Das Liebesnest - Hans van der Geest - E-Book

Das Liebesnest E-Book

Hans van der Geest

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Beschreibung

Philip Waldmann ist 40 Jahre alt und ein wichtiger Mann in der Wirtschaft, mit grossen Aufgaben und hohem Einkommen. Mit Herta führt er eine glückliche Ehe. Sie haben zwei grosse Kinder. Philip hat sich sexuell ganz an die Erwartungen angepasst, die seine Umwelt von ihm hatte. Tief in ihm schlummert jedoch eine unerfüllte Sehnsucht. In seiner unerwarteten Freundschaft mit einem zweiten Topverdiener, Thomas Berger, sucht und findet er ungewohnte Nähe. Sie lernen ihre Familien kennen, sie machen lange Spaziergänge und sogar leichte Bergtouren. Mit der Zeit wächst ihre Nähe zur Intimität. Es kommt zu harmlosen sexuellen Erlebnissen. Für Philip ist das wie ein Aufbruch zu einer neuen Lebensart. Thomas ist der reifere und erfahrenere von den beiden. Er wird zu einer Art Berater für Philip. Philip will immer mehr. Thomas hilft ihm, die schwule Welt in der Stadt kennenzulernen. Philips neue Arten des Umgangs führen zu Konflikten mit seiner Frau. Die Offenheit, mit der Philip von Sexualität spricht, stösst sie ab. Als klar wird, dass Philip mit anderen Männern intim ist, eskaliert der Konflikt mit seiner Frau. Es kommt zur Scheidung. Ihre Tochter ist schon ausgezogen, ihr Sohn bleibt bei Philip. Inzwischen pflegt Philip Kontakte mit jungen Strichern. Sie schenken ihm ein Mass an Lebensfreude, wie er das noch nie gekannt hat. Gleichzeitig muss er lernen, allein zu leben. Sein Sohn bleibt nur wenige Jahre bei ihm, bis er selbstständig sein will. Philip lernt einen jungen drogensüchtigen Stricher kennen, David. Er will ihm helfen, von den Drogen wegzukommen und eine realistische Zukunft anzustreben. Mit Rückschlägen und mit Thomas‘ Rat gelingt das nach vier Jahren. David ist stolz und dankbar, Philip ist glücklich. Aber David verliebt sich in einen Gleichaltrigen. Er zieht von Philip weg. Philips Trauer zerstört ihn aber nicht. Er ist zufrieden mit sich und fühlt sich frei.

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Seitenzahl: 212

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Hans van der Geest

Das Liebesnest

-Sehnsucht auf der Chefetage-

 

 

 

 

 

Von Hans van der Geest im Himmelstürmer Verlag bisher erschienen:

 

Wilde Treue - Frühjahr 2015, ISBN print 978-3-86361-548-2

Plötzlich Pflegeväter - Herbst 2016, ISBN print 978-3-86361-570-3

Das Kuckuckskind - Frühjahr 2017, ISBN print 978-3-86361-629-8

Spätzünder Herbst 2017, ISBN print 978-3-86361-659-5

Der Schüchterne und der Sonnyboy, Frühjahr 2018 ISBN print 978-3-86361-684-7

Die Doppelspieler Herbst 2018, ISBN print 978-3-86361-714-1

Davids Dreier, Herbst 2018, ISBN print 978-3-86361-726-4

 

Alle Bücher auch als E-book

 

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail: [email protected] Originalausgabe, Oktober 2018

© Production House GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfotos: 123rf.com

Umschlaggestaltung:

Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-711-0

ISBN e-pub 978-3-86361-712-7

ISBN pdf 978-3-86361-713-4

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

 

 

Mit Dank an Peter Schär für die sprachlichen Korrekturen

Naiv

Thomas

Ich langweile mich maßlos. Schon mehrmals habe ich die vierzehn Fläschchen Mineralwasser gezählt, die nebst Gläsern brav vor jedem Anwesenden auf dem Tisch hingestellt stehen. Elf sind geöffnet, vier schon halb leer.

Die Sitzung des Betriebsrats weist nur Themen auf, die mich nichts angehen. Ich muss aber anwesend sein, weil plötzlich meine Mitsprache nötig sein kann. Heute wird das wohl kaum der Fall sein, regt man sich doch bloß über Finanzen auf. Ich bin für technische, vor allem IT-Angelegenheiten zuständig. Dabei gibt es selten Probleme, die man im Betriebsrat besprechen muss.

