Der Schüchterne und der Sonnyboy - Hans van der Geest - E-Book

Der Schüchterne und der Sonnyboy E-Book

Hans van der Geest

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Beschreibung

Zwischen den Einwanderern Vasco aus Portugal und Lennard aus Holland wächst enge Freundschaft in ihrer neuen Schweizer Heimat. Der schüchterne Vasco lernt manche Hindernisse mit Lennards Hilfe überwinden. Selbstbefriedigung ist ein großes Tabu für Vasco. Lennards lockere Einstellung dazu hilft seinem Freund über die Schwelle. Obwohl Vasco sich gegen eine schwule Beziehung wehrt, befriedigen sich die Teenager während vier Jahren ziemlich regelmäßig. Auch als Lennard einen schwulen Freund findet, bleibt seine Intimbeziehung mit Vasco bestehen. Aber sobald Vasco eine Freundin findet, will er den Sex mit Lennard nicht mehr. Lennard wendet sich daraufhin von ihm ab. Er kann sich eine Weiterführung der Freundschaft mit einem körperlichen Annäherungsverbot nicht vorstellen. Die mehr als sechsjährige Beziehung scheint damit beendet zu sein. Beide leiden sie jedoch unter der Trennung. Während Vasco dauernd Annäherung sucht, besteht Lennard auf ihren alten Kontaktformen, die Vasco aus Angst, dadurch keine Frau zu finden, nicht mehr will. Er meint, dass Lennards Wunsch unrealistisch ist, und dass keine Frau akzeptieren würde, dass ihr Mann eine Beziehung mit einem anderen Mann unterhält. Lennard wird ein populärer Mitarbeiter beim Fernsehen, während Vasco in einer Bank arbeitet. Dort lernt er Anja kennen, eine Frau, die schon ein Töchterchen hat. Sie heiraten und scheinen glücklich zu sein. Sie bekommen einen Sohn, den sie Raymond Lennard nennen. Ein erschütternder Todesfall bei den Nachbarn lässt Vascos Verlangen nach Lennards Freundschaft wieder aufleben. Erst als sich seine Frau der Sache annimmt, versöhnen sich die alten Freunde. Lennards zähes Festhalten an seiner Überzeugung zahlt sich schließlich aus. Eine Geschichte über die Bedeutung der gemeinsamen Masturbation als Erlebnisebene zwischen Homo- und Bisexualität.

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Seitenzahl: 265

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Hans van der Geest

Der Schüchterne und der Sonnyboy

Von Hans van der Geest im Himmelstürmer Verlag bisher erschienen:

 

Wilde Treue - Frühjahr 2015, ISBN print 978-3-86361-548-2

Plötzlich Pflegeväter - Herbst 2016, ISBN print 978-3-86361-570-3

Das Kuckuckkind - Frühjahr 2017, ISBN 978-3-86361-629-8

Spätzünder Herbst 2018, ISBN print 978-3-86361-659-5

 

Alle Bücher auch als E-book

 

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail: [email protected]

Originalausgabe, April 2018

© Production House GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: https://de.123rf.com theartofphoto

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-684-7

ISBN e-pub 978-3-86361-685-4

ISBN pdf 978-3-86361-686-1

 

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

Vasco, der Schüchterne

Mehr als tausendvierhundert Kilometer sind es, von Porto nach Volketswil. Die Verschiebung auf der Erdkugel hat Onkel Luis uns eingebrockt. Der ist tot. Ich habe ihn nie gemocht, also traurig bin ich nicht. Seinen Tod bedaure ich nur, weil er böse Folgen hat. Mein Vater muss seinen Platz einnehmen.

Vor Jahren sind meine Onkel Luis und Bruno in die Schweiz ausgewandert, da sie dort mehr verdienen konnten als im armseligen Friseursalon in Portugal. Mein Vater, der dritte Friseur in der Familie, ist damals in Porto geblieben und hat den alten Laden weitergeführt. Die Onkel hatten recht guten Erfolg und eröffneten vor ein paar Jahren in der Innenstadt von Zürich einen Damensalon. Sie bekamen einen guten Ruf und noble Kundschaft.

Jetzt ist Onkel Luis plötzlich gestorben, noch nicht sechzig Jahre alt. Onkel Bruno wollte, dass mein Vater den Platz seines Bruders einnimmt. Und jawohl, jetzt sind meine Eltern von der Sonne und dem Meer in Porto zu den Wolken und Bergen in Volketswil gezogen, mit meinen Schwestern und mir im Schlepptau.

Mist! Die Leute hier reden komisch, ich verstehe sie nicht. Ich helfe mir mit dem bisschen Englisch, das ich kenne. Meistens klappt das. „Ticket“ verstanden sie sofort, bei der Bushaltestelle.

 

Wieso ich so schönes Deutsch schreibe? Lass dich nicht täuschen! Es ist alles aus Portugiesisch übersetztes, was du hier liest. Und warum ich dies alles übertrage? Damit meine Kinder meine Abenteuer einmal lesen können. Sie verstehen zwar ein wenig Portugiesisch, lesen werden sie es kaum können. Meine Frau ist Schweizerin, und wir sprechen Schwyzertütsch mit den Kindern. So geht das mit dem Einwandern. Assimilation heißt das. Schade für die alte Sprache!

