Davids Dreier - Hans van der Geest - E-Book

Davids Dreier E-Book

Hans van der Geest

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Beschreibung

Zuerst sind sie einander spinnefeind: David und Dean. Dann verlieben die Teenager sich und werden Freunde fürs Leben. Den Widerstand, den Davids Eltern gegen die schwule Beziehung leisten, wissen die Freunde zu überwinden. In ihrer Eigenart unterscheiden sich die zwei jungen Männer jedoch stark. David ist bisexuell und hat eine gute Freundin, mit der er sexuell verkehrt. Dean steht ausschließlich auf Männer. David liebt Ordnung, Dean ist eher fahrlässig. Dean studiert Geografie, David wird Volksschullehrer. Sie ziehen zusammen, aber sie stellen schmerzlich fest, dass sie als Wohnpartner nicht zueinander passen. Sie trennen sich räumlich, wollen aber Freunde bleiben. Das geht eine Zeit lang gut. David findet in seinem Arbeitskollegen Cem einen neuen Wohnpartner und einen zweiten Freund. Das Zusammenwohnen gelingt jetzt perfekt. Obwohl Dean das ertragen will, macht es ihn unglücklich. Cem scheint für David doch oft an erster Stelle zu kommen. Als Dean nach einer Studienzeit in den USA zurückkommt, holt David ihn nicht vom Flughafen ab, weil Cem Geburtstag hat. Dean geht es immer schlechter. Er glaubt, für David nur noch eine Nebenrolle zu spielen. Er sucht psychotherapeutische Hilfe. Diese versucht ihn von seiner Abhängigkeit von David zu befreien. Er distanziert sich von David. Mit mehreren Partnern versucht er, eine Wohngemeinschaft zu bilden. Das gelingt nur teilweise. Erst als Cem aus Davids Leben verschwindet, findet er wieder zu David zurück. Er stellt zudem fest, dass er am liebsten allein wohnt. Die Freizeit und vor allem das Wochenende wird für ihn Zeit für David. Der ist sehr glücklich, dass Dean zu ihm zurückgefunden hat. David lernt eine Frau kennen, Chiara. Sie verstehen sich ausgezeichnet und verlieben sich. David will Dean aber auf keinen Fall nochmals verlieren. Er bringt es fertig, dass Dean sich in seine Verbindung mit Chiara einfügen kann. Dean gehört zur Familie, auch als bald Nachwuchs kommt. Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte!

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Hans van der Geest

Davids Dreier

 

 

 

Von Hans van der Geest im Himmelstürmer Verlag bisher erschienen:

Wilde Treue - Frühjahr 2015, ISBN print 978-3-86361-548-2

Plötzlich Pflegeväter - Herbst 2016, ISBN print 978-3-86361-570-3

Das Kuckuckskind - Frühjahr 2017, ISBN print 978-3-86361-629-8

Spätzünder Herbst 2017, ISBN print 978-3-86361-659-5

Der Schüchterne und der Sonnyboy, Frühjahr 2018

ISBN print 978-3-86361-684-7

Ronny - I’m a winner Frühjahr 2018, ISBN print 978-3-86361-681-6

Die Doppelspieler Herbst 2018, ISBN print 978-3-86361-714-1

 

Alle Bücher auch als E-book

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail: [email protected], Juli 2018

© Production House GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfotos: 123rf.com

Umschlaggestaltung:

Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-726-4

ISBN e-pub 978-3-86361-727-1

ISBN pdf 978-3-86361-728-8

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

Mit Dank an Peter Schär für die sprachlichen Korrekturen

Feindschaft und Freundschaft

Ich heiße David, David Wertheimer. Besonders beliebt bin ich nicht. Man lässt mich aber leben. In der Schulklasse gehöre ich immer zu den wenig auffälligen, stillen Schülern. Sie finden mich, glaube ich, ziemlich langweilig. Wie gerne hätte ich einen Freund gehabt! Ich habe nie einen gefunden.

Nur mit Antonia kann ich gut. Seit langem sind wir befreundet. Ich bin schon ein paar Mal bei ihr zuhause gewesen, ich kenne ihre Mutter. Antonia war auch schon bei uns zuhause. Meine Eltern mögen sie.

Als ich ins Gymnasium ging, kam ein Jahr später auch Antonia dahin. Sie ist ein paar Monate jünger als ich, das hat dazu geführt, dass sie mir ein Schuljahr hinterher ist.