Dann bin ich gleichwohl plötzlich dran. Herr Waldmann – wir nennen uns hier noch beim Familiennamen – äußert seine Sorgen wegen einer Zulieferfirma für Spielzeug und Holzartikel, da es Gerüchte gebe, diese sei bald am Abgrund. Waldmann meint, wir sollten schleunigst eine neue Fabrik suchen, die uns die wichtigen Teilfabrikate für unsere Produkte liefern könnte, falls die Firma Konkurs mache. Die Runde geht voll darauf ein, und einer nennt bereits Polen als mögliches Zielland für unsere Suche.

Da muss ich einschreiten. Ich kenne die Firma lange und kenne auch die Gerüchte. Jedoch rechne ich damit, dass man dort Lösungen findet. Ich versuche gegen die plötzliche Panik Zuversicht zu verbreiten.

Waldmann lässt sich nicht überzeugen. Er will offensichtlich anständig bleiben, drückt sich gewunden aus, aber es ist klar, dass er mich naiv findet. Diesen Vorwurf äußert er wörtlich, halb versteckt in einem Satz mit „mehr oder weniger“. Andere unterstützen ihn. Selbst erhalte ich ebenfalls Support, vor allem von den älteren Kollegen. Die Diskussion fängt an hitzig zu werden.

Wir haben einen vernünftigen CEO. Er schlägt vor, dass wir beide Standpunkte gelten lassen. Möglicherweise können wir der alten Firma helfen, wir müssten offen mit ihnen reden. Das wird meine Aufgabe sein. In vier Wochen soll ich darüber berichten. Gleichzeitig sollen wir unsere Fühler nach Alternativen in Osteuropa ausstrecken. Waldmann kann das selbst nicht machen, damit wird sein Kollege, Herr Schmitt, beauftragt.

Die Sitzung geht zu Ende. Noch bevor ich den Raum verlassen kann, kommt Waldmann auf mich zu.

„Herr Berger, ich wollte nicht unhöflich sein, hoffentlich …“

„Ich habe Sie nicht unhöflich gefunden. Ich finde Ihre Sicht wichtig, Sie mussten das sagen! Die schärfsten Bemerkungen kamen ja nicht von Ihnen!“

„Nun, naiv ist nicht gerade ein Kosewort!“

„Stimmt. Sie finden mich naiv, nicht wahr?“

Waldmann lächelt mich strahlend an. „In dieser Sache schon ein wenig …!“

„Okay, damit muss ich dann leben.“

„Es ist leider nicht zu vermeiden“, sagt er, „dass die Emotionen manchmal hoch hergehen. Ich habe Ihre Argumente übrigens wichtig gefunden. Sie sind länger mit der Firma vertraut, vielleicht haben Sie auch Recht.“

Damit ist die Sache erledigt.

Oder nicht. Eben, davon handelt die folgende Geschichte, ja, dieses ganze Buch!

Es liefert kaum weitere Details über die Zulieferungsfirmen. Aber die Sache zwischen Waldmann und mir, die fängt an diesem Nachmittag an. Gewollt und ungewollt, beabsichtigt und zufällig, beides. Mit dramatischen Folgen, vor allem für Waldmann.

Der Zufall will, dass ich nach der Sitzung zu Fuß in Richtung Bahnhof gehe und Waldmann mich im Auto überholt. Er hält neben mir an.

„Kann ich Sie mitnehmen?“, fragt er mich, während er das Fenster öffnet.

Eigentlich hätte ich den Gang über die schöne Allee gern zu Fuß weitergeführt, doch ich weiß sofort: Dieses Angebot ist anzunehmen!

Wir lachen uns an, als ich neben ihm einsteige.

„Ich heiße Thomas“, sage ich und reiche ihm zum zweiten Mal an diesem Tag die Hand.

„Philip!“, reagiert er mit einem sonnigen Lächeln.

Die Distanz zum Bahnhof ist nur kurz. Wir haben keine Zeit, über irgendetwas zu reden und können bloß ein paar Floskeln austauschen. Als ich ihm zum dritten Mal die Hand reiche, dieses Mal zum Abschied, schaut er mich freundlich an. „Ich hätte lieber an deiner Seite argumentiert, Thomas, und ich hoffe, dass du Recht bekommst!“

„Solche Gegner möchte ich öfter haben!“

Während ich die Stufen zum Bahnhofsgleis absteige, staune ich über die gute Stimmung, die jetzt zwischen uns war. Normalerweise gehen sich Gegner doch eher aus dem Weg, sicher wenn die Diskussion hitzig war. Die Freundlichkeitsoffensive kam übrigens nicht von mir. Philip war es, der die Initiative ergriffen hat.

