Die Doppelspieler - Hans van der Geest - E-Book

Die Doppelspieler E-Book

Hans van der Geest

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Beschreibung

Kim hat Mühe auf dem Gymnasium. Der Student Rico wird ihm in den Fächern Mathematik und Französisch helfen. Zwischen den Zweien entsteht eine burschikose Freundschaft. Mit der Zeit entwickelt sich diese zu einer intimeren Beziehung. Gemeinsames Wichsen ersetzt die überflüssig gewordene Nachhilfe. Kim nimmt es auf die leichte Schulter, Rico trägt schwerer daran. Er sieht ein, dass er schwul ist. Aber es kommt anders. Als er die gleichaltrige Vera kennenlernt, verliebt er sich zu seinem eigenen Erstaunen in sie. Gleichzeitig will er die Beziehung zu Kim nicht aufgeben. Für Vera ist das kein Problem. Kim sucht eine Frau. Seine schwulen Erfahrungen mit Rico stellen das für ihn nicht in Frage. In seiner Unbekümmertheit nimmt er seine bisexuelle Art einfach an. Als er Carol kennenlernt, beginnen die Probleme. Die heiß verliebte Carol will sich nur mit ihm verbinden, wenn er die sexuellen Begegnungen mit Rico aufgibt. Kims Freundschaft mit Rico ist jedoch unerschütterlich. Er bricht mit Carol. Das hat Carol nicht erwartet. Kims Nein setzt in ihr ein gründliches Überlegen in Gang. Sie lässt sich von einem Psychotherapeuten beraten. Aber alles scheint unweigerlich auf die endgültige Trennung von Kim hinzulaufen. Doch ihr Verlangen nach Kim lässt sie entdecken, dass sie ihm vertrauen kann, und dass auch Rico keine Gefahr für sie sein wird. Die Geschichte erreicht Höhepunkte an den Stellen, wo die Schwierigkeiten für Bisexuelle berührt werden. Außer Misserfolge zeigen sie auch erstaunliche Möglichkeiten.

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Hans van der Geest

Die Doppelspieler

 

Von Hans van der Geest im Himmelstürmer Verlag bisher erschienen:

Wilde Treue - Frühjahr 2015, ISBN print 978-3-86361-548-2

Plötzlich Pflegeväter - Herbst 2016, ISBN print 978-3-86361-570-3

Das Kuckuckskind - Frühjahr 2017, ISBN print 978-3-86361-629-8

Spätzünder Herbst 2017, ISBN print 978-3-86361-659-5

Der Schüchterne und der Sonnyboy, Frühjahr 2018

ISBN print 978-3-86361-684-7

Ronny - I’m a winner Frühjahr 2018, ISBN print 978-3-86361-681-6

 

Alle Bücher auch als E-book

 

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail: [email protected]

Originalausgabe, Juli 2018

© Production House GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfotos: fotolia.com

Umschlaggestaltung:

Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-714-1

ISBN e-pub 978-3-86361-715-8

ISBN pdf 978-3-86361-716-5

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

 

 

Mit Dank an Peter Schär für die sprachlichen Korrekturen

Der Ziehvater und sein Zögling

Wenn er von der Haltestelle kam, sah er den riesigen Wohnblock vor sich. Mit den unzähligen Fenstern und Balkonen wirkte der Bau erdrückend auf ihn. Er fantasierte, dass es sich um eine Legebatterie handle. Überall wäre es voll mit Federvieh und er selbst wäre eins davon.

Die beklemmende Massenvision verschwand jedoch augenblicklich, sobald er seinen Käfig im fünften Stock betrat und sich in seinem einfachen Haushalt zurechtfand. Statt des tristen Blickes hinauf, genoss er jetzt den ausladenden Blick tief hinunter, auf die abwechslungsreiche Umgebung mit Häusern, zwei Parks und dem Wald in der Ferne. Nebst Autos fuhr die Straßenbahn regelmäßig wie eine Modelleisenbahn vorüber.

