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Mit knapper Not entkommt Ronny der Abtreibung. Er wächst bei den Großeltern auf. Weil diese schon alt und zunehmend gebrechlich sind, lernt Ronny schon früh, selbstständig zu handeln. Er hat eine lockere Zunge und bringt damit seine Umgebung oft in Verlegenheit. Als sein Großvater und später seine Großmutter gestorben sind, kommt er mit 14 Jahren zu seiner alkoholsüchtigen Mutter und ihrem primitiven Freund. Nach schwierigen Monaten reißt er aus und landet auf der Straße. Dort entdeckt er die Verdienstmöglichkeiten als Strichjunge. Fünf lange, kalten Monaten kämpft er sich allein in der Großstadt durch. Per Zufall lernt er den fast zwanzig Jahre älteren Raffi kennen. Bei ihm findet er nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch tiefe Freundschaft. Nun kann er seinen Schulabschluss nachholen und eine Berufslehre anfangen. Spektakulär ist nicht nur Ronnys Lebenslauf, sondern vor allem sein Auftreten. Von großer Wortgewandtheit ergreift er mittels seiner verblüffenden Sprüche überall die Initiative. Außerdem vertraut er fest darauf, dass das Leben ihm günstig gesinnt ist. Seine Devise heißt: I am a Winner. Humorvoller, mitfühlsam und dramatisch.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Hans van der Geest
Ronny –I’m a winner
Von Hans van der Geest im Himmelstürmer Verlag bisher erschienen:
Wilde Treue - Frühjahr 2015, ISBN print 978-3-86361-548-2
Plötzlich Pflegeväter - Herbst 2016, ISBN print 978-3-86361-570-3
Das Kuckuckskind - Frühjahr 2017, ISBN 978-3-86361-629-8
Spätzünder Herbst 2018, ISBN print 978-3-86361-659-5
Der Schüchterne und der Sonnyboy, Frühjahr 2018
ISBN print 978-3-86361-684-7
Alle Bücher auch als E-book
Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg
www.himmelstuermer.de
E-Mail: [email protected]
Originalausgabe, Juni 2018
© Production House GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage Coverfoto: https://www.pexels.com/photo/adult-alone-bench-boy-281424/
Umschlaggestaltung: Simon Wüthrich und
Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
Foto: Gand van der Geest
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-681-6
ISBN e-pub 978-3-86361-682-3
ISBN pdf 978-3-86361-683-0
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.
„Hast du meinen Vater je gesehen?“
„Ach, Junge!“, sagt die Frau. Sie rutscht ein wenig in ihrem Bett hinauf und zieht das Leintuch nach. „Ich rede nicht gern darüber.“
Ronny schiebt seinen Stuhl ein wenig näher an das Bett seiner kranken Großmutter heran. „Wieso nicht?“
„Ach, es könnte dir wehtun. Es ist alles so lange her.“
„Komm, Omi! Wir reden doch über alles!“
„Nun, gut! Ich habe ihn einmal gesehen, zufällig. Ich hatte Kekse gebacken, wie immer zur Adventszeit. Dann bin ich nach Basel zu Petra, deiner Mutter gefahren, um ihr davon zu bringen.“
„Und da hast du meinen Vater gesehen!“
„Ja. Ich wollte mich gerade verabschieden, da kam er. Das ist das einzige Mal, dass ich ihn gesehen habe.“
„Wie hat er ausgesehen?“
„Ein ziemlich großer Mann. Du wirst sicher auch noch wachsen!“
„Bis jetzt gehöre ich immer zu den Kleineren!“
„Das ändert sich, wart nur ab!“
„Hat er mit dir geredet?“
„Nein, er hat nur Guten Tag gesagt. Er sprach nicht gut Deutsch, man hörte den Akzent.“
„Und sonst?“
„Sonst? Ich weiß es nicht mehr. Blonde Haare, nicht so dunkel wie du, und – nein, ich weiß nicht mehr, ob er blaue Augen hatte. Du hast deine dunklen Augen von Petra und vom Großpapa.“
„Sah er hübsch aus?“
„Ja, ein hübscher Mann! Er war noch jung, zwanzig ungefähr, und eher schüchtern, glaube ich.“
„Nicht so wie ich?“
„Nein!“, lacht sie. „So ein Wasserfall wie du war er nicht, aber vielleicht nur, weil er nicht gut Deutsch konnte.“
„Gibt es ein Foto von ihm?“
„Nein. Petra hat auch kein Foto. Das weiß ich aus der Zeit, da wir nach ihm gesucht haben. Sie war nicht eng mit ihm befreundet.“
„Wieso habt ihr ihn gesucht?“
„Weil Petra schwanger war! Das war so: An einem Nachmittag war er in der Beiz gewesen, wo Petra arbeitete. Dann wollte er später noch mit ihr nach Hause gehen. Und da Petra die Pille nahm, hat sie gedacht: Was soll‘s? Wenn ich dem Jungen ein bisschen Freude bereiten kann, wieso nicht?“
„Dann hat sie doch gar nicht schwanger werden können?“
„Eigentlich nicht, nein. Aber Petra guckt gern zu tief ins Glas, kotzt nachher manchmal – so erklären wir uns, dass sie trotz Pille schwanger wurde.“
„Ging sie noch mit anderen?“
„Nun, ganz sicher weiß ich das natürlich nicht. Mir hat sie geschworen, dass sie in jener Zeit mit keinem anderen Umgang hatte. Bloß dieser Tscheche, der sei zwei- oder dreimal bei ihr gewesen.“
„Also waren sie doch ein bisschen befreundet.“
„Ja, Petra mochte ihn. Aber für ihn war die Bekanntschaft unverbindlich. Er hat ihr nie seinen Familiennamen verraten und keine Adresse hinterlassen. Nur seinen Rufnamen kannte Petra: Zdenek. Er hat ihr nie geschrieben. Im neuen Jahr ist er mit dem Schiff, wo er arbeitete, verschwunden und nachher nie mehr bei ihr aufgetaucht.“
„Sie wollte mich abtreiben?“
„Eben. Sobald sie wusste, was los war, hat sie sich gegen die Schwangerschaft gewehrt. Nur weil Ron und ich uns für das Baby eingesetzt haben, hat sie auf die Abtreibung verzichtet, mit der Bedingung, dass sie es zur Adoption freigeben könne.“
„Wow!“
„Ja, mein lieber Schatz. Das muss dir wehtun, es tut mir leid! Aber du willst ja alles wissen.“
Die Frau streckt ihre Hand nach ihrem Enkel aus und streichelt ihn. „Dein Großvater und ich sind so froh gewesen, als du zu uns gekommen bist! Wir hätten schon so lange gern einen Sohn gehabt, und dann kam in unseren älteren Tagen ein so lieber Junge zu uns! Du hast uns unsagbar glücklich gemacht!“
„War es Petras Idee, dass ihr mich nehmt?“
„Nein! Wenn es nach ihr gegangen wäre, wärst du als Adoptivkind zu fremden Leuten gekommen. Aber sie fürchtete die amtlichen Ausfragereien. Als wir ihr sagten, wir könnten dich doch zu uns nehmen, ohne offizielle Erklärungen und Komplikationen, war sie sofort einverstanden. So haben wir die ganze Sache an den Behörden vorbeigeschmuggelt.“
Ronny lächelt sie an.