Antonia und ich, wir haben immer Erfolg. Nein, leider nicht bei Mathematik oder Französisch, aber sicher beim Tanzen. Echte Wettbewerbe gibt es bei uns nicht, aber an jedem Schulabend, wo getanzt wird, fallen wir zwei auf und ernten spontanen Applaus. Das ist vor allem Antonia zu verdanken. Beim Tanzen hat sie einen mächtigen Schwung, und sie kann sich genial verbeugen! Sie reißt mich mit, sodass wir ein super Duo bilden. Außerdem trägt sie beim Tanz verblüffend schöne Kleider. Die hat sie ihrer Mutter zu verdanken, die ist Modistin. Beim Tanzen bin ich auch gut, stehe aber in ihrem Schatten.

Im Gym gelten wir als Paar. Das ist allerdings übertrieben. Wir sind erst sechzehn Jahre alt, und verliebt sind wir nicht. Antonia ist meine beste Freundin, und ich bin ihr bester Freund, aber das ist was anderes. Viele beneiden mich um meine Freundschaft mit ihr, da sie mit ihren großen braunen Augen und dunkelblonden Haaren an Attraktivität nicht leicht zu überbieten ist.

Wir sehen uns fast jeden Tag, vor allem in der Schule. Haben wir Probleme, sind wir unsere ersten Gesprächspartner.

Ich bin jetzt in der vierten Klasse. Wir sind fast fünfzig Schüler und Schülerinnen, aufgeteilt in zwei Parallelklassen. Ich sei ein Streber, heißt es. Das mag stimmen. Trotz regelmäßigen Langweilstunden interessieren mich die meisten Fächer. Vor Zeugnissen muss ich keine Angst haben.

Auch jetzt bin ich nicht sehr beliebt unter meinen Mitschülern. Ich bin eher ein weicher Typ, das ist für Popularität ziemlich schlecht. Sonst fühle ich mich nicht unwohl unter meinen Klassenkameraden, auch wenn man mich Freak nennt.

 

Dean Waldhofer ist ebenfalls ein Viertklässler, in der Parallelklasse. Er hat noch nie einen allgemeinen Applaus bekommen, obwohl seine Mitschüler ihn gut leiden mögen. Der Pfarrerssohn ist ein braver Schüler.

Ob David ihm sofort aufgefallen ist, weiß er nicht mehr. Eher nicht. Aber dann ist plötzlich etwas geschehen, scheinbar ganz unwichtig.

Nach der Schule war er beim Zahnarzt gewesen. Nachher fuhr er mit dem Fahrrad nach Hause. Auf der langen, breiten Straße sah er, dass David ihm entgegenkam. David schien ihn aber nicht zu sehen.

Sie kannten sich kaum. Nur gemeinsame Veranstaltungen der Parallelklassen hatten sie ab und zu zusammengeführt. Miteinander gesprochen hatten sie noch nie. Aber Dean erinnerte sich deutlich an ihn. Er glaubte, dass er Daniel hieß.

Ihre Fahrräder kamen sich näher und näher. Sie grüßten sich aber nicht. Dean wollte die Hand nicht heben, er war zu schüchtern. Aber er schaute nach ihm. Hatte Daniel ihn nicht gesehen oder … wollte er ihn nicht sehen?

In diesen Sekunden geschah Großes. Dean war blitzartig überwältigt. Überrascht von Daniels Schönheit. Mit einem Schlag wurde Daniel attraktiv für ihn.

Äußerlich geschah nichts Besonderes. Dean fuhr einfach weiter nach Hause. David hatte ihn kaum oder gar nicht bemerkt.

Dean staunte, dass er so fasziniert war. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Was bedeutete es? Er hatte keine Ahnung. Nur eines wusste er. Er wollte diesen Daniel kennenlernen.

Schon am nächsten Tag in der Schule entdeckte er, dass der Junge nicht Daniel, sondern David hieß. Es irritierte Dean. Er hatte sich in den wenigen Stunden schon mit dem Namen Daniel vertraut gemacht. Jetzt musste er sich umstellen.

Seinen Mitschüler anzusprechen, wagte Dean nicht. Was hätte er auch sagen sollen? „David, ich finde dich so schön!“? Außerdem war David fast immer mit Antonia zusammen. Dean hätte ihn stören müssen. Das würde er sicher nicht tun.

Er sann auf Möglichkeiten, David näherzukommen. Falls er ihn einmal alleine antreffen würde, könnte er etwas machen. Aber was?

Er forschte aus, in welcher Richtung David nach der Schule nach Hause fahren würde. Dazu zögerte er bei den Fahrrädergestellen, bis David kam und sein Rad abholte. Dann fuhr er selber quasi zufällig hinter David los, um ihm zu folgen.