Seitdem er studierte, war die kleine Wohnung Ricos Bleibe. Er teilte sie mit einem Studienkollegen namens Erich, der das größere der zwei Zimmer belegte. Sie kannten sich bereits vom Gymnasium her und verstanden sich ausgezeichnet.

Eigentlich war es umgekehrt. Erich teilte die Wohnung mit Rico. Rico wäre nicht in der Lage, die Miete zu bezahlen, auch nicht für sein kleines Zimmer. Erichs großzügige Eltern hatten ihn zum Wohnpartner ihres Sohns eingeladen. Rico bezahlte nur die zusätzlichen Kosten, die er verursachte.

Rico war es wie ein Wunder vorgekommen, dass er nun doch nach dem Abitur in der Universitätsstadt wohnen konnte – hatte er doch immer damit gerechnet, dass er Bahnstudent sein und die vierzig Kilometer jeden Tag mit dem öffentlichen Verkehr überwinden müsste.

Er kam aus einer sehr bescheiden lebenden Familie, genauer gesagt als einziges Kind von einer alleinerziehenden Mutter, die im Supermarkt ein einfaches Brot verdiente. Ihre Vergangenheit hatte eine prägende Rolle gespielt in Ricos Kinderjahren. Er hatte die Mutter fast nur als Jammerkasten erlebt. Ewig hatte sie sich bitter über Ricos Vater geäußert, der sie - damals war Eliane ahnungslos und achtzehn - verführt, sich aus dem Staub gemacht habe und der schließlich als schon verheiratet entlarvt worden sei. Elianes Vater hatte Himmel und Erde bewegt, ihm auf die Schliche zu kommen und hatte nach viel Hin und Her mit Behörden erreicht, dass der Kindsvater eine Unterstützung bezahlen musste. Aber der Mann war meistens arbeitslos, und aus den Zahlungen wurde nicht viel. So war die Sozialfürsorge geblieben.

In der Volksschule kam es vor, dass Rico ausgelacht wurde, weil er so hieß wie seine Mutter und quasi keinen Vater hatte. Rico ließ sich nicht allzu sehr davon einschüchtern, aber das erzeugte hin und wieder eine Schlägerei.

Die Scham seiner Mutter für ihren Stand war wohl das Bedrückendste für den Jungen, weil sie sie mit Bitterkeit zu überlagern versuchte. Nie mehr konnte sie diese loswerden.

Aber Eliane Dettwiler hatte ihr Kind außerordentlich gut umsorgt und ihm alles zur Verfügung gestellt, was hilfreich für ihn war. Rico hatte seine Mutter auch sehr geliebt, bloß war die Stimmung zuhause immer freudlos gewesen. Er versuchte sich deshalb eher außer Hause zu amüsieren.

Viele Möglichkeiten hatten ihm im Quartier nicht zur Verfügung gestanden, mit Ausnahme von Herrn Leo. Er war ein älterer Mann in einer Nachbarswohnung gewesen, im Rollstuhl, und lebte mit einer Tochter zusammen. Leo hatte gern Schach gespielt, und damit bekam er mit Rico einen jungen Freund. Je größer Rico wurde, umso häufiger saß er bei Leo am Schachbrett und lernte sehr gut spielen.

In der Schule gehörte Rico zu den Besseren und er bestand sogar die Zulassungsprüfung fürs Gymnasium.

War Rico in der Volksschule eher ein Mauerblümchen geblieben, änderte sich das durch Erich Herzog, den er jetzt kennenlernte. Er saß in der Parallelklasse. Erich war auch im Schachverein der Schule, dort kamen sie miteinander in Kontakt. Die zwei verstanden sich von Anfang an.

Die Freundschaft brachte Rico mit der Zeit neue Möglichkeiten. Erichs Eltern waren wohlhabend, der Vater war Arzt. Rico durfte hie und da mit den Herzogs mit in die Ferien oder in Sportvereine gehen. Ricos Mutter hätte solches nicht bezahlen können, aber das war nun kein Problem mehr.