Die Frau richtet sich auf und steigt aus dem Bett. „So! Ich bin lang genug gelegen. Ich habe wieder Kraft.“
Seit ihrem Schlaganfall vor zwei Jahren legt sie sich zwei- oder dreimal am Tag für längere Zeit hin. Zuweilen schläft sie ein, meistens blickt sie still vor sich hin. Gegen Abend setzt sich Ronny oft zu ihr und erzählt ihr, was ihm in den Sinn kommt. Regelmäßig fragt er sie über die Vergangenheit aus. So direkt wie heute hat er sich noch nie nach seinem Vater erkundigt.
Ronny ist ihr Ein und Alles. Seit dem Tod ihres Mannes vor sieben Jahren wohnen bloß noch sie zwei zusammen. Ronny hat im Haushalt dauernd mehr Aufgaben übernommen, besonders, seit sie gebrechlich geworden ist. Mit seinen vierzehn Jahren tritt er wie ein selbständiger Mann auf. Er kennt sich im Einkaufen, Putzen und Rechnungen bezahlen bestens aus. In der Oberstufe macht er eine gute Figur, die Lehrerschaft ist zufrieden mit ihm. Für Hausaufgaben braucht er selten viel Zeit.
„Das Abendessen steht bereit, Omi!“, ruft er aus der Küche.
Die Frau bewegt sich an den Tisch. Ronny hat das übliche Essen hingestellt und Tee gemacht.
„Ich kann dir noch etwas über deinen Vater verraten. Das weiß ich von Petra. Er habe in seiner Heimat das Abitur gemacht und wollte studieren. Ihm habe das Geld aber gefehlt, deshalb sei er nach Deutschland gezogen, um dort das Geld für sein Studium zu verdienen. In der Tschechei selbst sei das damals unmöglich gewesen.“
„Es heißt Tschechien.“
„So!“
„Was wollte er denn studieren? Doktor, Ingenieur?“
„Nein, Jura. Er wollte Jurist werden.“
„Der weiß gar nicht, dass es mich gibt.“
„Eben! Er ist davon ausgegangen, dass Petra das verhütet hat.“
„Haben die denn kein Kondom benutzt?“
„Das weiß ich nicht genau. Petra hat mir nur gesagt, dass sie die Pille nahm. Und weißt du, lieber Ronny, sie war und ist ziemlich kopflos, vor allem wenn sie zu viel getrunken hat.“
„Findest du mich gescheit, Omi?“
„Hahaha! Ja, klar! So gute Noten wie du nach Hause bringst!“
„Bei der Gymprüfung bin ich aber durchgefallen!“
„Du wolltest gar nicht aufs Gym! Herr Boner hat dich dazu überredet.“
„Stimmt.“
„Du meinst wohl, du hättest deinen guten Verstand vom Vater? Gut möglich. Dein Bruder kann dir das Wasser nicht reichen.“
Ronnys Großmutter hieß Leni. Vor mehr als vierzig Jahren hatte sie geheiratet, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war. Ronald Niederberger war zwei Jahre älter gewesen. Es wurden ihnen zwei Töchter geboren, Nora und Petra. Petras Geburt war eine heikle Zangengeburt gewesen. Nachher konnte Leni keine Kinder mehr bekommen.
So dankbar wie die Eheleute für ihre Töchter waren, so traurig waren sie, dass ihnen kein Sohn beschert worden war.
Ronald hatte bei einer Transportfirma gearbeitet, zum Teil als Möbelträger, zum Teil als Buchhalter. Er hatte genügend gelernt, um die Administration der kleinen Firma zu erledigen. Regelmäßig hatte er Kurse absolviert, damit er die neusten Vorschriften für Steuern und Sozialabzüge kennenlernte. Für die Buchhaltung hatte er stets mehr Zeit einsetzen müssen, was für ihn beim Älterwerden nicht schlecht gewesen war: Umso weniger musste er sich mit Möbeln abrackern.
Leni hatte sich der Betreuung ihrer Kinder widmen können. Ronald war stolz darauf gewesen, dass sie nicht arbeiten musste. Sie hatten eine einfache Dreizimmerwohnung bezogen, im ersten Stock eines Hauses an der Florastraße in Olten, und sparsam gelebt.
