mit deinen Augen ansehen. Wenn du es nicht tust, schreien sie dich an oder wiederholen Dinge, weil sie nicht sicher sind, ob sie deine Aufmerksamkeit haben. Oder sie fangen an, dich zu ignorieren, weil sie denken, dass du sie ignorierst.«

»Das hat noch niemand mit mir gemacht.«

»Sie werden es tun. Warte nur, bis du über das Stadium hinaus bist, wo sie versuchen, dumm mit dir zu reden.«

»Babysprache, meinst du?«

»Menschensprache!«

Schweigen.

»Keine Angst«, sagte sie nach einer Weile. »Sie sind es, auf die ich böse bin, nicht du.«

»Warum?«

»Sie kreiden es mir an, dass ich nicht wie sie aussehe. Sie können nichts dafür, und ich kann nichts dafür, dass ich mich darüber ärgere. Ich weiß nicht, wer schlimmer ist – die, die zurückschrecken, wenn ich sie berühre, oder die, die vorgeben, dass es in Ordnung ist und innerlich zurückschrecken.«

»Wie denkt Lilith?«, fragte Akin, nur weil er die Antwort schon wusste.

»Für sie könnte ich ebenso gut aussehen wie du. Ich erinnere mich, als ich ungefähr so alt war wie du, pflegte sie sich zu fragen, wie ich einen Partner finden würde, doch Nikanj erklärte ihr, dass es genug Männer für mich geben würde, bis ich groß sei. Danach hat sie nie mehr etwas gesagt. Sie rät mir, bei den Konstruierten zu bleiben. Meistens tue ich es.«

»Die Menschen mögen mich«, meinte Akin. »Ich schätze, weil ich wie sie aussehe.«

»Denk nur daran, sie mit deinen Augen anzusehen, wenn sie mit dir reden oder du mit ihnen. Und sei vorsichtig, wenn du sie probieren willst. Du wirst es dir nicht mehr lange erlauben können. Außerdem sieht deine Zunge nicht menschlich aus.«

»Die Menschen sagen, sie sollte nicht grau sein, aber sie begreifen nicht, wie anders sie wirklich ist.«

»Lass es sie nicht erraten. Sie können gefährlich sein, Akin. Zeig ihnen nicht alles, was du kannst. Aber … treib dich in ihrer Nähe herum, wenn du kannst. Studier ihr Verhalten. Vielleicht kannst du Dinge über sie sammeln, die wir nicht kennen. Es wäre bestimmt verkehrt, wenn irgendetwas von dem, was sie sind, verlorengeht.«

»Deine Beine schlafen ein«, bemerkte Akin. »Du bist müde. Du solltest mich zu Lilith bringen.«

»Gleich.«

Sie wollte ihn nicht abgeben, begriff er. Er hatte nichts dagegen. Sie war, so sagten die Menschen, grau und warzig – verschiedener als die meisten menschgeborenen Kinder. Und sie konnte ebenso gut hören wie jeder Konstruierte. Sie kriegte jedes Flüstern mit, ob sie wollte oder nicht, und wenn sie in der Nähe von Menschen war, begannen sie bald, über sie zu reden. »Wenn sie jetzt schon so schlimm aussieht, wie wird sie erst nach der Metamorphose aussehen?«, pflegten sie anzufangen. Dann spekulierten sie oder bemitleideten das Mädchen oder lachten es aus. Besser noch ein paar friedliche Minuten allein mit ihm.

Ihr voller menschlicher Name war Margita Iyapo Domonkos Kaalnikanjlo. Margit. Sie hatte alle vier seiner lebenden Eltern gemeinsam mit ihm. Ihr menschlicher Vater jedoch war Vidor Domonkos, nicht der verstorbene Joseph. Vidor – einige nannten ihn Victor – war in ein Dorf mehrere Meilen flussaufwärts gezogen, als er und Lilith einander überdrüssig wurden. Er kam zwei- oder dreimal im Jahr zurück, um Margit zu besuchen. Ihr Aussehen gefiel ihm nicht, trotzdem liebte er sie. Sie hatte gesehen, dass er es tat, und Akin war sicher, dass sie seine Emotion richtig verstanden hatte. Er war zu jung für Kontakt mit Fremden gewesen beim letzten Besuch des Mannes.