Es freut mich. Ich habe nicht gern gespannte Distanz zu Kollegen, und sicher nicht zu ihm. Ich habe zwar noch nie mit ihm zu tun gehabt, aber vom Anblick her ist er mir immer sympathisch gewesen.

Er sieht stets tadellos aus, dieser Philip, der Verkaufsleiter der Regionalzentrale Luzern. Frisches Gesicht, sauber aus dem Badezimmer. Maßgeschneiderter Anzug, Krawatte mit Windsor Knoten, perfekt. Er macht einen etwas gehemmten Eindruck, hat oft ein verlegenes Lächeln. Er ist sicher keine Bulldogge, aber ebenso wenig feminin herzlich, eher maskulin gefällig.

Philip. Wahrscheinlich sagt er wieder Herr Berger zu mir. Scheu ist er, schüchtern. Gleichwohl nahm er mich im Auto mit. Ich muss etwas Besonderes für ihn sein.

Das gefällt mir!

Nebensache

Philip

Ausgerechnet Berger musste mir widersprechen! Damit hatte ich nicht gerechnet, sonst hätte ich meine Skepsis in Bezug auf die Firma kaum zum Thema gemacht. Denn dieser Thomas ist mir sympathisch. Er ist nicht Verkaufsleiter wie ich, deshalb habe ich noch nie direkt mit ihm zu tun gehabt. Wenn er zu uns in die Zentrale kommt, verhandelt mein Stellvertreter mit ihm. Beim üblichen Begrüßen im Betriebsrat ist es nie zu einem Austausch zwischen uns gekommen. Ich bin da selbst nicht sehr initiativ.

Und jetzt dieser Zusammenstoß! Das naiv hätte ich nicht sagen sollen, obwohl ich ihn ehrlich so sehe, in dieser Sache. Zum Glück konnte ich ihn zum Bahnhof fahren. Er nimmt mir meinen Vorstoß nicht wirklich übel.

Ich finde ihn rätselhaft. Er sagt nie viel, vermutlich wegen seiner besonderen Position in unserem Rat. Aber plötzlich kann er sich bestimmt oder herausfordernd äußern, und er formuliert scharf, souverän. Das strahlt er aus, für mich. Er prahlt nicht, man merkt das Entschiedene allein, wenn es die Sache erfordert.

Wir sind Männer der Wirtschaft. Da zählt Nüchternheit, Effizienz, Realitätssinn. Das weiß ich und ich halte mich daran. Nicht zuletzt deswegen habe ich eine Spitzenposition. Waldmann ist kompetent, zuverlässig und korrekt – sagt man von mir.

Das sind wirtschaftliche Fakten. Die Tatsache, dass Berger mich persönlich beschäftigt, ist eine Nebensache. Er sei in seinem Fachgebiet ebenfalls kompetent, zuverlässig und korrekt, sagt man. Es ist jedoch sein Gesicht, das meine Aufmerksamkeit anzieht. Das ist Nebensache. Irrelevant. Ich sollte keine Zeit über seine äußere Erscheinung verschwenden.

Ich tue es aber. Etwas außerhalb meines Willens oder Einflusses lenkt meinen Blick zu ihm hin. Das war von Anfang an so, seit ich zu diesem Kreis gestoßen bin. Die Diskussion über die marode Firma hat mich zum ersten Mal direkt mit ihm in Kontakt gebracht. Leider waren wir Gegner. Wie gern hätte ich Seite an Seite mit ihm argumentiert! Der Sachzwang wollte anderes.

Also bin ich ihm jetzt nähergekommen als je zuvor. Und das freut mich! Ich will mehr von ihm. Weshalb? Wenn ich das wüsste! Es ist sein Gesicht. Ich kann es nicht näher definieren. Er zieht mich einfach an. Bei ihm liegt ein Geheimnis, er hat was Anziehendes.

Er hat nichts von Unruhe, geht entschlossen daher, doch nie schnell. Er hat etwas Bedächtiges. Seine Stimme ist nicht laut. Man muss aufpassen, dass man versteht, was er sagt, wenn er in der Runde spricht. Er steht nicht auf äußeren Glanz. Gekleidet ist er mitunter merkwürdig. Dann trägt er, was keiner trägt. Eine Jacke mit einem samtenen Streifen über den Ärmeln, was man sonst nirgends sieht. Im Sommer trug er einmal ein Hemd mit Reißverschluss. Ich bin eitler als er, auch besser gekleidet, aber weniger originell.