Erich wollte wie sein Vater Medizin studieren. Rico wählte Geschichte und Sozialwissenschaft. Weil sie an dieselbe Universität kamen, konnte ihr fester Kontakt bestehen bleiben.

Erich hatte seine Eltern dazu bewegen können, dass er eine Wohnung mieten konnte, in der auch für Rico Platz war.

Ihr Zusammenwohnen war für beide ein Erfolg geworden. In Freistunden wurde viel Schach gespielt, und den Haushalt machten sie friedlich gemeinsam. Erich war ein eindrucksvoller großer Mann geworden, im Gegensatz zu Rico, der nur knapp über 170 Zentimeter hinauskam, leicht gebückt ging und einen eher ernsthaften Eindruck machte.

 

Als sie an einem Samstagmorgen Zeit hatten und miteinander gemütlich frühstückten, klagte Rico darüber, dass er immer sehr knapp bei Kasse sei und er versuchen wolle, etwas zu verdienen, was nicht zu viel Zeit kosten würde.

„Und was willst du denn machen?“, fragte Erich.

„Was meine Mutter schon so lange macht, zum Beispiel. Du weißt, sie arbeitet im Supermarkt. Die bezahlen ziemlich gut.“

„Du“, reagierte sein Freund, „das mag für deine Mutter okay sein, aber ehrlich, nicht für dich! Du kannst doch viel anspruchsvollere Arbeit leisten und mehr verdienen!“

„Ja, aber was? Ich kann nicht viel Zeit investieren!“

„Soll ich meinen Vater fragen? Vielleicht …“

„Nein, Erich, bitte nicht! Ihr tut schon so viel für mich! Lass mich das allein organisieren!“

„Weißt du, was du machen kannst? Nachhilfestunden geben! Mathematik, Deutsch, Französisch. Du bist ja ein Star!“

„Meinst du? Ja, vielleicht! Und wie komme ich zu Schülern?“

„Oder Schülerinnen!“

„Oh, du meinst zu hübschen Schülerinnen?“

„Klar! Dann kann ich ihnen die Tür aufmachen, wenn sie kommen!“

„Und sie nachher trösten, nachdem sie bei mir in Tränen ausgebrochen sind?“

„Kein Witz, Rico, das wäre es! Häng doch einen Zettel im Supermarkt aus! Dort gibt es eine Wandtafel, wo man solche Angebote bekanntgeben kann.“

„Ja! Superidee, Erich. Ich mache das heute noch.“

Zwei Stunden später war die Anzeige angeschlagen, mit Telefonnummer. „Student gibt Nachhilfeunterricht an Sek- und Gymschüler.“

 

In der nächsten Woche war Erich am Dienstag an der Reihe, das Abendessen zu besorgen. Als Rico schon nach Hause gekommen war, einige Lebensmittel auspackte und an ihren Ort versorgte, kam er ebenfalls nach Hause.

„Haben wir genug Eier?“, fragte Erich, während er Rico mit einem leichten Schulterstoß begrüßte.

„Sicher, mal schauen … fünf sind noch da.“

„Ich wollte doch heute etwas kochen für uns, nicht wahr?“

„Das hast du gestern angekündigt, ja.“

„Eben, es gibt Omelette mit Salat.“

„Salat gibt es keinen mehr!“, rief Rico aus.

„Habe ich mitgebracht! Keine Sorge.“

Während Erich in der Küche zu hantieren begann, fragte er: „Und wie ist es mit der Arbeitssuche? Hat schon einer angebissen?“

„Nein, ich habe noch keine Reaktion.“

„Du hättest Schülerinnen hinzufügen sollen. Mädchen sind heute empfindlich, wenn sie nur die männliche Form sehen.“

„Glaube ich nicht. Wenn eine wirklich Hilfe braucht, stört sie das nicht“, reagierte Rico.