»Wirst du Vidor bitten, mich ihn berühren zu lassen, wenn er dich das nächste Mal besuchen kommt?«, fragte Akin.

»Vater? Warum?«

»Ich möchte dich in ihm finden.«

Sie lachte. »Er und ich haben viel gemeinsam. Er mag es allerdings nicht, wenn ihn jemand untersucht. Er sagt, er kann darauf verzichten, dass sich irgendwas durch seine Haut gräbt.« Sie zögerte. »Er meint es ernst. Er hat es mich nur einmal tun lassen. Sprich nur mit ihm, wenn du ihm begegnest, Akin. In mancher Hinsicht kann er genauso gefährlich sein wie jeder andere Mensch.«

»Dein Vater?«

»Akin … sie alle! Hast du noch keinen von ihnen untersucht? Kannst du es nicht fühlen?« Sie vermittelte ihm ein komplexes Bild. Er verstand es nur, weil er selbst einige Menschen untersucht hatte. Menschen waren ein zwingender, verführerischer, tödlicher Widerspruch. Er fühlte sich zu ihnen hingezogen und doch vor ihnen gewarnt. Wenn man einen Menschen tief berührte – ihn probierte –, fühlte man dies.

»Ich weiß«, erwiderte er. »Aber ich verstehe es nicht.«

»Sprich mit Ooan. Es weiß es und versteht es. Sprich auch mit Mutter. Sie weiß mehr, als sie zugeben möchte.«

»Sie ist ein Mensch. Du glaubst doch nicht, dass sie auch gefährlich ist, oder?«

»Nicht für uns.« Sie stand mit ihm auf. »Du wirst schwerer. Ich bin froh, wenn du endlich laufen lernst.«

»Ich auch. Wie alt warst du, als du laufen konntest?«

»Etwas über ein Jahr. Du bist es bald.«

»Neun Monate.«

»Ja. Es ist zu schade, dass du nicht so leicht laufen lernen konntest, wie du sprechen gelernt hast.« Sie brachte ihn zurück zu Lilith, die ihn fütterte und versprach, ihn mit in den Wald zu nehmen.

Lilith gab ihm nun Stückchen fester Nahrung, doch er nahm immer noch sehr gern ihre Brust. Der Gedanke, dass sie ihn eines Tages nicht mehr die Brust nehmen lassen würde, machte ihm Angst. Er wollte nicht so alt werden.

4

Lilith nahm Akin in einem Tuchsack auf den Rücken und ging mit ihm zu einem der Dorfgärten. Der Garten befand sich ein Stück flussaufwärts vom Dorf, und Akin genoss den langen Marsch durch den Wald. Auf jedem Ausflug gab es neue Geräusche, Gerüche und Anblicke. Lilith blieb oft stehen, um ihn neue Dinge berühren oder probieren zu lassen oder ihn tödliche Dinge betrachten und sich einprägen zu lassen. Er hatte entdeckt, dass seine Finger sensibel genug waren, um zu probieren, welche Pflanzen schädlich waren – wenn sein Geruchssinn ihn nicht vor der Berührung warnte.

»Das ist ein gutes Talent«, meinte Lilith, als er es ihr sagte. »Wenigstens ist es unwahrscheinlich, dass du dich vergiften wirst. Aber gib acht, wie du Dinge berührst. Einige Pflanzen richten Schaden an bei Kontakt.«

»Zeig sie mir!«, verlangte Akin.

