Wilde Treue - Hans van der Geest - E-Book

Wilde Treue E-Book

Hans van der Geest

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Beschreibung

Timon und Ariane sind schon mehrere Jahre befreundet, als sie beschließen, miteinander zu schlafen. Timon versagt aber. Nur wenn er an Männer denkt, schafft er es. Das betrübt sie beide. Nach diversen unbefriedigenden Versuchen trennen sie sich. Dann lernt Timon den schwulen Nick kennen. Sehr konservativ erzogen, hat Timon damit seine Mühe. Erst nach scharfzüngigen Diskussionen finden sie zueinander und werden ein treues Paar. Jahre später taucht Ariane wieder auf. Timon liebt sie immer noch. Zusammen mit Nick entdeckt er mit ihr ungeahnte Möglichkeiten. Auch Arianes Schwester mit Sohn Fabio gesellt sich zu dieser kunterbunten Gemeinschaft. Eine ungewöhnliche Regenbogenfamilie entsteht. Doch wie reagiert die Umwelt auf die ungewöhnlichen Väter und Mütter. Hat das verwegene Geflecht der Beziehungen bestand oder scheitert es? Eine teils amüsante, teils romantische Geschichte aus unsere heutigen, in Bewegung geratenen Gesellchaft.

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Hans van der Geest

Wilde Treue

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail:[email protected], März 2015

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

 

Coverfoto: ©iStockphoto.com

 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

 

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-548-2

ISBN e-pub 978-3-86361-549-9

ISBN pdf 978-3-86361-550-5

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

 

 

Mit Dank an Peter Schär für die sprachlichen Korrekturen.

Nick - Eine Busfahrt mit Folgen

Der Ärger mit dem Chef sitzt mir noch im Kopf. Ich habe recht, und er will es nicht einsehen.

Jetzt nach Hause. Stoßzeit. Der Bus ist ziemlich voll, zahlreiche Fahrgäste stehen. Ich steige ein und halte mich an der Stange fest, es kommen viele Kurven. Langsam verflüchtigt sich mein Ärger, ich werde offen für Anderes. Ich schaue, wer sich so alles im Bus aufhält. Manchmal zähle ich die Leute, mit denen ich mir ein Sexabenteuer vorstellen könnte. Dafür kommen selten mehr als ein oder zwei in Betracht. Heute gar niemand … oder warte! Mehrere Leute entlang schiebe ich mich vorwärts. Vorne habe ich einen Haarschopf gesehen, vielversprechend.

Dort sitzt er und spricht mit einer älteren Frau. Nein, es ist nicht seine Mutter, die sehen anders aus.

Ich gehe an ihnen vorbei, schaue schräg zurück und sehe nun sein Gesicht. Ein Schauer geht mir den Rücken hinunter. Dabei habe ich doch schon viele schöne junge Männer gesehen! Aber dieser, nein, so einen mächtig schönen Menschen habe ich noch nie erblickt. Oder bilde ich mir das nur ein? Nein, ehrlich nicht! Ich zittere. Einfach so, hier im Bus 72, sitzt er da, wie ein Jagdziel, zum Abschuss bereit. Man könnte ihn anfassen … Nicht nur sein Aussehen lockt mich, auch seine Bewegungen! Die Züge dieses Angesichts! Die dunkelblonden Haare, die Augen, die straffe Gesichtshaut, die schlanke Figur, was für eine Eleganz! Mit Mühe nur kann ich meine Augen von ihm wegdrehen.

Achtung! Er schaut mich an! Nur kurz. Jetzt bleibt mein Blick bei ihm. Und er schaut wieder! Nur kurz, wie vorher. Er hat mich bemerkt! Und ertappt!

Oje! Da stehen sie auf und gehen zur Mitteltür. Und steigen aus! Noch einmal scheint es mir, dass er in meine Richtung blickt, blitzschnell. Und weg!

Der Bus fährt. Ich Dummkopf! Wäre ich doch ausgestiegen! Ich habe den Moment verstreichen lassen. Immer reagiere ich zu spät! Neuer Ärger.

Sein Gesicht ist mir noch präsent. Leider weiß ich, wie es weiter geht: Binnen kurzem kann ich mich nicht mehr genau an ihn erinnern. Das Eigentliche, das Individuelle, es wird sich aus meinem Gedächtnis löschen. Das läuft immer so.

