Rückkehr nach New Harbor - Ava Jordan - E-Book

Rückkehr nach New Harbor E-Book

Ava Jordan

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Beschreibung

Ella ist auf der Flucht vor ihrem alten Leben. Sie verlässt überstürzt New York und will einfach nur noch alles hinter sich lassen. Ihr Ziel: New Harbor, der Ort an dem sie aufgewachsen ist. Dort trifft sie nicht nur ihre Jugendfreundin Tara wieder, sondern lernt auch den gut aussehenden Schriftsteller David kennen. Ella verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Aber dann taucht plötzlich ihr Ehemann Tom auf und will nur eines: Ella zurückgewinnen …

Das E-Book erschien 2015 erstmals unter dem Titel "Der Sommer der Sternschnuppen".

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Über Ava Jordan

Ava Jordan wuchs in Westfalen auf. Nach einigen Jahren im Rheinland kehrte sie in die Heimat zurück und bewohnt dort nun mit ihrem Mann und unzähligen Büchern ein kleines Häuschen. Sie schreibt und übersetzt schon sehr lange und kann sich ein Leben ohne das Schreiben einfach nicht vorstellen.

Informationen zum Buch

Ella ist auf der Flucht vor ihrem alten Leben. Sie verlässt überstürzt New York und will einfach nur noch alles hinter sich lassen. Ihr Ziel: New Harbor, der Ort an dem sie aufgewachsen ist. Dort trifft sie nicht nur ihre Jugendfreundin Tara wieder, sondern lernt auch den gut aussehenden Schriftsteller David kennen. Ella verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Aber dann taucht plötzlich ihr Ehemann Tom auf und will nur eines: Ella zurückgewinnen …

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Ava Jordan

Rückkehr nach New Harbor

Inhaltsübersicht

Über Ava Jordan

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Epilog

Impressum

1. Kapitel

Die Straße führte schnurgerade Richtung Norden.

Ella umklammerte das Lenkrad fester. Da hatte sie sich ja einen schönen Tag ausgesucht, um nach Hause zurückzukommen. Seit Stunden regnete es ununterbrochen. Das Flapp-Flapp des Scheibenwischers zerrte an ihren Nerven. Sie war müde und hielt nach einer Rastmöglichkeit Ausschau.

Endlich tauchte eine Tankstelle am Straßenrand auf. Obwohl es nicht mehr weit war, fuhr sie vor eine Zapfsäule und stieg aus. Sie atmete tief durch. Dann schob sie ihre Kreditkarte in den Schlitz und tankte den Wagen voll.

Irgendwie kam ihr alles so fremd und klein vor.

Sie war vor zwölf Jahren das letzte Mal hier gewesen, als Granma starb und ihr das Haus am Meer hinterließ. Ella hatte es gar nicht schnell genug loswerden können. Ihr Lebensmittelpunkt, dachte sie damals, war New York und nicht das verschlafene Nest an der Atlantikküste. Inzwischen bereute sie allerdings ihren Entschluss. Ein Haus am Meer wäre jetzt für sie der richtige Rückzugsort.

Das Geld aus dem Verkauf hatte sie in die Wohnung in New York gesteckt. Damals kam ihr die Entscheidung erwachsen vor. Sie war erst fünfundzwanzig, hatte gerade nach dem Studium angefangen zu arbeiten und war um diese Anschubfinanzierung froh. Granma hätte es auch gefallen. Sie hatte immer gesagt, man solle nicht an der Vergangenheit hängen.

Ehe sie weiterfuhr, wählte Ella noch einmal die Telefonnummer ihrer Freundin Tara. Wie schon bei den letzten Versuchen meldete sich niemand.

Also dann. Hoffentlich freute Tara sich, wenn Ella sie überfiel. Vorsichtshalber hinterließ sie eine Nachricht auf der Mailbox.

»Hey, Tara, hier ist Ella. Es ist lange her, ich weiß …« Zwölf Jahre. Sie hatte einfach ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und keinen Gedanken mehr daran verschwendet. »Jedenfalls bin ich auf dem Weg nach New Harbor und hab noch kein Bett für heute Nacht. Kann ich bei euch schlafen? In ungefähr einer halben Stunde bin ich da. Bis dann!«

Sie legte auf und seufzte. Danach stieg sie in ihren sportlichen Mazda und fuhr weiter.

Das war eine Schnapsidee. Am besten suchte sie sich ein Hotelzimmer und setzte nicht allzu viel Hoffnung auf Tara. Vielleicht stimmte die Handynummer auch gar nicht mehr oder Tara war im Urlaub oder wohnte längst nicht mehr in New Harbor …

Aber irgendwas sagte ihr, dass ihre Freundin noch dort war. Wie der Leuchtturm auf den Klippen, der seit Hunderten von Jahren sein Leuchtfeuer in die Nacht hinaus sandte. Und dieses Leuchtfeuer rief ihr zu: Ella, komm heim. Wann immer du mich brauchst, bin ich hier.

Eine knappe halbe Stunde später erreichte Ella das kleine Fischerdorf, das sich pittoresk an der Küste von Maine erstreckte. Die Touristen, die es im Sommer hierherzog, interessierten sich vor allem für den berühmten Leuchtturm. Das Pemaquid Point Lighthouse befand sich auf einer Granitklippe unweit des Orts. Doch die meisten Sommergäste wohnten in Boothbay oder einem anderen Urlaubsort und kamen allenfalls für einen Tagesbesuch her.

Das Dorf wurde also durch Fremde kaum gestört. Es gab auch nur ein Hotel, das im Winter sogar schloss. Wer herkam, hatte sich entweder verirrt oder war hier geboren und aufgewachsen.

Wie die Lachse, dachte Ella, als sie die Hauptstraße entlangfuhr. Irgendwann kommen sie alle heim.

Sie fand das große Haus, das ihr so vertraut war. Eine überdachte Veranda, verwitterte Holzschindeln. Weiß gestrichen.

Eine bunte Plastikrutsche stand im Vorgarten. Ella starrte darauf, nachdem sie geparkt hatte. Dann holte sie aus der Handtasche ihre große Sonnenbrille, setzte sie auf und wartete.

Es dauerte ziemlich lange, bis das Ziepen im Herz verging.

Erst danach stieg sie aus und lief mit eingezogenem Kopf durch den Regen zum Haus. Vor der Haustür nahm sie die Sonnenbrille wieder ab. Wem wollte sie etwas vormachen? Hatte sie tatsächlich geglaubt, bei Tara sei das Leben stehen geblieben? Natürlich hatte sie einen Mann und Kinder.

Sie klopfte gegen die Fliegengittertür und wartete. Schritte im Haus waren zu hören, schließlich wurde die innere Tür geöffnet und sie standen sich gegenüber.

»Hi, Tara«, sagte Ella.

»Ella!« Tara stieß die Fliegengittertür auf und schloss sie in die Arme. »Mein Gott. Ich bin gerade erst heimgekommen und hab meine Mailbox abgehört. Du siehst müde aus.«

Ella ließ die Umarmung zu, obwohl sie sich merkwürdig fremd anfühlte. Tara roch nach einer Mischung aus Erdbeershampoo, Hackbraten und Waschmittel. »Ich bin die sieben Stunden durchgefahren.«

»Du lieber Himmel. Komm erst mal rein. Pass auf, dass du nicht stolperst, Toby lässt überall seine Sachen liegen.«

Tara hielt die Tür auf, und Ella trat ein. Sie folgte der Freundin in die Küche.

»Hättest du mal früher Bescheid gesagt, dann wäre aufgeräumt. Und ich hätte uns einen Kuchen gebacken. Kaffee?«

Tara wies einladend auf den Küchentisch. Darum standen vier Stühle und eine Bank. Vorsichtig ließ Ella sich auf die Bank sinken.

