Runway ins Verderben - Juergen von Rehberg - E-Book

Runway ins Verderben E-Book

Juergen von Rehberg

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Beschreibung

Stefan Wenninger ist der einzige Überlebende einer schrecklichen Flugzeugkatastrophe, bei welcher er seine Ehefrau verliert. Während seines langen und schmerzlichen Heilungsprozesses wird er von einem Physiotherapeuten und einer Krankenschwester begleitet. Durch sie findet er wieder zurück ins Leben und zu seinem Sohn, mit dem er schon über viele Jahre hinweg keinen Kontakt mehr hatte. Eine spannende und berührende Geschichte, durchwoben von einem feinem Humor. https://www.juergen-von-rehberg.at

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Ich widme dieses Buch

als kleines Dankeschön

meinen treuesten Leserinnen:

Angélique aus Krems

Babs aus Stuttgart

Brigitte aus Neckarelz

Elke aus Hamburg

Eva Anna aus Krems

Marianne aus Mautern

Die Erschütterungen in der Kabine, das Vibrieren der Tragflächen und das Gefühl, von einer großen Faust in den Sitz hinein gepresst zu werden, waren alles vertraute Vorgänge für Stefan Wenninger, als er im Airbus A 320 saß, der ihn von Wien nach Zürich bringen sollte.

Seine Ehefrau Gudrun hatte sich wieder einmal durchgesetzt, obwohl er alles versucht hatte sie davon abzuhalten zu ihrem gemeinsamen Sohn Thorsten nach Zürich zu fliegen.

Es konnte doch nicht die Aufgabe der Eltern sein, zum x-ten Male das Problem eines erwachsenen Mannes zu lösen, eines von vielen, welche diesem schon vorausgegangenen waren.

„Ein Mann von Ende dreißig sollte sein Leben endlich einmal in den Griff bekommen“, so der Tenor von Stefan; aber wenn Mamas Liebling nach Hilfe rief, war diese sofort zur Stelle.

Und Stefan fügte sich auch dieses Mal wieder und begleitete seine Gattin.

Stefan hatte einen Fensterplatz in der Maschine, und Gudrun sollte normalerweise neben ihm sitzen. Aber ein junges Ehepaar mit einem kleinen Kind war die Ursache, dass Gudrun ihren Platz mit dem Kind tauschte.

Das Kind saß jenseits des Mittelganges bei ihrer Mutter und streckte ihre kleinen Händchen nach ihrem Papa aus, welcher neben Gudrun und einem weiteren Fluggast saß. Ein paar Tränchen waren schließlich ausschlaggebend, dass Gudrun ihren Platztausch anbot.

Das Gesicht des kleinen Mädchens, welches nun neben Stefan saß, war das Letzte, das Stefan gesehen hatte, und ein lauter Knall war das letzte Geräusch, das an sein Ohr drang. Dann wurde es Nacht. Finstre, dunkle Nacht…

*****

„Guten Morgen, Herr Stefan. Wie geht es Ihnen?“

Es war die Stimme von Schwester Elfi, welche Stefan aus seinen Gedanken riss.

„Ich weiß es nicht, Schwester Elfi “, antwortete Stefan, „sagen Sie es mir.“

Schwester Elfi musste lächeln. Sie betreute den Patienten von der ersten Stunde seiner Einlieferung an. Er war nach dem schrecklichen Unfall mit schwersten Verletzungen in das „Maria vom Kreuz“ - Krankenhaus eingeliefert worden.

Die Fluggesellschaft „G.A.S.“1 hatte unmittelbar nach dem Unfall die völlige Kostenübernahme zugesagt. Stefan Wenninger war der einzige Überlebende der Katastrophe.

Kurz nach dem Start, war die linke Tragfläche abgerissen und hatte einen Teil der Kabine mitherausgerissen.

Es war der Teil, hinter dem sich die Sitzreihe von Stefan Wenninger befand. Mit ihr wurde er katapultartig hinausgeschleudert.