Gekannt hatten sie sich lange vor der Heirat. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick gewesen. Erst als beide an einem Basar der christkatholischen Kirchgemeinde, zu der sie gehörten, mitgearbeitet hatten, waren sie näher miteinander in Kontakt gekommen. Ihre Hochzeit mit einer Feier in der prächtigen Stadtkirche war zum strahlenden Fest geworden.
Während Nora problemlos aufgewachsen und ein liebenswürdiges Mädchen geworden war, hatte Petra ihnen von Anfang an Sorgen bereitet. Sie war oft krank, weinte häufig, vertrug viele Speisen nicht und war auf Milchprodukte allergisch. Die Eltern wussten oft weder ein noch aus.
Im Kindergarten und in der Schule verursachte Petra dauernd Probleme. Sie wurde frech und machte aus jeder Kleinigkeit ein Riesentheater. Mit Mühe und Not schleppte man sie durch die Schuljahre hindurch. Einmal musste sie eine Klasse repetieren.
Nach der Primarschule kam sie in eine Klasse für solche, die für die normale Oberstufe zu schwach sind. Mit dreizehn fing sie an zu rauchen, und oft kam sie am Freitag- oder Samstagabend nicht nach Hause. Weder Aussprachen noch Drohungen halfen, sie in rechten Bahnen zu halten.
Mit sechzehn wurde sie schwanger. Sie kannte ihren Freund schon seit einiger Zeit. Jürg Fuchs war einiges älter als sie und arbeitete als Maurer.
Die Niederbergers waren schockiert. Hatten sie ihre Tochter doch oft davor gewarnt, mit Jungs vorsichtig zu sein! Ronald hatte ihr gezeigt, wie man mit einem Kondom umgeht, und ihr gesagt, dass sie unbedingt die Pille nehmen solle, wenn sie sich jemals überlege, mit einem Freund intim zu werden.
Sie war trotzdem ungewollt schwanger geworden. In dieser Situation traten die Eltern ihr nicht mehr mit Moral entgegen. Das Kind war gezeugt worden, das schuf Fakten. „Du bist noch sehr jung, Petra, aber ich gratuliere dir! Du wirst Mutter, und das ist etwas vom Schönsten!“, hatte Leni ihr gesagt.
Als großes Glück stellte sich heraus, dass Jürg zu seiner Verantwortung stand und sich auf das kommende Kind freute. Er heiratete Petra, zog in Basel mit ihr in eine einfache Wohnung, und zur rechten Zeit bekamen sie einen gesunden Jungen, den sie Michael tauften.
Es war wie ein Wunder. Auf einmal war Petra eine brave Frau geworden. Sie schaute zu ihrem Kind, besorgte den Haushalt, lernte kochen, bügeln und putzen und war nett zu ihren Eltern wie nie zuvor.
Ihre Schwester Nora hatte eine kaufmännische Lehre gemacht. Sie arbeitete in einem Supermarkt, wohnte noch zuhause und gab sich alle Mühe, für den kleinen Michi eine liebe Tante zu sein.
In ihrer Freizeit hatte sie viele Jahre bei den Pfadfindern verbracht. Sie war Leiterin geworden und betreute Gruppen mit jungen Mädchen. An einer überregionalen Zusammenkunft lernte sie einen gleichaltrigen Mann aus Glarus kennen, Jonas. Nach kurzer Zeit gingen sie miteinander.
Dann traf ein furchtbarer Schlag Petras Familie. Jürg stolperte ohne Sicherung bei der Arbeit, stürzte sechs Meter hinunter auf einen Betonboden, lag bewusstlos da und starb zwei Tage später im Krankenhaus.
Zur zusätzlichen Erschütterung ihrer Eltern erklärte Petra, dass Jürgs Tod für sie eine Befreiung sei. Es sei ihr schon lange klar gewesen, dass ihre Beziehung keine Zukunft habe.
Ihr Problem war die finanzielle Lage. Sie bekam eine monatliche Rente, die war knapp. Nun, da Jürg fehlte, konnte sie zudem kaum mehr allein aus der Wohnung weg. Michi war ihr immer schon eine Belastung gewesen, und das machte sich jetzt bemerkbar.
Man wies ihr einen Beistand zu, einen Herrn Stadelmann. Dieser musste nicht mehr tun als ab und zu bei Petra hineinschauen, ob alles in Ordnung sei. Petra war schlau genug, ihm heile Welt vorzuspielen.
Die Niederbergers halfen, was sie konnten. Sie nahmen ihren Enkel hin und wieder ein paar Tage zu sich, damit Petra ein wenig Freiraum bekam. Sie entdeckten jedoch mit Erschrecken, wie wenig Petra an ihrem Kind gelegen war. Sie waren nie Zeugen eines herzlichen Zusammenseins von Mutter und Kind. Petra tat nur das Nötige. Für zärtliche Momente schien ihr die Lust zu fehlen.
„Hast du Michi gern?“, fragte ihre Mutter sie.
„Gern, gern? Was soll das heißen? Er hat doch alles, was er braucht?“
„Nein, Petra. Jedes Kind braucht vor allem liebevolle Zuwendung.“
„Ich bin kein Muttertier, es tut mir leid. Gewollt habe ich ihn nicht, aber ich werde für ihn sorgen.“
Weder Leni noch Ronald konnten solche Kaltschnäuzigkeit verstehen. Eigentlich hatten sie ihre Tochter noch nie verstanden. Sie hatten sie doch in Liebe großgezogen? Wirkte ihre schwierige Geburt nach?