Lennard, der Sonnyboy

Endlich sind wir in der Schweiz gelandet! Mehr als anderthalb Jahre ist darüber debattiert und verhandelt worden, bis der Möbelwagen schließlich letzte Woche vorfuhr, unsere Habseligkeiten schluckte und sie mehr als achthundert Kilometer südwärts transportierte. Wir im Auto hinterher.

Ich sitze vergnügt in meinem Zimmer, in unserer neuen Wohnung, in unserer neuen Heimat. Heimweh nach Holland kann ich noch nicht ausmachen, aber was nicht ist, kann noch werden.

Dort habe ich die Grundschule gerade abschließen können. Hier komme ich in die Sekundarschule, muss dann noch zu extra Deutschunterricht aufmarschieren. Das ist nicht so schlimm. Wir haben in der Schweiz oft Ferien gemacht, und ich kann ziemlich gut Deutsch verstehen und auch sprechen. Die Leute, die uns jeden Sommer in Interlaken die Ferienwohnung vermieteten, haben sich viel mit uns unterhalten, deswegen.

Meine Eltern hat es immer in die Schweiz gezogen. Sie sind vernarrt in die Berge. Folge ist, dass wir unser geliebtes Amstelveen verlassen mussten. Weg unser schöner Garten, weg meine Schulfreunde, weg unsere Kirchengemeinde! Und weg der König. Hier gibt es, glaube ich, nicht einmal einen Präsidenten.

 

Wieso ich hier makelloses Deutsch schreiben kann? Ich habe diese Berichte vor zwanzig Jahren verfasst, auf Niederländisch. Jetzt übersetze ich sie. Vielleicht werden diese tagebuchähnlichen Eintragungen einmal eine Autobiografie. Ab diesem Punkt kehre ich zu meinen alten Aufzeichnungen zurück.

 

Ein bisschen Angst habe ich vor der Schule. Ich bin nicht schnell beliebt, das war in Holland ein Problem. Meistens nimmt man mich erst mit der Zeit für voll.

Ich schaue in den Spiegel, der noch nicht aufgehängt ist und schräg am Boden steht. Meine blonden Locken sehen nach Dünensand aus. Ich sollte sie besser kämmen. Sehr eitel bin ich nicht. Sagt meine Mutter, und eine ihrer zahlreichen schlechten Eigenschaften ist es, dass sie immer recht hat. Pech.

Meine Messlatte funktioniert bereits. 169 Zentimeter. Geht! Ich will nicht der Kleinste in der Klasse sein.

Ich weiß, wo die Schule sich befindet, sie ist ganz in der Nähe. Sie besteht aus einem umfangreichen Gebäudekomplex, heißt Lindenbühl. Sieht tipptopp aus.

Obwohl die Schweiz ein Bergland ist, kann man hier in Volketswil gut Rad fahren, es ist ziemlich flach. Ich war ein Radnarr. Ob ich das hier auch sein kann?

Mein Vater ist Physiotherapeut. Nein, nicht Psycho, sondern Physio! Er behandelt nicht Seelen, sondern Gelenke und Muskeln, in einem Krankenhaus in Uster. Mit der Zeit will er selbstständig arbeiten. Wegen des Praxiszimmers für ihn haben wir eine große Wohnung. Vermutlich findet meine Mutter auch eine Stelle, sie hat bei einer Bank gearbeitet. Wahrscheinlich muss sie noch besser Deutsch lernen. Wie ich.

Leider habe ich keine Geschwister. Oder ist das ein Vorteil? Nur die Eltern sind meine täglichen Gesprächspartner. Aber sie sind cool. Natürlich gelten Regeln, auch für mich. Streng kann ich sie nicht finden. Wir machen viel zu dritt. Mit bald dreizehn komme ich nun in die Pubertät. Sagt man. Ich merke noch nichts davon. Ich werde geschlechtsreif, haha! Sie wächst eher langsam, die Ausrüstung.

Meine Eltern sind Musikfans. Die Mutter spielt Klavier, und Papa bläst die Klarinette, eher bescheiden. Sie haben mich nach einem amerikanischen Dirigenten genannt, Leonard Bernstein. Man schreibt Lennard, sonst spricht man das „o“ aus, und das wollten sie nicht. Mir gefällt mein Name. Lennard van den Heuvel. Hier sagen sie Hoivel statt Hövel. Das ist nicht bös gemeint, sie können nichts dafür, die Schweizer.

Ich musste Klavierspielen lernen. Das habe ich halb gern, halb ungern gemacht und brav geübt, zuletzt die Sonata facile von Wolfgang. „Facile“ ist gut! Bis aufs Blut habe ich geübt, bis ich die Exposition fehlerfrei spielen konnte. Facile! Der Witzbold. Zugegeben, die anderen Sonaten sind noch schwieriger. Klavierunterricht werde ich hier fürs Erste nicht bekommen. Wir - also meine Eltern und ich - wollen abwarten, wie viel Zeit ich für die Schule benötige. Fürs Gymnasium bin ich in Holland durchgefallen. Jetzt ist das gar nicht schlecht. Es wäre sonst zu viel Stress auf einmal gewesen.

Vasco

Ob ich mich hier jemals daheim fühlen werde? Kaum! Vielleicht gehe ich nach Portugal zurück, sobald das möglich wird. Raquel und Filippina sind besser gelaunt. Sie schwärmen von der Schweiz, und was man sich hier alles leisten könne. Onkel Bruno badet im Luxus, das kann man wohl sagen. Und Papa scheint ebenfalls tüchtig bei seinen neuen Kundinnen abzukassieren. Wir bekommen fürstliches Taschengeld.