Ich Kamel! Wäre ich ihm doch gefolgt! ‚Hey, wart, ich kenne dich doch?‘ ‚Ja? Wäre noch schön, wir könnten doch Freunde sein! Komm mit, ich habe Zeit!‘ Und sie lebten noch lange und glücklich …

Betrübt steige ich am Ort aus, wo ich immer aussteige. Aber in mir reift ein Plan: Morgen werde ich denselben Kurs nehmen. Möglich ist er wieder von der Partie. Morgen!

Die vierundzwanzig Stunden kriechen vorüber, langsam wie selten. Endlich kommt der Bus. Leute, sitzende und stehende. Ich durchforsche den Wagen.

Nichts. Scheiße!

Fast schon resigniert versuche ich es nochmals in der nächsten Woche, am selben Wochentag. Spöttisch schauen mich die Bäume an, dort wo ich erfolglos aussteige.

Ich habe die Frist eben verstreichen lassen. Mein Zugriff kam jämmerlich zu spät. Und ich weiß tatsächlich nicht mehr, wie er aussah, dieser Schöne.

 

Ausnahmsweise hilft das Schicksal. Es geschieht am Vortragsabend der Musikschule. Meine Schwester Andrea spielt irgendetwas von Schubert und hat mich gebeten zu kommen. Ich enttäusche sie meistens, also will ich ihr diesmal zu Willen sein.

Das Wunder ereignet sich gerade am Anfang. Wie ich in den Saal hineintrete, sitzt er da. Er! Jawohl, er! Und dieselbe Frau sitzt neben ihm, wie im Bus. Unglaublich!

Kühn genug werde ich mich neben die zwei setzen! Ich wechsle auf die andere Saalseite, damit ich neben ihm lande. Ich schiebe mich durch die Reihe. Er schaut mich an. Ich frage, ob da frei sei. Er lächelt und sagt: „Ich bin nicht zuständig, aber es sieht so aus!“

„In dem Fall wage ich es“, lächle ich zurück. Meine Temperatur steigt. Wie konnte ich so mutig sein! Ich sitze neben ihm!

„Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns sehen, nicht wahr?“, entlarvt er mich.

Mein Herz steht still. Er hat also registriert, dass ich hinter ihm her bin! Ich runzle die Stirn, als ob ich nicht verstünde, was er meint.

„Im 72-er. Stimmt doch, nicht wahr?“ Sein Lächeln lindert mein Gefühl, ertappt zu sein.

„Ja, stimmt“, schmunzle ich. „So ein Zufall!“

„Ja, so ein Zufall!“ Verspottet er mich mit der Wortwiederholung?

„Wann war denn das?“, frage ich ihn, um ihm zu zeigen, dass mir die Entlarvung keine Angst macht. Was bloß halb stimmt.

„Vor zehn oder zwölf Tagen, etwa.“

„Ja, am späteren Nachmittag.“

„Genau.“

In diesem Moment fängt das Konzert an. Der Musiklehrer leitet die Auftritte seiner Schüler ein, und schon spielt ein Knirps ein kleines Stück. Man klatscht. Der Nächste kommt dran, ein Mädchen. Man klatscht. Und so weiter.

Als es einen Moment dauert, bis auf der Bühne einige Stühle und Notenständer platziert sind, fragt er mich: „Weshalb hast du mich im Bus angeschaut?“

„Das kann ich auch dich fragen“, reagiere ich mit einem Lächeln. Ich habe mich unterdessen auf Schlagabtausch eingestellt.

„Mag sein.“

„Du siehst gut aus“, sage ich im Flüsterton.

„Du machst mich verlegen.“

„Mag sein.“

Ich bin verblüfft. Was der alles auf den Tisch wirft! Ist es Boshaftigkeit? Ach nein, er lacht liebenswürdig dabei. Es ist wie bei einem Tennismatch. Ich muss auf der Hut sein.

Das Konzert wird fortgesetzt. Ein Trio. Die Musizierenden werden immer älter. Nun kommt meine Schwester dran. Bevor sie loslegt, winkt sie mir diskret zu. Debussys ‚Claire de lune‘ ertönt. Applaus.

„Kennst du sie?“, fragt er.

Ich kläre ihn auf. Ich freue mich über seine Frage. Er interessiert sich für mich und bezieht mich ein.