Petra fand eine Arbeit, wo sie ihr Kind mitnehmen konnte, und zwar auf einem Schiff. Auf einem Rheinschiff mit einer kleinen Besatzung wurde sie fürs Essen und die Kabinenpflege zuständig. Alle zwei Wochen gab es in Basel eine Pause von vier oder fünf Tagen, manchmal sechs. Sie mietete zwei Zimmer in einer Basler Wohnung.
Für die Niederbergers war dieser Zustand eine neue Quelle großer Sorgen. Die Schiffswelt war ihnen nicht vertraut, sie hatten davon negative Vorstellungen. Sie behielten sie für sich. Immerhin hatte Petra Arbeit gefunden.
Petra schien gut über die Runden zu kommen. Wenn sie ein paar Tage in Basel blieb, holten ihre Eltern Michi oft nach Olten. Auch Jürgs Eltern nahmen ihren Enkel regelmäßig zu sich.
Nach zwei Jahren gab Petra die Stelle auf dem Schiff auf und trat zum Service in einem Basler Lokal an, wo Schiffsleute verkehrten. Es war mehr eine Bar als ein Restaurant, obwohl man kleine Speisen anbot.
Schwierig war, dass Petra vor allem am Abend arbeiten musste. Mit einer Mitbewohnerin des Hauses kam sie überein, dass diese über ein Babyfon Michi überwachen konnte, wenn Petra nicht da war.
Petras Eltern hatten Bedenken. Sie gaben der wackeligen Konstruktion von Petras Alltag kaum Chancen. Wiederum holten sie Michi zu sich, wenn Petra in Schwierigkeiten war. Michi war gern bei ihnen. Er war lästig und lärmig, aber sonnte sich in der warmen Zuwendung, die er von seinen Großeltern bekam.
In dieser Situation telefonierte Petra eines Tages, um ihren Eltern mitzuteilen, dass sie wieder schwanger sei.
Die Konsternation war groß.
Petra war ebenfalls außer sich. Sie lebte zwar ohne Rücksicht, auch sich selbst gegenüber, rauchte und trank mehr als gut für sie war, aber sie war nicht dumm. Sie habe die Pille strikt eingenommen. Selbst ein Kondom hätten sie benutzt. Mit der Zeit gab sie allerdings zu, zu beschwipst gewesen zu sein, um alles genau kontrollieren zu können. Zudem war es ihr ein paar Mal übel geworden und hatte sie sich übergeben. Ob die Pille mit hinaus gespuckt worden war?
„Ich will das Kind auf keinen Fall!“, erklärte sie.
„Wieso nicht?“, fragte Leni.
„Wieso nicht? Ich habe schon einen Flegel, der mich Tag und Nacht nervt. Denkst du, ich will noch einen zweiten? Dann bring ich mich lieber um!“
Petras Eltern wussten, wie schwer es war, mit ihrer Tochter zu streiten. Mit Gewalt und Worten war nichts zu erreichen.
„Wie heißt der Mann?“, wollte Vater Niederberger wissen.
„Zdenek!“
„Wie schreibt man denn das?“
„Weiß ich nicht.“
„Und sein Familienname?“
„Weiß ich nicht.“
Sie versprachen Petra, ihr zu helfen, was sie konnten.
„Bis zum 4. Februar muss ich entscheiden, ob ich es wegmachen lasse. Und das werde ich tun.“
„Es bleiben dir noch zehn Tage. Warte noch, Petra!“, bat Leni.
In der ersten Aufregung fuhr Ronald nach Basel, um bei den Schifffahrtsgesellschaften nachzufragen. Er wollte unbedingt den Vater seines zukünftigen Enkelkindes herausfinden. Jemand sollte doch für das Kind aufkommen!
Er lief von Pontius zu Pilatus. Wenn er endlich so etwas wie eine Schiffstransportfirma gefunden hatte, kam seine Hilflosigkeit erst recht an den Tag. Die Firmenleute waren zwar hilfsbereit, doch Ron konnte ihnen für die Suche nach dem Kindsvater nichts anderes nennen als den Vornamen Sedenek oder Sedek, Senedeck oder Sindeck, und den ungefähren Termin seines letzten Aufenthalts in Basel Ende November letzten Jahres. Mit diesen Angaben konnten die Leute nichts anfangen. „Gehört sein Schiff denn zu unserer Gesellschaft?“
Ronald wusste es nicht. Er wusste nichts.
Man sagte ihm überall ungefähr dasselbe: Das ausländische Hilfspersonal auf den Schiffen werde hier nicht namentlich registriert. Die Firma befinde sich möglicherweise in Karlsruhe oder Mainz, und in diesem Fall müsse er dort nachfragen. Doch ohne Familiennamen sei auch das wahrscheinlich aussichtslos.“
Zwei volle Tage raste Ronald hin und her. Am Ende gab er auf. Sein ganzes Unternehmen war unsinnig gewesen. „Auch wenn er mich heiraten will, will ich das Kind nicht!“, rief Petra aus. „Und ich will ihn nicht heiraten, den Schnösel!“
Ronald fuhr nach Olten zurück. Der Gedanke an eine Abtreibung war für ihn und seine Frau erschreckend. Eine Adoption? Er sprach mit dem Pfarrer. Dieser bat Petra zu sich. Sie kannten sich noch vom Firmunterricht. Er deutete tatsächlich diese Lösung an. Petra solle das Kind austragen und zur Adoption freigeben.
Als Petra wieder bei den Eltern war, widerrief sie ihre Zustimmung. Dem Pfarrer hatte sie nicht zu widersprechen gewagt, doch er hatte sie nicht wirklich überzeugt. Es entstand ein neuer Kampf. Petra sträubte sich dagegen, monatelang umsonst die Schwierigkeiten einer Schwangerschaft zu erleiden.
„Es wird nicht umsonst sein. Das Kind muss leben können!“, erklärte Leni ihrer Tochter.