Am nächsten Tag stellte er sich hundert Meter weiter auf Davids Heimweg auf, so dass David ihn überholen musste. Als David kam, schaute Dean ihn an und grüßte ihn. „Hallo!“

„Hallo!“, rief auch David.

Das war alles. Triumphierend fuhr Dean nach Hause.

Wie aber weiter?

Es ergab sich eine neue Gelegenheit. In einigen Wochen würden die zwei Parallelklassen zusammen nach Winterthur reisen, um eine Ausstellung zu besuchen. Zur Vorbereitung wurde eine kurze Sitzung organisiert mit den Lehrkräften, die mitkommen würden.

Beim Treffen gab es Vorschläge, wie man reisen könnte. Manche schlugen vor, mit den Fahrrädern zu fahren. David meldete sich zu Wort. Er wollte, dass sie mit dem Zug fahren würden, weil ein einzelner kaputter Schlauch die Gruppe lange aufhalten könnte. Bei der Abstimmung wählte Dean Davids Vorschlag. Aber die anderen gewannen.

Ob David die Unterstützung von Dean gemerkt hatte? Dean hoffte es.

 

Dann stellt sich die Radtour nach Winterthur für Dean aber als katastrophal heraus. Als sie die Rückreise antreten wollten, hatte ausgerechnet David einen Platten. Gerade denjenigen, der vor solchen Pannen gewarnt hatte, traf es nun selber. Sobald die Gruppe das merkte, gab es Gekicher.

In diesem Moment entstand bei Dean eine Idee, wie er endlich Davids Aufmerksamkeit bekommen könnte. „David hat natürlich beweisen wollen, dass sein Vorschlag der bessere gewesen wäre!“, rief er aus.

Darauf lachte die Gruppe David laut aus, obwohl allen klar war, dass Deans Bemerkung nur ein Scherz war.

Dramatisch wurde es aber, als der Lehrer David in strengem Ton fragte, ob das stimme. Oder hat er selber den Platten verursacht? In diesem Fall würde er das nicht gut finden.

David war zuerst sprachlos. Der Scherz hatte sich in eine giftige Beschuldigung gewandelt. Entrüstet wehrte er sich. „Wie kann man solchen Blödsinn von mir behaupten! Mir geschieht ein Unglück, und ihr wisst nichts anderes zu tun als mich zu beschuldigen und auszulachen! Ich hasse das!“

Andres rettete die Situation. Er kam mit einem Reifenlöffel und sagte, er würde den Reifen schnell reparieren.

Innerhalb von zehn Minuten war die Aktion erfolgreich abgeschlossen. Die Gruppe startete zur Rückreise.

Dean war todunglücklich. Was als Scherz gemeint war, hatte ihn zum Bösewicht gestempelt. Er hatte doch mit seiner Bemerkung Davids Aufmerksamkeit wecken wollen, nun hatte sie ihn zu seinem Widersacher gemacht.

Sobald er allein war, brach er in Tränen aus. Statt David näherzukommen, hatte er einen Abgrund zwischen ihnen aufgetan.

Er musste David wohl vergessen. Er hatte sich bei ihm unmöglich gemacht.

Oder sollte er ihn förmlich um Entschuldigung bitten?

Dazu fehlte ihm der Mut.

Der Schulbetrieb ging weiter.

Immer, wenn sich sein Weg zufällig mit David kreuzte, merkte Dean, wie dieser ihn mied und ihn nicht einmal grüßte oder anschaute.

Es zehrte an Dean.

 

Nach den Sommerferien, in der fünften Klasse, vernehme ich, dass Deans Vater gestorben ist. Alle Schüler und Schülerinnen gehen zu ihm, um ihm ihr Mitgefühl auszudrücken.

Ich bin unsicher. Soll ich auch zu Dean gehen?

Ich sage mir, dass meine Kondolenz ihm nichts nützen würde. Ich lasse es sein. Er mag mich sowieso nicht.

In der letzten Woche vor den Herbstferien werden sich meine Klasse und auch die Parallelklasse in einem Lager auf den Endspurt zum Abitur vorbereiten. Wir werden in einem Ferienhaus untergebracht, wo wir alle Platz haben.

Antonia kommt natürlich nicht mit, sie ist erst Viertklässlerin. Ich werde mich trotzdem nicht langweilen.

Die Woche fängt an. Den Haushalt besorgen wir Schüler zum großen Teil selbst. Jeder hat irgendeinen Auftrag bekommen, beim Putzen, Aufräumen, Mahlzeiten vorbereiten, und so weiter.

Am letzten Abend werden wir eine Wanderung im Dunkeln machen. Vor dem Start sitzen wir alle im großen Raum zusammen.