Der fremde Fluggast und der Vater mit dem kleinen Kind überlebten den Unfall nicht. Und dass Stefan Wenninger überlebte, grenzte schon an ein Wunder.

Seine Verletzungen waren sehr schwer, und lange Zeit befürchtete man, dass er es nicht schaffen würde. Neben diversen Knochenbrüchen waren die Verletzungen am Kopf das eigentliche Problem.

„Blow-out-Frakturen“2 und weitere Verletzungen im gesamten Gesichtsbereich hatten tiefe Spuren hinterlassen. Es drohte bisweilen die Erblindung des Patienten.

Stefan Wenninger wurde, bedingt durch die schweren Schädel-Hirn-Verletzungen in ein künstliches Koma versetzt, um dem Körper Gelegenheit zu geben, sich zu erholen.

Als er wieder aufgeweckt wurde, stellte er eine Frage, deren Beantwortung ihm einen schweren Schlag versetzte.

„Wie geht es meiner Frau, kann ich sie sehen?“

„Es tut uns sehr leid, Herr Wenninger, Ihre Frau hat es leider nicht geschafft.“

Die Antwort kam von Professor Dr. Paulus Fromm, dem Chef der Klinik, welcher auf Betreiben der Fluggesellschaft die Behandlung übernommen hatte.

Ein Teil der Klink war für Privatpatienten vorbehalten, welche über die nötigen finanziellen Mittel verfügten.

Aus Gründen der Reputation hatte die Fluggesellschaft sofort die Verlegung in diesen Trakt angeordnet, natürlich unter Zusicherung der Kostenübernahme.

Das Zimmer von Stefan Wenninger glich eher einer Suite im Hotel Plaza, denn einem Krankenzimmer.

Es dauerte eine Weile, bis Stefan mit der Situation umgehen konnte, nachdem er erfahren hatte, dass er der einzige Überlebende der Flugzeugkatastrophe war.

Als er aus dem Koma erwacht war und vom Tod seiner Gattin erfahren hatte, beantwortete er die Frage des Arztes nach seinem Befinden mit den Worten:

„Warum haben Sie mich nicht sterben lassen?“

Stefan Wenninger verweigerte die Nahrungsaufnahme über längere Zeit, was dazu führte, dass er künstlich ernährt wurde.

Es war Schwester Elfi, die ihm so lange zusetzte, bis er endlich einwilligte sich normal zu ernähren. Obwohl Stefan anfangs nicht sehen konnte, weil seine Augen von einem Kopfverband verhüllt waren, fand er sofort Gefallen an der Stimme der Krankenschwester.

Das erste Frühstück, welches Stefan von Schwester Elfriede serviert bekam, begleitete sie mit den Worten:

„Guten Morgen, Herr Wenninger, ich bin es, Schwester Elfriede. Es gibt Rührei mit Toast, Butter, Marmelade und frische Croissants und dazu köstlich duftenden Kaffee.“

Es war ihre Stimme, die ihn auf der Stelle in eine geneigte Stimmung versetzte. Er drehte seinen Kopf in die Richtung, aus welcher die Stimme gekommen war, und sagte:

„Guten Morgen! Jetzt haben Sie es doch noch geschafft, dass ich normal esse. Aber eines haben Sie nicht dabei bedacht.“

„Was meinen Sie, Herr Wenninger? “, fragte Schwester Elfriede.

„Da ich ja blind bin wie ein Maulwurf“, antwortete Stefan, „müssen Sie mich füttern!“

Schwester Elfriede lachte und erwiderte:

„Das bekomme ich gerade noch hin, Herr Wenninger.“

Dann nahm sie mit einen Löffel Rührei vom Teller und führte diesen mit den Worten „Achtung, Mund auf!“ zum Mund ihres Patienten.

Stefan kam dieser Aufforderung nicht nach, was Schwester Elfriede befürchten ließ, dass es sich Stefan anders überlegt haben könnte.