Es ist mir noch selten passiert, dass ein Mensch mich so faszinierte. Es ist ein bisschen unheimlich. Als Teenager habe ich vage Ähnliches erlebt. Da war mein Auge manchmal gezwungen, einem nachzuschauen. Und immer Männer. Nicht, dass Frauen mich nicht reizten! Doch es ist anders. Wenn Frauen mich faszinieren, bildet sich sofort etwas wie eine Eroberungshaltung in mir. Obwohl ich kein Schürzenjäger bin, wächst dann doch ein innerer Drang nach Taten. Bei Männern habe ich eher eine abwartende Haltung, eine Hoffnung, dass der Bewunderte die Initiative ergreifen und auf mich zukommen wird.

Das soll alles Nebensache sein. Wie der Reißverschluss am Sommerhemd.

Date

Thomas

Vier Wochen später tagt der Betriebsrat erneut. Ich bin frühzeitig da und habe Platz genommen. Die Morgenzeitung beschäftigt mich noch einige Zeit, obwohl es später Nachmittag ist.

Auf einmal steht Philip neben mir. „Guten Morgen, Herr Berger, oder nein: Thomas! Macht es dir etwas aus, wenn ich mich neben dich setze?“

„Ja!“, lache ich ihm entgegen, „das macht mir etwas aus! Es wird mich nämlich freuen! Setz dich, bitte!“

Die Kollegen strömen herein. Die Sitzung fängt an. Mein Bericht über die gefährdete Firma wird behandelt, aber das ist weiter nicht wichtig für das, was ich hier zu erzählen habe.

Diesmal entsteht kein Disput zwischen Philip und mir. Er kommt einige Mal dran, nur nicht in Bezug auf mich. Als das Meeting fertig ist, fragt er mich, ob ich Zeit für einen Drink habe.

Erstaunt reagiere ich: „Einen Drink? Haben wir etwas zu besprechen?“

„Nein, einfach so. Ich sitze zwei Stunden neben dir, und wir können kein Wort miteinander reden. Beim Drink geht das sicher besser!“

Mich freut seine Initiative, nur habe ich kaum Zeit. Aline und die Kinder warten mit dem Abendessen, bis ich zuhause bin. Ich schaue auf die Uhr. „Viel Zeit habe ich nicht, aber für einen nicht allzu großen Drink sollte es langen.“

„Prima!“, sagt er. „Beim Bahnhof kenne ich eine nette Bar. Ich bin heute auch mit der Bahn.“

Unterwegs zur Kneipe sagt Philip mir, er habe das letzte Mal in guter Erinnerung und er habe sich gesagt, dass er mich besser kennenlernen möchte.

„Ich habe bloß Technik anzubieten!“

„Nein, ich meine es mehr persönlich. Ich könnte mir vorstellen, dass wir noch gut miteinander auskommen könnten.“

„Den Eindruck habe ich offen gesagt auch, trotz unseres Kampfes.“

„Genau! Die Wogen haben wir schnell geglättet.“

Wir sitzen nebeneinander an der Theke und bestellen beide einen Campari. Ich rufe meine Frau an und sage ihr, dass ich ein bisschen später heimkomme.

Er bekommt das Telefon mit. „Nimmt sie das einfach hin?“, will er wissen.

„Doch, doch! Aline weiß, dass ich es nicht übertreibe.“

„Habt ihr Kinder?“

„Ja, zwei. Lea, sie ist neun, und Robert, er ist acht Jahre alt. Und du, hast du eine Familie?“

„Ja, wahrscheinlich ein wenig stürmischer als bei dir. Martina ist sechzehn und Lukas vierzehn. Die lassen sich nicht mehr erziehen.“

„Seufzer?“

„Nein, ich will nicht klagen, aber unser Leben ist manchmal wie eine Vulkanlandschaft. Meine Frau regt sich meistens mehr auf als ich, und das ist dann ein Problem.“

Philips Frau heißt Herta und scheint eine richtige Hausmutter zu sein, wie in alten Zeiten. Und Philip verdient mehr als genug, sodass sie nicht arbeiten muss. Sie will das anscheinend auch nicht.