Herr Pförtner wird den Abend leiten.

„David, du bleibst hier und bedienst das Telefon, falls jemand anruft.“

Der Auftrag geht mir gegen den Strich, will ich doch bei der Abendwanderung dabei sein. Aber jeder Teilnehmer kommt einmal dran, also bin ich jetzt gefordert. Ich werde beim Telefon an der Reihe sein. Unsere Eltern können nämlich zwischen sieben und acht anrufen, wenn irgend etwas ist.

Also bleibt mir nur „Okay, Herr Pförtner“ zu sagen. Was ich auch tue.

Pförtner ist noch nicht fertig. „Es ist noch einer nötig, der das Holzfeuer hier im Saal überwacht. Es darf unter keinen Umständen ausgehen. Also muss noch ein Heizer her. Frank, das ist deine Aufgabe.“

„Ich?“, begehrt Frank auf.

„Ja, du.“

„Aber …“

„Nein, keine Diskussionen! Du kennst die Regel.“

Ein ähnlich enttäuschtes „Okay, Herr Pförtner“, ertönt aus Franks Mund.

Pförtner steht auf. „Wir werden ungefähr um zehn Uhr zurück sein. Nachher gibt es hier rund ums Feuer noch ein kurzes Zusammensein mit Imbiss.“

„Und Getränk!“, ruft Maja.

„Selbstverständlich. Nun denn, in einer Viertelstunde gehen wir los. Zieht euch warm an, es wird kalt werden.“

Unsere Klassenkameraden strömen hinaus. Das Stimmengewirr wird immer leiser, bis die Tür zufällt. Der Saal ist leer. Stille. Nur Frank und ich sind übriggeblieben.

Ich bin frustriert, aber dass Frank ebenfalls hier bleiben wird, freut mich. Mit ihm komme ich gut aus. Wir werden uns sicher dies oder das einfallen lassen.

Frank geht zum Kamin, wo das Feuer richtig lodert.

Auf einmal kommt Pförtner zurück. „Frank, ich bin dumm gewesen. Du hast ja die Wanderung entworfen, du bist der Einzige, der diese Gegend gut kennt. Ich muss dich dabei haben. Dean wird für das Feuer zuständig sein.“

Dean kommt widerwillig hinter Pförtner daher.

Dean! Der Einzige, den ich nicht ausstehen kann. Das wird ein öder Abend!

Frank bricht auf, winkt mir zu und geht hinter Pförtner zu der Wandergruppe. Dean tappt träge und unsicher umher.

Ich nehme ein Buch hervor und lasse mich in einer Ecke auf ein Sofa nieder, lasse die Hausschuhe auf den Boden fallen und hebe meine Knie hoch, so dass ich mich quasi in eine isolierte Welt zurückziehen kann. „Oscar et la dame rose“, heißt das Buch. Ausgezeichnet, denn für Französisch brauche ich äußerste Konzentration.

Seit dem Vorfall mit meinem Fahrrad habe ich mich nie mit Dean eingelassen. Ich nahm an, dass er mir sowieso feindlich gesinnt sei und seine Schelte ein Symptom davon. Wenn ich ihn traf, schaute ich weg.

Und jetzt muss ausgerechnet er mit mir zusammen Dienst leisten, der Blödmann! Ich lese also in meiner abgeschirmten Ecke und versuche die Umgebung auszublenden. Das Französisch soll mich fesseln.

Bald läutet das Telefon. Ich springe auf. Anitas Mutter will wissen, ob die Erkältung ihrer Tochter schon vorüber ist. Ich weiß zufällig, dass es ihr besser geht als Anfang der Woche.

Das zweite Telefon ist eine Mitteilung für Johannes, dass seine Eltern ihn am Samstag doch abholen können, anders als ursprünglich vereinbart.

Als das Telefon zum dritten Mal läutet, lese ich noch einen Moment weiter, da mein Buch gerade spannend ist.

„David, Telefon!“, ruft Dean. „Soll ich abnehmen?“

Ich springe auf, antworte ihm nicht und gehe ans Telefon.

Es ist Deans Mutter. „Einen Moment“, sage ich.

„Für dich“, sage ich Dean. Ich warte nicht, sondern lege den Hörer hin. Er kann ihn ja selbst aufnehmen.

„Oh, danke!“

Ich lese weiter. Dean telefoniert. Nachher stochert er im Feuer herum und legt neues Holz hinein.

„Willst du auch etwas trinken?“, fragt er mich nach einer Weile.

„Stör mich nicht“, erwidere ich ihm.

Dann ist es acht Uhr. Ab jetzt wird es still bleiben.