Zum Glück ist meine avó mitgekommen, meine Großmutter. Sie ist für mich mehr Mutter als meine leibliche. Die ist oft tage- oder wochenlang weg. Und das war immer so. Sie ist Sängerin, genauer: Mezzosopran. Nein, den großen Durchbruch hat sie nicht geschafft. Wegen ihren Kindern, sagt sie immer, ein bisschen vorwurfsvoll. Sie scheint für Auftritte in einfachem Rahmen gut genug zu sein, vor allem in Deutschland. Darum wollte sie schon immer nach Deutschland oder in die Schweiz auswandern. Nun hat mein toter Onkel ihr den Wunsch erfüllt.

Ich habe meine Mutter gern, aber bei meiner avó fühle ich mich noch besser. Wenn ich krank bin oder weinen muss, gehe ich zu ihr. Meine Schwestern machen das genauso, obwohl sie 17 und 19 sind. Als Kleinkind habe ich oft auf avós Schoss gesessen. Sie hat mir Liedchen vorgesungen und mich gestreichelt und geküsst. Meine Mutter küsst nur bei Ankunft und Abschied, und stets hastig.

Meine avó hat mich gelehrt, Geige zu spielen, bis vor zwei Jahren. Seither habe ich richtigen Unterricht. Hier in der Schweiz habe ich bereits eine neue Lehrerin, eine Bekannte von tio Bruno.

Mit tio Bruno war ich beim Schulleiter, lange vor den Sommerferien. Der hat mich eingestuft. Wegen dem Deutsch verliere ich ein ganzes Jahr, mindestens! Sonst wäre ich in die dritte Klasse gekommen, das heißt in das neunte Schuljahr. Ich komme in die zweite. Zusätzlich muss ich in eine Sprachstunde für Ausländer. Zusammen, was weiß ich, mit Chinesen, Lappen, Türken oder – schlimmer – Spaniern! In einem Jahr muss ich genügend Deutsch lesen, sprechen und schreiben können, damit sie mich in die dritte Klasse lassen. Mühsam! Dann werde ich fünfzehn sein!

Wie die Schweizer Jungs auf mich reagieren? Und … die Mädchen? In Porto wurde ich ausgelacht, weil ich keine laute Stimme habe und eher schüchtern bin. Hoffentlich machen sie das hier nicht. Ich werde versuchen, möglichst nicht verlegen zu werden.

Lennard

Heute war Schulanfang! Ich habe es überlebt, es war nicht schlimm. Was für eine schöne Schule haben wir, besonders wenn man hineinkommt und die Räumlichkeiten sieht! Ein zusätzliches Gebäude ist für Musik und Handarbeit bestimmt, mit Räumen für Singen, Instrumentenübungen, für Holzbearbeitung und mehr. Sportplätze, ich weiß gar nicht wie viele! Die Klassenzimmer sind groß und hell, großzügig ausgestattet, die Korridore sind auffallend breit. Die Schule in Holland sieht im Vergleich armselig aus.

Spektakulär ist die Aussicht, die man von der Treppe zwischen Schulplatz und Sportfeldern hat. Man sieht weit hinaus, auf grüne Hügel am Horizont.

Ich sitze neben Pilar, einem Mädchen aus Peru. Weil sie ebenfalls noch nicht genug Deutsch kann, sitzen wir nebeneinander. Probleme verbinden offenbar. Wir müssen uns zweimal in der Woche nach der normalen Schulzeit zu einer Extrastunde einfinden.

Mein erster Eindruck: Die Schüler sind weniger laut als in Holland. Die Regeln sind strenger. Auf dem Schulplatz darf man zum Beispiel nicht Fußball spielen.

Die meisten Schüler waren, genau wie ich, ein bisschen verlegen. Der Klassenlehrer scheint mir nett zu sein, besonders Pilar und mir gegenüber.

Ich konnte fast alles verstehen. Pilar hatte mehr Mühe.

Meine Klassenkameraden reden in der Pause Dialekt. Das ist mühsam! Ich muss zwei Fremdsprachen gleichzeitig lernen, plus Englisch und Französisch. Schade, dass es in Holland keine Berge gibt, sonst hätten wir in Amstelveen bleiben können!

Vasco

Kein Vergleich mit Porto! Das meine ich positiv. Die Schule gleicht einem Palast, so schön ist sie. Breite Gänge und alles blitzsauber. Und sie sind weniger streng. Wir können während des Unterrichts ohne ausdrückliche Erlaubnis etwas sagen oder fragen, und die Schüler machen laute Bemerkungen, so dass alle lachen.

Ich bin der einzige, der nicht gut Deutsch versteht. In Mathematik bin ich aber gut! Das konnte ich demonstrieren, an der Tafel vorne. Die Lehrerin hat mir fröhlich zugelacht.

Ich brauche zehn Minuten von zuhause bis zum Schulgebäude, zu Fuß. Nur die weiter weg wohnen, dürfen mit dem Fahrrad kommen.