„Sobald du einmal eine Freundin hast, wirst du das verstehen, Herr Junggeselle!“

„Und wo hast denn du deine Weisheit her? Aus dieser kurzen Geschichte mit der – wie hieß sie schon wieder? – dieser Mona Lisa?“

„Majalina. Könnte sein.“

„Eine Mona Lisa war sie ja nicht!“

„Nicht so schön vielleicht, dafür geheimnisvoll!“

„Schwärmst du immer noch für sie?“

„Nicht wirklich. Seit ich …“

„Seit ich … Was sagst du da? Gibt es eine neue?“

„Ich weiß es noch nicht. Ich hoffe.“

„Und sie, weiß sie es schon?“

„Nein! Sie weiß nicht einmal, wie ich heiße. Das wird sich aber bald ändern.“

„Guten Tag, Unbekannte“, spielte Rico ihm vor, „ich heiße Erich, willst du mit mir gehen?“

„Ja, Rico, ich weiß, wie unwiderstehlich du dich einschmeicheln kannst. Ich werde mir deinen Vorschlag überlegen.“

Das Essen war fertig. Friedlich setzten sie sich an den kleinen Küchentisch und ließen es sich schmecken. Erich hatte eine Zeitung mitgebracht. „Aus der Straßenbahn mitgenommen.“

Als die Mahlzeit beendet war und Rico Kaffee machte, begann er die Zeitung zu lesen.

Dann rief er plötzlich aus. „Rico! Das ist es! Hör zu: Nachhilfe gesucht für 13jährigen Gymnasiasten. Rößler, Telefon …“

Rico nahm ihm die Zeitung aus der Hand. Nach fünf Sekunden nahm er das Telefon hervor und wählte die Nummer.

Eine Frau nahm ab. Sie sei erfreut über den Anruf und lade Rico für den nächsten Nachmittag um fünf Uhr bei sich zuhause ein.

„Mann! Das wird gut!“, jubelte Rico und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter.

„Verlang nicht zu wenig! Verkauf dich teuer!“

„Dreißig Franken die Stunde.“

„Vierzig!“, sagte Erich.

„Meinst du? Dann stellt sie einen anderen ein.“

„Schau zuerst, was das für eine Wohnung ist. Wenn es gutsituierte Leute sind, würde ich nicht zu bescheiden sein. Das strahlt Selbstbewusstsein aus, weißt du?“

„Bachrain 17. Kennst du die Gegend?“

„Warte!“ Erich suchte den Stadtplan hervor und breitete ihn aus.

„Hier! Bachrain. Eher gediegen, glaube ich. Beim Gämsenplatz.“

 

Als Rico am Tag darauf die Häuserreihe am Bachrain zu Gesicht bekam, wusste er schon, dass er vierzig Franken verlangen würde. Es waren ausschließlich Einfamilienhäuser mit Garten zu sehen. Dann kam die Nummer 17. Das Haus war mittelgroß und sah schön aus. Nebenan war eine breite Garage.

Eine elegant gekleidete Frau Rößler bat ihn freundlich herein. Rico stellte sich vor: Rico Dettwiler.

Sie nahmen im geräumigen Wohnzimmer Platz. Ein schmaler, geschniegelter Dreizehnjähriger kam herein und begrüßte Rico.

„Kim.“

„Ich heiße Rico Dettwiler. Hallo!“

Kim nahm neben seiner Mutter Platz. Sein bleiches Gesicht war voll Sommersprossen. Der lichtblonde Haarschopf gab ihm ein markantes Aussehen, obwohl er mit seiner leichten Stupsnase noch sehr kindlich aussah.

Frau Rößler fragte, was Rico trinken wolle. Während sie kurz aus dem Zimmer war, fragte Rico den Jungen: „Siehst du immer so tipptopp aus?“

„Ha!“, lachte er höhnisch. „Das will sie!“

Die Mutter kam mit drei Gläsern zurück. „Mein Sohn hat Schwierigkeiten in der Schule“, erklärte sie, sobald sie das Getränk serviert hatte. „Mathematik, Französisch, das sind die Hauptsorgen. Wir möchten nicht, dass er den Mut verliert. In der Primarschule war er immer bei den Besten. Was meinen Sie, Herr Dettwiler, könnten Sie ihm ein wenig helfen?“

Rico antwortete nicht sofort. Er schaute zu Kim. Der saß brav und stumm neben seiner Mutter.