„Das merkt doch nicht, wenn ich es wegmachen lasse! Das ist doch kein Mord!“
„Doch! Nirgends im ganzen Weltall findest du ein so großes Wunder wie ein Menschenkind. Und du willst das wegwerfen? Nein, mein Kind, das kannst du vor Gott nicht verantworten!“
„So?“, reagierte Petra. „Und wenn die Leute sehen, dass ich mit einem dicken Bauch herumlaufe, was sagen sie dann über euch? Das wird euch als Schande angerechnet!“
„Kann sein, Petra. Ich finde das tatsächlich nicht lustig. Aber es ist nun einmal so, du erwartest ein Kind. Das ist grösser als alles, was die Leute schwatzen. Petra, bedenk das und lass es leben! Du musst es nicht behalten. Du kannst es anderen Menschen anvertrauen. Die werden dir dankbar dafür sein.“
Das war die Rede ihres Lebens gewesen. Lenis Worte hatten Kraft. Petra gab nach kurzer Zeit nach. Sie erklärte sich bereit, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben.
Ende Januar reiste sie zusammen mit der Mutter nach Zürich, zur Fachstelle für Adoption.
Es war katastrophal. Petra wurde mit Fragen über Fragen eingedeckt, und die Vorschriften waren dermaßen zahlreich und kompliziert, dass es ihr schwarz vor den Augen wurde.
Betreten reisten sie zurück. „Ich lass es wegmachen“, seufzte sie, als sie mit der Mutter in der Straßenbahn saß.
Petra blieb noch eine Nacht bei den Eltern in Olten. Ratlos verbrachten die Niederbergers den Abend mit ihrer Tochter. Sie mussten feststellen, dass Petra nicht zu den Adoptionsstrapazen bereit war. Resigniert gingen sie zu Bett.
In der Nacht wachte Leni auf. Sie sah, dass Ronald aus dem Bett gestiegen war und vor dem Fenster stand.
„Was ist los, Ron?“
Ron hob die Arme hoch und weinte.
„Was ist, Ron?“ Leni schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich auf.
„Ich glaube“, stotterte Ronald, „dass mich ein Engel besucht hat! Ich zittere am ganzen Körper. Ich habe eine Eingebung bekommen, und ich weiß, dass sie die Lösung ist! Gott erbarmt sich unser, Leni!“
„Wie meinst du denn das?“
Ron setzte sich auf die Bettkante zu ihr. Er fasste sie beim Arm und sagte: „Leni, wir beide, du und ich, wir nehmen das Kind! Petra trägt es aus, doch es wird unser Kind sein. Nora heiratet im Frühling, sie wird uns verlassen. Dann haben wir Platz und wir haben noch Kraft genug, ein drittes Kind großzuziehen. Ich bin 51, du bist 49, wir sind noch jung genug dazu.“
„Meinst du, wir sollten es adoptieren?“
„Nein, eben nicht. Das geht nicht. Wir müssen gar nichts machen. Das regeln wir unter uns mit Petra. Die wird froh sein, wenn keine Behörden schnüffeln kommen. Petra bringt ihr Kind einfach bei uns unter, basta!“
Leni schaute wie entgeistert vor sich hin.
„Nur, wenn du es auch willst, Schatz!“, sagte Ron.
„Petra muss es doch stillen!“
„Nix stillen! Das machen wir, mit der Flasche!“
Nun lachte Leni.
„Es war ein Engel, der mir das eingegeben hat.“
„Noch einmal ein Kind im Haus!“, flüsterte Leni. „Stell dir vor, es wäre ein Junge!“
Still saßen sie beisammen, bis die Kälte der Nacht kam. Also stieg Ron wieder ins Bett. Er umarmte seine Frau, fest wie schon lange nicht mehr.
„Gott, Ron!“, sagte Leni noch, bevor sie einschlief.
Am nächsten Morgen vernahm Petra, was geschehen war. Nach kurzem Zuhören war sie einverstanden und sogar erleichtert durch diesen Plan.
Den Termin im Februar ließ sie verstreichen. Sie würde das Kind bekommen. Sie teilte Herrn Stadelmann, ihrem Beistand, mit, dass sie schwanger sei und das Kind zur Adoption freigeben werde. Stadelmann kam sofort zu ihr. Auf sein Drängen, die Adoption doch rechtzeitig zu regeln, antwortete Petra, dass sie noch nicht sicher sei.
Es tauchten neue Probleme auf. Petra erklärte, vom Kind nichts wissen und es nicht einmal anschauen zu wollen. Es solle sofort zu ihren Eltern gehen. Welches Krankenhaus würde da mitspielen?
Ron und Leni fanden die Lösung. Mit der Hilfe einer Hebamme könnte Petra doch eine Hausgeburt organisieren? So konnten keine Krankenhausregeln bestimmen, was galt.
Petra war noch Untermieterin. Das war eine ungünstige Basis für eine Hausgeburt. Also zog sie um. Das hatte sie eh gewollt. Für nur wenig mehr Miete bekam sie eine Wohnung, nah bei einer Schule für Michi.
Sie fand eine Hebamme und eröffnete ihr die Adoptionspläne. Die Frau respektierte Petras Wunsch. Sie empfahl Petra einen anderen Hausarzt. Auch dieser fand keinen Grund, sich gegen Petras Plan zu wehren. Er schätzte ihre Bereitschaft, das Kind überhaupt auszutragen.
Im Frühling verließ Petras Schwester Nora das Elternhaus, als sie ihre Hochzeit mit Jonas feierte. Sie zog zu ihrem Ehemann nach Schwanden in Glarus. Ron strich Noras altes Zimmer frisch an und richtete es für das Baby ein.