Donnerstag haben wir zum ersten Mal diese Deutschstunde. Dazu muss ich in ein anderes Schulgebäude, auf der anderen Seite der breiten Verkehrsstraße. Zwei Schüler aus der ersten Klasse gehen ebenfalls, sie kenne ich noch nicht.

Lennard

Heute war ich in der Extrastunde. Sie findet in einer Primarschule statt, im Feldhof. Außer Pilar kam noch ein älterer Junge mit, aus der zweiten Klasse. Vasco heißt er, man spricht es aus wie Waschku, und er kommt aus Portugal. Aus der Feldhofschule kam noch einer dazu, Erkan, aus der Türkei. Er ist erst elf Jahre alt. Pilar und ich sind zwölf, und Vasco ist vierzehn.

Ich bin eindeutig der Beste. Für einen Holländer ist es weniger schwer, Deutsch zu lernen als für Peruaner, Portugiesen und Türken. Vielleicht brauche ich diesen Zusatzkurs nicht lange.

Aber ich finde Deutsch lästig. Sie sagen „größer als“, was ich mir in Holland gerade abgewöhnen musste. Und nicht „so groß als“, sondern „so groß wie“! Genau umgekehrt als - nein: „wie“ - bei uns. Und noch etwas: Sie wissen hier nicht, was „belangreich“ ist. Sie haben ein anderes Wort, ich weiß nicht mehr welches.

Pilar lacht mir jederzeit freundlich zu. Sie hat schönes, dichtes schwarzes Haar und lebendige, dunkle Augen. Erkan spottet gern und ist ein Angeber. Sein T-Shirt ist ihm zu groß, und er hat lange, dünne Beine. Vasco ist ein stiller Junge. Er spricht nur, wenn man ihn etwas fragt.

Partnerübungen mache ich am liebsten mit Pilar, nicht nur weil wir in derselben Klasse sind. Sie gefällt mir am besten.

Nach der Stunde gehen wir auseinander. Erkan und Pilar wohnen in Richtung Wallberg, Vasco und ich in Richtung Lindenbühl. Wir müssen nur kurz zusammen gehen, ich wohne auf der anderen Seite der breiten Straße. Zum Glück, weil er nichts sagt, und ich bin auch nicht sehr gesprächig.

Vasco

Der Älteste und der Dümmste, das bin ich! Wir sind vier bei Frau Attenhofer, die uns auf Deutsch dressieren soll.

Jeder musste etwas von sich erzählen, auf Deutsch natürlich. Erkan ist der jüngste und geht noch in die sechste Klasse der Grundschule. Er kommt aus der Türkei. Obwohl er viele Fehler macht, spricht er frisch von der Leber weg und lacht noch dabei. Er scheint kein Problem damit zu haben, dass ihm kein Satz richtig gelingt.

Pilar, spanischsprachig, ist bescheidener. Dabei ist ihr Deutsch nicht schlecht. Sie wohnt schon länger hier als wir anderen.

Schließlich Lennard, der kann fast perfekt deutsch sprechen. Selten greift Frau Attenhofer ein. „Oh!“, sagt er dann und wird ein bisschen rot dabei. Das sieht man bei ihm sofort, da er bleich ist, richtig einer aus dem Norden. Aus Holland stammt er. Pilar und er sind in derselben Klasse, in der ersten Sek.

Lennard und Pilar haben nur Interesse für einander, Erkan schwatzt unverfroren darauf los, nur ich gebe klein bei und sage kein Wort! Die drei haben mich, glaube ich, schon abgeschrieben. Ich bin zu scheu. Ich sollte das endlich überwinden.

Lennard

Wir sind bereits ein paar Wochen zu dieser Deutschstunde gepilgert. In der Regel bereiten wir einen Text vor, den wir in der Stunde vorlesen müssen. Mir gelingt das ziemlich gut, aber den anderen! Die arme Pilar spricht einige Buchstaben falsch aus. Aus jedem c macht sie ein k.

Bei schönem Wetter suchen Pilar und ich nach der Schule einen ruhigen Ort, meistens auf der Treppe zu den Sportplätzen, um gemeinsam Aufgaben zu machen, unter anderem für „Mensch und Umwelt“. Ich helfe ihr, das Deutsch schneller zu verstehen.

Heute fragt sie mich, ob ich ihr beim Vorbereiten des Textes für die extra Deutschstunde helfen wolle. Das mache ich. Ich lasse sie lesen und greife ein, wenn es schief geht. Nachher müssen wir, was im Text steht, mit eigenen Worten erzählen. Auch das üben wir. Ich spiele den Lehrer!

Morgen wird es spannend, für sie und für mich.

Frau Attenhofer lässt ausgerechnet Pilar als erste die Geschichte erzählen. Sie tut es langsam und fast fehlerfrei. Am Schluss klatschen wir.

„Gut so, Pilar!“, lobt sie Frau Attenhofer.

„Das ist nur, weil Lennard mir geholfen hat!“, verrät sie.

„Dann hat er dir gut geholfen! Prima, Lennard!“, sagt die Lehrerin.

Bald kommen wir hinaus. Es regnet in Strömen, also warten wir beim Ausgang unter dem Vordach.

„Hey, kannst du mir auch einmal helfen?“, fragt mich Vasco.

„Du, ich habe nicht so viel Zeit!“, entmutige ich ihn.

„Und mit Pilar …“

„Weißt du, wir sind in derselben Klasse“, erkläre ich ihm.