Noch ganze zwei Stunden, bis die anderen zurückkommen!

Auf einmal schreitet Dean auf mich zu. Ich sehe es, lese weiter und ignoriere ihn. Ich bin nicht zu einem Schwatz mit dem giftigen Hohlkopf bereit.

Er setzt sich behutsam auf das andere Ende des Sofas, zu meinen Füßen. Meine Augen bleiben auf meine Lektüre gerichtet.

„Hey, David“, sagt er, „der Zufall hilft mir jetzt etwas zu machen, was ich schon lange tun wollte.“

Weil er mich anspricht, muss ich wohl kurz zu ihm aufschauen.

„So!“

„Ich will dich um Entschuldigung bitten. Ich habe damals in Winterthur Blödsinn geredet und dich lächerlich gemacht, und das tut mir leid.“

Ich schaue ihn an. Er sieht mir direkt in die Augen.

„Du meinst wegen des Fahrrads?“, frage ich.

„Genau. Das war gemein von mir. Ich schwatze manchmal ohne Kontrolle drauflos. Ich wollte dich gar nicht bloßstellen. Es war Scheiße. Es tut mir leid. Kannst du mir verzeihen?“

„Das hättest du wohl ein bisschen früher sagen können!“, gebe ich zurück.

„Ja, stimmt“, sagt er. „Ich finde es mega schwierig, um Verzeihung zu bitten. Ich habe gemerkt, dass du mir böse bist.“

„Du hast mich geärgert!“, rufe ich aus. „Durch deine Bemerkung hat die ganze Truppe mich ausgelacht für etwas, was ohne mein Zutun passiert war. Ich konnte nichts dafür!“

„Ich weiß. Es ist mir erst nachher bewusst geworden.“

Meine Abwehr gegen ihn kann nicht verhindern, dass seine Worte mich treffen. Ich finde, dass ich nicht mehr so schnippisch reagieren kann, wie ich es bisher getan habe.

„Ja“, sage ich. „Ich finde das auch schwierig, einen Fehler einzugestehen. Ich habe das auch schon erlebt.“

Dean sieht mich an. „Danke, dass du das sagst.“

„Okay, vergessen wir es. Schwamm darüber!“

„Danke, David, danke!“

Die Stimmung zwischen uns ist durch diese Aussprache so dicht geworden, dass ich es in meinem Versteck nicht mehr aushalte. Ich stehe auf und hole mir etwas zu trinken.

Aus der Küche zurück stelle ich fest, dass Dean noch auf dem Sofa sitzt. Ich bin unschlüssig, ob ich wieder dorthin will. Das sieht dann richtig nach Versöhnung aus. Vielleicht will ich das noch nicht.

Ich wäre froh, wenn er etwas sagen würde, irgendein Blabla. Aber er schweigt.

Während mein Kopf noch unsicher ist, führen mich meine Füße zum Sofa. Irgendetwas treibt mich dorthin, als ob alles andere falsch wäre. Ich setze mich, diesmal ohne meine Beine hochzuziehen.

Er schweigt immer noch. Die Stille ist unerträglich. Einer von uns muss unbedingt etwas sagen!

Mir kommt in den Sinn, dass ich ihm nie etwas zum Tod seines Vaters gesagt habe. Das muss jetzt geschehen. „Du, ich habe vernommen, dass dein Vater gestorben ist. Das tut mir leid für dich.“

Nochmals schweigt er einen Moment, bis er mich anschaut. „Danke, David“, sagt er.

Ich fühle mich unsicher. Die Geschichte mit dem Fahrrad hat sich aufgelöst, es steht anderes im Raum. Der Tod, der Verlust, die Trauer. Ich kann kein oberflächliches Zeug reden.

„Hat er dir viel bedeutet, dein Vater?“, frage ich.

Langsam nickt er. „Ja, er hat mir viel bedeutet.“

Soll ich ihn fragen, an was für einer Krankheit er gelitten hat? Oder wie seine Mutter mit der Situation zurechtkommt?

Er sitzt bedrückt da, wie verloren. Er klaubt ein Taschentuch hervor und putzt sich die Nase.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist“, sage ich. „Meine Eltern sind gesund, es scheint selbstverständlich, dass sie immer da sind.“

„Ist es nicht.“

„Nein, das weiß ich natürlich. Aber ohne eigene Erfahrung bleibt das abstrakt.“

Dann schaut er mich an. Es ist ein Tränenschleier über seinen Augen. Er lächelt mir zu, traurig. Ohne ein Wort kommt er mir damit sehr nah.