Plötzlich steht er auf – mein schöner Nachbar – und tritt auf die Bühne. Ich schaue auf das Programmblatt, dort steht sein Name: Timon Angehrn. Er spielt eine Nocturne von Chopin. Es tönt virtuos. Großer Applaus.

Als Timon zurückkommt, stehe ich auf, um ihn vorbei zu lassen und klopfe ihm auf die Schulter. „Du bist ein Künstler!“, lobe ich ihn.

Er nimmt das schweigend entgegen. Schon ächzt das Klavier unter dem Nächsten.

„Übrigens heiße ich Nick, Timon!“, sage ich, als das Konzert zu Ende ist, und wir aufstehen.

„Freut mich, Nick. Du hast herausgefunden, dass ich Timon heiße. Jetzt können wir uns anschauen, ohne verlegen zu werden.“ Wir geben uns die Hand.

„Sagst du! Ich weiß nicht, ob ich das fertig bringe.“

In der Halle suchen wir unsere Jacken, während mehrere Leute Timon für seine Leistung loben. Wir scheinen beide unschlüssig zu sein, ob zwischen uns noch etwas folgen soll.

„Also dann …“, fange ich unbeholfen an.

„Sehen wir uns wieder?“, fragt Timon.

„Ja, gern, Timon, ich würde dich gern wiedersehen.“

Die Frau, die ihn begleitet, drängt ihn zum Gehen.

„Gib mir deine Telefonnummer, ich rufe dich an“, fordert er mich auf.

Schnell nehme ich meinen Stift hervor. Er streckt mir den Unterarm entgegen.

Ich lächle ihn an und schreibe meine Nummer auf seinen Handrücken. Mit der linken Hand halte ich seine Finger hoch. Ist das ein Gefühl!

Ich bin wild begeistert! Was für eine Überraschung, dass Timon mich sofort wiedererkannte! Und das auch noch aussprach! Vielleicht habe ich ihn ebenfalls beeindruckt.

Die Direktheit, mit der er mich fragte, zum Beispiel, weshalb ich ihn im Bus angeschaut habe, hat mich elektrisiert. Ich bin zuerst erschrocken, fand es dann doch spannend, so direkt zu reden. Er weckt damit meine Schlagfertigkeit und meinen Witz.

Es dauert mehr als eine Woche, bis er anruft. Ich war dran, die Hoffnung aufzugeben.

„Hi, Nick. Hier bin ich.“

„Timon!“

„Ja. Ich eh … habe lange gezögert. Es kam mir plötzlich albern vor, dich anzurufen. Ich kenne dich ja nicht. Spinnen wir nicht? Was meinst du?“

„Tönt sehr unromantisch, was du da sagst. Du wolltest doch meine Telefonnummer?“

„Ja. War das eine Dummheit?“

„Schwierige Frage. Du hast recht, ich könnte mich als Massenmörder entpuppen oder als ein stinklangweiliger Kerl, der dich um Geld anbetteln wird. Man weiß nie, mit wem man sich einlässt. Hängen wir doch besser auf!“

„Nein, Nick, bitte nicht!“

„Hör dann auf mit dem Gejammer. Wann sehen wir uns?“

„Eh … ja, okay. Hast du morgen Abend etwas vor?“

„Nein. Halb sieben vor dem Opernhaus, okay?“

„Wart, das geht mir zu schnell. Willst du in die Oper?“

„Nein, als Treffpunkt. Wir könnten doch etwas essen gehen?“

„Eh … ja, vielleicht. Gut, um halb sieben. Bis morgen!“

Wieder diese Direktheit! Diese Spinnerei setzte mich sofort unter Spannung. Massenmörder!

Timons Zwiespalt

Er trifft ein, pünktlich. Wir finden ein Lokal, wo es eine ruhige Ecke gibt. Selbstbedienung.

Wir setzen uns einander gegenüber und schauen uns an. „Wir spinnen, nicht wahr?“, sage ich.

„Das glaube ich nicht, aber ich fand es … albern. Wie ist es denn für dich?“

Ich schaue ihm in die Augen und lächle. Meine Stimme wandelt sich in die Tiefe. „Es ist doch klar, was ich will?“

Timon schaut mich ebenfalls lange an und schweigt. „Du bist zielstrebig“, sagt er schließlich.