In diesem Augenblick drängt sich Erkan zwischen uns. „Du, Vasco!“, ruft er und lacht schelmisch dabei. „Pilar ist doch seine Freundin! Die machen noch anderes als Aufgaben, da wollen sie dich nicht dabei haben!“

Vasco schaut verwundert drein. Mich trifft Erkans Bemerkung unangenehm.

In diesem Augenblick lässt der Regen nach. Wir laufen weg nach Hause.

Ich weiß leider selten, was ich auf unerwartete Sprüche erwidern soll. Was Erkan sagt, stimmt nicht. Aber wenn ich: „Nein, sie ist nicht meine Freundin!“ sage, wäre das unfreundlich für Pilar, als ob ich sie nicht möchte. Ich finde Erkan unangenehm und, was schlimmer ist, ordinär. Denn was sollte ich noch mehr mit Pilar machen als Aufgaben lösen? Knutschen etwa? Sex?

Oder bin ich zu empfindlich? Erkan hat es doch scherzhaft gemeint?

Was mich noch mehr plagt, ist meine schnelle Abwehr, als Vasco mich um Hilfe gebeten hat. Ich habe zwar tatsächlich keine Lust, ihm auch noch zu helfen, aber seine Reaktion lässt mich nicht los. Er schaute mich sekundenkurz eigenartig an. War er enttäuscht oder irritiert? Oder verstand er mich nicht? Ich bin nicht klug aus ihm geworden. Bei mir entfalten solche Sekunden oft erst später ihre Wirkung. Erkans plumper Scherz hat dann alles zugedeckt.

In der nächsten Nachhilfestunde denke ich wieder daran, als Vasco den Text, den wir vorbereitet haben, stümperhaft wiedergibt. Er verwechselt noch ‚den’ und ‚dem’, um bloß einen seiner Fehler zu nennen.

Nicht lange danach kommt Vasco in einer Pause auf mich zu. „Hey, Lennard, was bedeutet „Mehrzahl“?“

„Mehrzahl, wieso?“

„Ich kann es im Wörterbuch nicht finden. Weißt du es?“

„Natürlich steht das im Wörterbuch. Ich zeige es dir.“

Er holt seinen Diktionär Portugiesisch-Deutsch. Ich schlage ihn auf. „Hier!“

„Ah! ‚Plural’! Mehrzahl - schreibt man das so? Ich habe bei „meer“ gesucht.“

Ich lache ihn laut aus!

„Siehst du, so bleibe ich oft hängen. Ich schreibe einen einzigen Buchstaben falsch und finde nichts mehr.“ Er schaut mich an, mit diesem seltsamen Blick.

Er redet mir ins Gewissen. Für mich ist Deutsch leichter als für ihn. Sollte ich diesem armen Portugiesen nicht ein bisschen helfen?

„Wollen wir einmal zusammen die Stunde vorbereiten?“, frage ich ihn.

„Eh … du machst das doch mit deiner Freundin, mit Pilar?“

„Ach, sie ist doch nicht meine Freundin, sie ist eine Klassenkameradin!“

„Erkan sagte doch …“

„Glaub doch nicht alles, was der schwafelt!“

„Ja, wenn du mir einmal ein bisschen hilfst …“

„Wo wohnst du?“, frage ich ihn. Er erklärt es mir.

„Das ist nicht weit weg von mir. Kommst du heute Abend, um sieben Uhr?“

„Zu dir?“

„Ja, oder soll ich zu dir?“

„Nein, ich komme gern zu dir. Kommt Pilar denn auch?“

„Nein, wir können die Lektion diesmal in der Deutschstunde vorbereiten.“ Ich schreibe meine Adresse auf einen Zettel.

Vasco

Wenn Lennard wüsste, wie viel Mut ich zusammennehmen muss, um ihn anzusprechen! Und wie es mich trifft, wenn er kaum auf mich eingeht, wenn ich endlich einen Vorstoß wage!

Heute habe ich Glück gehabt. Er stand ohne Pilar auf dem Schulhof, da habe ich ihn angesprochen. Er schlug mir selbst vor, einmal zusammen die Deutschstunde vorzubereiten. Ach, wie freut mich das, nicht nur wegen der Sprachprobleme. Ich möchte, dass sich etwas an der kühlen Atmosphäre zwischen uns ändert. Er zieht mich an, ich finde ihn sympathisch.

Heute Abend darf ich zu ihm gehen, nach Hause! Hoffentlich trete ich akzeptabel auf. Wenn ich nur etwas zu sagen weiß und nicht verlegen herumstehe!

Ich erzähle es meiner avó. Sie packt mir eine Tafel Schokolade ein. Die soll ich Lennard als Dankeschön geben.

Lennard

Pünktlich um sieben Uhr steht Vasco vor unserer Tür. Meine Mutter begrüßt ihn. Wir sprechen Englisch, das kann Vasco besser als Deutsch.

Ich nehme ihn mit auf mein Zimmer. Er benimmt sich ziemlich schüchtern und sagt zum Beispiel nichts über das, was es bei mir so alles zu sehen gibt.

„Nimm den Stuhl!“, fordere ich ihn auf. Er schiebt ihn zu mir, an meinen Schreibtisch.

Wir nehmen die Ausfüllübungen durch. Ich finde sie nicht schwierig, er hat überall Mühe.