Petra hatte gehofft, dass die Geburt noch vor Michis Schulbeginn stattfinden würde. Der Junge hätte ein oder zwei Tage bei seinen Großeltern in Liestal verweilen können. Aber der erste Schultag brach an. Hochschwanger begleitete Petra ihn zum Schuleintritt.
Ein älteres Ehepaar im Nachbarhaus zeigte sich auf Anfrage bereit, für Michis Betreuung einzuspringen, sobald Petra niederkommen würde. Ferner versprach eine frühere Kollegin Petra, als Hilfe dabei zu sein, wenn es so weit sei.
Am Freitag war es so weit. Am frühen Morgen bekam Leni von Petras Kollegin die Nachricht, dass ihre Tochter wohl heute gebären würde. Sie reiste sofort nach Basel. Ron hatte noch zu arbeiten und würde am Abend mit dem Auto nachkommen.
Gegen Ende Nachmittag begann alles auf Hochtouren zu laufen. Michi wurde weggebracht, Petras Kollegin kam, und die Hebamme installierte sich. Der Hausarzt schaute vorbei, stellte fest, dass alles perfekt und seine Anwesenheit nicht nötig sei, und verschwand.
Nach zwei harten Stunden kam um halb acht das Kind zur Welt. Während Leni mit Angst und Zittern zuschaute, managte die Hebamme den Prozess ruhig und gewandt.
Ein Junge!
Der Hausarzt kam, untersuchte Mutter und Kind, unterband Petras Milchsekretion und wünschte Leni alles Gute mit ihrem Zögling. Während sich die Hebamme weiter um Petra kümmerte, stand Leni tränenüberströmt mit dem Kind in den Armen da.
Wie vereinbart verabschiedete sie sich von ihrer Tochter und setzte sich in der Küche, um auf Ron zu warten. Als dieser kam, gab es plötzlich nervöses Durcheinander. Er wollte doch seiner Tochter alles Gute wünschen, außerdem wollte er sich mit der Hebamme absprechen, wann und wo sie das Kind anmelden sollten, und zwischendurch schielte er dauernd zum eingepackten Baby.
Schließlich trug Leni das Kind ins Auto. Dort blickte Ron, bereits hinter dem Steuer, zum hinteren Sitz, wo Leni den Neugeborenen fest in den Armen hielt.
Der starke, oft stramme Ronald brach in Tränen aus. Er wollte etwas sagen und konnte es nicht.
„Unser kleiner Ronald“, sagte Leni zu ihrem Mann. So hatten sie es zusammen beschlossen, wenn es ein Junge sein sollte. „Unser Ronny“, fügte Ron hinzu. Er selbst würde Ron bleiben, der Kleine würde Ronny heißen. Petra hatte dem Kind keinen Namen geben wollen. Das ist eure Sache, hatte sie den Eltern gesagt.
Sie fuhren nach Hause. Dort war alles vorbereitet. Die ganze Ausstattung war neu gekauft. Vor zwanzig Jahren hatten sie alle Kindersachen sukzessiv weggeräumt, da sie nicht mit weiterem Nachwuchs rechnen konnten. Jetzt war alles wieder da, nach neuster Mode. Selbst eine Wiege hatten sie angeschafft! Wie ein Prinz wurde Ronny in sein Zimmer getragen.
Als sie endlich ins Bett gingen, fing Leni nochmals an schluchzend zu weinen. Ron streichelte sie, auch er war höchst bewegt.
„Ich bin überglücklich, Ron – ich weiß nur nicht, wie ich damit fertig werden soll!“
„Es geht mir auch so, Leni. Es war eine Engelsidee – die muss gut sein. Es kommt gut, ich weiß es!“
Das Wochenende gestaltete sich wie ein Traumwandeln. Da saß Leni mit ihrem Enkel auf dem Arm, während er trank. Auch Ron bekam ihn auf den Schoß. Nach 24 Jahren hatten sie wieder einen Säugling zu betreuen! Und erst noch einen Jungen, den sie sich sehnlich gewünscht hatten!
Sie telefonierten mit Petra. Es ging ihr gut. Sie fragte nicht nach ihrem Kind. Es schien für sie nicht zu existieren. Nora kam mit ihrem Mann nach Olten, um ihren Neffen zu sehen. Sie freute sich über die Situation, die ihren Eltern so viel Entzücken bereitete. Das einzige, was sie störte, war das dauernde „und auch noch ein Junge!“ Waren sie und ihre Schwester weniger wert gewesen?
Die Niederbergers hätten ihr Ausrufen gewiss damit begründet, dass sie bereits zwei Töchter bekommen hätten. Hätten sie nicht genauso „und erst noch ein Mädchen!“ gesagt, wenn ihnen bisher bloß Knaben geboren wären?
Mag sein. Im Allgemeinen lösen Jungs in der ganzen Welt mehr Begeisterung aus als Mädchen. Diesem Vorurteil erlagen Noras Eltern gewiss auch. Sie vergaßen zu sagen, dass sie schon zwei wunderbare Mädchen hätten. Sie verletzten damit ihre brave Tochter, die sich nicht zu wehren wagte.
Am Montag zog Ron nochmals nach Basel, um beim Standesamt vorzusprechen. Offiziell blieb Ronny Petras Sohn und bekam ihren Namen: Fuchs. Man würde erst später festschreiben, dass Ronny in Olten zuhause sei.
Der Kleine schien kräftig und munter zu sein. Er trank fleißig und schlief meistens erst ein, wenn die Flasche leer und der obligate Rülpser abgeliefert war. In Kürze fing er an, den Kopf zu drehen und um sich herumzuschauen, auch während er trank.
„Ruhig, ruhig!“, mahnte ihn Leni.