„Findest du?“

Er blickt ein wenig nervös umher. „Eigentlich gefällt es mir, wie du hinter mir her bist.“

„Dann rechne ich mir Chancen aus.“

„Du hast noch keine Prüfung bestanden.“

„Dazu bist du hergekommen, mich zu prüfen?“

„Wozu denn sonst?“

„Übrigens, ich bin kein Schürzenjäger.“

„Wie kommst du darauf? Bist du schwul?“

„Ja, damit du es jetzt weißt“, gestehe ich.

„Wenn ich ganz ehrlich bin: Das habe ich gedacht.“ Timon lacht schelmisch wie ein ungezogener Junge

„Wer weiß, was für uns noch alles drin liegt, heute Abend!“

„Geht das so schnell bei dir?“

„Manchmal. Und bei dir?“

„Ich bin Jungfrau. Mit Männern.“

„Mit Frauen nicht?“

„Nein, nur mit einer. Das ist eine ganze Geschichte.“

Wir schweigen eine Weile.

„Du hast vermutet, dass ich schwul bin. Trotzdem bist du gekommen!“

„Ja, und? Mal eine andere Welt kennenlernen.“

„Wie alt bist du?“, frage ich.

„Einundzwanzig. Und du?“

„Zweiundzwanzig, also habe ich fast fünf Prozent mehr Lebenserfahrung.“

„Schnellrechner!“, lacht er.

„Du bist Musiker?“

Timon erzählt mir, dass er seit drei Jahren am Konservatorium Klavier studiert.

„Blechacz bekommt Konkurrenz!“, werfe ich ein.

„Kannst denken! Es erstaunt mich, dass du dich auskennst. Wer weiß schon, wer Rafal Blechacz ist!“

„Zufall. Ich habe eine CD von ihm, mit Chopin.“

„Die Preludien?“

„Kann sein. Ich kenne mich nicht gut aus.“

„Was machst denn du?“

„Ich bin Schlüsselmechaniker.“

„Schlüsselmechaniker!“, reagiert er in einem Ton, als ob er sagen wollte: ‚Was soll ich mit einem Handwerker?‘ „Dann hast du Feinmechanik gelernt?“

„Ja, unter anderem. Und Informatik.“

Er schmunzelt wieder ein wenig.

„Was ist lustig?“, frage ich.

„Ich weiß nicht. Es geht mir gut. Ich rede gern mit dir.“

„Würdest du es ertragen, wenn ich mit meinen Lippen dein schönes Gesicht berührte?“

Er setzt ein breites Lächeln auf.

„Nun?“

„Sicher nicht hier!“

„Wo denn?“

Er schaut umher, steht auf, nimmt mich an der Hand und sagt: „Komm mit!“ Er führt mich in einen kleinen Korridor, wo die anderen Gäste nicht hineinblicken können, packt mich am Kopf und lässt sich küssen. Er packt mich nochmals und erwidert den Kuss.

Bedächtig kehren wir an unseren Tisch zurück. Wir sehen uns an, unterdrücken unser Schmunzeln.

„Und wie ist das, in der anderen Welt?“, fordere ich ihn heraus.

„Ich könnte weinen. So mächtig war das.“ Er schaut mich an.

„Das ist Leben!“, reagiere ich. „Von dem kannst du mehr haben.“

„Du belehrst mich. Das gefällt mir nicht.“

„Was soll ich sagen?“

„Wie es für dich war.“

Ich muss die Irritation überwinden, die er in mir ausgelöst hat. Ich will nicht zurückschlagen oder schnippisch reagieren. Also, wie war es für mich? „Schön. Ich möchte es wieder, und mehr.“

„Das klingt nicht sehr persönlich. Schön ist Blechacz, und die Aussicht hier.“

„Willst du mich reizen?“

„Nein. Du verstehst mich nicht.“

Wieder irritiert er mich. Oder hat er recht? „Du bist, glaube ich, einiges zu subtil für mich.“

„Vielleicht zu viel.“

„Timon! Jetzt hatten wir diesen wunderbaren Moment zusammen. Und nun ärgerst du mich mit Sticheleien. Du schaffst Distanz! Erträgst du schlecht Glück?“

„Ich möchte wissen, wie es für dich war. ‚Schön‘ ist mir zu abgedroschen.“

„Du bist ein anspruchsvoller Knabe. Ich weiß kein besseres Wort.“

Er schaut mich an, also ob ich ihm etwas verheimlichen wollte.