„Was hältst du denn davon?“, fragte er ihn.

Kim zuckte mit den Achseln.

„Komm jetzt“, drängte ihn seine Mutter, „ich weiß, dass du … ach, mach doch selbst den Mund auf. Herr Dettwiler soll doch einen Eindruck von dir bekommen.“

„Für mich ist es okay“, gab er schließlich von sich.

„Okay so wie es ist? Oder …“, forderte Rico ihn heraus.

„Nein, nicht so wie es ist. Mit den Extrastunden, meine ich.“

„Ich bin streng, das sage ich dir.“

Kim grinste Rico an, als ob er sagen wollte: Mich kriegst du nicht klein.

„Wir hoffen, dass er am Ende des Schuljahres in die nächste Klasse aufsteigt. Mein Mann und ich glauben, dass eine gute Portion Faulheit mitspielt. Wenn Sie das ändern können, wären wir Ihnen dankbar.“

„Ich würde es gern mit dir versuchen, Kim.“

Kim hob keck seine Nase hoch.

„Studieren Sie?“, wollte die Mutter wissen.

„Ja, Frau Rößler, ich studiere Geschichte und Sozialwissenschaft, im zweiten Jahr.“

„Anspruchsvoll!“

Rico räusperte sich leicht. „Ja!“

Nach einer fast peinlichen Stille fragte Frau Rößler ihren Sohn, ob er mit Herrn Dettwiler lernen wolle.

Wieder zuckte der Junge mit den Achseln. „Ja, warum nicht?“

„Was wären Ihre Forderungen, Herr Dettwiler?“

„Meine …?“

„Ich meine: Was müssten wir Ihnen bezahlen?“

„Aha, ja. Also, ich habe an vierzig Franken pro volle Stunde gedacht.“

Das schien kein Problem zu sein.

„Und wo könnte Kim Sie treffen, bei Ihnen oder lieber hier?“

„Mir wäre das gleich, was für Kim …“

„Bei Ihnen!“, rief dieser aus. „Da werden wir nicht ständig kontrolliert!“ So brav wie er aussah, war er anscheinend doch nicht.

Frau Rößler lachte laut auf. „Ach ja, Herr Dettwiler, ich kann ihn verstehen. Mamis können ekelhaft sein, ich weiß das noch von meiner eigenen Mutter. Aber wissen Sie, ich habe ihn so gern und möchte, dass es ihm gut geht!“

Sie packte ihren Sohn lachend am Kinn und gab ihm einen Kuss.

„Wow!“, rief Rico aus.

Kim errötete und versuchte sich rasch von der Liebkosung zu lösen.

Sie vereinbarten zwei Stunden die Woche, und dass die erste Stunde am nächsten Tag stattfinden solle. Rico erklärte, wie man seine Wohnung finden könne.

„Komm nicht zu spät!“, warnte er mit einem Zwinkern.

„Die Bahn kam lange nicht“, klagte Kim wimmernd mit einem Gesichtsausdruck, als ob er wirklich schon zu spät gekommen sei.

„In diesem Fall arbeiten wir in Zukunft bei dir zuhause. Ich komme nie zu spät“, konterte Rico.

„Ich glaube, dass Sie bei meinem Sohn den richtigen Ton finden werden!“, sagte Kims Mutter lachend, während sie Rico hinausbegleitete.

 

Unterwegs kaufte Rico eine Flasche Wein. Als Erich nach Hause kam, feierten sie den verheißungsvollen Anfang.

„Das wird sich herumsprechen“, sagte Erich. „Wenn du Erfolg hast mit dem Schnösel, kommen auch andere. Mann, du wirst reich!“

„Warte! Die Probezeit hat noch nicht einmal angefangen. Das kann gut in kürzester Zeit schiefgehen. Ich werde nicht klug aus diesem Kim. Ein Schelm ist er auf jeden Fall, aber ich glaube nicht, dass er dumm ist. Er hat einen cleveren Blick, trotz seiner Tapsigkeit.“

Genau um fünf Uhr stand Kim vor der Tür.