Ich erzähle ebenfalls dies und das über meine Familie. Auch meine Frau muss nicht arbeiten gehen und genießt das.

Unser Austausch bietet mir die Gelegenheit, Philip fest in die Augen zu schauen. Er ist ein schöner Mann. Seine tiefblauen Augen sind voller Leben, während eine nervöse Bewegung sie einige Male hintereinander zwinkern lässt. Sein Lächeln ist von Zeit zu Zeit unsicher. Er schaut mich mit klarem Wohlwollen an. Er gibt sich Mühe, mir zu gefallen.

Durch unseren Austausch kommen wir uns näher. Meine Sympathie für ihn wächst in dieser Stunde.

„Thomas, kommst du einmal zu mir in meine Zentrale? Ich zeige dir gern, wie bei uns der Betrieb läuft.“

Ich sage natürlich zu. Wegen einer Schwierigkeit mit dem Alarmsystem muss ich eh bald zu Philips Arbeitsplatz.

Nach einer Stunde muss ich mich vom Thekentreff verabschieden. Philip legt seine Hand auf meinen Arm und beteuert, die Stunde sei viel zu schnell vorbeigegangen. Und wir machten das bald wieder.

Beim Ab- und Aufsteigen der Bahnhofstreppen sage ich mir: Der wirbt um Freundschaft mit mir. Mir ist es wohl dabei. Philip könnte ein interessanter Kamerad werden.

Mein Bruder

Philip

Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht. Das Schicksal schenkte mir zwei Schwestern, keinen Bruder. Wahrscheinlich wäre ein Bruder die reinste Katastrophe für mich gewesen. Ich rivalisiere schnell. Stell dir die Kämpfe zwischen uns vor! So psychologisch dachte ich früher nicht. Ich sehnte mich nach einem Kameraden, der mir ähnlich war, besonders als Teenager.

Bei Thomas habe ich den Eindruck, er könnte dieser Bruder sein. Ich fühle mich sehr wohl bei ihm, ich habe den Eindruck, dass wir uns ähnlich sind. Es mag ein Wunschtraum sein, aber bis jetzt geht er auf. Ich wage mich bei ihm noch nicht wie ein Bruder zu benehmen, doch ich spüre den Drang dazu.

In der Schul- und Studienzeit habe ich solche Beziehungen nur ansatzweise gekannt. Die meisten Jungs waren mir zu gewalttätig oder dann zu weich. Bruno kam mir noch am nächsten, nur sprach er wiederholt über Schwule. Das machte mir Angst, und ich wollte mich solchen Einflüssen nicht aussetzen. Ob Bruno selbst schwul war, weiß ich nicht. Ich habe ihn aus den Augen verloren.

Thomas strahlt Kraft aus, aber auch Sanftheit. Seine milde Stimme versichert mir, dass ich keine Angst vor ihm haben muss. Ob er wirklich an mir interessiert ist? Er gibt sich zwar so, aber ich weiß noch nicht, was das wert ist und inwieweit das gilt. Initiativen sind bisher nur von mir gekommen.

Dann gibt es eine Überraschung. Während der Arbeit ruft er mich an. Nicht direkt, er meldet sich bei meiner Sekretärin. Ich habe ihm meine persönliche Nummer noch nicht gegeben. Frau Forster – so heißt meine Sekretärin – fragt mich, ob ich Herrn Berger nehmen kann. Was für ein Ausdruck! Doch ja, ich nehme ihn.

Thomas möchte bei mir reinschauen, in meinem Geschäft, einfach aus Interesse. Ich hatte es ihm vorgeschlagen und freue mich über seinen Vorstoß. Wir vereinbaren einen Termin.

 

Er kommt, bringt mir einen guten Tropfen mit und geht mit mir durch die Hallen und Lagerräume, wo unsere Produkte stehen. Er erkundigt sich nach meinem Führungsstil. Wir haben einen interessanten Austausch. Beim Kaffee hinterher stellt er fest, dass meine Leitung einen klaren Charakter habe. Die Sitzungen mit den Mitarbeitern seien stark von mir geprägt. Offene Diskussionen fänden nicht oft statt.

Das hat er genau gemerkt. In dieser Hinsicht bin ich noch altmodisch. Ich sehe am meisten Erfolg, wenn ich selbst große Verantwortung wahrnehme. Diskussionen über Zuständigkeiten und Methoden der Lastenverteilung kommen mir zu oft verwirrend und unnötig zeitraubend vor. Teamarbeit liegt mir nicht. Ich bin eben Chef. Wenn es schiefgeht, muss ich selbst den Kopf hinhalten. Doch es geht nicht schief.