Nun stehe ich auf. Ich lade ihn ein, nochmals mitzukommen. Er folgt. Im Korridor falle ich ihm um den Hals und küsse ihn. Er macht mit.

Wieder setzen wir uns. „Und?“, fragt er. „Wie war es für dich?“

„Wie gesagt: schön. Ich weiß kein besseres Wort.“

Schweigend blickt er mich an.

„Wie war es denn für dich?“, frage ich ihn.

„Ich könnte weinen. Deine Zuneigung trifft auf ein Verlangen, das ich schon lange in mir trage, und das noch nie befriedigt wurde. Ein Verlangen von einem Mann geliebt zu werden. Und ihn lieben zu dürfen. Ein Schenken und ein Empfangen. Das berührt mich tief.“

Ich schaue ihn schweigend an.

„Aber“, macht er weiter, „es war wohl bloß die äußere Form. Wie in einem Schauspiel.“

„Du bist unmöglich!“, sage ich verärgert.

„Wir verstehen uns nicht“, sagt er nach einer Weile.

„Nein“, stimme ich ihm zu.

„Schade!“

„Ja, schade!“

Längere Zeit sitzen wir ohne ein weiteres Wort beieinander. Schließlich stehe ich auf. Ich will auch gut für Überraschungen sein. „Ciao, Timon!“, rufe ich ihm zu, klopfe ihn flüchtig auf die Schulter und gehe hinaus, in der Hoffnung, dass er mir nachspringt.

Er rührt sich nicht. Draußen warte ich noch eine Minute. Ich gehe nach Hause, empört und traurig.

 

So etwas Widersprüchliches habe ich noch nie erlebt! Tagelang trage ich das Treffen mit mir herum. Weder das Traurige noch das Ärgerliche will von mir weichen. Timon benimmt sich wie einer, der einen Stromdraht betasten möchte. Sobald er den Draht berührt und den Strom spürt, zieht er mit Wucht die Finger zurück.

Schimpfwörter tauchen in mir auf. Eingebildet! Gemein aggressiv, heimtückisch. Was der sich alles erlaubt zu sagen! Ich belehre ihn! Ich verstünde ihn nicht!

Zugegeben, ich bin genauso hart gewesen. Davon gelaufen. Es ist, als ob wir Klingen kreuzten, ohne die Regeln zu beachten. Bin ich zu drastisch vorgegangen?

Allmählich werde ich ruhig und bereit, das Ganze ohne Parteinahme zu überdenken. Ich vergleiche unsere Aussagen. Er sagte, er könnte weinen. Ich sagte, es sei schön gewesen, ich wolle es nochmal und mehr.

Was ist denn der Unterschied? War nicht beides positiv? Was denn sonst noch?

Auf einmal entdecke ich den Unterschied. Mir wird klar, dass Timon sehr persönlich sein Erleben offenlegte, während ich nach dem farblosen ‚schön‘ von der Zukunft sprach, von meinem Begehren nach mehr. Ich war ungeduldig und ließ ihn das merken.

Timon ist innerlich beim Kuss geblieben, während ich weiter rannte. Wie viel intensiver muss er den Kuss erlebt haben als ich! Er sprach auf einer tiefgründigeren Ebene davon als ich, mit meinen oberflächlichen Sprüchen.

Mit Schrecken stelle ich fest, dass er wohl zu feinsinnig ist für mich. Ich habe ihn enttäuscht.

Werde ich ihn jemals wieder sehen? Ich kann ihn nicht anrufen. Aber er: Er hat meine Nummer.

 

Tatsächlich ruft er an, nach vier Tagen.

„Hallo, Nick. Ich wollte dich einmal anrufen.“

„Das freut mich.“

„Warum bist du denn fortgegangen, wenn es dich jetzt freut?“

„Wir haben uns nur noch angeschwiegen.“

„Ich war noch nicht so weit, etwas zu sagen.“

„Du hattest mich doch abgeschrieben?“, werfe ich ihm vor.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Wir verstünden uns nicht, sagtest du.“

„Stimmt. Verständnis kann aber wachsen.“

„Ja, da hast du recht. Ich bin wohl zu ungeduldig.“

„Eben. Der routinierte Hosenjäger war mit seinen Gedanken bereits im Schlafzimmer.“

„Du bist ein Scharfschütze.“

„Ist das ein Kompliment?“

„Was willst du überhaupt noch von mir, Timon?“

„Ob du es glaubst oder nicht, ich spüre Zuneigung zu dir.“

„Wenn du Zuneigung spürst, würde ich mich ein bisschen freundlicher ausdrücken, wenn ich du wäre.“

„Kleinbürgerlicher Anstand gehört für mich nicht zu Freundschaft.“

„Eher brüskes Anrempeln.“

„Nein, Offenheit!“

Ich schweige.