„Was ist los, Herr Wenninger“, fragte sie aufgeregt, „mögen Sie kein Rührei?“

Stefan grinste, was die Krankenschwester nur noch mehr verunsicherte.

„Sehr sogar“, antwortete Stefan, „aber ich mache den Mund nur auf, wenn ich Sie <Elfi> nennen darf und Sie mich <Stefan> nennen.“

Jetzt musste auch Schwester Elfriede lächeln.

„Das ist Erpressung. Schämen Sie sich!“

„Ist es nicht im Interesse des medizinischen Personals den Patienten bei guter Laune zu halten? Und ist es nicht so, dass die Psyche eine wesentliche Rolle bei der Genesung spielt?“

„Das ist richtig, Herr Wenninger“, antwortete die Krankenschwester und fügte hinzu:

„Ich schlage Ihnen einen Kompromiss vor: Sie dürfen mich fortan >Elfi> nennen, wenn ich Sie <Herr Stefan> nennen darf.“

„Einverstanden“ antwortete Stefan, „aber ich habe noch eine weitere Bedingung.“

Schwester Elfi wollte schon opponieren, als Stefan ergänzte:

„Eigentlich ist es mehr eine Bitte. Der Kaffee schmeckt wie Spülwasser. Können Sie mir bitte eine Espressomaschine besorgen? Ich werde sie auch gern aus der eigenen Tasche bezahlen.“

„Das mache ich sehr gern, Herr Wenninger“, antwortete Schwester Elfi, „und um die Bezahlung brauchen Sie sich keinen Kopf machen. Wir haben Anweisung, Ihnen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.“

„Vielen Dank, Elfi “, erwiderte Stefan, „und nicht vergessen, ab heute <Stefan>.“

„Jawohl, Herr Stefan“, antwortete Schwester Elfi, „aber jetzt wird erst einmal gefrühstückt.“

*****

Als Stefan Wenninger zum ersten Mal die Stimme von Schwester Elfi hörte, versuchte er sich ein Bild von ihr zu machen.

Die Stimme war klar und deutlich, hatte etwas Bestimmendes an sich, und war dennoch nicht unangenehm. Er taxierte den unsichtbaren guten Geist auf jenseits der vierzig Jahre.

Nach etlichen gemeinsamen Nahrungszuführungen nützte er seine Vermummung als Schutzwall, hinter der er sich versteckt fühlte, und fragte die Krankenschwester:

„Wie würden Sie sich selbst beschreiben, liebe Elfi?“

Elfriede Baumann erschrak. Sie übte ihren Beruf jetzt schon seit über dreißig Jahren aus; aber eine solche Frage war noch nie an sie herangetragen worden.

„Wie meinen Sie das, Herr Stefan?“, fragte sie daher, und Stefan antwortete:

„Ich kenne nur Ihre Stimme, und ich würde gern wissen, wie sie aussehen. Stellen Sie sich einfach nur vor, ich wäre ein Blinder.“

Schwester Elfi wollte schon antworten, als Stefan noch hinzufügte:

„Zurzeit bin ich ja so etwas wie ein Blinder, und vielleicht bleibe ich das auch für mein restliches Leben.“

„Das sollten Sie noch nicht einmal denken, Herr Stefan“, sagte Schwester Elfi in vorwurfsvollem Ton. „Es braucht noch eine Weile; aber dann können Sie bestimmt auch wieder sehen.“

Stefan lächelte. Es gefiel ihm, wie seine gute Fee ihn gerade zur Raison bringen wollte.

„Aber bis es soweit ist, beschreiben Sie mir, wie Sie aussehen“, erwiderte Stefan, „Sonst trete ich wieder in den Hungerstreik.“

„Sie sind schrecklich, Herr Stefan“, sagte Schwester Elfi. „Also gut, Sie geben ja doch keine Ruhe“

Und dann begann sie mit ihrer Personenbeschreibung:

„Ich bin 1,66 Meter groß und wiege plus/minus sechzig Kilo. Ich bin wohlgerundet, habe braune Augen und braune Haare, und ich bin 49 Jahre alt. Reicht das jetzt, um mir einen Heiratsantrag zu machen?“

Die skurrile Situation war damit auf ihrem Höhepunkt angelangt.