Kurz darauf gebe ich mir einen Ruck: „So, jetzt lese ich weiter.“

„Okay“, sagt er und steht auf. Er geht zum Feuer und hantiert da ein wenig. Danach setzt er sich dort hin.

Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Der Austausch hat mich völlig in Beschlag genommen. Mir kommen dauernd Deans Augen in den Sinn, als er mich so traurig anschaute. Der Blick war rein, verletzlich, zugänglich auch, als ob er mir näherkommen wollte.

Nach kurzer Zeit klappe ich mein Buch zu, stehe auf und setze mich auf einen Schemel zu Dean ans Feuer.

„Hoi“, sagt er.

„Hoi“, erwidere ich und lache ihn an.

„Hast du auch Hunger?“, will er wissen.

„Eigentlich ja, wollen wir etwas holen?“

Wir gehen in die Küche und suchen im Kühlschrank. Dort liegt ein Paket mit Würstchen.

„Ist es offen?“, frage ich.

Dean nimmt das Paket hervor. „Ja, hier ist ein Loch.“

„Vielleicht sind die abgezählt.“

Er schaut mich an. „Wagen wir es?“

„Okay. Zwei für mich.“

„Für mich auch zwei. Magst du Milch oder Orangina?“

„Milch ist gut. Komm, ich mache das.“

Bald sitzen wir wieder beim Feuer, beißen in die Würstchen und trinken.

„Fast noch romantisch, beim Feuer“, sage ich.

„Ja, finde ich auch. Hätte ich mir gestern nicht vorstellen können, ausgerechnet mit dir.“

„Ach, ich bin wegen der Fahrradsache vielleicht zu empfindlich gewesen“, sage ich.

„Ich wollte dich gar nicht verletzen, es war einfach passiert, bevor ich es merkte. Das ist ekelhaft bei mir. Ich bin eher ein Schüchterner, und plötzlich kann ich etwas sagen, das kein normaler Mensch je sagen würde, indiskret oder … unverschämt, vielleicht. Was als kleine lustige Neckerei gemeint war, wirkte als Verspottung. So ungeschickt bin ich eben!“

Wir sprechen bald von anderen Dingen, von der Handballgruppe, in der Dean mitmacht, und vom Schulchor, in dem ich mitsinge.

Kurz nach zehn Uhr stürmt die Gruppe herein. Nach einem kurzen Treff mit Imbiss marschieren wir ab zu den Schlafzimmern.

Es ist bald Mitternacht. Ich werde einschlafen. Deans Gesicht sehe ich noch klar vor mir. Wir sind uns richtig nahgekommen. Ich mag ihn.

Dean lag im selben Moment ebenfalls noch wach. Er war froh, dass er die Sache des platten Reifens mit David geklärt hatte. Was für ein schöner Abend war das mit ihm!

Er hatte David immer gemocht, war indessen nie an ihn herangekommen, ganz bestimmt nicht mehr nach seiner unpassenden Bemerkung. David hatte ihn nicht einmal mehr angeschaut, so beleidigt war er gewesen. Zu David bekomme ich nie den Draht, hatte er gedacht. Und jetzt hatte sich das so gewandelt!

Schade, dass es vorbei ist, der Abend. David hat so etwas Feines, Zartes an sich. Ich kenne, dachte er, sonst niemand in der Schule, der so ist. Die anderen Jungs sind oberflächlicher und härter. Und David ist auch schön, sehr schön!

 

Am nächsten Tag stehen zwei Busse bereit, um uns nach Hause zu fahren. Wir Schüler haben freie Wahl, in welchen Bus wir steigen wollen. Ich will testen, ob es Dean etwas ausmacht, wo ich sitze. Ich steige in den zweiten Wagen und setze mich auf einen von zwei freien Sitzen.

Ich erschrecke fast, als Dean rasch nach mir ebenfalls einsteigt. Ich winke ihm einladend zu. Er kommt und setzt sich neben mich.

Wir lächeln einander an.

Unterwegs reden wir nichts Besonderes. Die bunten Farben des Laubes, das bald fallen wird, faszinieren mich. Die Welt scheint mir auffallend schön zu sein, wie nie zuvor.

Erst als wir bei unserer Schule auf den Parkplatz fahren, sagt Dean zu mir: „Hey, David, der Abend mit dir war für mich das schönste Erlebnis der Woche, wegen … ja alles, mit dir. Schade, dass es vorbei ist.“

Ich bin zu überrascht, um etwas Originelles sagen zu können. Ich wiederhole: „Ja, für mich war es auch schön.“

Beim Aussteigen stürzen die Eltern und Geschwister auf uns zu. Ich verliere Dean aus den Augen.