»Und jetzt erzähl. Das ist ewig her! Meine Mutter hat mir manchmal erzählt, was du machst. Du bist also Lektorin? Macht die Arbeit Spaß?« Bevor Ella antworten konnte, plapperte Tara weiter. »Ich setze uns erst mal Kaffee auf. Ist es okay, wenn ich nebenher koche? Die Jungs kommen gleich aus der Schule, meistens haben sie dann einen Bärenhunger.«

»Bei dir ist auch eine Menge passiert …« Ella verschränkte die Finger.

Tara lachte und schaufelte Kaffeepulver in den Filter. »Du meinst meine Kinder? Ich hab zwei Jungs und ein Mädchen. Frankie ist acht, Toby sechs. Wilde Kerle, manchmal bringen die beiden mich um den Verstand. Tilly liegt oben und schläft. Sie ist drei und vergöttert ihre Brüder, ist aber unser kleines Sorgenkind.« Sie hielt inne. »Das interessiert dich bestimmt nicht, oder? Du hast Karriere gemacht. Darum beneide ich dich, echt.«

Sie klappte die Kaffeemaschine zu und drückte den Schalter. Anschließend kam sie zu Ella und setzte sich an den Tisch.

»Hast du Urlaub? Du kannst natürlich bei uns schlafen, aber ich warne dich – es ist laut, wir sind ein verrückter Haufen. Manchmal wird es sogar mir zu viel.«

»Das ist schon in Ordnung.«

»Du kannst in der Dachkammer schlafen. Ich beziehe dir das Bett. Aber jetzt erzähl! Wie geht es dir in der großen Stadt? Gibt es deinen Mr Perfect noch? Wie hieß er noch gleich?«

»Tom. Ja, den gibt es noch.« Ella lächelte. »Wir haben inzwischen geheiratet.«

»Glückwunsch! Das freut mich für euch. Arbeitet er nach wie vor als Anwalt?«

»Ja, und wenn alles gut läuft, wird er bald Partner in der Kanzlei.«

»Toll. Sieh dich nur an – beruflich erfolgreich, den Traummann an deiner Seite. Ich bin richtig neidisch. Ihr führt bestimmt ein großartiges Leben. Viele Reisen, die besten Restaurants der Stadt …«

»Und keine Kinder«, sagte Ella gedämpft.

»Sag ich doch, perfekt!« Erst als sie bemerkte, dass Ella Tränen über die Wangen liefen, wurde Tara ernst. »Hey … was ist denn los?«

»Nichts«, sagte Ella. »Bloß … wir bekommen keine Kinder.«

»Liebes … Herrje, das tut mir leid! Und ich dumme Kuh schwärme dir was vor von meiner Rasselbande.«

»Ist schon okay.« Ella wischte mit dem Ärmel ihrer Sweaterjacke über Nase und Augen. »Ich sollte mich einfach daran gewöhnen.«

Tara streichelte mitfühlend ihre Schulter. »Ach Mensch, wie ungerecht. Könnt ihr …« Sie sprach nicht weiter.

»Es soll wohl nicht sein«, sagte Ella leise. »Ist ja nicht so, als hätten wir es nicht versucht.«

Taras Blick ging zur Uhr, die über der Tür zum Wohnzimmer hing. »Entschuldige, ich muss mich jetzt ums Essen kümmern. Möchtest du mir erzählen, was passiert ist? Oder wollen wir das auf später verschieben? Du kannst dich auch erst hinlegen und dich ein wenig ausruhen.«

»Okay«, sagte Ella.

»Okay schlafen oder okay erzählen?« Nichts konnte Tara erschüttern. Sie lächelte aufmunternd.

»Kaffee, dann schlafen.« Ella schluckte die letzten Tränen herunter. Sie hatte nicht gedacht, dass sie noch weinen konnte.

»Gut, dann erst Kaffee. Milch und Zucker?«

»Ja, danke.«

Sie war froh, weil Tara ihr Zeit ließ. Den Kaffee tranken sie, ohne miteinander zu reden, doch es war ein angenehmes Schweigen. Nur einmal fragte Ella, was denn nun aus dem Abendessen wurde.

»Ach, kein Problem. Ich lasse uns zwei große Pizzen kommen, und dazu gibt es einen Salat. Die Jungs lieben Pizza.«

Danach holte Ella ihre Reisetasche aus dem Auto, während Tara bereits nach oben ging. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie Tom versprochen hatte, sich nach ihrer Ankunft zu melden. Sie kramte das Smartphone aus der Handtasche und schrieb ihm eine Textnachricht.

Bin gut angekommen, bleibe bei Tara. Lieb Dich!

Sie stieg die Treppen hoch. Im Obergeschoss befanden sich vier Schlafzimmer und zwei Bäder. Eine schmalere Treppe führte ins Dachgeschoss. Hier gab es bloß ein Zimmer mit einem winzigen Bad und auf der anderen Seite den großen Dachspeicher.

Tara bezog gerade das Kopfkissen. In der Kammer standen lediglich ein altes Bett, eine Kommode und ein Schreibtisch.

»Eigentlich wollte Bernie sich hier immer ein Büro einrichten. Er will Romane schreiben«, erzählte Tara.

»Was ist ihm dazwischengekommen?«, fragte Ella.

»Die Arbeit, das Leben – und dann die Kinder.« Taras Handbewegungen waren zackig und geübt. »Aber er beklagt sich nicht.«

»Arbeitet er immer noch drüben in Bristol?«

»Uns gehört ein kleines Hotel. Die meiste Zeit ist er dort.«

Ella erinnerte sich gut an Bernie. Schon damals hatte sie gestaunt, weil Tara – ihre wilde, unbändige Begleiterin in so manch durchtanzter Nacht – sich mit einem deutlich älteren Mann einließ. Er schaffte es nicht nur, sie vom Partygirl in eine Ehefrau zu verwandeln, sondern hatte ihr die Flügel inzwischen auch so weit gestutzt, dass Tara offensichtlich völlig in der Mutterrolle aufging.

»Läuft das Geschäft?«

»Wir können uns nicht beklagen.« Tara runzelte die Stirn. »Handtücher fehlen noch. Warte, ich hol dir welche.«

Während sie weg war, schaute Ella auf ihr Smartphone. Tom hatte nach zwei Minuten geantwortet.

Das ist gut, hab mir bereits Sorgen gemacht. Lieb Dich auch!

Sie lächelte. Er schien wirklich um sie besorgt zu sein, wenn er so schnell zurückschrieb. Normalerweise war er bei der Arbeit telefonisch schlecht zu erreichen.

Sie schickte ihm ein Herz und steckte das Handy wieder ein.

»So, nun müsstest du alles haben. Soll ich dich irgendwann wecken?«

»In zwei Stunden oder so.« Ella warf einen Blick auf die Uhr.

»Oder ich weck dich, wenn die Kinder im Bett sind. Dann können wir es uns gemütlich machen und du erzählst mir alles.« Tara umarmte sie vorsichtig. »Es wird alles gut, ja? Versprochen.«

Ella wollte ihr nur zu gern glauben. Aber manche Dinge waren zu schön, um wahr zu sein.

Nachdem sie allein war, sank sie aufs Bett und sah sich um. Die Blümchentapete hatte schon bessere Zeiten erlebt, und der Regen, der gegen das kleine Sprossenfenster klatschte, hatte irgendwie eine Möglichkeit gefunden, sich durchs Holz zu arbeiten. Die schmale Fensterbank war feucht.

Das Haus hatte einst Taras Eltern gehört, ehe sie in Rente gingen und nach Florida zogen. Seitdem wohnte Tara hier. Erst allein, später mit Bernie. Und jetzt mit ihrer kleinen Familie.