„Hoi, Kim, komm herein.“

„Du wohnst fast im Himmel!“, sagte dieser.

Als Rico nicht reagierte, korrigierte er sich. „Oh, Entschuldigung! Sie wohnen fast im Himmel!“

„Ja, fast. Hör zu, wenn du Rico zu mir sagst, ist das für mich okay.“

„Oh, danke! Rico. Finde ich einen coolen Namen.“

„Ich habe drei Bedingungen. Erstens, dass wir ernsthaft arbeiten“, sagte Rico, indem er einen Daumen hochhielt. „Zweitens, dass deine Eltern die Rechnung bezahlen, und drittens, dass du nicht neben die Schüssel pinkelst, wenn du jemals hier musst. Okay?“ Er hielt Kim drei Finger unter die Nase.

„Daheim darf ich auch nicht stehen beim Seichen. Das sei altmodisch, sagt meine Mum.“

Sie gingen in die Küche, wo der Tisch für die Schularbeit leergeräumt war.

„Oh, kannst du von hier weit schauen!“, staunte Kim, während er zum Fenster hinaussah.

„Womit fangen wir an?“, begann Rico.

Sie begannen mit Algebra.

Rico war tatsächlich streng. Alles, was er erklären musste, ließ er zwei- oder dreimal von Kim wiederholen. Ab und zu ließ er ihn aufschreiben, was er gesagt hatte.

Zuweilen versuchte der Junge eine Pause einzuschalten. „Du hast hier keine Pflanzen“, „Schau, ist das ein Heli?“ oder „Wohnst du hier allein?“ Manchmal ging Rico kurz darauf ein, manchmal nicht. Kim ließ es sich gefallen.

 

Kim kam immer rechtzeitig zur Nachhilfe, hatte gute Laune und machte ernsthaft mit.

Für Rico war es Schwerarbeit. Er war sechzig Minuten voll präsent und arbeitete jedes Mal ein umfangreiches Programm durch. Am Wortschatz in den Sprachen fehlte es Kim erschreckend. Es gab zu tun!

Rico hatte nach kurzer Zeit den Eindruck, dass der Junge intelligent genug war, aber wahrscheinlich in der Schule oft nicht aufmerksam. So verpasste er dort wichtige Erklärungen, merkte das zu spät und fragte kaum nach. Es gab zahlreiche Lücken in seinem Wissen. Wenn Rico das Versäumte erklärte, verstand Kim es rasch.

Kims Problem war tatsächlich nicht fehlende Intelligenz. Seine Disziplin hatte nachgelassen, indem er zu oft vor sich hin träumte. Das kam nicht von ungefähr. Er war in letzter Zeit manchmal von Schwermut heimgesucht worden. Sie ließ ihn an sich selbst zweifeln. Er bekam den Eindruck, dass er nicht so stark und scharfsinnig sei, wie alle ihm immer versicherten. Das konnte so weit gehen, dass er glaubte, zu nichts fähig zu sein. In dieser Stimmung verlor er fast alles Interesse. Er hörte kaum noch zu. Wenn die Lehrkräfte ihn tadelten, berührte es ihn nicht.

Es war die Arbeit mit Rico, die ihn rasch aus dieser Lethargie herausholte. Kim war überrascht gewesen. Er hatte irgendeinen langweiligen Typen als Nachhilfelehrer erwartet. Schon als sich Rico bei seiner Mutter präsentiert hatte, hatte dieser ihn mit seiner Bemerkung über seine tipptopp Kleidung aufhorchen lassen. Rico hatte noch mehr gesagt, das ihm gefallen hatte. Nach der ersten Nachhilfestunde hatte sich Kim bestätigt gefühlt. Rico war einfach toll! Die Schlagfertigkeit seiner Reaktionen hatte Kim Spaß gemacht. Damit fühlte er sich mit diesem Studenten verwandt, war er doch auch selbst ein schneller Denker und mit sprunghaften Überlegungen vertraut.