Der Patient Stefan Wenninger saß in einem Rollstuhl an einem Tisch und hielt noch immer seine Tasse in der Hand, aus welcher er gerade einen Espresso getrunken hatte.

Ihm gegenüber saß Elfriede Baumann, ihres Zeichens Krankenschwester und persönliche Betreuerin des Patienten Stefan Wenninger.

Und zwischen Patient und Krankenschwester schwebte das gerade Gesagte unruhig hin und her.

Schwester Elfi war in diesem Augenblick heilfroh, dass ihr Patient sie nicht sehen konnte, und der Patient fühlte sich hinter seinem Kopfverband in Sicherheit.

„Est tut mir sehr leid, Herr Stefan“, sagte Schwester Elfriede, „bitte, entschuldigen Sie meine Entgleisung!“

Dann stand sie auf, strebte zur Tür hin und sagte beim Hinausgehen noch schnell:

„Ich schaue später wieder bei Ihnen vorbei.“

Stefan saß wie versteinert da. Was wie ein lustiges Geplänkel begonnen hatte, entwickelte sich nicht wirklich so, wie es gedacht war.

Ihm wurde bewusst, dass er dieses zauberhafte Wesen gerade in arge Verlegenheit gebracht hatte, und er bereute das.

Hinzu kam, dass er sich dadurch in eine schwierige Situation gebracht hatte. Sein körperlicher Zustand erlaubte ihm nicht selbständig den Weg in sein Bett zurückzulegen.

Da ging die Tür auf, und mit den Worten „Ich bringe Sie jetzt ins Bett zurück“ befreite Schwester Elfi ihren Patienten aus seiner Bredouille.

Dieses geschah dann auch ohne Worte. Schwester Elfi schüttelte noch kurz das Kopfkissen auf, hievte den reuigen Sünder gekonnt in sein Bett und verschwand dann endgültig bei der Tür hinaus.

*****

Die Sitzungen mit dem Psychotherapeuten Sigi Fröhlich waren zu Beginn recht schwierig verlaufen. Das Bollwerk „Ablehnung“ musste erst einmal überwunden werden.

„Das wievielte Mal ist das heute, Sigi?“, fragte Stefan Wenninger seinen Seelenklempner, und Sigi Fröhlich antwortete:

„Ich müsste erst einmal in meinen Unterlagen nachsehen; so genau weiß ich das gar nicht.“

„Du bist ein schlechter Lügner, Sigi“, sagte Stefan, „du weißt es ganz genau.“

„Da haben wir ja etwas gemeinsam“, erwiderte der Psychotherapeut, „ist das nicht schön?“

Stefan lächelte. Obwohl er anfangs strikt dagegen war mit einem Seelenklempner zu reden, fanden die beiden doch relativ schnell zueinander.

Er erinnerte sich gut daran, wie das war, als er sich zum ersten Mal einem Gespräch stellte.

„Was wollen Sie von mir, Herr Doktor? Dass ich die ganze Geschichte so einfach hinnehme? So nach dem Motto <Shit happens>? Ist es das?“

„Ganz sicher nicht, Herr Wenninger“, antwortete der Psychotherapeut, „das wäre auch gar nicht möglich.“

Diese Antwort überraschte Stefan.

„Ich brauche keinen Seelenklempner “, sagte er tonlos, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:

„Was wollen Sie dann?“, fragte Stefan weiter, „was wäre denn möglich, Ihrer Meinung nach?“

„Ich würde mich einfach gern mit Ihnen unterhalten, Herr Wenninger“, antwortete der Psychotherapeut, dem der zynische Unterton seines Gegenübers nicht verborgen geblieben war.