Ella packte die Reisetasche aus und räumte alles in die oberste Schublade der Kommode. Viel hatte sie nicht dabei. Insgeheim hoffte sie, bloß wenige Tage am Meer würden reichen, damit sie wieder zu sich selbst zurückfand. Länger hatte sie nicht frei bekommen.

Das Badezimmer erreichte sie über den Flur. Es war ebenso winzig und veraltet wie das Gästezimmer. Eine Badewanne mit Klauenfüßen auf Holzdielen, ein Waschbecken mit Messingarmaturen und ein Spiegel mit Sprung. Ella zog sich nackt aus und legte ihre Sachen auf den Hocker. Dann stieg sie in die Wanne und duschte. Wenigstens war das Wasser angenehm heiß.

Sie zog ein Oversize-Schlafshirt von den 49ers an (das hatte sie Tom vor Ewigkeiten abgeluchst) und schlüpfte unter die kühle Bettdecke.

Sie dachte noch, dass sie bestimmt nicht schlafen könnte.

Danach wusste sie nichts mehr.

Als sie aufwachte, regnete es immer noch.

Ella tastete nach ihrem Smartphone. Fast halb neun. Sie drehte sich auf die andere Seite und starrte aus dem Fenster. Es war hell, aber die Dämmerung brach bereits herein.

Irgendwo im Haus erklang ein lauter Knall, dann weinte ein Kind. Ella blieb wie erstarrt liegen. Dass Kinder im Haus lebten, war für sie ungewohnt. Und es jagte ihr Angst ein, weil sie sich wieder daran erinnerte, wie viel sie verloren hatte.

Doch sie konnte sich nicht ewig verstecken.

Sie seufzte und stand auf. Unten war inzwischen ein wahres Inferno ausgebrochen – zum Heulen gesellte sich eine Jungenstimme, dicht gefolgt von Tara, die ein Machtwort sprach. »Ab ins Bett! Toby, hör auf, Tilly zu ärgern.«

Offensichtlich war gerade Bettgehzeit für die Kinder.

Sie zog eine Jogginghose und warme Socken an. Als sie die Treppe hinunterkam, sauste ein dicker Junge an ihr vorbei in eines der Kinderzimmer. Er war nackt und hinterließ nasse Fußtapser auf den Dielenbrettern.

»Toby, komm sofort wieder her!« Tara kam mit einem Handtuch aus dem Badezimmer und flitzte hinter ihrem Sohn her. »Hab ich dich, du Rabauke!«

Sie trug ihn ins Handtuch gehüllt zurück ins Badezimmer. Toby wehrte sich, aber man merkte, dass es nur gespielt war. Er genoss die Aufmerksamkeit seiner Mutter sichtlich.

»Willst du helfen oder nach unten gehen?«

Ella zögerte.

»In der Küche steht eine Flasche Wein. Bedien dich. Ich brauche nicht mehr lange.«

Es dauerte dann doch zwanzig Minuten, bis Tara schließlich ins Wohnzimmer kam und sich aufs Sofa fallen ließ. Sie strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und schnaufte. »Puh, die machen mich noch fertig.«

»Schlafen sie jetzt?«, fragte Ella.

»Die Kleinen schon. Frankie liest heimlich unter der Bettdecke. Da muss ich in einer Viertelstunde noch mal gucken und ihm die Taschenlampe wegnehmen.« Sie goss sich ein Glas Wein ein. »Hast du Hunger?«

Ella schüttelte den Kopf. Trotzdem sprang Tara auf und verschwand in der Küche. Sie kam mit zwei Tellern mit Pizzastücken und Servietten zurück.

»Sag das bloß nicht meinen Kindern. Essen im Wohnzimmer ist hier nämlich verboten.«

Ella biss ein Stück von ihrer Pizza ab und merkte auf einmal, wie hungrig sie war.

»Und nun erzähl doch mal«, sagte Tara. »Ihr könnt keine Kinder bekommen?«

Ella atmete tief durch und stellte den Teller auf den Couchtisch. Sie wischte die Hände an der Papierserviette ab. »Ich hatte eine Fehlgeburt«, sagte sie leise.

»Herrje, Liebes!« Tara stellte das Weinglas ab und ergriff ihre Hand. »Das tut mir so leid. Wann?«

»Vor drei Tagen. Es … war noch recht früh. Sechste Woche.«

»Ja, das passiert leider viel zu oft. Schrecklich! Wie geht es dir jetzt? Körperlich, meine ich. Das muss ja ein Schock für dich gewesen sein.«

»Ich weiß nicht …«

Das stimmte. Sie hatte lange darüber nachgedacht und fand keine Antwort.

»Das steckt man nicht so einfach weg. Aber gut, dass du dir ein paar Tage Ruhe gönnst. Du wirst sehen, in drei Monaten bist du wieder schwanger und dann geht alles gut.«

»Das hab ich beim ersten Mal auch gedacht …«

Tara verstand sofort. »Du hast schon mal ein Kind verloren?«

»Das hier war meine dritte Fehlgeburt.«

Diesmal sagte Tara nicht, wie leid ihr das tue, worüber Ella insgeheim froh war. Sie trank einen großen Schluck Wein, drückte noch einmal ihre Hand und wartete, bis ihre Freundin weitersprach.

Aber was sollte Ella sagen?

Beim ersten Mal hatte ihr jeder versichert, dass bei der nächsten Schwangerschaft alles gut ging. Und als sie ein halbes Jahr später wieder schwanger war, glaubte sie ganz fest daran. Bis zur neunten Woche. Bis sie ihr zweites Kind verlor.

Ihre Ärztin hatte danach ein paar Tests angeordnet – »nur um sicherzugehen, Mrs Blount!« –, und alles war in bester Ordnung. Drei Monate später hatte sie das Okay von Dr. Hart.

Und war fünf Wochen später wieder schwanger. Bis vor drei Tagen, als sie morgens in einer Blutlache aufwachte.

Irgendwas war an diesem Morgen in ihr zersprungen. Ein feiner Riss in der Fassade, der bereits seit der zweiten Fehlgeburt lauerte. Sie hatte sich im Bett zusammengerollt und konnte nicht aufhören zu weinen. Den ganzen Tag lag sie da und wartete, dass dieser Schmerz nachließ. Dass das Bluten aufhörte. Erst am Abend stand sie auf, bezog das Bett neu und machte was zu essen. Tom hatte alle Termine abgesagt, doch sie ertrug seine besorgten Blicke nicht und hatte ihn fortgeschickt. Was ungerecht war, denn er wünschte sich genauso sehr wie sie Kinder.

Womöglich hatten sie ja zu lange damit gewartet. Schließlich war sie bereits siebenunddreißig.

Dr. Hart hatte ihr versichert, dass sie sich deshalb keine Sorgen machen brauchte. Natürlich könne es länger dauern, bis sie schwanger wurde. Aber es gab keinen Grund, in Panik zu geraten.

Ob sie das jetzt auch noch sagte? Ella hatte sich bei ihrer Ärztin nicht gemeldet. Sie wusste, dass zu einem so frühen Zeitpunkt »die Leibesfrucht«, wie es so schön hieß, ganz normal mit der Blutung abging. Wie eine verspätete Periode, die etwas stärker ausfiel.

Tara räusperte sich. Ihre Augen glänzten feucht, und sie wich Ellas Blick aus, als sie fragte: »Wie geht es Tom damit?«

»Er ist auch traurig, aber …«

»Für Männer ist es leichter. Jedenfalls, wenn das Baby noch nicht so greifbar ist.« Tara klang seltsam bedrückt.

Sofort wusste Ella Bescheid. »Du auch?«, fragte sie.