Rico wurde in kurzer Zeit sein Held. Mit unfehlbarer Intuition sah Kim in ihm einen Menschen, der ihm viel bedeuten könnte. Nicht dass der Dreizehnjährige das in Worte hätte fassen können! Seine Ahnung, dass Rico sein Mann sei, war von unbewussten Kräften gespeist worden, mit einer Gewissheit, die Überlegungen nicht bewirken können.

Der gelassene Rico kannte die Schwermut nicht. Er hatte immer dieselbe Stimmung, ohne nennenswerte Schwankung nach oben oder unten. Sein Benehmen und Auftreten wurden in höherem Maße als bei Kim von seinem Willen bestimmt. Das gab ihm unter Umständen einen zwanghaften Anstrich.

Kim spürte, dass Ricos Art ihm Halt bot. Nur wäre das allein noch kein Fundament für seine sofortige Anhänglichkeit gewesen. Es kam eben noch etwas Wesentliches hinzu: Sympathie.

Mehr als alles hatte ihn Ricos Blick fasziniert. In Ricos Augen sah er nicht nur scharfes Beobachten, sondern auch eine warme Zuwendung, die ihn fast zittern ließ. Er fühlte sich von Rico erkannt und geschätzt.

All dieses zusammen ließ ihn erstaunlich schnell über seine Krise hinwegkommen. Er bekam seine Kräfte wieder und empfand Freude am Lernen, sogar in der Schule. Es war, als ob er sich sagte: Wenn Rico für mich etwas übrig hat, muss ich wohl ein ordentlicher Kerl sein!

 

Nach ein paar Wochen rief Frau Rößler Rico an. Es sei noch zu früh, um wirklich aufzuatmen, meinte sie, aber eines sei bereits gelungen. Kim gehe mit weniger Widerwillen in die Schule und mache seine Hausaufgaben wieder besser. „Das haben wir sicher Ihnen zu verdanken, Herr Dettwiler.“

Rico teilte ihr seine Eindrücke mit. Kim sei intelligent und mache gut mit. Er arbeite gern mit dem Schüler.

„Und er mit Ihnen!“, rief sie aus. „Hoffentlich werden Sie ihm zum Vorbild – oder vielleicht sind Sie das schon!“

Sie bat ihn, einmal zum Essen zu kommen. Ihr Mann würde ihn auch gern kennenlernen.

An einem Sonntagabend kam er zum „Dinner“, wie das dort hieß. Er übergab Frau Rößler einen kleinen Blumenstrauß aus dem Lebensmittelgeschäft. Das wäre doch nicht nötig gewesen bei einem armen Studenten, und heute könne ihr Mann ihn endlich begrüßen.

Herr Rößler sah anders aus, als Rico erwartet hatte. Der Vierziger war schlank, sportlich und gab sich sofort spontan und freundlich.

„Wie freut mich das, Sie kennenzulernen, Herr Dettwiler! Sie sind ein wichtiger Mensch für uns geworden, das kann ich Ihnen sagen. Nehmen Sie doch Platz!“

Man setzte sich ins Wohnzimmer. Frau Rößler bot Getränke an.

„Ist Kim nicht da?“, fragte Rico.

„Wir rufen ihn bald. Wir wollten zuerst mit Ihnen allein reden“, sagte Rößler. „Wir möchten, dass Sie sich äußern können, ohne auf ihn Rücksicht zu nehmen. Wie beurteilen Sie die Situation unseres Sohnes?“

„Ich habe nichts zu sagen, was Kim nicht hören dürfte. Er setzt sich gut ein, damit bin ich zufrieden. Er sollte nur in der Schule besser aufpassen. Bei mir versucht er auch abzuschweifen. Beim Einzelunterricht ist das weniger gefährlich als in einer großen Klasse.“

„In der Primarschule hat er immer eine Superfigur gemacht. Immer blendend gute Noten! Er wollte selbst aufs Gymnasium, wir haben ihn nicht gedrängt.“

„Hat er Geschwister, wenn ich fragen darf?“

„Leider nein, Herr Dettwiler. Wir hatten eine Tochter, sie war zwei Jahre älter als Kim. Sie ist an plötzlichem Kindstod gestorben“, sagte Rößler.