„Ich habe Phantasien über uns, Nick. Dass wir uns kennenlernen. Dass wir Verständnis beieinander finden und Wärme. Findest du das realistisch?“

„Klingt sehr schön.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“

„Aha!“

„Wovon träumst denn du über uns, über mich?“

Ich zögere mit meiner Reaktion.

Da spricht er schon wieder: „Oder phantasierst du darüber, wie du mir möglichst schnell an die Wäsche gerätst, einen steifen Schwanz in die Hände bekommst und einen mächtigen Kick erlebst?“

Unangenehm überrascht sage ich trotzig: „Könnte noch stimmen.“

„Okay, Nick. Ich will dich nicht länger aufhalten. Ciao!“ Er hängt auf.

Erneut Abbruch! Ich bin verblüfft. Ist das die Retourkutsche dafür, dass ich ihn das letzte Mal grußlos verlassen habe?

Warum verhalten wir uns so? Sobald einer von uns etwas Scharfes sagt, retourniert der andere mit einem neuen Stoß. Dabei sind wir beide … verliebt? Ja oder nein? Ich verstehe es nicht. Verliebte werben doch, während wir beide gleichsam darauf warten, einander wehtun zu können. Ist das eine Art zu balzen? Oder schrecken wir davor zurück, einander wirklich nahe zu kommen?

Ich doch nicht?

Wenn ich ihn gewähren lasse, muss ich meine Ehre opfern. Soll ich ihn einfach alles mit mir machen lassen?

Kämpft Ehre gegen Liebe? Werben: ja! Betteln: nein! Aber er zieht mich an! Ich möchte ihm ganz gern näher kommen!

 

Er hat nie mehr angerufen.

Über meine Schwester komme ich zu seiner Adresse. Nach zwei Monaten schreibe ich ihm einen Brief.

 

Timon

 

Ich wollte dich vergessen. Das geht nicht. Etwas in dir hat mich dermaßen berührt, dass ich nicht von dir loskomme.

Wir sind beide nicht auf den Mund gefallen. Mit unseren lockeren Zungen verblüffen wir gern unseren Gesprächspartner, verletzen ihn dabei und kümmern uns nicht um den Schaden, den wir damit anrichten. Mit Erwachsenwerden haben wir beide Mühe. Kindisch verwenden wir die Methoden rücksichtsloser Teenager.

Ich habe dich schäbig behandelt. Ich sehe es ein, zu spät. Du hast mich ebenso schäbig behandelt. Wahrscheinlich hast du es gemerkt.

Zugleich hat sich in unseren Blicken etwas Unglaubliches getan. Ins gelobte Land konnten wir hineinschauen, blitzartig, kurz. Dem sind wir mit unserem Geschwätz nicht gerecht geworden.

Ruf mich zur Vernunft, dass ich die angefangene Herausforderung wieder aufnehme! Ich rufe dasselbe dir zu.

Nick.

 

Drei Tage später ruft er an.

„Hoi, Nick!“

„Überraschung!“

„Naja, ich habe deinen Brief gelesen, und, eh … es geht mir nicht sehr anders. Wir haben Mist gebaut. Wäre nicht nötig gewesen. Ich bereue es auch.“

„Tut mir gut, das zu hören, Timon!“

„Machen wir eine Wanderung zusammen, vielleicht auf den Üetliberg?“

Wir verabreden Zeit und Ort.

Von der Straßenbahn Endhaltestelle ziehen wir los. Es ist schönes Wetter. Timon trägt kurze Hosen. Ich ärgere mich, nicht auf dieselbe Idee gekommen zu sein.

Die Pfade sind breit. Wir gehen nebeneinander und können gut reden. Zu allem anderen hinzu hat Timon schöne Beine.

Zuerst bilden wir mit einem Austausch übers Wandern eine risikofreie Einleitung. Timon ist ein Wandervogel, mehr als ich.