Sein Blick fokussierte sich nach kurzer Zeit. Auf einmal schaute er Leni an und lachte. Nicht lange danach lachte er auch Ron an, wenn er bei ihm saß.
Bald kam Ronnys Körper in Bewegung und er streckte die Hände aus. Er schaute seine Finger an, als ob er sie einzeln kontrollieren wollte. Er begann Laute von sich zu geben, auch wenn er seine Großeltern anlachte.
„Er ist so wach! Mehr als es Nora und Petra waren“, sagte Leni.
„Und brav! Er schreit noch weniger, als Nora es getan hat“, stellte Ron fest.
Das war gewiss auch Lenis Leistung. Sie war pünktlich. Ronny wurde nicht auf Wink bedient, sondern nur wenn es Zeit dazu war. Feste Regeln galten für Leni mehr, als ihren Kleinen zu verwöhnen. Ronny arrangierte sich schnell und verschwendete keine Energie für sinnloses Geschrei.
Ron hatte einen Kollegen aus dem Geschäft angefragt, ob er Patenonkel sein wolle. Dieser Hilbert war ein muskulöser Junggeselle, ein Pferdenarr – er hatte selbst zwei Pferde - und wohnte bei Verwandten auf einem Bauernhof am Rande der Stadt. Er war ein Dutzend Jahre jünger als Ron, der sich erhoffte, in ihm für Ronny einen sportlichen Kameraden bestimmt zu haben, mehr als er selbst es noch werden konnte. Leni hatte in ihrer Freundin Ursula, die selbst keine Kinder hatte, eine Patin gefunden. Die beiden Paten erschienen in den festlichsten Kleidern, als Ronny in der Stadtkirche getauft wurde.
Petra ließ wissen, dass Herr Stadelmann sie besucht habe. Ihm habe sie gesagt, dass ihre Eltern das Kind pflegten. Er wolle möglichst bald nach Olten reisen, um sich weiter zu informieren.
Leni empfing ihn freundlich und zeigte ihm voller Stolz ihren Enkel. Stadelmann wollte vieles wissen. Er gewann bei den Niederbergers einen dermaßen guten Eindruck, dass er getrost von allfälligen Eingriffen oder Maßnahmen absah. Er bedingte sich nur das Recht aus, von Zeit zu Zeit vorbeizuschauen.
Der Kleine entfaltete sich in schwindelerregendem Tempo. Man merkte ihm ein unverkennbares Selbstbewusstsein an. Omi und Großpapa wurden in Ronnys Mund fürs Erste zu „Rosi“ und „Papi“ vereinfacht. Wenn sie ihn zu verbessern suchten, lachte er sie an, als ob er klarmachen wollte, dass er selbst Chef über seine Sprache sei. Das Gelächter, das er damit entfesselte, schien ihm zu gefallen.
Die Schoßzeit eilte dem Ende entgegen, sobald sich Ronny fortbewegen konnte. Sich zuerst über den Boden schiebend gelangte er zu Türchen und Schubladen, wo sich Geheimnisse verbargen. Ron sah dabei zu und ließ ihn oft gewähren.
„Das sind Pantoffel und Handschuhe, für den Winter, wenn es kalt ist“, erklärte er, als Ronny die mittlere Schublade aufgezogen hatte. Ronny blickte ihn an. Als er weitermachen wollte, rief ihm Ron zu: „Nein, zuerst die Lade zu machen!“
Ronny begriff und schob die Lade zurück.
„Gut, Ronny! Gut gemacht!“
Als Ronny bei einer nächsten Tour zur Stereoinstallation gelangen wollte, lenkte ihn Ron ab.
„Wo sind denn die Finken und die Handschuhe?“
Zu seiner Verblüffung bewegte sich der Kleine zur richtigen Schublade und zog sie auf.
Wenig später konnte er stehen und gehen, das Schieben über den Boden war vorbei. Die Erkundungsrunden dehnten sich auf die ganze Wohnung aus. Man musste ihm überall hin folgen.
Eine Nachbarin kam zum Kaffeetrinken. Ronny war natürlich ein wichtiges Gesprächsthema. Der Junge bewegte sich um die plaudernden Leute herum. Manchmal versuchte er mit seinen Fingern etwas vom Tisch zu ergattern, was ihm natürlich von den Erwachsenen verwehrt wurde. Sie gaben ihm stattdessen Spielzeug.
Als Leni nach dem Besuch das Geschirr einsammelte, fehlte ein Löffel. Sie suchte den Boden ab, schaute überall hin, fand ihn jedoch nicht. „Ronny, hast du den Löffel weggenommen?“, fragte sie.
Der Kleine strahlte.
„Wo ist der Löffel?“
Ronny lief zum Bücherschrank und blieb dort stehen. Leni schaute nach. Ron kam ebenfalls und nahm einige Bücher aus dem Regal. Dort hinten lag der Löffel, offensichtlich dorthin geworfen.
Er hob Ronny hoch und schimpfte gutmütig mit ihm. „Das darfst du nicht!“
Ronny zeigte sein vergnügtes Lächeln, anscheinend stolz auf seinen Streich.
Jedes Elternpaar kann Ähnliches von seinen Sprösslingen erzählen. Bei Ronny fiel auf, wie klug und raffiniert er vorging. Und immer vergnügt!
Er lernte schnell gut reden und behielt sogar schwierige Wörter wie Staubsauger und Bügeleisen. Rosi wurde zu Omi und Papi zu Großpapa.
Oft stand er vor dem Fenster, das auf die Straße sah. „Auto, Auto“, rief er. Tatsächlich waren da zwei Autos parkiert.
„Zwei Autos“, belehrte ihn Leni.
Kurz darauf sagte er: „Zwei Mannes“.
Richtig begeistert war er, wenn er Kinder sah.