„Nein! Hier musst du den Akkusativ schreiben“, sage ich beim Satz „Wir gehen auf … Balkon.“

„Und warum?“, frage ich ihn. Er hat den Gebrauch von Dativ und Akkusativ noch zu wenig kapiert. Ich erkläre es ihm, soweit ich das kann. Er hört gut zu, fragt nach und macht Notizen.

„Sagst du das noch einmal, bitte?“, fragt er hie und da.

Beim Lesen des Textes, den wir durcharbeiten müssen, macht er zahlreiche Fehler. Ich korrigiere sie. Schließlich gelingt es ihm, den Text fehlerfrei zu lesen. Darauf muss er ihn, ohne darauf zu blicken, frei wiedergeben. Auch hier muss ich eingreifen.

Mehr als eine Stunde büffeln wir.

Beim Weggehen ist mein Vater im Korridor. Er grüßt Vasco, nimmt ihn in Augenschein und spricht ein wenig mit ihm. Auf Deutsch.

Schließlich geht Vasco. Er nimmt ein Päckchen aus seiner Mappe und gibt es mir. Eine Tafel Schokolade!

„Was soll denn das?“, frage ich.

„Mein Dankeschön“, strahlt er.

„Nein, Vasco! Ich bin doch nur ein Dummkopf, der ein bisschen weniger Fehler macht als du!“

„Ate logo!“, sagt er und will gehen.

„Was heißt das?“, frage ich.

„Ate logo, das ist Portugiesisch, für Auf Wiedersehen!“

„Aha!“, rufe ich aus. „Tot ziens!“

„Das ist sicher Holländisch für Auf Wiedersehen!“

„Ganz genau. Du bist ein Sprachgenie.“

Schon ist er weg. Ich schaue die Eltern an.

Sie haben ihn nett gefunden, ein bisschen scheu. „Er bewundert dich, so wie er dich anschaut“, meint die Mutter.

Ob ich ihn jede Woche zweimal am Hals habe?

Am nächsten Tag macht Vasco im Nachhilfeunterricht eine unerwartet gute Figur. Meine Hilfe scheint erfolgreich zu sein. Frau Attenhofer lobt ihn. „Endlich hast du dich gut vorbereitet. Weiter so, Vasco!“

„Aber Lennard hat mir geholfen!“

Sie stutzt und schaut mich an. „Hast du die Aufgaben für ihn gemacht?“

„Ich habe ihm nicht einfach gesagt, was er machen soll. Wir haben darüber geredet. Manchmal musste ich ihm ein bisschen auf den Sprung helfen.“

„Das machen wir oft zusammen“, mischt sich Pilar ein. „Was der eine nicht versteht, versteht der andere, und dann erklären wir es einander.“

„Aha, so ist das nicht schlecht. Also, weiter so, Vasco!“

„Hey, ich möchte beim Vorbereiten auch mitmachen!“, sagt Erkan.

Nach einigem Palaver machen wir ab, dass wir vier uns gemeinsam vorbereiten werden. „Am Tag vorher, um fünf Uhr“, schlage ich vor.

„Am Montag habe ich Geigenstunde“, wirft Vasco ein. „Vermutlich kann ich den verschieben.“

„Die“, korrigiere ich ihn.

„Was?“, fragt Vasco.

„Geigenstunde, „die“ kannst du verschieben, nicht „den“! Es ist „die“ Stunde.“

Frau Attenhofer lacht. „Lennard, ich bin hier langsam überflüssig!“

„Nein, Frau Attenhofer, eine Schwalbe macht keinen Sommer, sagt man in Holland.“

„Macht „noch“ keinen Sommer, ja, das sagen wir hier auch“, verbessert sie.

Vasco

War das ein Supertag! Erstens kam ich mit dem Text gut durch, und dann noch die Verabredung! Jedes Mal will Lennard uns helfen.

Der Montag wird freilich ein ausgefüllter Tag. Die Geigenstunde kann ich hoffentlich auf sieben Uhr verschieben.

Ich war ziemlich nervös, als ich bei der holländischen Familie läutete. Aber Lennards Mutter war sofort warmherzig zu mir, als ob sie sich freute, dass ich mich dort meldete. Und Lennards Vater nahm mich total ernst und fragte mich. Und alles locker! In Lennards Zimmer sieht es gemütlich aus, nicht so korrekt und tipptopp aufgeräumt wie das bei mir der Fall sein muss.

Lennard schaut mich freundlicher an als am Anfang. Er ahnt nicht, wie gut mir das tut. Wenn ich doch nicht so schüchtern wäre!

Alle vier treffen wir uns jeweils am Tag vor der Deutschstunde, entweder bei Lennard oder bei Erkan. Ihre Mütter besorgen uns Getränke, und wir lernen. Wir alle profitieren, vor allem Pilar und ich. Gelegentliches Seufzen und Fluchen ist nicht zu vermeiden. „Dieser Scheißsprache!“, habe ich einmal ausgerufen.

„Diese“, griff Lennard ein.

„Dieser!“, verteidigte ich mich. „Es ist der Scheiß!“

„Aber die Sprache!“, sagte Lennard und grinste mich dabei an.

Lennard

Vor Beginn der Frühlingsferien sagt mir Frau Attenhofer, ich brauche nicht mehr zu kommen. Die anderen drei müssen jedoch weiterhin zum Zusatzunterricht.