„Und über was, wenn ich fragen darf? Über Politik, Sport oder die Großwetterlage?“, stichelte Stefan weiter.

„Vermissen Sie Ihre Frau?“

Stefan zuckte zusammen. Mit diesem Punch in seine Überheblichkeit hatte er nicht gerechnet.

Und bevor er noch darauf reagieren konnte, sagte der Psychotherapeut:

„Denken Sie über meine Frage nach. Ich werde jetzt gehen. Wenn Sie jedoch weiter darüber reden wollen, lassen Sie es mich wissen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Kurz darauf hörte Stefan an der schließenden Zimmertür, dass der Psychotherapeut gegangen war.

„Scheißkerl!“

Mit der Bewertung seines Besuchers durch dieses Wort empfand er eine gewisse Erleichterung.

„Sie reihen sich damit in eine lange Phalanx beleidigender Kraftausdrücke ein. <Scheißkerl> ist jedoch neu.“

Stefan erschrak.

„Ich dachte, Sie wären gegangen“, sagte er, und der Psychiater antwortete:

„Traue niemals einem Seelenklempner. Und noch etwas; ich bin kein Doktor. Ich heiße Sigmar Fröhlich.

Und um Ihnen das vorwegzunehmen: Es gibt keinen Witz, der um meinen Namen – in Verbindung mit Sigmund Freud - noch nicht gemacht wurde.

Und ich bin auch nicht mit Sigmund Freud verwandt oder verschwägert. Aber wenn Sie möchten, dann können Sie mich ruhig <Sigi> nennen.“

Damit war das Eis gebrochen.

„Ich bin mir noch nicht sicher“, sagte Stefan lächelnd, „aber ich glaube, ich fange gerade an Sie zu mögen.“

„Das nenne ich eine Basis, auf welcher sich aufbauen lässt“, erwiderte der Psychotherapeut, und fuhr nach einer kurzen Pause fort:

„Wenn Sie möchten, dann beginnen wir hier und jetzt. Was meinen Sie, Herr Wenninger? “

„Einverstanden, Sigi“, antwortete Stefan, „aber nennen Sie mich bitte <Stefan>, wenn das möglich ist.“

„Möglich ist das schon“, antwortete der Psychotherapeut, „aber nicht professionell. Die Distanz zwischen Arzt und Patient sollte stets gewahrt bleiben.“

„Aber nachdem Sie ja kein richtiger Doktor sind“, erwiderte Stefan, „können wir das doch so handhaben. Meinen Sie nicht auch?“

„Dieses Argument vermag mich durchaus zu überzeugen, lieber Stefan“, antwortete Sigi, der es – für Stefan nicht sichtbar – sichtlich genoss, seinen Patienten in die richtige Richtung bugsiert zu haben.

„Vermissen Sie Ihre Frau, Stefan?“

Es folgte ein längeres Schweigen. Sigi war sich plötzlich nicht mehr so sicher, dass er die richtige Strategie gewählt hatte.

Er sah in der bewegten Mimik der unteren Gesichtshälfte von Stefan, dass er äußerst aufgewühlt war. Sigi wollte schon zurückziehen, als er Stefan sagen hörte:

„Jeden Augenblick meines beschissenen Daseins. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis, und meine Gedanken sind die Wärter, die darauf aufpassen, dass ich nicht daraus entfliehen kann.

Ich würde mir am liebsten den Verband vom Kopf reißen, damit meine Gedanken wieder frei sind. Dann könnten sie sich auch einmal den Dingen widmen, die mich umgeben, und müssten nicht immer dasselbe sehen.“

„Was sehen Sie denn, Stefan?“, fragte Sigi, und Stefan antwortete:

„Ich sehe, wie das Flugzeug in Flammen aufgeht, bevor ich ohnmächtig werde, und ich fühle, dass mir das Liebste gerade genommen wird.“

„Empfinden Sie Hass oder Wut?“

Stefan antwortete nicht sofort auf diese Frage. Es schien, als müsse er darüber nachdenken.