Thomas schmunzelt ein wenig bei solchen Aussagen. Als ich frage, weshalb er lache, sagt er: „Du bist ein Star!“ Ob das neutral, positiv oder eher kritisch gemeint ist, kann ich nicht sagen.

„Und was bist denn du?“, will ich wissen.

„Kein Star, das würde bei uns Technikern sowieso nichts bringen. Dein Arbeitsgebiet ist komplizierter als meines. Mit mir als Leiter gäbe es bei euch sicher Chaos.“

Ich kann mir Thomas tatsächlich kaum vorstellen mit lauter Stimme oder Bekanntgabe präzis definierter Vorschriften. Er kommt lässig daher. Krawatten trägt er selten.

Beim Abschied bedauert Thomas, dass er mir keine Einladung auf einen Gegenbesuch geben könne. Es gebe bei ihm fast nichts zu sehen, seine Mitarbeiter arbeiteten ausschließlich auswärts.

„Dann muss ich einen anderen Anlass suchen, damit ich dir auch eine gute Flasche Wein schenken kann!“

„Vielleicht darf ich dich und deine Frau zu uns einladen? Aline ist eine gute Köchin!“

Vollversammlung

Philip

Thomas hat die ganze Familie eingeladen, doch unsere Kinder haben abgewinkt. Meine Arbeitskollegen interessieren sie nicht. Also pilgern Herta und ich allein zu den Bergers, mit einem farbig eingepackten Burgunder und einem kleinen Blumenstrauß als Mitbringsel.

Sie wohnen im ersten Stock, nicht wie wir in einem Haus mit einem eigenen Garten ringsum. Zwei Kinder stehen vorne, als sich die Tür öffnet. Thomas steht strahlend hinter ihnen, seine Frau neben ihm.

Das moderne Haus bietet Wohnungen ohne viele Wände. Wir kommen beim Eintreten gleichsam in einen Saal.

Wir vernehmen, dass Frau Berger Aline heißt und die Kinder Robert und Lea. Mäntel zum Ablegen sind nicht da, es ist schönes Wetter.

„Darf ich euch unsere Wohnung zeigen?“, fragt Thomas und führt uns durch die Räume. Die Kinderzimmer haben Türen, auf einer steht: „Betreten auf eigene Gefahr!“

„Da wage ich mich nicht hinein!“, sage ich spaßeshalber zu Robert.

„Ach nein, das ist von früher!“, reagiert der Junge, ein wenig beschämt über den kindlichen Scherz. Er ist doch schon acht! Lea bemerkt, bei ihr sei es nicht gefährlich. Wir werfen kurze Blicke in die beiden Zimmer. Es sieht alles so aus, wie man sich das bei einer wohlhabenden Familie vorstellt.

Die Bergers haben getrennte Schlafzimmer. Auch da hinein können wir einen Blick werfen. „Dort kann Thomas schnarchen so laut er will“, erklärt Aline die unübliche Zimmereinteilung. In ihrem Zimmer liegen beige Stoffteile mit festgesteckten Schnittmustern auf einem großen Tisch.

Während wir schließlich in die Wohnabteilung wandern und uns hinsetzen, ergibt sich ein längeres Gespräch über das Schneidern. Aline erzählt uns, sie sei eine leidenschaftliche Schneiderin, aber nur als Hobby.

Thomas serviert uns einen Aperitif, den wir je nach Laune mit Cinzano oder Martini nehmen können. Auf Roberts Frage, ob er auch ein bisschen Cinzano nehmen dürfe, reagiert Thomas mit „noch vier Jahre warten, Mister Berger! Wenn du zwölf bist.“

Mit der Zeit wechseln wir an einen großen runden Tisch, der sich in der Küchenabteilung des Lofts befindet, nah bei Anrichte und Kochherd. Offene Schüsseln mit Kartoffeln und Kalbsragout kommen auf den Tisch, während auf jedem Teller eine frische Salatmischung wartet.

Bevor wir zu essen beginnen, geben sich alle die Hand, und Aline spricht ein Gebet. Dann geht es los.

„Sind Sie katholisch?“, fragt Herta.