»Nach Toby hatte ich zwei Fehlgeburten. Sie sagen dir immer, das wäre ganz normal und passiert nun mal, die Natur sortiert aus und das sei gut für dich. Aber mehr tun sie nicht. Sie lassen dich mit dem Schmerz allein. Du gehst nach Hause, siehst deine kleinen Söhne an, die im Garten spielen, und weißt genau, dass zwei Kinder nicht dein Lebensplan waren. Jemand fehlt. Es ist eine Lücke da.« Tara zuckte mit den Schultern. »Vielleicht rede ich mir das auch nur ein, keine Ahnung. Aber wir haben Tilly bekommen, und sie ist für uns ein großes Geschenk. Obwohl sie … anders ist.«

Erst jetzt merkte Ella, wie wenig sie über Taras Familie wusste.

»Was stimmt nicht mit ihr?«, fragte sie.

»Tilly hat eine Entwicklungsverzögerung. Niemand kann uns genau sagen, was es ist. Sie braucht für alles mehr Zeit. Erst mit zweieinhalb fing sie an zu laufen. Und sie spricht noch kein Wort und ist sehr anfällig«, sagte Tara. »Bis sie anderthalb war, waren wir häufiger in Krankenhäusern als daheim.«

»Das tut mir leid«, sagte Ella.

»Es ist in Ordnung.« Tara atmete tief durch. »Wir sind froh, sie bei uns zu haben. Möchtest du noch Wein?«

Ella schüttelte den Kopf.

»Aber ich.« Tara verschwand in der Küche. »Bernie kommt nicht vor zehn nach Hause, wir können uns also gepflegt die Kante geben.«

Ella schloss die Augen. Sie war bereits wieder müde, und die Pizza lag ihr schwer im Magen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche.

Bei Tara gibt es Wein. Ich vertrag ja gar nichts mehr.

Wieder kam die Antwort nach zwei Minuten.

Genieß es. Und sag ihr einen schönen Gruß von mir! Ich würde sie gerne mal wieder sehen.

Sie lächelte. Dass Tom sich überhaupt noch an ihre Freundin erinnerte … Andererseits war Tara eine dieser Frauen, die gleich bei der ersten Begegnung Eindruck machten. Groß, schlank. Die Hände fast ausgemergelt, die grünen Augen wach und aufmerksam. Sie bewegte sich geschmeidig und sicher, selbst wenn die Umgebung ihr fremd war.

»Ihr werdet es weiter versuchen, oder?«, fragte Tara und kam zurück ins Wohnzimmer. Sie brachte eine zweite Flasche Wein und eine Schüssel mit Pistazien.

Ella zuckte mit den Schultern. Sie merkte, wie ihr die Fragen zu viel wurden. War sie hier überhaupt richtig? Was wusste sie schon über Tara? Außer vielleicht, dass sie früher an der Highschool unzertrennlich waren. Der Kontakt brach ab, als Ella nach New York ging. Das war der Lauf der Dinge, und es war ganz natürlich, dass Freundschaften nicht ewig hielten.

Sie wunderte sich, wie leicht es Tara fiel, an ihre gemeinsame Zeit anzuknüpfen – sie konnte das nicht.

Es war ein Fehler. Schon morgen, beschloss sie, würde sie sich irgendwo ein Zimmer suchen. Vielleicht konnte sie in Bernies Hotel. Dann wäre sie immer noch irgendwie in der Nähe, musste sich aber nicht verpflichtet fühlen, den ganzen Abend mit Tara auf dem Sofa zu sitzen und auf ihren Mann zu warten.

»Keine Ahnung«, sagte sie.

»Ihr kriegt das bestimmt hin. Bisher ist euch doch alles gelungen.«

Das war es ja gerade. Alles war ein Spiel. Tom und sie hatten immer das bekommen, was sie wollten. Jetzt mussten sie allerdings um ihren Lebenstraum, Eltern zu werden, kämpfen, und Ella verzagte.

»Entschuldige, aber ich bin müde«, sagte sie.

»Habe ich dich verletzt?«, fragte Tara besorgt. »Herrje, ich hätte nicht so viel übers Kinderkriegen und Kinderhaben reden sollen, oder? Tut mir leid. Es ist einfach das Tollste, was ich mir vorstellen kann. Manchmal denke ich, das muss doch jeder wollen.«

»Ich will es ja«, entgegnete Ella leise.

»Ja, ich weiß. Ich meinte nur …«

»Lass. Bitte.«

»Okay.«

Sie saßen einen Moment schweigend nebeneinander. Schließlich stand Ella auf und nahm sich eine Handvoll Pistazien aus der Schüssel. »Gute Nacht.« In der Tür drehte sie sich um. »Meinst du, in Bernies Hotel ist Platz für mich?«

Sie hatte Tara verletzt, das merkte sie sofort. Ihre Freundin senkte den Kopf. »Klar, ich frag ihn.«

Auch in dieser Nacht weinte Ella sich in den Schlaf. Sie vermisste Tom, ihr altes Glück und die Leichtigkeit jener Zeit, als sie glaubten, ihnen gehörte die Welt. Als alles so einfach schien.

Sie hatte ihre Unbeschwertheit verloren und sehnte sich danach zurück.

2. Kapitel

Mitten in der Nacht wachte Ella auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie lauschte dem Regen und tastete nach ihrem Handy.

Tom hatte ihr geschrieben.

11:14 Bin gerade erst aus dem Büro gekommen. Geht es Dir gut?

11:38 Magst Du noch telefonieren? Bin nun zu Hause.

00:07 Gehe jetzt ins Bett. Handy liegt neben mir, wenn Du reden willst.

Es war halb vier. Trotzdem wählte sie seine Nummer.

Er war sofort dran und klang hellwach.

»Ella!«

»Hey … Ich kann nicht schlafen.«

Sie hörte ihn seufzen, dann das Rascheln der Bettdecke. Sie stellte sich vor, wie er die Nachttischlampe einschaltete und sich gegen das Kopfteil des teuren Designerbetts lehnte, das sie vor fünf Jahren in einem Anflug von Leichtsinn gekauft hatten. Als die Wohnung endlich fertig renoviert war und sie eigentlich kein Geld erübrigen konnten. Aber kurz danach war er zum Senior Associate in seiner Kanzlei befördert worden. Seitdem brauchten sie sich um das Finanzielle keine Sorgen mehr zu machen.

»Ich liege auch die meiste Zeit wach. Wie geht es Tara?«

»Ach, viel zu gut. Sie hat drei Kinder, ihr Mann bringt genug Geld heim und das Haus ist abbezahlt. Die beiden sind zu beneiden.« Sie spürte selbst, wie verbittert das klang.

»Das bekommen wir auch noch hin«, versprach Tom. »Also, dass es drei Kinder werden, kann ich nicht versprechen, aber …«

Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Du findest mich auch zu alt«, sagte sie.

»Lass das, Ella. Niemand hält dich für zu alt.«

»Aber wir hätten vor fünf Jahren schon …« Sie spürte jetzt wieder den Kloß in ihrem Hals, der sich immer dort ballte, wenn ihr alles zu viel wurde.

»Nein, hätten wir nicht. Damals war meine Mutter krank. Und später ging es dir nicht gut, weil du im Job unglücklich warst.«

Tom hatte recht. Wie immer. Trotzdem widersprach sie. »Der richtige Zeitpunkt ist nie da!«

»Das stimmt. Aber wenn er jetzt nicht richtig ist, wann dann?«

»Ich hab nur Angst, dass es nie klappt. Und dann werden wir irgendwann alt und grau und keiner besucht uns im Heim.«

»Unsere Neffen und Nichten besuchen uns bestimmt.«

Sie schwieg.