Nachher fange ich an. „Du bist ja noch Jungfrau, nicht wahr?“

„Mit Männern, ja.“

„Der Sprung zu Frauen ist eigentlich grösser für Leute wie wir.“

„Ich habe Mühe, mich zu entscheiden, zu welcher Sorte ich gehöre“, sagt Timon. „Ariane war lange meine Freundin, seit der Grundschule. Als wir Teenager waren, kam das Sexproblem. Ich hatte Angst, es wehrte sich viel in mir dagegen. Ariane wollte mehr als ich, dass wir Sex haben sollten.“ Er erzählt mir, wie mühsam es war, das erste Mal. Zuerst ging gar nichts. Erst als er beim zweiten Mal an einen Jungen dachte, sei er in Fahrt gekommen. Trotzdem hatten sie noch einige Male Sex. Als seine Gedanken dabei immer zu Jungs abgeschweift seien, habe er es Ariane offengelegt. Entmutigt hätten sie aufgehört. Ariane sei traurig gewesen. Sie hätten abgemacht, einander eine Zeitlang nicht mehr zu sehen.

„Da stehe ich jetzt. Ich weiß nicht, was ich will. Ich habe immer eine Familie haben wollen, und Kinder. Das gebe ich nicht einfach auf. Schwulsein? Ich weiß nicht, es zieht mich nicht an. Allerdings, vom Drang her, vom Gefühl …“

„Mit mir hast du Kontakt gefunden!“

„Stimmt. Ich finde dich … ich weiß nicht, sympathisch oder attraktiv. Du bist gleich alt wie ich, mit dir kann ich vielleicht gut reden. Das heißt nicht, dass ich Sex möchte. In dieser Hinsicht weiß ich nicht, was ich wirklich will. Schwul stößt mich ab.“

„Versuch es doch einmal!“, rate ich.

„Nein, Sex versuchen, das habe ich hinter mir. Es bedeutet viel für mich, aber ich will das in einer guten Beziehung. Mit Ariane hatte ich die. Ich trauere ihr noch nach.“

Wir gehen ein Stück weit ohne Worte. Dann fragt er mich, wie denn meine Erfahrungen seien.

„Ich wollte zuerst Sex mit Mädchen. Es kam dazu, mit zweien. Beide Male war es schön – da kommt mein Wort ‚schön‘ wieder! Etwas Ernstes war es nicht. Darauf lernte ich einen Kollegen kennen. Mit ihm war es viel schöner! Wenn ich einen sympathischen Mann berühre, strömt das Glücksgefühl massiv durch mich hindurch. Nachher habe ich Männer gesucht. Mit fünf oder sechs habe ich etwas gehabt, meistens für einmal.“

„Eine echte Freundschaft hast du nie erlebt?“

„Nein.“ Ich schaue ihn an. „Vielleicht fängt heute eine an …“ Ich streiche ihm kurz über die Schulter.

„Es gibt Romane und Kurzgeschichten. Du bist mehr für Kurzgeschichten?“

„Scheint so. Möchte ich nicht. Und werde nicht zynisch, bitte!“

Oben am Berg setzen wir uns und bestellen etwas auf der Aussichtsterrasse. Ich bezahle für uns beide. Timon dankt.

„Meine Schnellstrategie muss ich bei dir wohl vergessen, nicht wahr?“, sage ich.

„Ich habe das Wort ‚Strategie‘ nicht gern. Ich stelle mir vor, dass etwas Wertvolles gedeiht und nicht erobert wird. Keine Schlacht oder Jagd, mehr ein Wachsen. Das braucht sicher Zeit.“

„Wie recht du hast! Ich weiß es. Aber die Ungeduld, das Verlangen! Bist du nie ungeduldig?“

„Nein, in dieser Sache nicht. Weil ich mir nicht im Klaren bin, was ich will. Ich denke trotzdem daran, wie schön es wäre, einen Mann zu liebkosen und bei ihm zu sein.“

„Mensch!“

„Was erwartest denn du?“, fragt er mich. „Willst du keine Familie haben, gründen?“

„Nein. Ich kann mir eine Beziehung zu einer Frau nicht vorstellen, jedenfalls nicht eine, die für eine Familie nötig ist.“

„Du willst mit einem Traumprinzen zusammenziehen?“

„Mit dem ‚Traumprinzen‘ hast du ein solches Verlangen schon ins Lächerliche gezogen!“

„Entschuldigung, das ist mir rausgerutscht, das will ich nicht. Zusammenleben mit einem Freund?“