„Ich empfinde beides“, antwortete er nach einem kurzen Zögern, „Wut gegen das Schicksal und Hass auf meinen Sohn.

Bin ich ein böser Mensch oder vielmehr noch, ein schlechter Vater?“

„Beantworten Sie sich die Frage selbst“, erwiderte Sigi, „wie sehen Sie sich?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Stefan, „vielleicht habe ich aber auch nur Angst vor der Antwort.“

„Dass Sie mit dem Schicksal hadern, kann ich verstehen“, sagte Sigi, „aber wie passt dann der Hass auf Ihren Sohn dazu?“

Stefan wandte seinen Kopf in Richtung Sigi, als wolle er ihn anschauen.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Stefan, welcher den Sinn in der Frage des Psychotherapeuten nicht zu erkennen vermochte.

„Wenn Sie an Schicksal glauben, wie Sie ja gerade selbst gesagt haben, dann kann es keine andere Schuldzuweisung geben. Das eine schließt das andere aus.“

Stefan brauchte Zeit zum Nachdenken. Der Mann, den er nicht sehen konnte, und von dem er nur allzu gern gewusst hätte, wie er aussieht, hatte ihn total durcheinandergebracht.

„Ist Klugscheißen ein Teil der Ausbildung zum Psychotherapeuten?“, versuchte sich Stefan Luft zu verschaffen.

Als er nicht gleich eine Antwort bekam, fragte Stefan fast ein wenig ängstlich:

„Sind Sie noch da?“

„Ja, Stefan, der diplomierte Klugscheißer ist noch da, und er fragt sich gerade, warum der Mann, der sich hinter einer Maske versteckt hält, so aggressiv ist.“

Die Antwort des Psychotherapeuten gefiel Stefan, und sie war auch ein Stück weit Beruhigung für sein schlechtes Gewissen.

„Es ist doch interessant, wie sehr sich das Verhalten eines Menschen hinter einer Maske zu verändern scheint“, sagte Stefan erleichtert, „man wird einfach mutiger. Finden Sie nicht auch?“

„Ganz offenbar“, antwortete Sigi, „aber Sie sind mir noch eine Antwort schuldig.“

„Eine Antwort?“, fragte Stefan scheinheilig.

„Ja, und das wissen Sie auch“, antwortete Sigi.

Stefan wurde plötzlich sehr ernst.

„Ich habe wohl ein zu starkes Wort gebraucht“, begann Stefan, „natürlich hasse ich meinen Sohn nicht. Ich bin nur sehr wütend auf ihn, weil er die Ursache dafür war, dass wir uns in den Flieger gesetzt haben, um die Probleme von Mamas Liebling zu lösen.

Und so habe ich wohl meiner ohnmächtigen Wut ein Gesicht zugeordnet, und es war das Gesicht von Thorsten.“

„Sie machen gerade meine Arbeit, Stefan“, sagte Sigi, „es trifft genau den Kern, wenn Sie sagen, dass Sie Ihre Wut personifizieren wollten.“

„Dann sind Sie hier wohl überflüssig, Sigi“, erwiderte Stefan lächelnd, „und müssen mich nicht weiter quälen.“

„Empfinden Sie das so?“, fragte Sigi, „quält es Sie darüber zu sprechen oder wirkt es vielleicht doch auch ein wenig befreiend?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Stefan, „ich müsste darüber nachdenken.“

Sigi wartete einen Moment, und als Stefan nichts mehr weiter dazu sagte, fragte Sigi ihn:

„Sind Sie eifersüchtig auf Ihren Sohn?“

Stefan wollte spontan mit NEIN antworten, hielt sich aber zurück.

Er dachte daran, dass er jedes Mal zusammenzuckte, wenn das Telefon läutete und am anderen Ende der Leitung Thorsten war.