»Wir könnten auch ein Kind adoptieren«, sagte Tom leise. »Hast du darüber bereits nachgedacht?«

»Nein.«

»Ich schon.« Er räusperte sich. »Wir hätten bestimmt gute Chancen. Oder wir suchen eine Leihmutter oder …«

»Ich will keine Leihmutter.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich will das Baby spüren, wie es in mir heranwächst! Ist das denn so schwer zu verstehen?«

»Nein«, sagte Tom. »Ich will das doch auch. Also, nicht das Baby in mir heranwachsen spüren.«

Sie musste lachen. »Spinner«, sagte sie zärtlich.

»Habe ich dich etwa lachen gehört?«

»Hm, könnte sein …« Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Es tut so gut, deine Stimme zu hören.«

»Und das kannst du morgen auch wieder tun. Aber wie wäre es, wenn du noch ein wenig schläfst?«

Sie verabschiedeten sich und legten auf. Ella lag in der Dunkelheit. Immer noch Regen, und irgendwo im Haus hörte sie jemanden reden. Es klang nach einem Streitgespräch.

Sie war eine Fremde. Obwohl sie in New Harbor aufgewachsen und zur Schule gegangen war, blieb nach ihrer Rückkehr das Gefühl, nie Teil dieses Orts gewesen zu sein. Das Recht hatte sie mit dem Verkauf des Hauses wohl verwirkt.

Wer wohl in Granmas Haus wohnte? Sie beschloss, es morgen herauszufinden.

Wie laut und hektisch New York war, bemerkte Tom erst nach Ellas Abreise.

Sie war sein Ruhepol im Alltag. Wenn sie fehlte, vermisste er mehr als nur die Stimme, die ihn abends begrüßte und morgens verabschiedete. Die Arme, die nachts um ihn lagen, die Hände auf seiner Brust. Er vermisste vor allem die Wärme, mit der sie jeden Winkel des gemeinsamen Hauses in Brooklyn erfüllte.

Sie hatten das Haus vor fünf Jahren gekauft, als viele Eigentümer verkaufen mussten. Ella hatte sich dafür von ihrer kleinen Wohnung getrennt, und trotzdem waren sie damals an die Grenzen ihrer finanziellen Belastbarkeit gekommen. Und das, obwohl er seine Ersparnisse nach sechs Jahren Anwaltstätigkeit einbrachte. Aber die ersten Berufsjahre hatten beide damit zu kämpfen, ihre Studienkredite zurückzuzahlen. Die Renovierungen mussten sie bis auf das Notwendigste vorerst verschieben. Erst vor einem halben Jahr hatten sie das letzte Zimmer fertiggestellt – abgeschliffenes Eichenholzparkett, das sie an einem Wochenende in stundenlanger liebevoller Eigenleistung auf Knien rutschend geölt hatten. Danach liebten sie sich auf dem Holzboden und zeugten vermutlich ein Baby. Jenes zweite kleine Wunder, das sich viel zu früh von ihnen verabschiedete. Das für ihn nie mehr gewesen war als eine blaue Linie auf dem Schwangerschaftstest, den Ella ihm stumm hinhielt.

Und dann vor einer Woche der erneute Hoffnungsschimmer. Sie hatte sich beim dritten Mal schon gar nicht mehr richtig gefreut. Als könnte sie nicht glauben, dass es gut gehen würde. Und ihre Zweifel waren wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gewesen.

Es war sicher besser, wenn sie jetzt erst mal eine Weile nicht hier war. Wenn sie den Abstand von ihm suchte. So konnten beide sich über einiges klar werden.

»Hast du heute Abend Lust auf einen Drink?« Sein Kollege Liam steckte den Kopf in Toms Büro. »Oder musst du heim zu Ella?«

»Sie ist im Moment nicht da«, sagte Tom. »Lass mich nur noch schnell diesen Schriftsatz fertig diktieren, dann komme ich.«

»Okay, ich frag die Jungs, ob sie Zeit haben.«

Damit meinte er Michael »Mikey« Fromm, Rob Winter und Samuel Ward. Die fünf waren Senior Associates in der angesehenen Kanzlei Rogner & Pollack. Jeder von ihnen hoffte, noch diesen Sommer Junior Partner zu werden. Aber es gab bloß zwei Stellen, die Jahr für Jahr besetzt wurden – und sie waren nicht als Einzige scharf auf diese beiden Jobs. Für die anderen hieß es dann nach dem Prinzip up or out, dass sie sich was Neues suchen mussten.

Doch Tom wusste, dass er viel draufhatte. Seine Chancen auf die Partnerschaft waren gut.

Zwei Stunden später standen sie dicht aneinander gedrängt in der U-Bahn und verließen Manhattan unter dem Fluss. In Williamsburg stiegen sie aus und liefen die letzten dreihundert Meter zu Jimmy’s Diner.

Seit ihrem ersten Jahr in der Kanzlei gingen sie in das Diner. Es war nicht das beste in New York, aber die Fritten und die Zwiebelringe waren kross und die Burger sensationell. Und wer einen richtig guten New York Cheesecake essen wollte, bekam ihn bei Jimmy.

Außerdem war das Bier billig und kein anderer Anwalt verirrte sich in den Schuppen. Das waren mehr als genug Argumente für den Laden. Sie hätten auch schlechtes Bier in Kauf genommen, solange die Partner fernblieben.

»Möge der Bessere gewinnen.« Sam hob sein Glas. Er trank am schnellsten, denn er musste immer als Erster wieder gehen. Er wohnte mit seiner Frau Catherine auch in Brooklyn. Sie hatten zwei Kinder, und wenn sie abends unterwegs waren, sah er ständig auf die Uhr.

»Weiß man schon, wann die Partner sich entscheiden, wen sie in ihrer Mitte willkommen heißen?«, fragte Mikey.

»Angeblich Anfang nächsten Monat. Vor dem allgemeinen Sommerurlaub auf jeden Fall«, sagte Liam.

»Und dann müssen drei von uns sich überlegen, was sie machen.« Rob runzelte die Stirn. Seine Freundin wollte heiraten, damit lag sie ihm seit einem halben Jahr in den Ohren. Er wusste immer noch nicht, ob sie die Richtige war. Tom vermutete eher, dass er die Verantwortung scheute. Für ihn war Rob keine Konkurrenz um die Partnerschaft.

»Wenn alle Stricke reißen, geht es für mich zurück nach Chicago. Dann arbeite ich eben in der Kanzlei meines Vaters«, sagte Liam. Er lachte verlegen. Es klang nicht gerade nach einer befriedigenden Lösung.

»Dein alter Herr wird sich bestimmt freuen, wenn du als gescheiterte Existenz aus New York angekrochen kommst«, sagte Tom und schmunzelte. Es waren bloß freundschaftliche Neckereien unter Kollegen, die sich seit Jahren im ständigen Wettbewerb befanden. Aber bald blieben nur zwei von ihnen übrig. Ob sie sich dann auch noch in Jimmy’s Diner zu Burger und Bier trafen?

»Du musst dir ja keine Sorgen machen.« Sam klang verletzt. »Wir müssen uns zu viert um die zweite Partnerschaft balgen, während du dich entspannt zurücklehnen kannst.«

»Das ist auch noch nicht raus«, sagte Tom. Obwohl Sam recht haben könnte. Seit er letztes Jahr bei einer großen Sammelklage für einen Senior Partner eingesprungen war, munkelte man, er sei definitiv der Nächste im Reigen jener, die an den Gewinnen der Kanzlei direkt beteiligt wurden.

»Und sobald du Partner bist, könnt ihr eine Horde kleine Toms und Ellas in die Welt setzen. Arbeiten muss deine Frau dann jedenfalls nicht mehr«, sagte Liam.

Tom runzelte die Stirn. War das Zufall, dass seine Kollegen ausgerechnet heute auf diese plumpe Art versuchten, mehr über seine Zukunftspläne zu erfahren?