Die sind irritiert. Wir sind fest zusammengewachsen und wollen zusammen bleiben. Also entscheide ich, dass ich einmal die Woche beim Vorbereiten dabei bleibe, als Berater.

Das währt nicht lange. Bald habe ich anderes, das mich beansprucht.

Heute - es ist Juni geworden - bin ich ausnahmsweise wieder einmal dabei, bei Erkan daheim. Nachher begleitet mich Vasco nach Hause.

„Schade, dass du nur selten dabei bist!“, klagt er.

„Ihr habt mich nicht mehr nötig. Es tut euch gut, wenn der Besserwisser wegbleibt.“

„Nicht deswegen, Lennard. Ich mag dich!“

Das bringt mich in Verlegenheit. „Ich bin mehr als ein Jahr jünger als du!“, reagiere ich völlig quer.

„Was soll das denn?“

Wir schweigen, bis er mich fragt: „Magst du mich auch?“

„Ja, du bist zwäg“, sage ich.

„Was heißt das?“

„Das sagt man hier im Dialekt, wenn jemand in Ordnung ist.“

„Wir könnten doch zusammen etwas machen?“ Er sieht mich bittend an.

„Was denn?“

„Das weiß ich eigentlich nicht.“

„Weißt du was? Wir denken darüber nach!“, schlage ich vor.

Er hat mich schelmisch angelacht, als er sagte, mich zu mögen. Das war mutig von ihm. Sonst ist er so scheu. Ich wagte das kaum jemandem offen zu sagen. Möglicherweise machen Portugiesen das schneller.

Ich habe noch nie einen Freund gehabt, der älter war als ich. Kevin und Adrian in Amstelveen waren jünger. Aber will ich diesen Vasco wirklich als Freund? Ich finde ihn so still und ein bisschen komisch.

Vasco

Ich brauche immer noch Mut, um Lennard anzusprechen. Es kämpft Minuten lang in mir. Soll ich, soll ich nicht? Was, wenn ich ihn nerve?

Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn mag. Wie viel Mut ich dazu brauchte! Ich dachte: jetzt oder nie.

Es ist Pause. Ich sehe ihn unten an der Treppe. Er sieht mich und lächelt.

„Hoi, Vasco! Was läuft ab?“

„Hoi, Lennard. Hast du ein Fahrrad?“

„Sicher.“

„Machst du einmal eine kleine Tour mit mir? Ich habe ein neues Rad bekommen.“

„Mit wie viel Gängen?“

„Achtzehn!“

„Wow! Ich nehme ein Seil mit, dann kannst du mich ziehen! Ich habe nur drei Gänge.“

Die Glocke schellt, und wir trennen uns.

Hat er nun zugestimmt oder nicht? Wir haben ja nichts Festes vereinbart.

Es wird Abend. Ich bin zuhause an meinen Aufgaben und muss dauernd an Lennard denken.

Er hat mir vor einiger Zeit seine Telefonnummer gegeben, ich weiß nicht mehr aus welchem Anlass. In einem Anflug von Übermut wähle ich seine Nummer.

Frau van den Heuvel nimmt ab. Sie ruft Lennard.

„Hoi“, sagt dieser, „stehst du schon mit dem Rad vor der Tür?“

„So dreist wage ich das nicht bei dir – ich wollte fragen, wann wir eine Runde drehen?“

„Heute Abend um neun?“

Hält er mich zum Narren? Aber es flitzt schnell in mir. „Ja, gut“, sage ich, „es ist noch lange hell.“

„Okay, neun Uhr bei mir. Ciao!“

Ich bin verblüfft. Darf ich überhaupt noch aus dem Haus, um neun?

Mit einer kleinen Lüge schmuggle ich mich um fünf vor neun hinaus. „Bin bald wieder zurück!“, rufe ich avó nach.

Lennard wartet unten bei seinem Hauseingang. Wir fahren los.

„Mann, sieht das aus!“, sagt er zu meinem Rad. „Ich habe mein altes, aus Holland. Im Flachland brauchen wir nicht viele Gänge. Was hat das denn gekostet?“

„Keine Ahnung. Mein Onkel hat es mir geschenkt. Nagelneu.“

Es ist ziemlich dunkel, wir fahren mit Licht. An einer steilen Stelle stütze ich Lennard am Rücken, damit er schneller hoch kommt.

Beim Bahnhof kehren wir um. Wir tauschen die Räder. Ich lobe seins, er meins.

„Wir machen einmal etwas Längeres, nicht wahr?“, schlägt er vor.

„Gern! Du kannst mich anrufen“, sage ich.

„Wenn ich deine Nummer nicht habe …!“

„Komm, ich schreibe sie dir auf!“

„Wo denn?“, fragt Lennard. „Ich habe kein Papier dabei.“

„Nicht nötig! Gib mir deine Hand!“ Ich habe einen Filzstift bei mir und schreibe ihm die Nummer auf den Puls. Währenddessen halte ich seine Hand. Die ist warm.

„Gut, gehe ich noch duschen!“, spottet Vasco. „Danke und ciao!“

„Ate logo!“

Lennard

Der meint es aber ernst, dieser Vasco! Mein Vorschlag von neun Uhr war natürlich ein Scherz, aber er griff sofort zu. Da wollte ich nicht mehr zurück, also hatten wir eine Nachttour.