„Nein, wir sind Methodisten“, sagt Aline. „Aber wir können uns doch duzen? Ich heiße Aline.“

„Ah ja, natürlich! Ich bin Herta.“

„Das habt ihr doch gesagt!“, ruft Lea aus. „Sie heißen Herta und ihr Mann heißt Philip.“

„Du hast besser aufgepasst als wir!“, lobt Philip sie.

„Haben Sie auch Kinder?“, will Lea noch wissen.

„Ja, Martina und Lukas, sie sind etwas älter als ihr.“

„Schade, dass sie nicht mitgekommen sind!“

„Dann wäre unser Tisch zu klein gewesen“, versucht Thomas die etwas peinliche Situation zu retten.

„Sie hatten andere Pläne“, teilt Herta noch mit.

Auf diese Weise plätschert die Unterhaltung weiter. Das Essen ist einfach, aber vorzüglich. Auch das Eistortendessert findet enthusiastische Aufnahme.

Nach dem Essen verschwinden die Kinder zu ihren Nachbarsfreunden. Sie verabschieden sich. Robert stottert ein wenig, weil er die Namen der Besucher nicht mehr weiß. „Ich weiß nur noch Philip“, gesteht er.

„Waldmann“, hilft Thomas.

„Ach ja, auf Wiedersehen, Herr Waldmann!“

Lärmig verlassen uns die zwei Kinder. Es tritt Stille ein.

„Habt ihr eine fröhliche Familie!“, ruft Philip aus, während wir alle helfen den Tisch abzuräumen und uns schließlich im Wohnbereich niederlassen.

„Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder …“, ergänzt Herta.

Mit solchen Allgemeinheiten und mit Einschüben über die tatsächliche Situation in unseren Familien unterhalten wir uns noch einige Zeit. Die schönen Berglandschaftsaufnahmen, die überall in der Wohnung an den Wänden hangen, führen zum Austausch über Thomas‘ Hobby. Er wandert und klettert regelmäßig.

Aline findet das nur ab und zu gut für sich, Thomas geht meistens allein oder mit Lea und Robert. Ich sage, dass ich ihn gern einmal begleitete. Allein komme ich nicht dazu, und Herta sei kein Wanderfan.

Als sich Herta eine Weile mit Thomas beschäftigt, sage ich zu Aline, wie sehr ich mich freue, in Thomas einen guten Kameraden kennengelernt zu haben, wie keinen anderen in unserer Firma. Aline bestätigt, dass ihr Mann das genauso sieht und er regelmäßig von mir schwärme.

Auf dem Rückweg äußert sich Herta verhalten positiv über den netten Empfang. „Nur könnte ich selbst nie in einer solchen Wohnung leben, alles offen und ohne Privatsphäre. Ihre Kinder sind überall dabei und mischen sich bei den Erwachsenen ein.“

„Mich hat das nicht gestört, es war ja harmlos. Aufgefallen ist es mir schon. Die Bergers sind weniger traditionell, denke ich.“

Als wir durch den Garten in unsere Garage einfahren, ruft sie aus: „Wohnen wir doch schön!“ Während ich abschließe und ins Haus gehe, kontrolliert Herta noch die Blumenbeete. Sie knickt die ausgeblühten Blumen ab und folgt mir mit einer Handvoll ins Haus.

Wanderungen

Thomas

Ich habe Philip auf eine Wanderung mitgenommen. Wir haben einen kleinen Gipfel bestiegen. Ich wollte schauen, was mit ihm möglich ist. Die fünfhundert Meter Steigen waren für ihn kein Problem. Also machen wir heute, an einem prächtigen Samstag, etwas Anspruchsvolleres.

Wir fahren mit seinem Auto zu einer Seilbahn und lassen uns bis auf 1400 Meter hochschaukeln. Wir werden den Speer besteigen. Die erste Strecke ist leicht. Wir können nebeneinander gehen und uns unterhalten. Am Ende des befestigten Wegs geht es auf einem steilen, schmalen Pfad weiter. Wir müssen hintereinandergehen. Es wird still zwischen uns. Ab und zu muss Philip eine kurze Pause machen. Wir drosseln unser Tempo. Dann kommen wir über die Baumgrenze und sehen den Gipfel vor uns. Philip erschrickt: „Müssen wir dort noch hoch?“

Ich schaue den verschwitzten Mann an. „Nein“, sage ich, „wir müssen nicht. Die Frage ist, was wir wollen.“

„Aber das ist der Gipfel, der Speer?“

„Yes, Sir!“

„Ehrlich, Tommy, ich weiß nicht, ob ich das fertigbringe!“

„Doch, doch. Kein Problem. Frag nicht deine Augen, frag deine Füße.“

„Was?“

„Augen sind Pessimisten. Die finden es immer übertrieben, was wir im Sinn haben. Füße fragen bloß, in welche Richtung es weitergeht.“

Der letzte Aufstieg ist tatsächlich kein großes Problem. Erschöpft, doch stolz, springt Philip die letzten Stufen hoch bis auf das Gipfelplateau. Er blickt nach allen Seiten.