»Mal sehen …«, entgegnete er ausweichend. Das Thema behagte ihm nicht.

Die Kellnerin brachte ihre Bestellung – Fritten und fetttriefende Pensacola-Burger mit Speck, Ei und Käse. Liam bestellte noch einen Pitcher Bier, und sie unterhielten sich über die Saisonvorbereitung ihrer Footballteams. Über Familienplanung verlor keiner ein Wort.

Schon gut eine Stunde später löste sich ihre Runde auf. Sam wollte heim zu Frau und Kindern, Rob schaute immer wieder nervös aufs Handy. Nur Mikey blieb als eingefleischter Junggeselle ganz entspannt und verschwand in die Nacht, aus der er am nächsten Morgen ziemlich verkatert wieder auftauchen würde.

Tom teilte sich mit Liam ein Taxi. Er hatte einen über den Durst getrunken und war hinüber, während man seinem Kollegen nichts anmerkte, selbst wenn er mehr Alkohol intus hatte.

»Ist bei dir und Ella alles in Ordnung?«, fragte Liam.

»Ja klar«, sagte Tom. Und ehe er wusste, was er redete, fügte er hinzu: »Sie ist in Maine.«

»Ihr habt euch aber nicht getrennt?«

»Nein, alles okay. Sie braucht bloß etwas Abstand.«

»Dann hoffe ich nur, sie kommt dir nicht drauf, was für ne Luftpumpe du bist, Kumpel.« Spielerisch boxte Liam ihn in die Seite.

Sie kannten sich seit Harvard. Schon damals hatten sie immer miteinander gewetteifert, und nach dem Studium trafen sie sich bei allen großen Kanzleien bei den Vorstellungsgesprächen. Es wurde irgendwann zu einem Running Gag, ob Liam auch im Empfangsbereich saß, wenn Tom eintraf.

Doch der Konkurrenzkampf war lediglich ein dünner Firnis auf einer Freundschaft, die sich beide erst recht spät eingestehen konnten. Nach wie vor stand der Wettbewerb im Vordergrund. Aber manchmal sprachen sie auch über Privates.

Darum wusste Tom einiges über Liam, und umgekehrt war es nicht anders.

Liam kam einem Freund in seinem Leben am nächsten. Doch Tom schwieg während der restlichen Taxifahrt. Männer redeten nicht über ihre Probleme oder Gefühle. Sie ertrugen heroisch, wenn etwas sie aus der Bahn warf.

Er hätte Ella gern geholfen. Aber sie verschwand nach Maine, ließ ihn mit seinem Kummer allein. Ihn schmerzte der Verlust auch, auf eine abstrakte, kaum erklärbare Art.

Beim zweiten Mal hatte Ellas Ärztin gesagt, die Natur sortiere aus. Und das sei gut so, denn sonst kämen zu viele kranke oder nicht lebensfähige Babys zur Welt. Dieser Schmerz sei ungleich größer.

Mit ihren Ausführungen verharmloste sie die Fehlgeburt, als wäre sie nichts Außergewöhnliches, das geschah doch täglich. Während Tom damit klarkam, wütete Ella, weil es für sie eben keinen Unterschied machte.

Wie sollte es jetzt weitergehen? Versuchten sie in ein paar Wochen oder Monaten, wieder schwanger zu werden? Wie viele Enttäuschungen ertrug ihre Ehe?

Das Taxi hielt vor dem Wohnhaus. Liam legte die Hand auf seine Schulter. »Wenn du reden willst, sag Bescheid.«

Tom nickte stumm und stieß die Tür auf. Er wollte Liam zwanzig Dollar in die Hand drücken, doch er schüttelte den Kopf.

»Geht heute auf mich.«

»Danke.« Tom wollte noch etwas sagen, aber dann stieg er aus. Das gelbe Fahrzeug löste sich vom Bordstein und glitt zurück in den spärlichen Nachtverkehr.

Er fröstelte, dabei war es angenehm warm. Ein Vorbote des kommenden Sommers, wenn niemand in New York bleiben wollte, da die Hitze sich wie eine Käseglocke über die stinkende Stadt legte.

Wahrscheinlich war es gar keine so schlechte Idee von Ella, nach Maine zu verschwinden.

Wie schade, dass sie das Haus dort verkauft hatte.

3. Kapitel

»Eine Stiftung hat das Haus deiner Großmutter vor fünf Jahren erworben, als der Eigentümer die Hypothek nicht mehr stemmen konnte«, erzählte ihr Tara.

Sie saßen am Frühstückstisch. Die Jungen waren vor fünf Minuten ein letztes Mal durch die Küche gewirbelt – »Denkt an eure Lunchpakete!« – »Mom, ich find meine Sportsachen nicht!« – »Mom, Toby hat Hundescheiße in meinen Rucksack geschmiert!« –, und nun waren sie mit Tilly allein. Die Dreijährige war herzig und für Ellas Nerven gerade das Höchstmaß an Kind, das sie aushielt.

»Wie hältst du das jeden Tag aus?«

Tara lachte nur. Das war ihre Art, alle Probleme beiseitezuwischen. »Die eigenen Kinder sind okay. Es sind die der anderen Eltern, die dich in den Wahnsinn treiben.«

»Danke für die Warnung.«

»Jedenfalls hat die Stiftung ein Heim für junge Mütter gegründet.«

»Und was machen die jungen Mütter dort?«

»Sie wohnen in dem Heim bis zur Geburt ihres Kindes. Entweder kehren sie danach mit dem Kind in ihr altes Leben zurück oder sie geben es zur Adoption frei.«

Wir könnten auch ein Kind adoptieren. Hast du darüber bereits nachgedacht?

Es kam Ella fast vor, als wollte das Schicksal sie auslachen. Bis heute Nacht war sie nie auf die Idee gekommen, eine Adoption könnte für Tom und sie die Lösung sein. Und kaum brachte er sie auf diesen Gedanken, fand sie heraus, dass ausgerechnet im Haus ihrer Granma junge Frauen auf die Niederkunft warteten, um danach ihr Baby wegzugeben.

Bestimmt war das alles bloß Zufall, redete sie sich ein, und das Schicksal wollte ihr damit nichts sagen

Trotzdem war sie neugierig.

»Hast du Bernie gefragt, ob er ein Zimmer für mich hat?«

»Leider nicht. Die Hauptsaison steht unmittelbar bevor. Wir sind komplett ausgebucht.«

Tara stand auf. Sie hob Tilly aus dem Hochstuhl und stellte sie auf den Boden. »Geh spielen!«, sagte sie. Die Kleine lief zielstrebig Richtung Wohnzimmer. Tara räumte den Tisch ab.

»Habt ihr euch gestern Nacht gestritten?«

Tara hielt mitten in der Bewegung inne. Dann stellte sie die Teller in die Spüle und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Du warst wach?«

»Ich schlafe im Moment ziemlich schlecht.« Ella zuckte mit den Schultern.

»Er will dir kein Zimmer geben, weil er denkt, du willst es gratis haben.«

»Oh. Das habe ich nicht erwartet.«

»Aber er wusste, dass ich es erwarte«, sagte Tara. »Und es läuft nicht besonders gut im Hotel. Womöglich müssen wir dichtmachen.«

»Warum hast du mir nichts gesagt?«

»Weil du selbst Kummer hast.« Tara zuckte mit den Schultern. »Ich wollte dich damit nicht belasten.«

Sie wirkte auf einmal so zerbrechlich und traurig. Das Leben halste ihr eine Menge auf.