»Das werde ich. Wir entfernen sie aus dem Gebiet, wenn wir sie sehen, aber sie finden immer den Weg zurück. Ich werde dich mitnehmen, wenn wir das nächste Mal beschließen, sie auszusondern.«

»Bedeutet aussondern das Gleiche wie entfernen?«

»Aussondern bedeutet selektiv entfernen. Wir nehmen nur die Pflanzen mit Kontaktgiften weg.«

»Ich verstehe.« Er hielt inne, während er versuchte, den neuen Geruch zu deuten, den er wahrgenommen hatte. »Da ist jemand zwischen uns und dem Fluss«, flüsterte er plötzlich.

»In Ordnung.« Sie hatten den Garten erreicht. Lilith beugte sich über eine Cassavapflanze und gab vor, Mühe zu haben, sie herauszuziehen, sodass sie sich beiläufig zum Fluss herumdrehen konnte. Es gab reichlich Gelände zwischen ihnen und dem Fluss – und reichlich Deckung.

»Ich kann sie nicht sehen«, sagte sie. »Du?« Sie hatte nur ihre Augen, mit denen sie sehen konnte, doch ihre Sinne waren schärfer als die anderer Menschen – irgendwo zwischen Mensch und Konstruiertem.

»Es ist ein Mann«, erklärte Akin. »Er hat sich versteckt. Er ist ein Mensch und ein Fremder.« Akin atmete den scharfen Adrenalingeruch des Mannes ein. »Er ist erregt. Vielleicht hat er Angst.«

»Er hat keine Angst«, meinte sie leise. »Nicht vor einer Frau, die Cassava auszieht und ein Baby dabei hat. Ich höre ihn jetzt, wie er sich bei dem großen Paranussbaum bewegt.«

»Ja, ich höre ihn auch!«, sagte Akin aufgeregt.

»Sei still! Und halt dich fest. Vielleicht muss ich laufen.«

Der Mann war stehen geblieben. Plötzlich trat er hervor, und Akin sah, dass er etwas in den Händen hielt.

»Verdammt!«, flüsterte Lilith. »Pfeil und Bogen. Er ist ein Widerständler.«

»Du meinst diese Stöcke, die er festhält?«

»Ja. Sie sind Waffen.«

»Dreh dich nicht so herum. Ich kann ihn nicht sehen.«

»Und er kann dich nicht sehen. Halt den Kopf unten!« Nun begriff Akin, dass er in Gefahr war. Widerständler waren Menschen, die beschlossen hatten, ohne die Oankali zu leben – und folglich ohne Kinder. Akin hatte gehört, dass sie manchmal konstruierte Kinder stahlen, die am menschlichsten aussehenden konstruierten Kinder, die sie finden konnten. Doch das war dumm, weil sie keine Ahnung hatten, wie das Kind nach der Metamorphose sein würde. Die Oankali ließen sie die Kinder ohnehin nie behalten.

»Sprichst du Englisch?«, rief Lilith, und Akin, der sich anstrengte, über ihre Schulter zu blicken, sah, wie der Mann Pfeil und Bogen senkte.

»Englisch ist die einzige menschliche Sprache, die hier gesprochen wird«, fuhr Lilith fort. Es beruhigte Akin, dass sie weder ängstlich klang noch roch. Seine Furcht wurde kleiner.

»Ich habe gehört, wie du mit jemandem gesprochen hast«, sagte der Mann. Sein Englisch hatte einen leichten Akzent.

»Halt dich fest!«, flüsterte Lilith.

Akin packte das Material des Tuchsacks, in dem sie ihn trug. Er hielt sich mit Händen und Beinen fest und wünschte, er wäre stärker.

»Mein Dorf ist nicht weit von hier«, sagte Lilith zu dem Mann. »Du wirst dort willkommen sein. Essen. Unterkunft. Es wird bald regnen.«

Der Mann kam näher. »Mit wem hast du gesprochen?«, wollte er wissen.

»Mit meinem Sohn.« Sie zeigte auf Akin.