„Mädchen, Mädchen!“ „Omi, schau, ein Junge!“
Leni und Ron besuchten Petra getrennt. Jemand musste Ronny hüten. Sie wollten es Petra nicht schwermachen und nicht mit dem Jungen aufkreuzen. Petra fragte nie nach ihm. Nach Olten war Petra selten gekommen. Jetzt kam sie gar nicht mehr.
Zuerst schien es ihr gut zu gehen. Michi wurde groß und musste nicht mehr gehütet werden, wenn sie abends arbeitete. Leider hatte er in der Schule Schwierigkeiten. Er musste die erste Klasse wiederholen. Er konnte sich nicht genügend konzentrieren und war mit seinen Mitschülern unartig. Er fand weder Freund noch Freundin.
Petra gab zu immer mehr Sorgen Anlass. Es schien, als ob sie sich auf einem absteigenden Ast befand. Meistens war sie irgendwie krank, ging nicht zur Arbeit und verlor schließlich die Stelle. Sie bekam Arbeitslosenunterstützung. Übrigens kassierte sie Ronnys Kindergeld. Die Niederbergers machten keine große Sache daraus, sie hatten es nicht nötig.
Erschwerend kam hinzu, dass sie stark rauchte und trank. Gelegentlich fanden Ron oder Leni sie betrunken vor. Michi wurde frech und stritt sich oft mit ihr.
Als Leni Ronny zum ersten Mal in eine Spielgruppe brachte, strahlte der Knirps, als er das halbe Dutzend Kinder gewahr wurde. „Kinder!“, rief er aus.
Begeistert zog er dreimal in der Woche in den Hort. Er freundete sich besonders mit einem gleichaltrigen Mädchen an, das unweit von den Niederbergers in der Unterführungsstraße wohnte. Bald verkehrten die zwei auch außerhalb der Hortzeiten miteinander, meistens bei Gabriele zuhause. Ihre Familie kam aus Deutschland, also sprach das Mädchen noch keinen Oltener Dialekt. Das war der Boden für das nächste Kunststück, womit Ronny seine Großeltern verblüffte.
Es geschah, als die Niederbergers beim Einkauf in der Altstadt waren. Dort begegneten sie zufällig Gabriele mit ihrem Vater. Die Kinder entdeckten sich und zogen sich an der Hand der Erwachsenen zueinander hin. Diese lachten und gestatteten es, sich zu begrüßen und bekannt zu machen. Herr Gutmann rühmte Ronny, und die Niederbergers taten es Gabriele.
Auf einmal fragte Ronny Herrn Gutmann: „Wo ist Ihre Frau?“
Der Mann lachte und gab Auskunft.
Ronny hatte noch anderes auf Lager. Er wies auf die lederne Tasche hin, die Gutmann trug, und fragte: „Was ist in dieser Mappe?“
Bestürzt gab Leni ihrem Jungen einen Stoß. „Hey, Ronny, so etwas fragt man nicht, das gehört sich nicht!“
Gutmann öffnete aber seine Mappe und ließ Ronny hineinblicken.
Mit Schmunzeln und fröhlichem Kopfschütteln verabschiedeten sie sich.
Nachher schaute Leni ihren Mann an. „Hast du das gehört? Ronny spricht Hochdeutsch!“
„Es ist nicht zu glauben!“, rief auch Ron aus. „Hast du das bei Gabriele zuhause gelernt?“
„So komisch reden die dort“, gab Ronny zur Antwort.
„Vier Jahre alt! Du bist ein Sprachtalent.“
„Und auch rotzfrech! Du sollst die Leute nicht ausfragen“, tadelte ihn Leni.
„Er hat gelacht!“, konterte der Kleine.
Er lernte früh, dass man sich mit Äußerungen, die eigentlich nicht erlaubt sind, mächtig in Szene setzen kann, wenn man es versteht, die Leute zum Lachen zu bringen.
Neue Verblüffung weckte er, als er Ron fragte: „Hast du eventuell ein Stück Schnur für mich?“ Niemand wusste, woher er das „eventuell“ hatte, die Niederbergers benutzten das Wort höchst selten.
Petra musste zur Untersuchung ins Krankenhaus. Man vermutete Epilepsie. Michi kam zuerst zu einem Klassenkameraden, bis er sich dort unmöglich machte. Leni nahm ihn während den Wochenenden auf, sonst war er bei seinen Liestaler Großeltern. In die Schule ging er nicht.
Ronny freute sich über seinen Bruder. Doch die Freude dauerte nicht lange, da Michi rüde war und oft zerstörte, was Ronny gebaut oder gebastelt hatte. Er zerbrach auch die Spitzen der Bleistifte. Ronny versteckte sie vor ihm, was Anlass zu neuem Streit gab.
Schließlich wurde Petra ohne Ergebnis entlassen. Nicht lange danach wurde sie unter anderem wegen Depressionen als invalid eingestuft. Ein Vorteil war, dass sie zuhause bleiben und Michi jetzt regelmäßig in die Schule gehen konnte.
Als Ron seine Tochter und Michi besuchte, lernte er Max kennen, der bei ihnen weilte. Er sei ein guter Freund, klärte ihn Petra auf. Ron bekam einen schlechten Eindruck von ihm, nicht zuletzt, weil auch er übermäßig rauchte und trank.
Wegen seiner jüngsten Tochter fühlte er sich wie immer hilflos und unglücklich!
Ronny hatte einen gesunden Schlaf. Falls er ausnahmsweise in der Nacht aufwachte, schlüpfte er aus dem Bett, trippelte zum Schlafzimmer der Großeltern und legte sich ohne ein Wort zu Ron oder zu Leni. Die Alten ließen ihn. Am liebsten legte sich Ronny in ihre Mitte, bevor er friedlich weiterschlief.