»Ich hätte das Zimmer auch bezahlt.«

»Das will ich nicht. Nein, du kannst bei uns bleiben, solange du magst. Wir sind uns vielleicht etwas fremd geworden in den letzten Jahren, aber die verlorene Zeit holen wir einfach in den kommenden Tagen nach. Mit viel Wein spülen wir sie einfach weg. Einverstanden?«

Mit Taras Versprechen und zwei roten Äpfeln als Proviant aus der Obstschale gerüstet brach Ella eine halbe Stunde später zu einem Spaziergang auf. Sie hatte sich von Tara eine Strandtasche geliehen, in der alles für einen geruhsamen Tag am Meer steckte – ein Liebesroman, eine Decke, etwas zu essen, eine Flasche Wasser. Der Regen hatte endlich aufgehört, und die Sonne ließ die Pfützen dampfen. Es war unangenehm schwül.

Auf dem Weg zum Strand kam sie am Haus ihrer Granma vorbei. »Heim für junge Mütter« stand auf einem Schild direkt an der Straße, darunter »gestiftet von Alienor Parks, 2010«. Ella verlangsamte ihre Schritte und blickte zum Haus hinauf.

Es duckte sich hinter drei Kastanien, die auch im Hochsommer die vorderen Räume schattig und kühl hielten. Die Holzschindeln sahen neu aus, die Fassade strahlte weiß vom letzten Anstrich. Unter der Veranda vereinzelte Kaninchenlöcher. Das hatte sich also nicht geändert.

Ein Mädchen saß auf der Balustrade, die Knie angezogen und ein Buch vor der Nase. Seine freie Hand umfasste dabei unbewusst den sanft gerundeten Bauch.

Ella wandte sich ab und lief weiter. Das war zu viel für sie. Einerseits die Erinnerung an die gemeinsamen Jahre mit Granma und dann noch eine Schwangere. Wahrscheinlich war das wie mit allen Themen, auf die man irgendwie empfindlich reagierte, weil sie einen selbst betrafen. Auf einmal fand man überall Hinweise darauf.

Ein Stück weiter erstreckte sich eine Landzunge bis in den Atlantik. New Harbor hatte keine feinen Sandstrände, an denen man stundenlang spazieren konnte. Es gab nur felsigen Untergrund und einen Baumbestand, der fast ans Wasser reichte. Rau und zerklüftet. Wenig reizvoll für die Touristen, die auf der Suche nach dem berühmten Leuchtturm manchmal die falsche Abzweigung nahmen und plötzlich in dem Ort standen.

Trotzdem hatte sich ein Hotel hier breitgemacht. Das Foray Arms Inn lockte auf einem riesigen Schild mit Pensionszimmern und kleinen Häusern. Ella blieb stehen und studierte die Angebote.

Wenn sie ins Hotel zog, hätte sie nicht mehr das Gefühl, Tara zur Last zu fallen. Und sie müsste sich nicht ständig mit Kindern an einen Tisch setzen. Im Moment waren Kinder für sie einfach zu anstrengend. Sie hatte wirklich geglaubt, es ginge irgendwie. Aber warum sollte sie sich zu etwas zwingen, das ihr wehtat?

Womöglich war das hier ja eine Möglichkeit. Sie beschloss, auf dem Rückweg nach einem Zimmer zu fragen.

Sie überquerte die Straße und lief zwischen den kleinen Häusern zum Wasser. Dort breitete sie die Decke auf einem Felsen aus, legte ihre mitgebrachten Vorräte und das Buch darauf und begann zu lesen.

Es war lange her, dass sie ungestört und zum Vergnügen einen Roman gelesen hatte. Ihr Beruf bedeutete vor allem Lesearbeit, aber selten ging es dabei um den Spaß.

Hätte sie das vorher gewusst, wäre sie nicht Lektorin geworden. Vielleicht lieber Literaturkritikerin. Dann müsste sie nicht Tag für Tag so viele schlechte Manuskripte lesen, weil sie hoffte, ein richtig gutes darunter zu finden.

Die Jobs als Literaturkritiker waren allerdings fast so rar gesät wie die als Lektoren. Und als Kritiker war sie ständig der miesen Laune jener Autoren ausgesetzt, die sie in deren Augen falsch beurteilte.

Sie könnte ja auch einfach ein Buch schreiben, schoss es ihr durch den Kopf.

Über diese Idee musste sie wirklich herzlich lachen. Warum glaubte nur jeder, der gerade eine Sinnkrise hatte, ein Roman sei die Lösung?

Ella schmunzelte immer noch, als sie einen Kopf bemerkte, der aus den Wellen auftauchte. Und wieder unterging.

Sie runzelte die Stirn. War das etwa …? Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Stelle, wo der Kopf aufgetaucht war und wieder verschwand.

Jemand schwamm im Meer. Oder tauchte? Nein. Jetzt erschien der Kopf wieder, dicht gefolgt von den Armen, die wild ruderten.

Ella sprang auf. Und dann rannte sie, streifte im Laufen die Schuhe ab und warf die Strickjacke auf die Felsen, ehe sie beherzt ins Wasser sprang.

An diesem Fleckchen Erde war die Stille perfekt. Das sanfte Rauschen der Wellen weckte ihn am späten Morgen. Er lag noch ein Weilchen im Bett, hörte zu und machte einen Plan für den Tag.

Er musste schreiben. Durfte sich keine Pause gönnen.

Langsam wurde es richtig knapp. In zwei Wochen sollte das Manuskript beim Verlag sein. Bisher hatte er – nun, zu wenig. Längst nicht genug, um entspannt zu schreiben. Denn das war der Plan gewesen, als er sich vor vier Wochen in diesem überteuerten Häuschen direkt am Wasser eingemietet hatte: Jeden Tag zehn Seiten in die Tasten hauen. Dann blieb ihm am Ende eine komplette Woche für die Überarbeitung.

Aber inzwischen war der Plan ernsthaft in Gefahr. Und er wusste das. Von dem Moment, wenn er morgens aufwachte und ausrechnete, wie viel er noch schreiben musste, um halbwegs termingerecht fertig zu werden, bis zu dem Augenblick, wenn er am späten Abend das Licht löschte und todmüde ins Bett fiel, als habe er zwanzig Seiten oder mehr geschrieben. Er spürte, dass es nicht reichte. Und an diesem Morgen war er bereit, sich sein Scheitern einzugestehen. In Gedanken rechnete er bereits, wie er seine Finanzen in den kommenden Wochen neu organisieren konnte, um den exorbitanten Vorschuss zurückzuzahlen, den der Verlag ihm vor knapp zwei Jahren für seinen vierten Roman überwiesen hatte.

Die bittere Wahrheit war: Das Geld war weg. Er war pleite, konnte nicht mehr schreiben und hatte die letzten dreitausend Dollar für eine Hütte am Meer verpulvert, obwohl er daheim in New York immer am besten hatte schreiben können. Wenn die Stadt um ihn tobte, wenn er sich die Nächte um die Ohren schlug und ihn nichts abhalten konnte.

Hier ging er kurz nach neun ins Bett und schlief zwölf Stunden.

Bestimmt war er krank, daran lag es. Er hatte eine schwere Depression, sagte er sich. Eine Schreibblockade. Er musste seine Agentin anrufen, damit sie ihm mehr Zeit verschaffte.

Das klang nach einem Plan.

David Flanagan quälte sich mit diesem Gedanken aus dem Bett. Er zündete die erste Zigarette des Tages an (die erste zählte nicht, genauso wenig die zweite; bis zwanzig zählten sie alle nicht bei seinem Versuch, das Rauchen aufzugeben) und hangelte nach dem Handy.