Bei der Unterführung half er mir unerwartet beim Hochfahren. Er brachte seine Hand unter mein flatterndes T-Shirt und drückte mich am nackten Rücken fest aufwärts. Ich war völlig überrascht. Diese warme Hand, dieser Druck! Diese Nähe!

Es war ein herrliches Gefühl. Ich merkte das erst, als ich über die Überrumpelung hinweg war, und da war es schon vorbei.

Es gab noch einen solchen Moment. Als unsere Tour zu Ende war, hielt ich an. Er fuhr auf mich zu, blieb auf dem Sattel und legte mir seine Hand auf die Schulter, während er balancierte. Er musste kräftig zupacken, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Es war, als ob er mir sagen wollte: „Hey, ich bin da, merkst du es?“

Mich bewegt es, wenn jemand mir nah kommt. Es kann mich auch irritieren. Ich muss gestehen, dass mir Vascos Berührungen wohl taten. Ich mag ihn wirklich sehr, mehr als am Anfang. Er ist scheu, aber auf einmal kann er sich vorwagen.

Mein Vater hat uns fotografiert. Er stand beim Hauseingang, als wir unsere kleine Tour beendeten, und Vasco noch auf mich zukam. Das Bild ist richtig gelungen!

 

Es ist ein paar Tage später, Samstag. Ich rufe Vasco an, ob er am Nachmittag Lust habe, eine Tour zu machen. Er sagt begeistert zu.

Ich habe eine Landkarte besorgt und schlage Vasco vor, dass wir zu den Hügeln fahren, die man von der Schulplatztreppe aus sieht.

Wir radeln zuerst hinunter. Nach einem Kilometer geht es aufwärts. Das produziert Schweiß! Vasco hat es leicht mit seinen vielen Gängen, ich fahre ausschließlich im ersten Gang. Wiederum kommt er neben mich und stößt mich ab und zu ein Stück weit hoch. Schließlich sind wir oben.

Ich habe einen Feldstecher. Wir suchen unsere Schule.

Auf einmal stellt Vasco sein Rad ab, kommt auf mich zu, kniet nieder und schiebt meine Socken hinunter. „Zieh die Socken nicht hoch, das sieht bekloppt aus!“

Er hat Recht. Es war mir noch nie aufgefallen.

Wir fahren ostwärts und langsam hinunter. An einer schönen Stelle halten wir an und suchen uns einen guten Platz. Zu essen und zu trinken gibt es dies und das. Nachher legen wir uns der Länge nach ins Gras.

Wir reden holpriges Deutsch miteinander. Ab und zu muss ein englisches Wort weiterhelfen. Vasco fragt mich, ob ich an die Zukunft denke und was wir dann tun und erleben werden. Ja, das mache ich.

„Weißt du, was für einen Beruf du lernen willst?“

„Journalist“, sage ich, „Reporter.“ Er versteht es nicht so recht, ich erkläre es ihm.

„Darfst du das von den Eltern aus?“, fragt er.

„Klar. Das ist doch meine Sache!“

„Bei mir nicht“, klagt er. „Die wollen unbedingt, dass ich Friseur werde, für das Geschäft in Zürich. Ein Onkel, der da arbeitet, hat eine Tochter, sie ist fast zwanzig und lernt ebenfalls Friseurin. Sie wollen, dass meine Schwestern und ich später ebenfalls im Geschäft mithelfen.“

„Und?“

„Eben, ich will das nicht. Ich will nicht Friseur werden.“

„Was denn?“

„Weiß ich noch nicht genau. Nicht Friseur!“

„Oh schade, sonst hättest du mir gratis die Haare schneiden können!“, scherze ich.

Darauf geht er nicht ein. Ich merke, dass mein Spaß daneben war.

„Musst du denn kämpfen, um selbst bestimmen zu können?“, frage ich.

„Eben!“

„Ich hatte den Eindruck, dass du es zuhause sehr gut hast. Du trägst super Kleider und Schuhe, du bekommst ein teures Fahrrad …“

„Stimmt. Geld haben sie genug. Scheiße ist, dass sie alles bestimmen wollen.“

„Wie stellst du dir denn deine Zukunft vor?“

Vasco streckt sich der Länge nach aus, schließt die Augen und fantasiert. „Ich verdiene nicht sehr viel, aber genug. Ich wohne in einer schönen Wohnung, ganz nah bei dir. Meine Frau und ich, wir haben zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Du hast auch eine Frau und zwei Kinder. Am Abend sehen wir uns oft, du und ich, und dann reden wir über alles. Und wir helfen einander, wenn es nötig ist. Du hast ein schönes Auto, ich auch. Ab und zu machen wir eine Reise zusammen, ins Ausland. In den Ferien machen wir gemeinsame Ausflüge, deine Familie und meine, acht Personen!“

„Ob wir da noch miteinander verkehren?“, frage ich skeptisch.

„Ich hoffe es!“

„Du idealisierst mich. Ich habe meine Tücken, pass auf!“ Vasco irritiert mich mit seiner Anhänglichkeit.

Wir fahren weiter, umrunden den Greifensee und erreichen Uster. Von da aus ist es nicht mehr weit bis nach Hause. Ich begleite Vasco noch und bin erstaunt über das stattliche Haus, wo er wohnt. Ein Garten ringsum!

„Komm!“, sagt er, „Ich zeige dir meinen Kräutergarten."