Stefan überließ schon seit Langem Gudrun das Entgegennehmen von Telefonanrufen; waren die meisten doch ohnehin von ihrem Sohn.

Gudrun ging vollkommen darin auf sich mit Thorsten zu unterhalten. Ihre Stimme wurde samtweich und ihre Augen leuchteten.

Thorsten war das jüngere der beiden Geschwister. Sylvia, die große Schwester, war von Anfang an ein Problem für Gudrun.

Sie war schon als Kind ein rechter Dickkopf und wollte immer mit dem Kopf durch die Wand. Thorsten hingegen war ein Kuschelbär.

Und so wurde im Hause Wenninger das Klischee „Unverträglichkeit von Mutter zu Tochter und Vater zu Sohn“ perfekt bedient.

Während Sylvia ihren Weg machte – sie schloss ihr Studium der Rechtswissenschaften mit „Summa cum laude“ ab – und in einer renommierten Kanzlei unterkam, war Thorsten noch immer auf dem „Weg der Findung“.

Egal, welchen Job er anfing, es dauerte nicht lange, und er beendete ihn auch schon wieder.

Für einen Dozenten an der Uni, der Stefan bis zu seiner Emeritierung war, stellte ein solches Verhalten einen nicht nachzuvollziehenden Zustand dar.

Diese Zwiespältigkeit hatte im Laufe ihrer Ehe dazu geführt, dass Stefan und Gudrun ein wenig auseinander getriftet waren.

Nicht dass ihnen die Liebe abhandengekommen wäre, so war aus einer ursprünglich lodernden Flamme im Laufe der Zeit jedoch ein glosendes Feuer geworden, das gerade so viel Wärme spendete, dass sie nicht erfroren.

Und obwohl sich Stefan immer wieder vornahm, dem Taugenichts von Sohn seine Hilfe zu verweigern, vermochte er sich dem Bitten seiner Gattin nicht zu verschließen.

Nur das eine Mal hätte er sich im Nachhinein gewünscht, er hätte es getan.

„Ja, ich bin eifersüchtig auf meinen Sohn, weil er mir zeitlebens die Liebe meiner Frau gestohlen hat“, antwortete Stefan mit erhobener Stimme.

Sigi war überrascht, hatte er doch nicht mehr mit einer Antwort gerechnet.

„Finden Sie nicht, dass die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind nicht identisch ist mit der Liebe von Mann und Frau?“, fragte Sigi.

„Mag sein“, antwortete Stefan, „aber Tatsache ist, dass die Liebe von Gudrun zu mir im selben Maße abgenommen hat, wie sie Thorsten gegenüber immer mehr wurde.“

„Haben Sie sich je gefragt, ob nicht Sie vielleicht durch Ihr Verhalten auch dazu beigetragen haben könnten, dass sich Ihre Liebe ein wenig abgekühlt hat?“

Stefan erschrak. Diese Frage hatte er sich nie gestellt, obwohl sie in diesem Augenblick so naheliegend schien.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er vorsichtig.

„Wenn der Vater mit dem Sohn um die Liebe der Frau buhlt, die gleichermaßen zu ihnen beiden gehört, dann hat der Vater meist die schlechteren Karten.“

„Was hätte ich denn sonst machen sollen?“, hinterfragte Stefan die Antwort des Psychotherapeuten.

„Die Mutter einfach Mutter sein lassen, und sie nicht in ihrem Bemühen zu boykottieren“, antwortete Sigi, was ihm einen heftigen Protest einbrachte.

„Ich habe Gudrun nicht boykottiert“, antwortete Stefan heftig, „im Gegenteil. Bin ich im Flugzeug mit ihr gesessen oder nicht?“

„Als liebender Ehemann oder eher als eifernder Vater?“, fragte Sigi.

Sigi sackte in sich zusammen. Er erkannte in diesem Augenblick, dass die Wut, welche er gegen Thorsten gerichtet hatte, gerade wie ein Bumerang zu ihm zurückkehrte.