 

Nach dem Herbstlager haben wir noch eine Woche Ferien. Darauf hatte ich mich gefreut. Jetzt finde ich es schade, dass ich Dean vorläufig nicht mehr sehen werde. Ich überlege mir, ob ich seine Adresse ausfindig machen und ihn besuchen soll. Nein, das wäre aufdringlich.

Außerdem bin ich mit Antonia verabredet. Bereits am Montag treffen wir uns. Antonia hat ihr Französisch-Lehrbuch dabei und will mit mir damit arbeiten. Das wird auch mir guttun, denn Franz ist nicht mein bestes Fach.

Die Woche zieht sich friedlich hin. Jeden Vormittag kommt Antonia zu mir, und nach dem Mittagessen machen wir eine Radtour oder gehen im Hallenbad schwimmen. Ich hoffe, dass sich Dean irgendwo zeigen wird. Vergebens.

Endlich ist es Montag, Schulanfang. Auf dem Pausenplatz sehe ich Dean, der bei einigen Klassenkameraden steht. Er sieht mich nicht. Ich will nicht auf ihn zugehen, das wäre wohl daneben.

Ich will eigentlich nicht auf Dean fixiert sein. Wozu auch? Etwas zieht mich zu ihm hin, aber das ist doch absurd? Vor zwei Wochen wollte ich ihn nicht einmal grüßen.

Er sieht gut aus mit seinen blauen Augen und ist noch schlanker als ich. Sein strohiger blonder Haarschopf krönt sein ziemlich bleiches Gesicht auf maskuline Art.

Als ich nach der letzten Stunde nach Hause gehen will und meine Jacke anziehe, klopft mir einer auf die Schulter.

Dean.

„Hallo, David! Hast du die Ferien genossen?“

Ich freue mich über seinen Vorstoß. Wir kommen ins Plaudern. Er scheint wohlauf zu sein.

Beim Fahrradstand trennen sich unsere Wege.

„Ade!“, ruft er.

„Ade!“, sage ich. „Hoffentlich habe ich keinen Platten!“

„Oh nein! Musst du mich unbedingt daran erinnern?“

„Ist okay, Dean! Vielleicht hast du jetzt einen!“

„Hoffst du sicher!“

In dieser Art geht es weiter, Tage, Wochen. Wir suchen uns fast jeden Tag, kurz, reden und scherzen ein wenig, und gehen wieder auseinander. Als ob nur flüchtige Treffs angemessen wären.

Manchmal sieht Dean mich mit Antonia zusammen. Er fragt mich: „Ist Antonia deine Freundin?“

„Ja“, sage ich, „gefällt sie dir?“

„Sie ist hübsch“, findet er. „Du hast Geschmack, David!“

„Hast du eine Freundin?“, frage ich.

„Leider nicht. Bin auf der Suche!“

 

Als ich an einem Nachmittag nach Hause fahren will, kommt Dean auf mich zu gerannt.

„Hey, David! Seid ihr bei Moosbrügger mit den Salzbildungen beschäftigt?“

„Chemie? Ja, da sind wir dran.“

„Verstehst du das Zeug?“

„Ziemlich, ja, ich glaube.“

„Oh, dann habe ich eine Bitte an dich. Könntest du mir ein bisschen helfen? Ich kapiere es nicht.“

Ich freue mich über Deans Anfrage. „Ja, klar. Wenn du willst, kannst du … willst du zu mir kommen, oder soll ich …?“

„Ich komme gern zu dir.“

Er holt sein Fahrrad und bald speeden wir los.

„Wo wohnst du?“

„Es ist nicht weit, nur müssen wir die letzten vier Minuten das Rad schieben. Und du, wo wohnt ihr?“

„Am Bullingerplatz. Wir müssen bald umziehen. Mein Vater war Pfarrer, und jetzt brauchen sie das Pfarrhaus für einen Nachfolger.“

„O je. Und wo kommt ihr denn hin?“

„Hoffentlich können wir in der Stadt bleiben. Meine Mutter sucht.“

Ich erschrecke. Werden wir uns bald aus den Augen verlieren?

Ich wohne auf abfallendem Gelände in einem Mehrfamilienhaus mit Garten, nah beim Wald. „Ist das eine schöne Wohngegend!“, staunt Dean. „Wir haben einen Riesenverkehr vor der Tür.“

Meine Mutter und Irina sitzen im Wohnzimmer und trinken Tee. Ich stelle Dean vor.

„Komm, wir gehen auf mein Zimmer.“

„Ach, trinkt doch zuerst was“, bietet meine Mutter an. „Ihr habt den ganzen Tag Schule gehabt.“

Ich schau zu Dean. Der nickt.