Ich nehme ein kleines Fläschchen aus dem Rucksack hervor und biete es Philip an. „Auf einem richtigen Gipfel wie diesem gibt es einen Gipfeltrunk!“

Philip lacht, nimmt das scharfe Getränk – es ist Kirschwasser – prostet mir zu und trinkt. Ich trinke ebenfalls.

„Und!“, sage ich, „es gibt noch einen Gipfelkuss!“ Ich bringe meine Lippen an sein Gesicht und drücke ihm einen kurzen Kuss auf.

Sofort wendet er sich auch mir zu und küsst mich ebenfalls.

„Das ist unser erster Kuss“, sage ich.

Philip errötet. „Wer weiß, vielleicht nicht der letzte!“

Wir lächeln uns zu. Schließlich rempelt er mich leicht an.

Wir ziehen unsere verschwitzten Hemden aus. Oben ohne stehen wir nebeneinander, halb nackt, zum ersten Mal. Wir schauen uns ein wenig verstohlen an. „Du bist ein schöner Mann!“, sage ich zu Philip.

Er errötet nochmals. „Du aber auch!“, lacht er.

Es gibt noch ein paar andere Wanderer auf dem Gipfel. Platz gibt es genug. Wir wechseln ein paar Worte mit ihnen. Dann genießen wir die Aussicht. Wir schauen schweigend in die Ferne. Ich war schon mehrere Male hier, doch bin mit Philip neu begeistert.

Als die anderen Ausflügler absteigen, tritt Philip an mich heran, weist in östliche Richtung und fragt, wie die Regionen heißen, wo wir hinschauen. Während ich die Geografie ein wenig erkläre und Namen nenne, legt er mir einen Ellbogen auf die Schulter. Dann stehen wir schweigend zusammen.

Friedlich steigen wir ab. Philip ist stolz, dass er es geschafft hat. Wir sprechen über Berge, Steigen, Absteigen, Klettern, besonders sobald wir wieder nebeneinander gehen können.

Katastrophe?

Thomas

Es ist Samstag. Das Telefon läutet. Philip.

„Morgen, Thomas! Hast du Zeit, mir zuzuhören?“

„Doch, ja. Schieß los!“

„Unsere Tochter Martina. Wir haben einen fürchterlichen Schock bekommen. Sie ist im dritten Monat schwanger. Siebzehnjährig. Eine Katastrophe!“

„Wow!“

„Wir sind am Rand der Verzweiflung. Natürlich muss sie abtreiben. Aber das allein schon erschüttert uns.“

„Mensch, ja, das kann ich mir denken! Wie geht es denn Martina selber dabei?“

„Sie ist völlig durcheinander. Sie beteuert, dass sie Verhütungsmittel benutzt hätten, es sei ihr unverständlich, wie es passieren konnte.“

„Kennt ihr ihren Freund?“

„Ja, Steve. Er ist uns immer sympathisch gewesen. Und jetzt das! Er ist erst siebzehn.“

„Habt ihr denn gewusst, dass die zwei intim miteinander verkehren?“

„Nein, das haben wir nicht gewusst und nicht vermutet. Sie sind ja noch so jung!“

„Eure Tochter wusste Bescheid über Mann und Frau?“

„Sicher! Herta hatte Martina aufgeklärt, vor ein paar Jahren.“

„Und will Martina abtreiben?“

„Das ist ihr selbst noch nicht klar. Es ist aber die einzige Lösung. Sie hat ihre Lehre noch lange nicht fertig. Stell dir vor!“

„Und er?“

„Steve macht eine Banklehre. Wir hätten das nie gedacht von ihm.“

„Und was meint er dazu?“

„Er war gestern Abend bei uns. Wie Martina sagt er nicht viel dazu. Offensichtlich hat es ihn ebenfalls überrumpelt. Er meint, sie hätten alle Maßnahmen getroffen, dass das nicht hätte passieren können.“

„Und Herta?“