Nach dem dritten Klingeln meldete sich seine Agentin. »Du hast noch zwei Wochen, David! Was macht das Buch?«

Er warf sich zurück auf die Matratze und stöhnte auf. »Lisa, musst du mich als Erstes daran erinnern?«

»Du hast selbst gesagt, ich soll streng sein. Also?«

»Es könnte knapp werden.«

Einen Moment war es in der Leitung still. Dann erklang wieder Lisas Stimme. Nicht fröhlich und optimistisch wie er sie kannte, sondern resigniert und müde. »David, du weißt schon, dass der Verlag den Roman für das Herbstprogramm eingeplant hat?«

»Aber es funktioniert nicht. Alles, was ich schreibe, klingt hölzern und doof.«

Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. »Ich mag, wenn du deine Bücher ›doof‹ nennst. Meist sind sie dann hervorragend und brauchen bloß noch den letzten Feinschliff.«

»Diesmal ist es anders doof.«

»Das sagst du auch jedes Mal.«

David stöhnte auf. »Du verstehst mich nicht.«

»Nein, David. Ich verstehe es wirklich nicht. Du schreibst jetzt den vierten Roman für diesen Verlag. Der letzte hat sich im hohen sechsstelligen Bereich verkauft, darum können wir davon ausgehen, dass die Leser dein nächstes Buch lieben werden.«

»Die Kritiker sehen das anders.«

Er hörte ihr Seufzen und stellte sich vor, wie sie mit ihren roten Locken am Schreibtisch saß. Er mochte, wie ihre katzengrünen Augen leuchteten, wenn sie von seinen Büchern sprach. Als handelte es sich nicht um rasante Actionthriller, in denen der Held immer den Schurken verprügelte und am Ende die schüchterne Lehrerin bekam. Im aktuellen Roman war diese arme, ungerecht behandelte Frau Lisas Ebenbild, weil er immer ein reales Vorbild suchte. Und weil er dachte, wenn er dem Helden eine heiße Liebesnacht mit ihr ins Manuskript schrieb, brachte sie das auf die Palme. Er mochte, wenn sie zickte. Dann war sie bissig und ließ ihn spüren, dass er bei nicht landen konnte.

Wollte er ja auch gar nicht.

»David, sprich mir nach: Wir hören nicht auf die Kritiker. Die wissen nämlich auch nicht, was sich gut verkauft. Du kennst dich aus. Du schreibst die Bücher, die deine Leser wollen.«

»Vielleicht möchte ich mal was völlig anderes machen.«

Wie oft hatten sie darüber schon diskutiert? Es gehörte zu seinem Schaffensprozess wie die Stunden vor der Schreibmaschine, mit der er immer noch arbeitete.

»Kannst du! Setz dich hin und schreib, meinetwegen wirst du der zweite Nicholas Sparks. Aber vorher bringst du den verdammten Roman zu Ende.«

Er stand auf und trat ans Fenster. Nachdem es gestern in Strömen geregnet hatte, schien jetzt wieder die Sonne. Wattewölkchen jagten dahin, und der Wind wiegte die Bäume sanft wie seine Kinder. Schaumkronen tanzten auf den Wellen, die Möwen kreischten ihren Unmut in den Himmel.

Er schüttelte den Kopf. Knallharte Action!, ermahnte er sich.

»Bist du noch dran?«, fragte Lisa.

»Ja.« Er runzelte die Stirn. Waren das wirklich Möwen? Nein. Stimmen, die riefen. Sich überschlugen. Und wenn er genau hinsah, wirkten die Schaumkronen wie Köpfe, die aus dem Wasser auftauchten. Zwei von ihnen zumindest.

Verrückt, dachte er. Das Meer musste so früh im Jahr doch eiskalt sein. Wer ging da schwimmen?

Und dann erkannte er, dass die beiden Menschen im Meer nicht schwammen. Sondern um ihr Leben kämpften.

»Ich ruf dich zurück.« Er legte auf. Dann rannte er los, nur in Boxershorts und T-Shirt lief er nach draußen und sprang von dem Felsvorsprung ins Meer.

Früher war er ein richtig guter Schwimmer gewesen. Bevor er anfing, Romane zu schreiben. Das erwies sich nun als Problem, denn er glaubte bereits nach wenigen Kraulzügen, dass ihm die Luft wegblieb. Vielleicht lag es auch am eiskalten Wasser, in das er sich kopfüber gestürzt hatte.

Er erreichte die erste Schwimmerin. Sie trat Wasser, und Erleichterung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie ihn bemerkte. »Gott sei Dank!«, rief sie. »Helfen Sie ihr, ich komme klar.«

Er wollte wissen, warum sie dem Mädchen nicht selbst half, verkniff sich aber die Frage. Dafür war später noch genug Zeit.

David kraulte weiter. Das junge Mädchen war etwa hundert Meter weiter raus getrieben und wehrte sich bloß noch halbherzig gegen die Strömung und das kalte Wasser. Wenn sie aufgab, würde sie einfach in die Tiefe gezogen werden und dann war es vorbei mit ihr. Selbst so nah an der Küste war das Meer verdammt tief und tückisch.

»Lassen sie mich!« Sie schluckte Wasser, ging unter und kam kurz wieder hoch. Die Lippen waren schon ganz blau, die Augen rot, das Gesicht fahl. Er packte ihren Arm, ohne auf ihre Proteste zu hören, und schob seine Arme unter ihre Achselhöhlen. Dann zog er sie einfach mit sich und schwamm rückwärts Richtung Ufer.

Die andere Frau half ihm, das Mädchen auf die Felsen zu schieben. Anschließend stieg sie aus dem Wasser und hielt ihm die Hand hin.

David kletterte auf den Fels. Seine Knie zitterten, und er atmete schwer. Die Kleine kniete, die schwarzen Haare hingen ihr ins Gesicht. Sie hustete und spuckte Salzwasser. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Geht es wieder?«

»Arschloch«, zischte sie und funkelte ihn wütend an.

Er versetzte ihr eine schallende Ohrfeige.

»Herrgott, was tun Sie da?« Sofort war die Frau zwischen ihnen und hielt das Mädchen davon ab, sich auf ihn zu stürzen. Na toll. Jetzt hatte er beide gegen ihn aufgebracht. Aber was interessierte ihn das überhaupt?

»Was ich tue? Ich erziehe Ihre Tochter, Ma’am. Und Sie sollte man wohl auch mal übers Knie legen, wenn Sie so leichtsinnig sind und bei den Strömungsverhältnissen rausschwimmen. Noch dazu ohne Badeanzug. Was haben Sie sich dabei gedacht?«

Sie baute sich vor ihm auf. Ihre Lippen waren ebenfalls blau gefroren und sie bebte, doch das schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte sie ihn an. »Sie«, sagte sie dann. »Sie …« Ihr Zeigefinger stieß gegen seine Brust. »… haben ja keine Ahnung.«

Dann nahm sie das Mädchen am Arm und führte es über den felsigen Untergrund weg. David blickte ihr nach.

»Erziehung ist auch Glückssache!«, rief er ihnen nach.

Sie hob nur die Hand und zeigte ihm den Mittelfinger.

»Und nun zu dir.« Sie waren zu Ellas Decke zurückgekehrt. Das Mädchen hatte zweimal versucht, sich von ihr loszumachen, doch beide Male war es eher halbherzig. »Was hast du da draußen vorgehabt? Wolltest du dich umbringen oder hast du ernsthaft geglaubt, der Strömung trotzen zu können?«

Das Mädchen schwieg verbissen.

Ella warf die Äpfel und ihr Buch in die Tasche und hob die Decke auf. Sie legte sie der Kleinen um die Schultern. Sie war ein bisschen mollig, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, schätzte Ella. Das T-Shirt und die knappen Shorts waren vielleicht heute eine etwas optimistische Klamottenwahl.

»Ich höre. Oder hat es dir die Sprache verschlagen? Da draußen hast du jedenfalls laut genug um Hilfe gerufen.«

»Sie können mich mal.«

»Aber immerhin redest du mit mir. Hast du auch einen Namen?«