Als wir uns an den Tisch setzen, sagt er zu mir: „Ich habe nicht gewusst, dass du eine so hübsche Schwester hast!“

Irina ist nie auf den Mund gefallen. Sie hakt sofort nach: „Und noch nicht vergeben!“

„Mann, David, jetzt bin ich nervös!“, ruft Dean aus.

Inzwischen bedient uns meine Mutter mit Tee und Keksen.

Dean bewundert mein Zimmer mit der Aussicht auf schöne Häuser und viel Grün und Bäume. Dann arbeiten wir an den Salzbildungen. Wir machen es fleißig, haben inzwischen dauernd spaßige Einfälle. Dean ist gelöst, ich kenne ihn gar nicht so. Ganz anders als an jenem Abend im Lager!

Als er nach Hause fährt, winke ich ihm nach. Auch er schaut noch einmal zurück und winkt.

Beim Abendessen bin ich aufgedreht und redselig. Meine Schwester sagt: „Was hast du? Du bist so unruhig. Ist was mit Antonia?“

Ich bin irritiert. Nein, es ist nichts mit Antonia. Ich weiß, was mich beflügelt. Es ist Dean. Das braucht Irina nicht zu wissen.

„Ja, es ist Antonia, du spürst alles sofort“, lasse ich meine Schwester in ihrer Vorstellung. „Es gibt eine Tanzparty zwischen Weihnachten und Neujahr bei uns in der Schule, und wir werden uns anmelden, zusammen.“

„Das wird dann ein Verlobungsfest!“, meint sie.

„Nein, das eh …, wir sind nur gute Freunde.“

„Ja ja, kein Sex, ich weiß.“

„Bitte“, greift die Mutter ein, „Irina, übertreib’s nicht!“

 

Meine kecke Schwester – sie ist zwei Jahre älter als ich und macht eine Bürolehre - hat bei mir eine heikle Stelle berührt. Ich bin siebzehn. Sex hatte ich noch nie. Ja, Handwerk! Nichts mit einem Mädchen. Manchmal denke ich, dass ich mit Antonia etwas machen sollte. Wir haben noch nie darüber geredet. Ich mag sie gern, sehr gern. Aber ob ich verliebt bin? Vielleicht entsteht das erst beim Sex? Bis jetzt habe ich die Sache vor mir hergeschoben.

Dean hat noch keine Freundin. Er hat wahrscheinlich auch noch nie Sex gehabt. Vielleicht sollte ich ihn einmal fragen. Ich weiß nicht, wie alt er ist. Wahrscheinlich ebenfalls siebzehn.

 

Mittlerweile ging es Dean so gut wie schon lange nicht mehr. Er hatte Mühe gehabt, Freunde zu finden. Er mochte wildes Gehabe nicht, und die stilleren Typen zogen ihn ebenso wenig an. Er schaute sich vor allem die Mädchen in seiner Klasse an. Es funkte allerdings nicht.

Er war über das persönliche Gespräch mit David im Lager erstaunt gewesen. Es war ihm aufgefallen, dass David ihn jetzt gut mochte. Gott sei Dank war er nicht mehr böse.

Einen Freund wagte Dean seinen Mitschüler nicht zu nennen. Er freute sich, dass er ein wenig mit ihm verkehren konnte. Das mit den Salzbildungen war erfunden gewesen, er hatte einfach einen Vorwand gebraucht.

Davids Schwester hatte ihm ebenfalls gefallen, sie sieht ihm ähnlich. Und Davids Mutter war ganz freundlich zu ihm gewesen. Vielleicht wusste sie vom Tod seines Vaters. Es hatte ihm gutgetan, willkommen zu sein.

Er wollte David einmal zu sich nach Hause einladen. Er brauchte ein wenig Mut dazu.

 

„Hey, David“, sagte er bald darauf, „wenn ich dir einmal mit etwas helfen kann, sag es! Oder bist du so gescheit, dass du keine Hilfe nötig hast?“

Ich lachte ihn mit einem breiten Lächeln an. „Danke für das Angebot. Vielleicht kannst du mich lehren, wie ich platte Reifen reparieren muss.“

„Scheißkerl!“, rief Dean aus. „Wenn ich jemals heirate und ich dich zur Hochzeit einlade, wirst du sicher eine Rede halten und mir jene Geschichte unter die Nase reiben!“

„Ist das bald? Ich will mir das Datum reservieren.“

„Alles geregelt. Ich weiß nur noch nicht genau, welche Frau ich heiraten soll.“