„Oh Gott, wie schrecklich! Das tut mir leid.“ Rico sah zuerst Herrn Rößler an und danach seine Frau.

„Umso mehr hängen wir an unserem Sohn, verstehen Sie?“, sagte Frau Rößler.

„Ja, klar.“

„Wissen Sie“, nahm sie den Faden wieder auf, „wir wollen ihn keinesfalls zwingen. Wenn es ihm in einer einfacheren Schule wohler wäre, wäre uns das recht. Aber wir fürchten, dass er das später bereuen würde.“

„Ich finde, er ist intelligent. Das Gymnasium verlangt allerdings auch viel Disziplin. Ob er die aufbringen will?“

„Genau, das ist die Frage“, sagte Rößler. „Was ich auf keinen Fall will, ist einen Jungen, der es nicht verdient, mit Nachhilfe zum Abitur gebracht zu werden. Intelligent genug ist er, das glaube ich auch. Also kommt es auf seinen Willen an, sich einzusetzen. Wenn er das nicht tut, soll er eben kein Abitur machen. Ich habe ihm gesagt, dass es nur einmal diese Nachhilfe gibt. Nach dem Sommer soll er es allein schaffen.“

Frau Rößler schien damit einverstanden zu sein. Sie erzählte von einigen Bekannten, deren Kinder mit Mühe und Not durchs Gymnasium hindurch gekommen seien und sich dann vom Studium überfordert gesehen hätten. Solche Demütigung wollten sie ihrem Sohn ersparen.

„Mögen Sie ihn?“, fragte sie Rico unvermittelt.

Rico war von der Frage überrascht. Nach einer Weile sagte er: „Ja, ich mag ihn.“ Er musste lachen dazu. „Sehr sogar. Aber sagen Sie es ihm nicht!“

„Er hat es schon lange gemerkt“, sagte sie. „Er geht gern zu Ihnen! Rico weiß genau, wie er mit mir umgehen muss, sagt er, und Sie machten nicht den Eindruck, dass Sie nur Geld verdienen wollten, Sie arbeiteten gern mit ihm. Das hat er zwei- oder dreimal gesagt.“

„Haha!“, lachte Rico. „Es ist so: Ihr Sohn hat etwas, das mir fehlt: Er ist unverfroren und keck. Davon kann ich etwas lernen. Ich bin eher zurückgezogen und leise. Kim ist spontan und spielerisch. Er macht mich zwar müde, trotzdem ist es anregend, mit ihm zu arbeiten.“

„Müde?“, fragte Rößler.

„Ja, ich muss ihn dauernd beim Lernen festhalten.“

„Das betont er auch immer!“, warf Frau Rößler ein.

„Und das verlangt Vorbereitung und Aufpassen. Sechzig Minuten sind schnell vorbei.“

Es wurde still.

„Ich rufe ihn, okay?“, fragte Rößler. „Oder möchten Sie uns noch was sagen, was er nicht hören darf?“

„Nein, holen Sie ihn nur.“

Bald kam Kim hereinspaziert. Beim Gehen drehte er seinen Körper leicht nach links und rechts, was seinem Gang einen eleganten Schwung verlieh. Rico hatte das schon häufig beobachtet. Er begrüßte Rico mit hochgehobener Hand, wie gewohnt.

„Hallo, Rico! Und habt ihr über mich gelästert?“

„Ja klar, was sonst?“, reagierte Rico.

„Ich kann weiter zu dir kommen, nicht wahr?“

„Das ist eben das Problem. Ich habe keine Zeit mehr und muss dich leider an einen Kollegen weitergeben.“