»Was? Mit dem Baby?«

»Ja.«

Der Mann trat näher und starrte Akin an. Akin starrte zurück über Lilith' Schulter, als Neugier den letzten Rest seiner Angst überwältigte. Der Mann war ohne Hemd, schwarzhaarig, glattrasiert und untersetzt. Sein Haar war lang und hing seinen Rücken hinunter. Er hatte es in der Stirn in einer geraden Linie abgeschnitten. Etwas an ihm erinnerte Akin an das Bild, das er von Joseph gesehen hatte. Die Augen dieses Mannes waren schmal wie Josephs, doch seine Haut war fast so braun wie Lilith'.

»Der Junge sieht gut aus«, sagte er. »Was stimmt nicht mit ihm?«

Lilith blickte ihn an. »Nichts«, antwortete sie ausdruckslos.

Der Mann runzelte die Stirn. »Nichts für ungut. Ich meine nur … ist er wirklich so gesund, wie er aussieht?«

»Ja.«

»Ich habe kein Baby mehr gesehen seit vor dem Krieg.«

»Das kann ich mir denken. Willst du mit uns zum Dorf zurückkommen?«

»Wie kommt es, dass du einen Jungen haben durftest?«

»Wie kommt es, dass deine Mutter einen Jungen haben durfte?«

Der Mann trat einen letzten Schritt auf Lilith zu und war plötzlich zu nahe. Er stand völlig gerade da und versuchte, sie mit seiner steifen, zornigen Haltung und seinem starrenden Blick einzuschüchtern. Akin hatte schon gesehen, wie Menschen das miteinander machten. Es funktionierte nie bei Konstruierten. Akin hatte noch nie erlebt, dass es bei Lilith funktionierte. Sie bewegte sich nicht.

»Ich bin ein Mensch«, sagte der Mann. »Das kannst du sehen. Ich wurde vor dem Krieg geboren. Es ist nichts Oankalihaftes an mir. Ich habe zwei Eltern, beide Menschen, und keiner hat ihnen gesagt, wann und ob sie Kinder haben könnten und welches Geschlecht diese Kinder haben würden. Also, wieso durftest du einen Jungen haben?«

»Ich habe um einen gebeten.« Lilith streckte die Hand aus, ergriff den Bogen des Mannes und zerbrach ihn über dem Knie, bevor der Mann richtig begriff, was passierte. Ihre Bewegung war fast zu schnell für ihn gewesen, um ihr zu folgen, selbst wenn er damit gerechnet hätte.

»Du kannst gern Essen und Unterkunft bekommen, solange du möchtest«, sagte sie, »aber wir erlauben keine Waffen.«

Der Mann stolperte vor ihr zurück. »Ich habe dich mit einem Menschen verwechselt«, sagte er. »Mein Gott, du siehst wie ein Mensch aus.«

»Ich wurde sechsundzwanzig Jahre vor dem Krieg geboren«, erwiderte sie. »Ich bin durchaus ein Mensch. Aber ich habe andere Kinder in diesem Dorf. Du wirst keine Waffen zu ihnen mitnehmen.«

Er blickte auf die Machete, die an ihrem Gürtel hing. »Sie ist ein Werkzeug«, erklärte Lilith. »Wir benutzen sie nicht gegeneinander.«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist mir egal, was du sagst. Das war ein schwerer Bogen. Keine menschliche Frau hätte ihn mir wegnehmen und ihn so zerbrechen können.«

Lilith ging von ihm weg, zog ihre Machete heraus und schnitt eine Ananas ab. Sie hob sie vorsichtig auf, hieb das meiste von der stachligen Spitze ab und schnitt zwei weitere ab.

Akin beobachtete den Mann, während Lilith die Cassavas und Ananas in ihren Korb legte. Sie schnitt eine Bananenstaude ab, und als sie sicher war, dass sie frei von Schlangen und gefährlichen Insekten war, reichte sie sie dem Mann. Er trat einen raschen Schritt von ihr zurück.

»Trag das«, sagte sie. »Es ist in Ordnung. Ich bin froh, dass du gerade vorbeigekommen bist. Wir beide werden mehr tragen können.« Sie schnitt mehrere Dutzend Quatstränge ab – ein Oankaligemüse, das Akin liebte – und band sie mit dünnen Lianen zu einem Bündel zusammen. Sie schnitt auch dicke Scigeestängel ab, das die Oankali aus einer durch den Krieg mutierten Erdpflanze gezüchtet hatten. Die Menschen sagten, es hätte den Geschmack und die Textur des Fleischs eines ausgestorbenen Tiers – dem Schwein.

Lilith band die Scigeestängel zusammen und befestigte das Bündel hinter sich unmittelbar über den Hüften. Sie schwang Akin auf eine Seite und trug ihren vollen Korb auf der anderen.

»Kannst du ihn beobachten, ohne deine Augen zu benutzen?«, flüsterte sie Akin zu.

»Ja«, antwortete Akin.

»Tu es.« Und dem Mann rief sie zu: »Komm! Hier entlang.« Ohne zu warten, um zu sehen, ob der Mann ihr folgen würde, ging sie den Pfad zum Dorf hinunter. Eine Weile schien es, als ob der Mann zurückbleiben würde. Der schmale Pfad wand sich um einen mächtigen Baum herum, und Akin verlor den Mann aus den Augen. Es war kein Geräusch zu hören, dass er ihnen folgte. Dann wurde es plötzlich laut – hastende Füße, schweres Atmen.

»Warte!«, rief der Mann.

Lilith blieb stehen und wartete auf ihn. Er trug, bemerkte Akin, noch immer die Bananenstaude. Er hatte sie über seine linke Schulter geworfen.

»Behalt ihn im Auge!«, flüsterte Lilith Akin zu.

Der Mann kam näher, blieb dann stehen und blickte sie stirnrunzelnd an.

»Was ist los?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß einfach nicht, was ich von dir halten soll«, meinte er.

Akin fühlte, wie sich Lilith etwas entspannte. »Dies ist dein erster Besuch in einem Handelsdorf, nicht wahr?«, sagte sie.

»Handelsdorf? Also so nennt ihr sie.«

»Ja. Und ich möchte nicht wissen, wie ihr uns nennt. Aber verbring ein bisschen Zeit bei uns. Vielleicht wirst du unsere Definition von uns selbst akzeptieren. Du bist gekommen, um etwas über uns herauszufinden, nicht wahr?«

Er seufzte. »Vermutlich. Ich war ein Kind, als der Krieg ausbrach. Ich erinnere mich noch an Autos, Fernseher, Computer … ich erinnere mich wirklich. Doch diese Dinge sind nicht mehr real für mich. Meine Eltern … alles, was sie wollen, ist, in die Vorkriegszeit zurückzukehren. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass es unmöglich ist, aber es ist das, wovon sie reden und träumen. Ich verließ sie, um herauszufinden, was es sonst noch zu tun geben könnte.«

»Deine Eltern überlebten beide?«

»Ja. Sie leben noch. Verdammt, sie sehen nicht älter aus als ich jetzt. Sie könnten sich immer noch einem … einem eurer Dörfer anschließen und mehr Kinder haben. Aber sie wollen nicht.«

»Und du?«

»Ich weiß nicht.« Er schaute Akin an. »Ich habe noch nicht genug gesehen, um mich zu entscheiden.«

Sie streckte die Hand aus, um seinen Arm in einer Geste der Sympathie zu berühren.

Er ergriff ihre Hand und hielt sie zuerst, als ob er dachte, Lilith würde versuchen, sich loszureißen. Sie tat es nicht. Er hielt ihr Handgelenk fest und untersuchte die Hand. Nach einer Weile ließ er sie los.

»Ein Mensch«, flüsterte er. »Ich habe immer gehört, man könnte es an den Händen sehen – dass die … die anderen zu viele Finger hätten oder Finger, die sich auf nichtmenschliche Weise biegen.«

ENDE DER LESEPROBE